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Full text of "Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 11.1916-17 Indiana"

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INDIANA UNIVERSITY 




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INTERNATIONALE 

MONATSSCHRIFT 


(für WISSENSCHAFT, KUNST UND TECHNIK 

* 


BEGRÜNDET VON FRIEDRICH ALTHOFF 
HERAUSGEGEBEN VON MAX CORNICELIUS 


BAND XI • 1917 


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-AG'UND DRUCK B.G.TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN 





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ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBBRSETEUNG8RBCHTES, VORBEHALTI 


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INDIANA UNIVERSITY 






INHALTSVERZEICHNIS. 

L Mitarbeiter. 


Prot 


$ palte 


49 


725 


Axpnsteln, Ph., Oberlehrer, 

_ Dr., Berlin, 

Die Selbstkritik der Engl&nder 

in ihrer Literatur. 337. 481 

Bahn, Karl, Generalmajor a.D„ Auer¬ 
bach (Hessen), 

Die Seeschlacht am Skagerrak am 

31. Mai 1916. 

Benrubi, J., Privatdozent a. d. Univ., 

Dr., Gent 

CHbt es eine nationale Philoso¬ 
phie? . 

J-, Deutschland im Urteil des Aus¬ 
landes froher und jetzt.383 

—, Neutrale Stimmen. Amerika — 
Holland—Norwegen—Schweden — 

Schweiz.763 

Bitterauf, Theodor, Univ.-Prof. Dr., 
München, 

Umrisse der Weltpetttik.... 1403 
Braun, Fritz, Prot, Dt-Eylau, 

Zur Geschichte der deutschen 
Kolonie in Konstantinopel . . 745 

B Arger, Richard, Oberrealschuldhrek- 
tor, Dr., Kattowitz, 

Germanistenwünsche.397 

C, M- Rudolf Kjeliens neuestes Bach 1149 
Cohn, Jonas, Univ.-Prot, Dr., Frei- 
bürg i. B., 

Goethes Anschauung vom sitt¬ 
lichen Leben.951 

D e g e r i n g, Hermann, Prof. Dr., Biblio¬ 
thekar an der Kgl. Bibliothek, Berlin, 
Französischer Kunstraub in 
Deutschland 1794—1807 .... 
Dibelius, 'Wilhelm, ord. Univ.-Prof., 

Dr., Bonn, 

Die Sinn Feiner in Irland . . . 

Dick, Emst, Dr., Basel, 

I George Meredith als Kritiker eng¬ 
lischer Zustande.1381 

D i e 1 s, Hermann, ord. Unlv.-Prot, stän¬ 
diger Sekretär der Kgl. preuB. Aka¬ 
demie der Wissenschaften, Geh. 
Oberregierungsrat Dr. theol. et 
phiL, Berlin, 

Ein antikes System des Natur¬ 
rechts . 

Drabeim, H., Prof. Dr., 

Der Rhein-Donau-Kanai und der 
alte Handelsweg nach Indien. . 


1 


1409 


81 


637 I 


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Spalte 

Erben, W. , ord. Univ.-Prot Dr., 
Innsbruck, 

Zur Wiedereinfflhruag der Som¬ 


merzeit .1275 

Fahr, Beruh., ord. FroL a. d. Teste). 
Hochschule, Dresden, 

Charles Dickens im Uchte der 
neuesten Forschung..609 


Fischer, P. D., Wirkt Geh. Bat, Dr., 
Bedb, 

Aus den Schützengraben . . . 38b 

—, Zwei Brüder. Feldpostbriefe und 
Tagebuchblütter. I .Bündchen Gott- 
hold v. Rohden. II. Bündchen 

Heinz v. Rohden.766 

Gercke, Alfred, ord. Unlv^ProL, Dr., 
Breslau, 

Neue Lieder der Seppho und des 

Alkaios .. 593 

—, Unser tügbch Brot.894 

Gronau, Geoig, Dr., Direktor der 
Kgl. GemftklegaRerie, Cassel, 

Die Verluste der Casseler Galerie 
in der Zeit der französischen 
Okkupation 1806-1813 . . 1063. 1195 
Gunkel, Hermann, ord. Univ.-Prof., 

Dr. theol. et phil., Gießen, 

Die Politik der Propheten . . . 423 

Hamann, Richard, ord. Univ.-Prot, 

Dr., Marburg, 

Deutsche und französische Kultur 

und Kunst.195 

Harnack, Adolf von, ord. Univ.-Prof. 
u. Generaldirektor der KgL Biblio¬ 
thek, Mitglied der Kgl. preuB. Aka¬ 
demie der Wissenschaften, Wirkl. 

Geh. Rat, Dr. theol., jur., med., 
phil., Berlin, 

. Die Reformation. 4281 

Hashagen, Justus, Privatdozent a. 
d. Universität, Prof. Dr., Bonn, 
Romanischer Imperialismus . . 675 

Heincke, Fr., Direktor der KgL Bio¬ 
logischen Anstalt auf Helgoland, 

Prof. Dr., 

Die internationale Meereefor- 
schung vor und nach dem Kriege 565 
Heiß, Hanns, ord. Prof. a. d. Tecbn. 
Hochschule, Dr., Dresden, 

Der vlümische Anteil an der fran¬ 
zösischen Literatur.287 

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INDIANA UNtVERSITY 




















VII 


Inhaltsverzeichnis 


vrn 


Spalte 

Herre, Paul, ord. Univ.-Prof. Dr., 
Leipzig, 

Die Großmacht Deutsche Betrach¬ 
tungen Ober Ausdruck, Begriff 

und Wesen. 533. 675 

Horn, Wilhelm von, Regierungsrat, 
Königsberg, 

Die staatlichen Maßnahmen zur 
Wiederherstellung der Landwirt¬ 
schaft in der Provinz Ostpreußen 463 
Hurwicz, E., Dr., 

DieVolkshochschulen in Schweden 889 
Jostes, Franz, ord. Univ.-Prof., Dr., 
Mönster i. W., 

Guido Gezelle.. 155. 397 

Klatt, Willibald, Oberlehrer, Prof. 

Dr., Berlin-Steglitz, 

Pädagogik und Politik .... 1255 
Laquer, B„ Sanitätsrat, Wiesbaden, 
Becker, C. H., Das türkische Bil¬ 
dungsproblem .. 253 

—, Wilhelm Merton. Reden von Bür¬ 
germeister Voigt u. Stadtrat Prof. 

Dr. Stein, gehalten bei der Ge¬ 
dächtnisfeier der Stadt Frankfurt 
a. M., 2. Jan. 1917 . .V ... 766 

Maync, Harry, ord. Univ.-Prof., Dr., 

Bern, 

Gräfin Elise von Ahlefeld im Leben 
' Lützows und Immermanns. .101. 229 
—, Ernst von Wildenbruch im Lichte 

seiner und unserer Zeit.... 1423 
Meinecke, Friedrich,ord. Univ.-Prof., 
Mitglied der Kgl. preuß. Akademie 
der Wissenschaften, Geh. Regie- 
, rungsrät, Dr., Berlin, 

Reich und Nation seit 1871. . 907.1097 
Meinertz, Max, ord. Univ.-Prof., Dr., 
Münster i. W., 

Der Apostel Paulus und der Kampf 1115 
Morf, Heinrich, ord. Univ.-Prof., Mit¬ 
glied der Kgl. preuß. Akademie der 
Wissenschaften, Geh. Regierungs- 
rat, Dr., Berlin, 


Miguel de Cervantes.257 

Oldenberg, H., ord. Univ.-Prof. Dr., 
Göttingen, 

Eine indisch-französische Dich¬ 
tung .1267 

—, Ein neues Werk über den Bud¬ 
dhismus .1406 


Pohlenz, Max,. Universitätsprofessor 
Dr., Göttingen, 

Ein antiker. Dichter im Krieg . . 1503 


Spalte 

Pr e.i s i gk e, Univ.-ProtDr.,Heidelberg, 
Nahrungsmittelämter im alten 

Ägypten.371 

Roth; E., Oberbibliothekar a. d. Uni¬ 
versitätsbibliothek, Prof. Dr., Halle, 

Die Getreidenahrung im Wandel , 

der Zeiten.. 1021 

Sachse, Arnold, Geh. Regierungs¬ 
und Schulrat, Dr., Hildesheim, 
DieKriegsmaßnahmender preußi¬ 
schen Unterrichtsverwaltung . . 1153 
Scholz, Heinrich, Privatdozent a. d. 
Universität, Dr., Berlin, 

Der Sinn der deutschen Geistes- 

geschickte.1213 

Spranger, Eduard, ord. Univ.-Prof. 

Dr., Leipzig, 

Vota innem Frieden des deutschen 

Volkes.129 

—, Denkschrift über die Einrichtung 
der Auslandsstudien an den deut¬ 
schen Universitäten.1025 

—, Shaftesbury und wir.1477 

S t e i n m a n n, Ernst, Prof.Dr., München, 

Die Plünderung Roms durch Bo¬ 
naparte .641. 819 

Stemplinger, Eduard, Prof. Dr., 
München, 

Ein deutscher Irrlehrer des Aus¬ 
lands .377 

St übe, Rudolf, Oberlehrer, Prof. Dr., 
Leipzig, 

Die Dichterin der neuen Türkei 1533 
Tobler, Friedr., Univ.-Prof. Dr., 
Münster, 

Rohstoffkunde und Auslandsstu¬ 
dien . 885 

Walzel, O., ord. Prof. a. d. Techn. 
Hochschule, Dresden, 

Wölfflins „Kunstgeschichtliche 

Grundbegriffe“.699 

Wechßler, Eduard, ord. Univ.-Prof: 

Dr., Marburg, 

Französische Geistesart und ihre 

Formen.. . » 1239. 1363 

Wiegand, Friedr., ord. Univ.-Prof., 

Dr. theol. et phil., Greifswald, 

Mission und Kolonisation . . . *975 
Wolff, Max J., Prof. Dr., Berlin, 
Shakespeare als Künstler des 


Barocks.995 

Zechlin, E., Dr., Geh. Staatsarchivar, 

Posen, 

W. S. Reymont, Die polnischen 
Bauern.509 


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Inhaltsverzeichnis 


X 


IX 


II. Abhandlungen 

Spalte 

Ahlefeld, Gräfin Elise von, im Leben 
LQtzows und Immermanns. Von 

Harry Maync.101. 229 

Alkaios, Neue Lieder der Sappho und 
des. Von Alfred Gercke .... 593 

Auslandsstudien an den deutschen 
Universitäten, Denkschrift Ober die 
Einrichtung der. Von Ednard Spren¬ 
ger.1025 

Auslandsstudien, Denkschrift des 
preußischen Kultusministeriums 
Ober die Förderung der .... 513 

Auslandsstudien, Die, im preußischen 

Landtag. 769. 897 

Auslandsstudien, Pädagogische. . . 1280 
Auslandsstudien, Rohstoffkunde und. 

Von Friedr. Tobler.885 

Bedcer, C. H., Das türkische Bildungs- 
Problem. Von B. Laquer .... 253 

Bonaparte, Die PlOnderung Roms 
durch. Von Emst Steinmann . 641. 819 
Buddhismus, Ein neues Werk Ober 

den. Von H. Oldenberg.1406 

Casseler Galerie, Die Verluste der, 
in der Zeit der französischen Okku¬ 
pation. 1806-1813 . 1063. 1195 

Cervantes, Miguel de. Von Heinrich 

Hoif.257 

Denkschrift des preußischen Kultus¬ 
ministeriums Ober die Förderung- 

der Auslandsstudien.513 

Denkschrift Ober die Einrichtung der 
Auslandsstudien an den deutschen 
Universitäten. Von Eduard Spranger 1025 
Deutsche und französische Kultur und 
Kunst. Von Richard Hamann. . . 195 

Deutschen Geistesgeschichte, Der Sinn 
der. Von Heinrich Scholz .... 1213 
Deutschen Kolonie in Konstantinopel, 

Zur Geschichte der. Von Fritz Braun 745 

Deutschland im Urteil des Auslandes 
früher und — jetzt. Von J. B. . . 383 

Dichter, ein antiker, im Krieg. Von 


Max Pohlenz.1503 

Dichtung, Eine indisch-französische. 

von H. Oldenberg.1267 

Dickens, Charles, im Lichte der neue¬ 
sten Forschung. Von Bernhard Fehr 609 
Engländer, Die Selbstkritik der, in 


ihrer Literatur. Von Ph. Aronstein 337. 481 
Englischer Zustände, George Meredith 
als Kritiker. Von Emst Dick . . . 1381 

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und Mitteilungen. 

Spalte 

Französische Geistesart und ihre For¬ 
men. Von Eduard Wechßler . 1239. K363 
Französischer Kunstraub in Deutsch¬ 
land 1794—1807. Von Hermann 

Degering. 1 

Frieden, Vom inneren, des deutschen 
Volkes. Von Eduard Spranger . . 129 

Geistesgeschichte, Der Sinn der deut¬ 
schen. Von Heinrich Scholz . . . 1213 
GermanistenwGnsche. Von Richard 


Bürger.357 

Getreidenahrang, Die, im Wandel der 
Zeiten. Von E. Roth.1021 


Gezelle, Guido. Von Franz Jostes 155. 397 
Goethes Anschauung vom sittlichen 
Leben. Von Jonas Cohn .... 951 

Großmacht, Die. Deutsche Betrach¬ 
tungen Ober Ausdruck, Begriff und 
Wesen. Von Paul Herre . . . 533. 675 
Imperialismus, Romanischer.Von Justus 

Hashagen . ,.875 

Indisch-französische Dichtung, Eine. 

Von H. Oldenberg.1267 

Irrlehrer, Ein deutscher, des Auslands. 

Von Stemplinger.. . 377 

Kjellöns neuestes Buch. Von M. C. 1149 
Kolonisation, Mission und. Von Fried' 

rieh Wiegand.975 

Konstantinopel, Zur Geschichte der 
Deutschen in. Von Fritz Braun . . 745 

Kriegsmaßnähmen, Die, der preußi¬ 
schen Unterrichtsverwaltung. Von 

Arnold Sachse.1153 

Kultur und Kunst, Deutsche und fran¬ 
zösische. Von Richard Hamann . . 195 

„Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“, 
Wölfflins. Von O. Walzel .... 699 

Kunstraub, Französischer, in Deutsch¬ 
land. Von Hermann Degering . . 1 

Lieder, Neue, der Sappho und des 
Alkaios. Von Alfred Gercke . . . 593 

Maßnahmen, Die staatlichen, zur Wie¬ 
derherstellung der Landwirtschaft 
in der Provinz Ostpreußen. Von 


Wilhelm v. Hom.463 

Meeresforschung, Die internationale 
vor und nach dem Kriege. Von Fr. 

Heincke.565 

Meredith, George, als Kritiker eng¬ 


lischer Zustande. Von Emst Dick 1381 


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Inhaltsverzeichnis 


XI 


Spalte 

Merton, Wilhelm, Reden von Bürger¬ 
meister Voigt und Stadtrat Prof. , 

Dr. Stein, gehalten bei der Gedächt¬ 
nisfeier der Stadt Frankfurt a. M. 

2. Jan. 1917. Von B. Laquer . . . 766 

Mission und Kolonisation. Von Frie¬ 


drich Wiegand.975 

NahrungsmittelämtA im alten Ägyp¬ 
ten. Von Preisigke.371 

Nationale Philosophie, Gibt es eine? 

Von J. Benrubi.725 

Naturrechts, Ein antikes System des. 

Von Hermann Diels. 81 

Neutrale Stimmen. Amerika—Hol¬ 
land — Norwegen — Schweden — 

Schweiz. Von J. B.763 

Ostpreußen, Die staatlichen Maßnah¬ 
men zur Wiederherstellung der 
Landwirtschaft in der Provinz. Von 

Wilhelm von Horn.463 

Pädagogik und Politik. Von Willibald 

Klatt.1255 

Paulus, Der Apostel, und der Kampf. 

Von Max Meinertz.1115 

Philosophie, Gibt es eine nationale? 

Von j. Benrubi 725 

Politik, Die, der Propheten. Von Her¬ 
mann Gunkel.423 

Politik, Pädagogik und. Von Willibald 

Klatt.1255 

Propheten, die Politik der. Von Her¬ 
mann Gunkel.423 

Reformation, Die. Von Adolf von 

Hamack..1281 

Reich und Nation seit 1871. Von 

Friedrich Meinecke. 907. 1097 

Reymont, W. S., Die polnischen Bau¬ 
ern. Von E. Zechlin.509 

Rhein-Donau-Kanal, Der, und der alte 
Handelsweg nach Indien. Von H. 

Draheim.637 

Rohstoffkunde und Auslandsstudien. 

Von Friedr. Tobler.885 

Roms, Die Plünderung, durch Bona- 


parte. Von Ernst Steinmann . 641. 819 


xn 

Spalte 


Sappho, Neue Lieder der, und des 
Alkaios. Von Alfred Gercke . . . 593 

Schützengraben, Aus den. Von P. D. 

Fischer.385 

Schweden, Die Volkshochschulen in. 

Von E. Hurwicz.889 

Selbstkritik, Die der Engländer in 
ihrer Literatur. Von Ph. Aronstein 337.481 
Shaftesbuiy und wir. Von Eduard 

Spranger.1477 

Shakespeare als Künstler des Barocks. 

Von Max J. Wolff.995 

Sinn Feiner, Die, in Irland. Von Wil¬ 
helm Dibelius.1409 

Skagerrak, Die Seeschlacht am. Von 

Karl Bahn. 49 

Sommerzeit, Zur Wiedereinführung 

der. Von W. Erben.1275 

Technisch - wissenschaftliche Unter¬ 
suchungen, Vermittlungsstelle für . 1023 

Türkei, Die Diditerin der neuen. Von 

Rudolf Stübe..1533 

Unser täglich Brot. Von A. Gercke . 894 

Unterrichtsverwaltung,DieKriegsmaß' 
nahmen der preußischen. Von Ar¬ 
nold Sachse.1153 

Verluste, Die, der Casseler Galerie in 
der Zeit der französischen Okku¬ 
pation 1806—1813. Von Georg Gro¬ 


nau .. . . 1063. 1195 

Vermittlungsstelle für technisch-wis¬ 
senschaftliche Untersuchungen . . 1023 
Vlämische Anteil, Der, an der franzö¬ 


sischen Literatur. Von Hanns Heiß 287 
Volkshochschulen, Die, in Schweden. 

Von E. Hurwicz.889 

Weltpolitik, Umrisse der. Von Theodor 

Bitterauf. 1403 

Wfldenbruch, Ernst von, im Lichte 
seiner und unserer Zeit. Von Harry 
Maync.1423 


WölfÜins .Kunstgeschichtliche Grund¬ 
begriffe“. Von O. Walzel .... 699 

Zwei Brüder. Feldpostbriefe und Tage' 
buchblätter. I. Bändchen Gotthold 
v. Rohden. II. Bändchen Heinz v. 
Rohden. Von P. D. Fischer . . . 766 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


11. JAHRGANG _ HEFT 1 _ 1. OKTOBER 1016 

Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807. 

Von Hermann Degering. 


I. 

In den ersten Sturmjahren der Fran¬ 
zösischen Revolution hatten die „Pa¬ 
trioten“ mit fanatischem Eifer gegen 
alles das gewütet, was mit dem ver¬ 
haßten Königtum irgendwie zusammen- 
hing, und hatten dabei in Schlössern. 
Kirchen und Klöstern unersetzliche 
Werke der Kunst und Literatur ver¬ 
nichtet. Als der Konvent am 11. August 
1792 die Abschaffung des Königtums 
beschloß, fiel der Pöbel von Paris über 
die Denkmäler her, welche in den öf¬ 
fentlichen Garten und Platzen, auf den 
Straßen und Brücken von Paris die ruhm¬ 
reichen Zeiten des französischen König¬ 
tums zu verherrlichen bestimmt waren, 
stürzte sie um und zerschlug sie und ver¬ 
nichtete damit die besten und reifsten 
Werke, welche die französische Pla¬ 
stik je geschaffen hatte. Ein schüch¬ 
terner Versuch, im Konvente gesetzge¬ 
berische Maßnahmen zu treffen, dieses 
vandalische Treiben in geordnete Bah¬ 
nen zu bringen, führte nur zu dem Be¬ 
schlüsse, die Zeichen des Königtums 
und der Feudalitat zu entfernen und sie 
durch Denkmale der Freiheit zu ersetzen. 
Statt einer Eindämmung also gewisser¬ 
maßen eine Sanktionierung des Vandalis¬ 
mus. der sich bald nicht mehr auf die 
öffentlichen Denkmalerbeschrankte, son¬ 
dern auf Werke der Kleinkunst Übergriff. 

Diesem Aufsatz, der auch den gleich¬ 
zeitigen französischen Raub von Werken 
deutscher Wissenschaft behandelt, werden 
weitere folgen. Die Red. 


Gemälde, Plastiken, Porzellan, Gold- 
und Silbergerate, Handschriften und 
Bücher, welche mit einem königlichen 
oder adeligen Wappen geschmückt oder 
mit einer Widmung an fürstliche oder 
adelige Personen versehen waren, fie¬ 
len in Massen damals der Vernichtung 
anheim. Ja, selbst das königliche Druck- 
Privileg oder die Erwähnung des Kö¬ 
nigs oder eines Herrn vom Adel in der 
Vorrede eines Buches genügten für 
manche Eiferer als Vernichtungsgrund. 
Oft genug diente aber dieser patrioti¬ 
sche Eifer nur als Deckmantel für Dieb¬ 
stahl und Unterschlagung, und in gro¬ 
ßen Mengen sind damals Kunstwerke, 
Handschriften und Bücher aus den be¬ 
schlagnahmten Bezitzungen der Emi¬ 
granten oder verurteilter Anhänger des 
Königtums ins Ausland und nament¬ 
lich nach England für Spottpreise ver¬ 
kauft worden. 

Schon am 1. Oktober 1793 hatte frei¬ 
lich der Konvent ein Verbot erlassen, 
Kunstwerke unter dem genannten Vor¬ 
wände fernerhin zu zerstören, zu be¬ 
schädigen oder von ihrem Stande und 
Aufbewahrungsorte zu entfernen, aber 
das half vorderhand nicht viel, denn 
namentlich in den Provinzen küm¬ 
merte man sich nicht sonderlich um 
die gesetzgeberischen Massenfabrikate 
des Konvents, und so wurde dort kräf¬ 
tigst weiter zerstört, geplündert und 
gestohlen, besonders an solchen Kunst¬ 
werken und Literaturschätzen, welche 
bequeme Handelsobjekte waren. 


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3 


Hermann egering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 


4 


Bereits seit der Mitte des August 
1792 war das Comitfe d’instruction 
publique damit beauftragt, von den be¬ 
schlagnahmten Museen, Sammlungen 
und Bibliotheken Verzeichnisse anzu¬ 
fertigen und ihre Erhaltung zu über¬ 
wachen. Es war ermächtigt worden, zu 
diesem Zwecke geeignet erscheinende 
Personen sich anzugliedern, welche zu 
der Ausführung dieser Arbeiten gewillt 
seien. Am 19. Dezember 1793 wurde für 
diese Aufgabe dann eine besondere 
Commission temporaire des arts ge¬ 
bildet. Sie veröffentlichte bald darauf 
einen ausführlichen Arbeitsplan, der 
sich nicht auf die Pariser Sammlungen 
beschränkte, sondern auch die der Pro¬ 
vinz in seinen Bereich zog. Als dann 
durch die Erfolge ihrer Armeen im 
Jahre 1794 den Franzosen faktisch die 
Herrschaft über Belgien, die Nieder¬ 
lande und die Rheinprovinzen zufiel, 
dehnten sie, obgleich sie angeblich als 
Befreier vom Tyrannen joch kamen, den 
Machtbereich der Commission tempo¬ 
raire auch auf diese Gebiete aus. Ihre 
Aufgabe, die eigentlich nur darin be¬ 
stand, die beschlagnahmten Kunst¬ 
sammlungen und Bibliotheken an den 
Orten, wo sie sich befanden, zu inven¬ 
tarisieren und in geeigneten Aufbewah¬ 
rungsorten sicher unterzubringen, er¬ 
weiterten sie zugleich aber schon Ende 
Januar 1794 für diese neuen Gebiete 
(Worms, Speier, Mainz) dahin, die Ge¬ 
genstände für Frankreich und speziell 
für die Pariser Sammlungen zu beschlag¬ 
nahmen und wegzuführen. In Frankreich 
selbst war davon bisher kaum'die Rede 
gewesen, und nur aus der nächsten Um¬ 
gebung von Paris, z. B. aus Versailles 
und St-Denis, waren einige Kunstgegen¬ 
stände und Handschriften nach Paris 
gekommen. Jetzt aber nahmen die Kom¬ 
missare aus diesen eroberten Ländern an 
Kunstwerken und literarischen Schät¬ 


zen alles, was ihnen nur des Weg- 
schleppens wert erschien, für Paris in 
Beschlag. Man betrachtete das näm¬ 
lich französischerseits sofort als eine 
bequeme Gelegenheit, die Schädigun¬ 
gen, welche die französische Kunst 
durch den eigenen Vandalismus erlitten 
hatte, durch die Plünderung der erober¬ 
ten Länder auszugleichen. Um Phrasen, 
dieses völkerrechtswidrige und mit den 
eigenen pathetischen Freiheits- und 
Gleichheitsbeteuerungen im ärgsten Wi¬ 
derspruch stehende Verfahren zu ent¬ 
schuldigen, war man nicht verlegen. 
Daß inzwischen im eigenen Lande wei¬ 
ter gegen Kunst und Wissenschaft mit 
Zerstörung, Diebstahl und Unterschla¬ 
gung gefrevelt wurde, tat der Freude 
am Raube keinen Abbruch. „Plus que 
les Romains, plus que Dfemfetrius Po- 
liorcfete. nous avons le droit de dire 
qu’en combattant les tyrans, nous pro- 
tfegeons les arts. Nous en recueillons 
les monuments, möme dans les con- 
trfees oü pfenfetrent nos armfees victorieu- 
ses. Outre les planches de la fameuse 
carte de Ferrari, vingt-deux caisses de 
livres et einq voitures d'objets sdenti- 
fiques sont arrivfees de la Belgique. 
On y trouve les manuscrits enlevfes ä 
Bruxelles dans la guerre de 1742, et 
qui avaient fetfe rendus par stipulation 
expresse du traitfe de paix en 1749. La 
Rfepublique acquiert par son oourage 
ce qu’avec des sommes immenses Louis 
XIV ne put jamais obtenir, Crayer, Van- 
dyck et Rubens sont en route pour 
Paris, et l’fecole Flamande s’felfeve en 
masse pour venir omer nos musfees.“ 
Der so redete, war der ehemalige Bi¬ 
schof von Blois Grfegoire, und die Sätze 
sind entnommen aus der ersten seiner 
großen Reden gegen den Vandalismus, 
die er im Convente am 31. August 1794 
hielt und in deren weiteren Verfolg 
er auch schon seine beutegierige Phan- 


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5 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 


6 


tasie Ober die Alpen schweifen ließ: 
„Certes, si nos armöes victorieuses p6- 
nfetrent en Italie, Tenlfevement de 
l'Apollon du Belvödfcre et de l’Hercule 
Famäse serait la plus brillante con- 
quöte. C’est la Gr6ce qui a d6cor6 
Rome, mais les chefs-d’oeuvre des R6- 
publiques grecques doivent-ils döoorer 
le pays des esclaves? La R6publique 
frangaise devrait 6tre leur dernier do- 
midle.“ So weit war man nun freilich 
noch nicht, aber bald sollte nun auch deut¬ 
sches Gebiet die Faust Frankreichs spüren. 

Ende Oktober trafen die französi¬ 
schen Raubkommissare, welche die 
Commission temporaire zu der Nord- 
annee und der Sambre-Maas-Armee 
beordert hatte, auch auf deutschen 
Boden ein und begannen hier ihre 
unheilvolle Tätigkeit auszuüben. Was 
gerade diese ersten Beraubungen nach 
allen noch vorhandenen Aufzeich¬ 
nungen und Nachrichten kennzeichnet, 
ist die maßlose Willkür, mit der die 
Kommissare auftraten. Unter Berufung 
auf eiiv Dekret des Wohlfahrtsaus¬ 
schusses plünderten sie nicht nur Kir¬ 
chen und Klöster, sondern auch öffent¬ 
liche Sammlungen und Bibliotheken 
sowie die Häuser von Privatpersonen 
(Emigranten) aus, ohne bei ihrem 
Vorgehen auch nur äußerlich durch 
Ausstellung von Quittungen den An¬ 
schein einer gesetzlichen Handlung auf¬ 
rechtzuerhalten. Wie sie vorgingen, 
mag man aus einigen Beispielen er¬ 
sehen. Ich wähle dabei ausdrücklich 
nur amtliche an und von französischen 
Behörden ausgestellteZeugnisse, welche 
doch aus begreiflichen Gründen sicher¬ 
lich die Vorgänge eher zu milde als 
mit Übertreibung schildern. Wir haben 
solche in ausgedehntem Maße gerade 
für die Stadt, welche besonders hart 
von den französischen Plünderungen 
betroffen worden ist, für Köln. 


Hier hat nämlich im Jahre 1796 der 
Nachfolger der ersten Raubkommission, 
namens Keil, zu Beginn seiner eigenen 
Tätigkeit durch ein Schreiben vom 
6. Oktober 1796 die städtischen Behör¬ 
den von Köln aufgefordert, festzustel- 
len, was von französischen Kommis¬ 
saren bis dahin an Kunst- und Litera¬ 
turschätzen beschlagnahmt und nach 
Paris geschafft worden sei. Der Muni¬ 
zipalverwalter Heinberg erließ darauf¬ 
hin am 9. Oktober 1796 eine öffentliche 
Aufforderung, Berichte über diese Vor¬ 
gänge einzureichen und Listen dessen, 
was genommen war, aufzustellen. Die 
eingegangenen Berichte, 11 an der Zahl, 
sind uns bei den französischen Verwal¬ 
tungsakten im Historischen Archiv der 
Stadt Köln im Original erhalten. 

Es geht aus diesen folgendes hervor: 
Am 5. November 1794 begaben sich 
die Herren Le Blond, Bibliothekar der 
Bibliothek der vier Nationen (Biblio- 
th&que Mazarine), Faujas de St-Fond, 
Professor der Geologie, und Thouin, 
Professor des Ackerbaus, in Beglei¬ 
tung des Sekretärs des Repräsen¬ 
tanten des Volkes Frööne zu dem 
Gebäude des ehemaligen Jesuitenkol¬ 
legs und forderten auf Grund einer von 
den Volksrepräsentanten Joubert und 
Haussmann unterschriebenen Vollmacht 
Eintritt in die Bibliothek, der ihnen ge¬ 
währt wurde: „A peine", fährt der 
Berichterstatter fort, „furent-ils entrös 
qu’ils prirent de tous les emplacemens 
les meilleurs livres, entre autres il y 
avait des Bibles 53 Tomes ou volumes 
avec un manuscrit höbreu du 13e sifecle 
6crit sur parchemin qui avoit 6t6 6va- 
lu6 par des experts ä 2000 florins. 
L’on prit tous les oeuvres philosophi- 
ques de Kircher, de Lanis etc. Presque 
tous les oeuvres historiques, gfeographi- 
ques et philologiques et ceux de la ju- 
risprudence, Signalement (1) beaucoup 

1 * 


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7 


Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 


8 


de l’empire romain furent sortis de 
leurs emplacements, ervcore nombre 
d’autres qui traitent des langues et des 
arts libäraux. Ils les jetferent par terre 
de maniäre que le matin du premier 
jour il y avait un tas de plus de 200 
cahiers. 11 fut donc impossible de dres- 
ser un regtstre de ce& livres-lä ; en sor- 
tant ils mirent les scelläs sur l'enträe de 
la Bibliothfeque et y ätablirent encore 
une garde. 

Le möme aprös-midi et les jours sui- 
vans l’on continua de la mäme fagon, 
ce qui dura pendant troii semaines, 
jusqu’ä ce que dans la suite ces livres 
successivement amassäs avec le cata- 
logue furent chargäs sur quatre cha- 
riotb ä quatre chevaux chacun et trans- 
portfes ä la maison de Geyr malgri les 
ridamations les plus fondäes qu’alors 
le magistrat avoit presentes au reprä- 
sentant du peuple Fräcine dans cette 
af faire.“ 

Weiter wird dann aufgezahlt: 

1. die Wegnahme der großen Samm¬ 
lung von Kupferstichen und Handzeich¬ 
nungen» in 208 Heften insgesamt 33062 
Blatter umfassend, 

2. eine Sammlung antiker Münzen, 

3. eine Sammlung von Marmorarten, 

4. eine Sammlung von Gold- und Sil¬ 
berbarren und -klumpen und eine 
Sammlung von Edelsteinen, die zum 
Teil geschnittene waren, 

5. eine Sammlung von Versteine¬ 
rungen, 

6. eine Muschelsammlung, 

7. eine Sammlung kleiner Antiqui¬ 
täten, wie Vasen, Urnen, Lampen, Pe¬ 
naten u. dgl. 

Der Berichterstatter, Administrator 
des Jesuitenkollegs St. J. Huertgen, 
fügt nochmals hinzu, daß Le Blond auch 
hier jedesmal die Türen versiegelt habe 
und daß es infolgedessen ganz un¬ 


möglich gewesen sei, ein genaueres 
Verzeichnis der weggenommenen Sa¬ 
chen anzu fertigen. Die erwähnten Re¬ 
klamationen, die der Magistrat der 
Stadt sowohl in betreff der Bibliothek 
als auch der Museumsstücke bei dem 
Volksrepräsentanten Fröcine einreichte, 
blieben völlig ergebnislos, ebenso wie 
eine Deputation in Paris wohl ihre 
Wünsche sogar im Konvente selbst 
Vorbringen durfte, aber nur Phrasen 
undTiraden 1 ) dafür eintauschen konnte, 
ohne nachher auch nur ein Stück der 
geraubten Schätze zurückzuerhalten. 

Aus dem Zeughause, über dessen 
Ausplünderung der Artilleriehauptmann 
Jos. Otto ein genaues Tagebuch geführt 
hat, wurden eine große Anzahl alter 
Kanonen, Mörser und Feldschlangen 
weggeführt, obwohl sie keinerlei Kriegs- 
wert besaßen, sondern nur Museums¬ 
stücke waren. Auch brach man drei 
römische Grabsteine aus den Wänden 
und schleppte sie nach Paris. Dem 
Sarkophag des Vitalis drohte das¬ 
selbe Schicksal, doch verschob man 
des Gewichtes wegen den Trans¬ 
port auf spätere Zeit, und dabei 
blieb es dann. 

Das Hauptraubstück aus Köln war 
aber das Rubensbild aus der Peters¬ 
kirche, welches am 19 Vend. An 3 
(10. Oktober 1794) von dem französi¬ 
schen Kommissar Pinet weggenommen 
wurde. Aus der Kirche St. Gereon nahm 
man eine antike Säule, die an der lin- 


1) Moniteur univ. An 3 no. 183. Le Prä¬ 
sident: Le peuple frangais ressemble point 
ä ces conquärans farouches pour qui la 
guerre n’est qu’un moyen d’asservir les 
hommes. II n’a pris les armes que pour d£- 
fendre son indäpendance attaquäe par tous 
les tyrans de l’Europe.... La Convention 
fera examiner vos räclamations, la loyautä 
frangaise vous garantit que la däcision sera 
conforme aux principes de justice qui sont 
la base de ses dälibärations. 


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DIE KULTUR DER GEGENWART 

IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE 

HERAUSGEGEBEN VON PROF. PAUL HINNEBERG 
VERLAG VON B. G. TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN 


Die „Kultur der Gegenwart“, für den weiten Umkreis aller Gebildeten bestimmt, soll in 
gemeinverständlicher, künstlerisch gewählter Sprache aus der Feder der geistigen Führer 
unserer Zeit eine systematisch aufgebaute, geschichtlich begründete Gesamtdarstellung unserer 
heutigen Kultur darbieten. Das Werk vereinigt eine Zahl erster Namen aus allen Ge¬ 
bieten der Wissenschaft und Praxis, wie sie kaum ein zweites Mal in einem anderen 
literarischen Unternehmen irgendeines Landes oder Zeitalters vereint zu finden sein wird. 

Von Teil III Abt. VII „Naturphilosophie und Psychologie“ erschien Band i: 

NATURPHILOSOPHIE 

UNTER REDAKTION VON 

GEH. REG.-RAT Dr. CARL STUMPF, PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT BERLIN 

BEARBEITET VON 

dr. ERICH BECHER 

PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT MÜNSTER 

[X u. 427 Seiten.] Lexikon-8. f T^i in Leinwand gebunden M. 16.—, 
1914. Preis geheftet M. 14.—, nT in Halbfranz gebunden M. 18.— 

Die Naturphilosophie soll aus dem von den Naturwissenschaften erarbei¬ 
teten Erkenntnismaterial ein einheitliches Gesamtbild der Natur schaffen. Bei 
dieser umfassenden Vereinheitlichung drängen sich weitreichende Voraus¬ 
setzungen des Naturerkennens auf, deren systematische Untersuchung die 
Aufgabe der Naturerkenntnistheorie bildet. 

Die Naturerkenntnistheorie stellt so den grundlegenden Teil der Natur¬ 
philosophie dar. Die Untersuchung jener Voraussetzungen (Annahme einer 
allgemeinen Naturgesetzmäßigkeit, die Realität der Außenwelt usw.) fordert 
abstrakte Gedankengänge, die aber durch zahlreiche Beispiele dem Ver¬ 
ständnis nahegebracht werden. Die fundamentale Wichtigkeit jener Vor¬ 
aussetzungen für unsere ganze Natur- und Welterkenntnis verleiht einer 
kritischen Untersuchung derselben ein lebhaftes Interesse, sobald einmal der 
Blick auf diese Fragen hingelenkt worden ist. 

Die vorliegende Naturerkenntnistheorie führt zu dem Ergebnis, daß wir 
an der Realität und der Erkennbarkeit der Außenwelt festhalten dürfen. Da¬ 
mit ist die Grundlage für ein Gesamtbild der Natur geschaffen, das im zweiten 
Hauptteil zur Darstellung gelangt Zunächst wird der Aufbau der Körper¬ 
welt bis zu den kleinsten Strukturelementen, die zurzeit bekannt sind, den 
Elektronen, betrachtet. Dann ist die Frage zu erörtern, ob es vielleicht außer 
der wahrnehmbaren Materie noch andere körperliche Realitäten gibt, ob et¬ 
wa die gegenwärtig viel umstrittene Ätherannahme zu Recht besteht. Nach- 


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dem so das beharrende körperliche Sein besprochen wurde, wendet sich 
die Untersuchung dem körperlichen Geschehen zu. Sie prüft die kinetische 
Naturauffassung, die alle körperlichen Vorgänge als Bewegungen betrachtet; 
sie entwickelt die Umgestaltung dieser Naturauffassung vom mechanischen 
Naturbild zur Elektrokinetik. 

Die Lebewesen, als eine durch eigentümliche Merkmale ausgezeichnete 
Gruppe von Naturdingen, erfordern eine besondere Betrachtung. Sie bringt 
die für die Weltanschauung so wichtigen Fragen nach Herkunft, Entwick¬ 
lung und Wesen des Lebens zur Sprache. 

Die Fülle der behandelten Probleme mag man aus der unten folgenden 
Inhaltsübersicht ersehen. 

INHALTSÜBERSICHT 




Einleitung. Aufgabe der Naturphilo¬ 
sophie. Aus der Geschichte der Naturphilo¬ 
sophie. Vorläufige Bestimmung des Begriffes 
Natur. Naturwissenschaft und Naturphilosophie. 

Naturerkenntnistheorie. Aufgabe der Er¬ 
kenntnistheorie, insbesondere der Naturerkennt¬ 
nistheorie. Methode der Erkenntnistheorie. Vor¬ 
läufige Festlegung und Kritik vorwissenschaft¬ 
licher und wissenschaftlicher Realitätsvoraus¬ 
setzungen. Feststellung der immanenten Grund¬ 
lagen und Rechtfertigung transzendenter Vor¬ 
aussetzungen. Die Voraussetzung des Erinne¬ 
rungsvertrauens. Die Regelmäßigkeitsvorausset¬ 
zung. Erkenntnistheoretische Rechtfertigung der 
Regelmäßigkeitsvoraussetzung. Die Gesetzmäßig¬ 
keitsvoraussetzung. Dingbegriff und Substanz¬ 
begriff. Der Kausalbegriff und die einschlägigen 
Voraussetzungen. Die Voraussetzung einer realen 
Außenwelt. Möglichkeit, Charakter und Grenzen 
der Außenweltserkenntnis. Die Voraussetzung 
einer Körperwelt. Körper nnd Kräfte. Unkör¬ 
perliche bewußtseins-transzendente Realitäten. 
Der Naturbegriff. Schluß. 

Gesamtbild der Natur. 

Struktur und Bausteine der gewöhn¬ 
lichen Körper. Einleitung. Makrostruktur 
und Mikrostruktur der Körperwelt. Unhaltbar¬ 
keit prinzipieller Einwändc gegen die Mikro¬ 
strukturhypothesen. Allgemeine Begründung der 
physikalischen MQlckulartheorie. Molekular¬ 
theorie der Aggregatzuständc. Kinetische Gas- 
theoric. Größenverhältnisse in der Welt der 
Moleküle. Die chemische Molekular- und Atom- 
theoric. Fortsetzung. Gewichtsverhältnisse bei 
chemischen Verbindungen (Stöchiometrie). Kri¬ 
tisches zur chemischen Molekular- und Atom¬ 


theorie. Die Elektronentheorie. Fortsetzung. 
Elektroncntheorie der Elektrizität mit sich füh¬ 
renden Strahlen. Die Struktur der Atome und 
ihre elektrischen Bausteine. Fortsetzung. Elek¬ 
trische Theorie der Materie. Schwierigkeiten der 
Elektronentheorie und der elektrischen Theorie 
der Materie. Ergebnis. Die naturwissenschaft¬ 
liche Erkenntnis der Materie und ihrer Bausteine. 

Problematische körperliche Realitäten 
im „leeren“ Raume. Der Äther der ela¬ 
stischen Lichttheorie. Die elektromagnetische 
Lichttheorie und ihre Ätherlehre. Die Faraday- 
Maxwellsche Theorie und die Elektronentheoric. 
Äther und Elektronen. Kritik der Ätherlehre. 
Die sogenannten Feld-,,Zustände“ des Äthers 
als selbständige stoffartige Realitäten. Prüfung 
der Synthese von Emissions- und Wellentheorie 
des Lichtes sowie der Stofftheorie des elektri¬ 
schen und magnetischen Feldes. 

Das Geschehen an den unbelebten Kör¬ 
pern. Allgemeinere Motive und Argumente für 
die kinetische Naturauftassung. Empirische Be¬ 
gründung der einzelnen kinetischen Hypothesen. 
Elimination von Qualitäten aus dem Naturbild 
durch kinetische und Strukturtheorien. Spezielle 
Ausgestaltungen der kinetischen Naturauffassung. 
Mechanische und kinetisch-elektrische Auffassung. 

Die lebenden Körper und das Lebens¬ 
geschehen. Die charakteristischen Merkmale 
der Lebewesen, Einteilung der Lebewesen. 
Die Abstammungslehre. Die Herkunft der älte¬ 
sten irdischen Lebewesen. Die Triebkräfte der 
Entwicklung der Arten. Zweckmäßigkeitsent¬ 
wicklung und Beseelung. Psychovitalismus. 
Kritische Betrachtung von Einwänden gegen 
den Vitalismus. Metaphysischer Abschluß des 
Naturbildes. Literaturverzeichnis. Namenregister. 


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Die Kultur der Gegenwart: Naturphilosophie 3 


Aus: DIE GESCHICHTE DER NATURPHILOSOPHIE 

Die Naturphilosophie der letzten Jahrzehnte. Auch in der Zeit 
der entschiedenen Verachtung aller Philosophie hat die naturphilosophische 

Arbeit nie ganz geruht. Die großen naturwissenschaftlichen Errungenschaften Die natur 
des vorigen Jahrhunderts brachten ihr neue, kräftige Antriebe. Der Aufbau ^genst 
organischer Verbindungen aus unorganischen Stoffen durch die Chemiker (zu- de* xix 
nächst Wöhlers Synthese des Harnstoffes) riß eine Schranke zwischen der humlrr 
lebendigen und toten Natur ein und gab einen Anstoß zum Kampfe zwischen 
Vitalismus (vgl. S. 14,197) und Mechanismus in der Biologie. Das Gesetz von 
der Erhaltung der Energie verband und vereinheitlichte die verschiedenen Teil¬ 
gebiete der Physik und fernerhin auch anderer Naturwissenschaften. Der 
Entropiesatz legte Schlüsse auf das zukünftige Geschick unserer Welt nahe. 

Dann kam, von Darwin siegreich durchgeführt, der Entwicklungsgedanke, in 
Verbindung mit der Zuchtwahllehre — von D. Fr. Strauß als erstes Kind der 
heimlichen Ehe zwischen Philosophie und Naturwissenschaft begrüßt. 

Alles dies drängte die Naturforscher zur Naturphilosophie hin, wenn sieNouesAufs 
es auch selbst nicht Wort haben wollten. Die Philosophen, die nach dem Zu- p d " o ^ p 
sammenbruch der spekulativen Systeme gerade der Naturphilosophie gegen¬ 
über sehr zurückhaltend blieben, näherten sich ihr doch von der Wissenschafts¬ 
lehre, von der Erkenntnistheorie her, die nach dem Bankrott der nachkantischen 
Metaphysik vielen, insbesondere den Neukantianern, als die eigentlich zentrale» 


! 


Aus: ERKENNTNISTHEORETISCHE RECHTFERTIGUNG 
DER REGELMÄSSIGKEITSVORAUSSETZUNG 

Erklären und Verstehen kann also nicht weiter reichen, als die Regel¬ 
mäßigkeit des Wirklichen reicht. Ein plötzlich in mein Bewußtsein herein¬ 
brechendes lautes Geräusch wird verständlich, wenn ich es als regelmäßige 
Wirkung einer außerbewußten Ursache, etwa des Fallens eines Brettes, auf¬ 
fasse. Die Annahme, daß alles Wirkliche sich Regeln fügt, ist Voraussetzung 
der Verständlichkeit desselben. Wer mutig daran gehen will, die Welt ver¬ 
stehen und erklären zu lernen, muß voraussetzen, daß sie bis in die kleinsten 
Einzelheiten unter Regeln steht. Jede Ausnahme von einer Regel bleibt 
unverständlich, solange sie sich nicht als Erfüllung einer Regel erweist Soll 
das Wirkliche im Prinzip ganz erklärbar sein, so muß jeder Durchbruch 
einer Regel selbst die Bestätigung einer anderen Regel darstellen, die über 
der durchbrochenen Regel steht, weil sie das Durchbrechen derselben be¬ 
herrscht; die Regelmäßigkeit des Gesamtwirklichen muß eine absolut strenge 
sein, so daß wir von einer Gesetzmäßigkeit sprechen dürfen, sofern dies Wort 
strenge Regelmäßigkeit bedeutet. — So nennt Windelband die (kausale) 
Gesetzmäßigkeit oberste logische Voraussetzung für die Möglichkeit, den Zu¬ 
sammenhang unserer Erfahrungswelt erfolgreich zu erklären. 




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Die Kultur der Gegemrart: Naturphilosophie 


In der Notwendigkeit für weite Erkenntnisgebiete und wichtige Er¬ 
kenntnisinteressen liegt eine Rechtfertigung der Regelmäßigkeitsvoraus¬ 
setzung, die sie der Willkür entzieht Die Regelmäßigkeitsvoraussetzung 
kann so wenig bewiesen werden wie die Voraussetzung der Erinnerungser¬ 
kenntnis. Aber beide sind notwendig für das Erkennen, wie es in Wissen¬ 
schaft und Leben vorliegt. Die Erkenntnistheorie kann diese letzten Vor¬ 
aussetzungen nicht beweisen; wer dies von ihr fordert, verlangt Unmögliches. 
Aber indem sie die letzten Voraussetzungen unseres Erkennens ans Licht 
bringt und zeigt, was diese in ihrer Gesamtheit für dasselbe leisten, kann 
die Erkenntnistheorie deren Unentbehrlichkeit für unser Erkennen und unsere 
Wissenschaft dartun. Das entzieht die Voraussetzungen der Willkür und 
muß zur Rechtfertigung dienen. 


Aus: DER KAUSALBEGRIFF UND DIE EINSCHLÄGIGEN 

VORAUSSETZUNGEN 

ler Kausal- Unter diesen Umständen liegt der Gedanke sehr nahe, daß im Fortschritt 
^ Funktion! *^ er Wissenschaft der Kausalbegriff durch den Funktionsbegriff zu ersetzen 
'«griff m sei. Dies wird gegenwärtig vielfach im Anschluß an Mach und unter dem 
rsetzen? Einfluß empiristisch gesinnter Philosophen wie Comte gefordert In der Tat, 
wo eine unvollkommenere Wissenschaft nur lehren konnte, daß der elek¬ 
trische Strom als Ursache eine mit seiner Intensität steigende Erwärmung 
des Leitungsdrahtes bewirkt, da bietet auf Grund ihrer Fortschritte die Physik 
später im Jouleschen Gesetz eine Funktion, eine Formel an, die genau sagt, 
wieviel Wärme produziert wird, wie Stromstärke und Widerstand in Rech¬ 
nung zu setzen sind. Die Funktion scheint die provisorische Angabe über 
den Ursache-Wirkungszusammenhang in vorteilhaftester Weise zu ersetzen, 
ablehnend* Indessen handelt es sich hierbei nicht um eine Elimination des Kausal- 
eantwortong begriffes zugunsten des Funktionsbegriffes, sondern nur um eine exakte Be- 

«*ser Frage. ° ° ° 

Stimmung des Kausalzusammenhanges durch Benutzung der Funktion. 


Aus: STRUKTUR UND BAUSTEINE DER GEWÖHNLICHEN 

KÖRPER 

Die Elektronentheorie. Die Molekular- und Atomhypothese, wie 
wir sie bisher dargestellt haben, bildete bis vor nicht allzu langer Zeit den 
wesentlichen Inhalt der Mikrostrukturlehre. Zwar wurde sie durch mancher¬ 
lei Hilfshypothesen ausgebaut; es sei nur der Dissoziationshypothesen ge¬ 
dacht, die besagen, daß manche Moleküle von Dämpfen (z. B. beim Salmiak) 
und von gelösten Stoffen (z. B. beim Kochsalz in wässeriger Lösung) in 
kleinere Atomkomplexe oder Atome zerfallen; so zerfallen etwa Kochsalz¬ 
moleküle (— Chlomatriummoleküle) im Wasser in Chloratome und Natrium- 

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Die Kultur der Gegenwart: Naturphilosophie 


5 


atome, denen überdies entgegengesetzte elektrische Ladungen zugeschrieben 
werden (elektrolytische Dissoziation; die elektrisch geladenen Molekülbruch¬ 
stücke, Atome oder Atomkomplexe, heißen Ionen). Aber die Atome der 
chemischen Elemente blieben die letzten Bausteine, über die nur vage Ver¬ 
mutungen hinausführten, obwohl im Laufe der Zeit einige Tatsachen zu¬ 
sammenkamen, die deutlich verrieten, daß die Atome keine strukturlosen 
Ureinheiten, sondern Gebilde von kompliziertem innerem Bau sein müssen* 
Erst die Lehre von der atomistischen Struktur der Elektrizität, die Elektronen¬ 
theorie, führte hier weiter. Sie hat eine Fülle von Erscheinungen unter gleich¬ 
artige Gesichtspunkte gebracht und erklärt, und sie hat einen Einblick in 
den inneren Bau der Atome eröffnet, der bereits heute, wo noch gar vieles 
im unklaren liegt, eine prinzipielle, epochemachende Erweiterung der Mikro¬ 
strukturlehre bedeutet 


Aus: DAS GESCHEHEN AN DEN UNBELEBTEN KÖRPERN 

Wird in der Gegenwart die kinetische Naturauffassung durchgefuhrt, so 
sind diese Verhältnisse zu berücksichtigen. Die alte Mechanik beherrscht 
nicht alle Bewegungen. Eine allgemeine kinetische Naturauffassung kann 
keine mechanische Auffassung mehr sein. Wenn alle Stoffe (vom Äther und 
von den Feldstoffen sei hier abgesehen) aus Elektrizitätspartikelchen be¬ 
stehen, so werden alle Bewegungen von der Elektrizitätsbewegungslehre, 
von der Elektrodynamik (dies Wort im weitesten Sinne genommen) beherrscht 
An Stelle der kinetisch-mechanischen Naturauffassung der einen oder an¬ 
deren Art tritt die kinetisch-elektrodynamische oder kürzer die kinetisch-Kinetisch-, 
elektrische Naturauffassung. Sie besagt: Alles Naturgeschehen ist Be- tn a a ' f ^ 3 Na 
wegung elektrischer Ladungen, die den Gesetzen der Elektrodynamik 
gehorcht. Diese kinetisch-elektrische Auffassung des Natur-Geschehens 
bildet die Ergänzung zur elektrischen Auffassung des Natur-Seins, zur elek¬ 
trischen Hypothese der Materie, welche besagt: Die ganze Natur ist aus 
elektrischen Ladungen, aus Elektrizitätspartikelchen, aufgebaut. 


Aus: DIE LEBENDEN KÖRPER UND DAS LEBENSGESCHEHEN 

Zweckmäßigkeiten der Form und der Struktur sowie der Funktion gibt 
es auch bei toten Dingen, z. B. bei Maschinen, und diesen sind darum auch 
die Lebewesen vielfach verglichen worden. Immerhin bestehen bedeutsame 
Unterschiede. Die Zweckmäßigkeit der Maschine geht auf den menschlichen 
Erbauer zurück und dient in erster Linie diesem, während die Zweckmäßig¬ 
keit eines Lebewesens in erster Linie ihm selbst und der Erhaltung und Ver¬ 
breitung seiner Art dient. Doch ist dies weniger durchschlagend; denn es 
gibt auch zweckmäßige Einrichtungen an Maschinen, die direkt der Erhal- 

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Die Kultur der Gegenwart: Naturphilosophie 






tung der Maschinen selbst dienen, wie z. B. das Sicherheitsventil einer Dampf¬ 
maschine, welches die Explosion des Kessels verhindert. Wesentlicher ist 
ibständige der folgende Unterschied: Das Lebewesen mit seiner Zweckmäßigkeit ent¬ 
wichen” ste ht selbständig aus den Anlagen einer Eizelle; die Maschine aber ent- 
kmäßigen. wickelt sich nicht aus einem Keime kraft der inneren Fähigkeiten desselben, 
sondern sie wird von einem Erbauer, dem Menschen, zusammengesetzt. Diese 
Fähigkeit des Lebendigen, aus eigener Kraft sich zu entwickeln und zweck¬ 
mäßig zu gestalten, tritt auch in der Regeneration zerstörter Teile zutage. 
Ein Wurm kann den abgebissenen Kopf neubilden; aber keine Maschine 
vermag selbständig ein abgerissenes Rad am rechten Orte neu hervorzu¬ 
bringen. Die selbständige Entwicklung und Neubildung des Zweckmäßigen 
ist charakteristisch für die lebende Natur. Daraus ergibt sich bereits, daß 
eine eingehendere Betrachtung der organischen Zweckmäßigkeit die Ent¬ 
stehung des Zweckmäßigen notwendig berücksichtigen muß. Darum fragen 
wir erst nach der Entstehung der Organismen, ehe wir auf das Teleologie¬ 
problem, auf die Zweckmäßigkeitsfrage, genauer eingehen. . . . 

Der Psycholamarckismus ist im Grundgedanken dem Darwinschen Se¬ 
lektionsprinzip nahe verwandt. Das tritt deutlich hervor, wenn wir ersteren 
noch etwas weiter fassen, als es bisher geschehen ist: Zufällig entstehe et¬ 
was Zweckmäßiges, oder etwas bereits am Organismus Vorhandenes finde 
zufällig zweckmäßige Verwendung. Nach psycholamarckistischer Lehre emp¬ 
findet die lebende Substanz den Vorteil, und sie hält das zufällig Zweck¬ 
mäßige darum gedächtnismäßig fest; sie steigert es womöglich. Wenn da¬ 
gegen etwas Zweckloses entsteht, so wird es nicht von der lebenden Sub¬ 
stanz gedächtnismäßig fixiert oder gar gesteigert; es kommt daher nicht zur 
Ausgestaltung. Ebenso rechnet die Darwinsche Selektionslehre mit der zu¬ 
fälligen Entstehung des Zweckmäßigen. Nach Darwin wird dasselbe jedoch 
nicht durch Wahrnehmung und Gedächtnis ausgelesen und festgehalten, son¬ 
dern durch den Daseinskampf ausgesiebt; das Zwecklose und Zweckwidrige 
verschwindet, weil seine Träger im Leben nicht bestehen können. Wie bei 
Probierreaktionen unter vielem Ungeeigneten zufällig Zweckmäßiges auf- 
tritt, so auch bei den Unterschieden, welche Geschwister aufweisen. Wenn 
die Natur die Nachkommen eines Individuums oder Paares verschieden aus- 
fallen läßt, so ist das sozusagen auch ein Probieren. Was dabei an Zweck¬ 
mäßigem herauskommt, kann durch den Daseinskampf oder durch Verspüren 
und Verhalten ausgesondert werden. 

Das Festhalten wertvoller Änderungen geschieht nach der Darwinschen 
Hypothese durch Vererbung, nach der psycholamarckistischen zunächst 
durch das Gedächtnis der lebenden Substanz, weiterhin dann auch durch 
e Vererbung Vererbung. Dieser Unterschied fällt aber fort, wenn wir mit der Mneme- 
rs'cbetnung lehre die Vererbung als Gedächtniserscheinung betrachten. Ein Organismus 
sjnemeiebre“) babe eine neue Reaktion erlernt und behalte sie vermöge seines Gedächt¬ 
nisses; wenn nun diese Reaktion 


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_ 

Inhaltlich verwandte Bände der Kultur der Gegenwart: 




Erkenntnistheorie: A. Riehl. II. Metaphysik: W. Wundt III. Naturphilosophie: W. Ostwald. IV". Psychologie: 
H. Ebbinghaus. V. Philosophie der Geschichte: K. Eucken. VI. Ethik: Fr. Paulsen. VII. Pädagogik: 
W. Münch. VIU. Ästhetik: Th. Lipps. — Die Zukunftsaufgaben der Philosophie: Fr. Paulsen. 

Allgemeine Geschichte der Philosophie. 

Geh. M. 14.—, in Leinwand gebunden M. x6.—, in Halbfranz gebunden M. 18.— 

Inhalt: Einleitung. Die Anfänge der Philosophie und die Philosophie der primitiven Völker: W. Wundt. 
A Die orientalische (ostasiatische) Philosophie. L Die indische Philosophie: H. Oldenberg. 1 L Die chinesische 
Philosophie: W. Grube. HL Die japanische Philosophie: T. Inouye. B. Die europäische Philosophie (und die 
islamisch-jüdische Philosophie des Mittelalters). I. Die europäische Philosophie des Altertums: H. v. Arnim. II. Die 
patristische Philosophie: CI. Baeumker. UI. Die islamische und die jüdische Philosophie des Mittelalters: J. Gold- 
ziher. IV. Die christl Philosophie des Mittelalters: CLBaeumker. V. Die neuere Philosophie: W.Windelband. 

Phircitr Redaktion von E. Warburg. Mit xo6 Abbildungen. [X, 762 S.] Lex.-8. 19x4. (Teil HI, Abt. UI, 

riiyolK. Bd. f ) Geh. M. 22.—, geb. M. 24.—, in Halbfranz geb. M. 16 . — 

Inhalt: l. Mechanik. Die Mechanik im Rahmen der allgemeinen Physik. Von E. Wiechert 2. Akustik. 
Historische Entwicklung und kulturelle Beziehungen. Von F. Auerbach. 3. Wärmelehre. Thermometric. Von 
E.Warburg. Kalorimetrie. VonL.Holborn. Entwicklung der Thermodynamik. Von F. H enning. Mechanische 
and thermische Eigenschaften der Materie in den Aggregatzuständen. Von L. Holborn. Umwandlungspunkte, Er¬ 
scheinungen bei koexistierenden Phasen. Von L. Holborn. Wärmeleitung. Von W. Jäger. Wärmestrahlung. 
Von H.Rubens. Theorie der Wärmestrahlung. Von W. Wien. Experimentelle Atomistik. Von E. Dorn. Theo¬ 
retische Atomistik. Von A. Einstein. 4. Elektrizitätslehre. Geschichte der Elektrizität bis zum Siege der 
Faradayschen Anschauungen. Von F. Richarz. Die Entdeckungen von .Maxwell und Hertz. Von E. Lecher. 
Die Maxwellsche Theorie und die Elektronentheorie. Von H. A. Lorentz. Ältere und neuere Theorien des Magne¬ 
tismus. Von R. Gans. Die Energie degradierender Vorgänge im elektromagnetischen Feld. Von E. Gnmlich. 
Die drahtlose Telegraphie. Von F. Braun. Schwingungen gekoppelter Systeme. Von M. Wien. Elektrisches 
Leitungsvermögen. Von H. Starke. Die Kathodenstrahlen. Von W. Kaufmann. Die positiven Strahlen. Von 
E. Gehrke und O. Reichenheim. Röntgenstrahlen. Von W. Kauf mann. Entdeckungsgeschichte und Grund¬ 
tatsachen der Radioaktivität. Von J. Elster und H. GeiteL Radioaktive Strahlungen und Umwandlungen. Von 
St. Meyer und E. v. Schweidler. 5. Lehre vom Licht. Entwicklung der Wellenlehre des Lichtes. Von 
0 . Wiener. Neuere Fortschritte der geometrischen Optik. Von O. Lummer. Spektralanalyse. Von F. Ex ne r. 
Struktur der Spektrallinien. Von E. Gehrcke. Magnetooptik. Von P. Zeeman. 6. Allgemeine Gesetze und 
Gesichtspunkte. Über das Verhältnis der Präzisionsmessungen zu den allgemeinen Zielen der Physik. Von E. War¬ 
burg. Prinzip der Erhaltung der Energie und die Vermehrung der Entropie. Von F. Hasenöhr 1 . Prinzip der 
kleinsten Wirkung. Von M. Planck. Die Relativitätstheorie. Von A. Einstein. Phänomenologische und ato- 
mistische Betrachtungsweise. Von W. Voigt. Verhältnis der Theorien zueinander. Von M. Planck. 

Chemie, allgemeine Kristallographie und Mineralogie. 

Rinne. Mit 53 Abbildungen. [VH u. 650 S.] Lex.-8. 1913. (Teil UI, Abt. 1 H, Bd. 2.) Geh. M. x8,—, in Leinwand 
geb. M. 20.—, in Halbfranz geb. M. 22.— 

Inhalt: Entwicklung der Chemie von Robert Boyle bis Lavoisier (1660—1793). Von E. v. Meyer. Die Ent¬ 
wicklung der Chemie im 19. Jahrhundert durch Begründung und Ausbau der Atomtheorie. Von E. v. Meyer. An¬ 
organische Chemie. Von C. En gl er und L. WÖhler. Organische Chemie. Von O. Wallach. Physikalische Chemie. 
Von R. Luther und W. Nernst. Photochemie. Von R. Luther. Elektrochemie. Von M. Le Blanc. Be¬ 
ziehungen der Chemie zur Physiologie. Von A. Kos sei. Beziehungen der Chemie zum Ackerbau. Von fO. Kellner 
und R. Immendorf. Wechselwirkungen zwischen der chemischen Forschung und der chemischen Technik. Von 
O. N. Witt Allgemeine Kristallographie und Mineralogie. Von Fr. Rinne. 

Astronomie. Redaktion von J. Hartmann. (Teil HI, Abt. HI, Bd. 3.) [Unter der Presse.] 

Inhalt: Anfänge der Astronomie, Zusammenhang mit der Religion. Von F. Boll. Chronologie und Kalender¬ 
wesen. Von F. K. Ginzel. Zeitmessung. Von J. Hartmann. Astronomische Ortsbestimmung. Von L. Ambro nn. 
Erweiterung des Raumbegriffs. Von A.v. F 1 otow. Mechanische Theorie des Planetensystems. Von J. v. Hepperger. 
Physische Erforschung des Planetensystems. Von K. Gr aff. Die Physik der Sonne. Von E. Pringsheim. Die 
Physik der Fixsterne. Von f F. W. Ristenpart. Das Sternsystem. Von H. Kobold. Beziehungen der Astronomie 
zu Kunst und Technik. Von L. Ambronn. 

A ll/ynm/iino PiAlnmo Redaktion von +C. Chun und W. Johannsen. Unter Mitarbeit von A. 
Allgemeine DlOlOgie. Günthart. Mit 1x5 Abbildungen. [XI u. 691 S.] Lex.-8. 1914. (Teil HI, 
Abt IV, Bd. x.) Geh. M. 21.—, geb. M. 23.—, in Halbfranz geb. M. 25.— 

Inhalt: Zur Geschichte der Biologie von Linnfe bis Darwin. Von E. RadL Die Richtungen der biologischen 
Forschung mit besonderer Berücksichtigung der zoologischen Forschuugsmethoden. Von A. Fischei. Die Unter¬ 
suchungsmethoden des Botanikers. Von O. Rosenberg. Zur Geschichte und Kritik des Begriffes der Homologie. 
Von H. Spemann. Die Zweckmäßigkeit Von O. zur Strassen. Die allgemeinen Kennzeichen der organisierten 
Substanz. Von W. Ostwald. Das Wesen des Lebens. Von W. Roux. Lebenslauf, Alter und Tod des Individuums. 
Von W.Schleip. Protoplasma; Zellenbau, Elementarstruktur, Mikroorganismen, Urzeugung. Von +B. Lidforss. 
Durch Licht verursachte Bewegungen der Chromatophoren. Von G. Senn. Mikrobiologie. Von M. Hartmann. 
Entwicklungsmechanik tierischer Organismen. Von E. Laqueur. Regeneration der Tiere. Von H. Przibram. 
Regeneration und T ranspiantation im Pflanzenreich. Von E. B a u r. Fortpflanzung im Tierreiche. Von E. Godlewski. 
Fortpflanzung im Pflanzenreiche. Von P. Claußen. Periodizität im Leben der Pflanze. Von W. Johannsen. Glie¬ 
derung der Organismenwelt in Pflanze und Tier. Wechselbeziehungen zwischen Pflanze und Tier. Von O. Porsch. 
Hydrobiologie (Skizze ihrer Methoden und Ergebnisse). Von P. BoysenJensen. Experimentelle Grundlagen der 
Deszendenzlehre, Vererbung, Variabilität, Kreuzung, Mutation. Von W. Johannsen. 

Abstammungslehre, Systematik, Paläontologie, Biogeographie- 

Redaktion von R. Hertwig und R. v. Wettstein. Mit 112 Abbildungen* [X u. 61t S.] Lex.-8. 1913. (Teil IH, 
Abt IV, Bd. a.) Geh. M. 20.—, in Leinwand geb. M. 22.—, in Halbfranz M. 24.— 

Inhalt: Die Abstammungslehre. Von R. Hertwig. Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung 
des Systemj der Tiere. Von L. Plate. Das System der Pflanzen. Von R. v. Wettstein. Biogeographic. Von 
A. Brauer. Pflanzengeographie. Von A. Engler. Tiergeographie. Von A. Brauer. Paläontologie und Paldo- 
zoologie. Von O. AbeL Paläobotanik. Von W. J. Jong raans. Phylogenie der Pflanzen. Von R. v. Wettste in. 
Phylogenie der Wirbellosen. Von K. Hei der. Phylogenie der Wirbeltiere. Von J. E. V. Boas. 


2., durchgesehene Aufl. [X u. 435 S # ] Lex.-8. 1908. (Teil I, Abt. VI.) 
i illltJoVjpillC, Geh. M. xo.—, in Leinwand geb. M. 12. —, in Halbfranz geb. M. X4.— 
1 Das Wesen der Philosophie: W. Dilthey. Die einzelnen Teilgebiete. I. Logik und 


Systematische 

Inhalt: Allgemeine 


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INDIANA UNIVERSITY 






•• ■ y* 

Allgemeine Übersicht von Teil in der Kultur der Gegenwart 

Die mathematischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Kultur¬ 
gebiete. [19 Bände.] 

Lex.-8. Geheftet und in Leinwand gebunden. In Halbfrans gebunden jeder Band M. a.— mehr. 

(* erschienen: I, x. I, a. 1 , 3. III, x. HI, a. IV, x. IV, a. IV, 4. VII, 1; + unter der Presse III, 3. IV, 3,1. V. 


* 1 . Abt. Die math.Wissenschaften. (1 Band.) 
Abteilungsleiter und Raudredakteur: F. Klein. Bearb. 
von P. Stickel, H. E. Timerding, A. Voß, H. G. Zeuthen. 
5Lfgn. Lex.-8. ♦LLfg. (Zeuthen). [IVU.95S.] 191a. Geh. 
M. 3.— •H.Lfg. (Voß u. Timerding.) [Ivo. x6xS.j 1914. 
Geh. M. 6.— *IIL Lfg. (Voß.) [VI u. 148 S.] 19x4. 
Geh. M. 5.- 

II. Abt. Die Vorgeschichte der modernen 
N aturwissenschaften u. d. Medizin. (1 Band.) 
Bandredakteure: J. Ilberg und K. Sudhoff. Bearb. von 
F.Boll, S.Günther, LL. Hetberg, M.Hoefler, J. Ilberg, 

E. Seidel, K. Sudhoff, K.Wiede iu ann u.a. 

III. Abt. Anorgan. Naturwissenschaften. 

Abteilungsleiter: E. Lecher. 

♦Band 1. Physik. Bandredakteur: E. Warburg. Mit¬ 
arbeiter siehe umstehende Anzeige. Mit xo6 Abbild. 
[XU.762S.] 1914. M. 22.—, M. 24.— 

♦Band 2. Chemie, allgemeine Kristallographie 
und Mineralogie. Baudredakteur: E. v. Meyer u. 
Fr. Rinne. Mitarbeiter siehe umstehende Anzeige. 
Mit S 3 Abb. [XIV u. 663 S.] 1911. M. x8.—, M. 20.— 
fBana 3. Astronomie. Bandredakteur: J.Hartmann. 
Mitarbeiter siehe umstehende Anzeige. 

Band 4. Geonomie. Bandredakteure: f I.B.Messer¬ 
schmitt und H. Benndorf. Mit einer Einleitung von 

F. R. Helmert. Bearbeitet von H. Benndorf, f G.H. 
Darwin, O. Eggert, S. Finsterwalder, E. Kohlschütter, 
H. Mache, A. Nippoldt. 

Band 5. Geologie (einschließlich Petrographie). 
Bandredakteur: A Rothpletz. Bearbeitet von A. Ber- 
geat, J. Königsberger, A. Rothpletz. 

Band 6. Physiogeographie. Bandredakteur: E. 
Brückner, x. Hälfte: Allgemeine Physiogeographie. 
Bearbeitet von E. Brückner, S. Finsterwalder, J. v. 
Hann, f O. Krümmel, A. Merz, E. Oberhummer u. a. 
2. Hälfte: Spezielle Physiogeographie. Bearbeitet von 
E. Brückner, W. M. Davis u. a. 

IV. Abt. Organische Naturwissenschaften. 

Abteilungsleiter: R. v. Wertstem. 

♦Band x. Allgemeine Biologie. Baadredakteure: 
|C. Chun und W. Johannsen. Unter Mitwirkung von 
A. Günthart Mitarbeiter siehe umstehende Anzeige. 
Mit 1x5 Abb. [XI u. 691 S.] 1914. M. 21.—, M. 23.— 


•Band 2. Zellen- und Gewebelehre, Morphologie 
u. Entwicklungsgeschichte, x. Botanischer TeiL 
Bandred.: f E. Strasburger. Bearb. von W. Benecke 
und fE. Strasburger. Mit 135 Abb. [VI u. 328 S.] 
19x3. M. xo.—, M.12.—. 2. Zoologischer Teil. Band¬ 
redakt.: O. Hertwig. Bearb. von E. Gaupp, K. Heider, 
O. Hertwig, R. Hertwig, F. Keibel, H. Poll. Mit 413 
Abb. [VI u. 538 S.] 19x3. M. 16.—, M. x8.— 

Band 3. Physiologie u. Ökologie, fl. Botan.Teil. 
Bandredakteur: G. Haberlandt. Bearbeitet v. E. Baur, 
Fr. Czapek, H. v. Guttenberg. II. Zoolog. Teil. 
Bandredakteur und Mitarbeiter noch unbestimmt. 
•Band 4. Abstammungslehre, Systematik, Paläon¬ 
tologie, Biogeographie. Bandredakteure: R. 
Hertwig und R. v. Wettstein. Mitarbeiter siehe um¬ 
stehende Anzeige. Mit 112 Abbildungen. [IX, 620 SJ 
X914. M. 20.—, M. 22.— 

fV. Abt. Anthropologie einschl. naturwissen- 
schaftl. Ethnographie. (l Bd.) Bandredakteur: 
G. Schwalbe. Bearb. von E. Fischer, R. F. Graobner, 
M. Hoerues, Th. Mollison, A. Ploetz, G. Schwalbe. 

VI. Abt. Die medizin. Wissenschaften. 

Abteilungsleiter: Fr. v. Müller. 

Band x. Die Geschichte der modernen Medizin. 
Bandredakteur: K.Sudhoff. Bearb. von M.Neubörger, 
K. Sudhoff n. a. Die Lehre von den Krankheiten. 
Bandredakteur: W.His. Mitarbeiter noch unbestimmt. 
Band 2. Die medizin. Spezialfächer. Bandredakt: 
Fr. v. Müller. Bearbeitet von K. Bonhoeffer, E.Bumm, 
A. Czerny, R. E. Gaupp, K. v. Hess, A. Hoche, 
Fr. Kraus, W. v. Leube, L. Lichtheim, H. H. Meyer, 
O. Minkowski, R. Müller, L. A. Ne iss er, W. Oder, 
E. Payr, M. Wilma. 

Band 3. Beziehungend. Medizin zum Volks wohl. < 
Bandredakteur: M.v.Gruber. Mitarb. noch unbestimmt 

VH. Abt. Naturphilosophic u. Psychologie. 
Band x. Naturphilosophie. Baudredakteur: CStumpf. 
Bearb. v. E. Becher. [XU.427S.] 1914. M. 14. —, M.16.— 
*Band 2. Psychologie. Bandredakteur: C. Stumpf. 
Bearbeitet von C. L. Morgan und C. Stumpf. 

VIII. AbL Organisation der Forschung u. des 
Unterrichts. (I Band.) Bandrodakteur:AG utzmer. 


Bestellzettel. 


Bei der Buchhandlung 


bestellt der Unterzeichnete fest — zur Ansicht — aus 


Die Kultur der Gegenwart. Herausgegeben von Professor PaulHinneberg. 
(Verlag von B.G.Teubner in Leipzig und Berlin.) 


Naturphilosophie (Teil in, Abt Vn, Bd. 1.) [X u.427 S.] Lex.-8. 
1914. Geh. M. 14.—, in Leinw. geb. M. 16.—, in Halbfr. geb. M. 18.— 


Ferner folgende Bände: 


Teil I, Abt VI: Systematische Philosophie. 
Geh. M. 10.— ♦) 

Teil III, Abt 1 U, Bd. x: Physik. Geb. M. 22.— 
Teil III, Abt IV, Bd. 1: Allgemeine Biologie. 
Geh. M. 2I .- 

Teil 1, Abt V: Allgemeine Geschichte der 
Philosophie. Geh. M. 14.— 


..Teil in, Abt. III, Bd. 2 : Chemie. Allgemeine 
Kristallographie und Mineralogie. Geb. 
M. 18.— 

..Teil UI, Abt IV, Bd. 4: Abstammungslehre, 
Systematik, Paläontologie, Biogeographie. 
Geh. M. 20.— 


Ort und Adresse: 


Name und Stand: 


♦) In Leinwand gebunden erhöht sich der Preis jedes Bandes um M. 2.—, in Halbfranz um M. 4.— 
(Das Nichtgewünschte gefL durchzustreichen.) 


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9 


Hermann Degering, Französischer 


ken Seite des Einganges gestanden 
batte. St. Maria in Capitol büßte ein 
Grabmal des heiligen Arnulphus, nach 
anderen eines (Bischofs?) Adolphus, in 
Mosaik ein, das angeblich aus dem 
10 . Jahrhundert, nach einer erhaltenen 
Zeichnung zu urteilen jedoch aus spä¬ 
terer Zeit (13. Jahrhundert), stammte. 
Beim Ausbrechen ging es in Stücke, 
die in den obengenannten Sarkophag 
des Vitalis im Geyerschen Hause ge¬ 
packt wurden, um mit ihm zusammen 
nach Paris verschickt zu werden. Ob 
sie später allein nach dort geschafft 
wurden, steht nicht fest, jedenfalls aber 
sind sie verschwunden. Die Bibliothek 
des Klosters St. Pantaleon wurde um 32 
Bände Druckschriften und 2 Handschrif¬ 
ten beraubt, derenVerzeichnis im Berichte 
enthalten ist Auch hier wird hervor- 
gehoben, daß der Kommissar die Ab¬ 
gabe einer Quittung verweigerte. Das 
Kloster St. Martin büßte dem Bericht 
zufolge 10 Handschriften und circa 
30 Druckwerke, meist Inkunabeln, ein. 
Aus St Johann und Cordula wurde ein 
Folioband mit den Briefen und Trak¬ 
taten des Hieronymus genommen. Die 
Augustiner verloren ihren kostbaren 
Blaeuschen Atlas in 16 (14?) Bänden mit 
Goldpressung und eine Anzahl weite¬ 
rer wertvoller Drucke. Ein genaues Ver¬ 
zeichnis des Weggenommenen zu ge¬ 
ben, ward auch hier verweigert. Am 
20. November wurden aus dem Karme¬ 
literkloster 16 ältere Drucke wegge- 
nommen. Am bedeutendsten war neben 
dem Raub aus der Jesuitenbibliothek 
wohl der Verlust des Karthäuserklo- 
sers, welches nach der Liste minde¬ 
stens 158 Werke, darunter etwa 35 
Handschriften verlor. Auch hier wurde 
die Abgabe einer Quittung verweigert 
and die Anlage eines genauen Verzeich¬ 
nisses des Entführten seitens der Be¬ 
raubten unmöglich gemacht. 


Kunstraub in Deutschland 1794—1807 1 0 


Ich habe diese Dinge absichtlich et¬ 
was ausführlicher behandelt, um we¬ 
nigstens an diesen aktenmäßig beleg¬ 
baren Beispielen das brutale, jeglicher 
Rechtsform hohnsprechende Verfahren 
der Franzosen deutlich vor Augen treten 
zu lassen. 

Die Sammlungen des ehemaligen Je- 
suitenkollegs, welche nach Aufhebung 
des Ordens 1763 in den Besitz der Stadt 
übergegangen waren, standen als öffent¬ 
liche, der Wissenschaft und Kunst die¬ 
nende Sammlungen unter völkerrecht¬ 
lichem Schutze und hätten, wie das 
auch in den oben erwähnten Eingaben 
an die Volksrepräsentanten und an den 
Nationalkonvent mehrfach energisch be¬ 
tont wurde, nicht angetastet werden 
dürfen. Die Wegnahme der Bibliothe¬ 
ken der Kirchen und Klöster und ihrer 
Kunstschätze war aber gleichfalls eine 
flagrante Verletzung des geltenden Völ¬ 
kerrechts, dessen Schutz sie als Pri¬ 
vateigentum beanspruchen durften. Die 
Klöster waren nämlich zu der Zeit die¬ 
ser Beraubungen nicht nur nicht aufge¬ 
hoben (das geschah bekanntlich erst 
1802), sondern nicht einmal in Zwangs¬ 
verwaltung genommen, sie bestanden 
vielmehr in vollem Umfange zu Recht. 
Das wird dadurch bestätigt, daß die 
Franzosen selbst sie vermögensrecht¬ 
lich zu den Kriegskontributionen und 
Einquartierungslasten in ganz erhebli¬ 
chem Maße heranzogen. Man muß 
auch bedenken, daß die Franzosen 1794 
zunächst noch gar nicht daran dach¬ 
ten, die Rheinprovinz dauernd zu be¬ 
setzen, da eine solche Besetzung einem 
feierlich verkündeten Grundsätze ihrer 
Verfassung widersprach. Diese ersten 
Beraubungen können deshalb auch kei¬ 
neswegs als Verwaltungsmaßregeln an¬ 
gesehen werden, sondern nur als Macht¬ 
handlungen des Siegers, und als solche 
haben die Kommissare und der Kon- 


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11 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 1 2 


vent sie auch selbst angesehen und 
wiederholt bezeichnet.*) 

Bei den meisten Kölner Klöstern 
fehlte auch ein anderer Grund, der da¬ 
mals so gern den Franzosen als Vor¬ 
wand für Plünderungen dienen mußte, 
nämlich der, daß sie von ihren Insas¬ 
sen verlassen und somit als Verlassen¬ 
schaft von Emigranten zu betrachten 
seien. Als solches angeblich herren¬ 
loses Gut sind damals auch Hemd¬ 
schriften und Bücher aus dem Besitze 
der Grafen von Blankenheim, der Met¬ 
ternich, der Gymnich und Belderbusch 
in die Nationalbibliothek zu Paris ge¬ 
kommen. Auch die kurfürstliche Bi¬ 
bliothek im Schlosse zu Bonn wurde 
unter diesem Vorwände geplündert, 
und nicht nur der Bücher, sondern so¬ 
gar der Bücherschränke von rotem Ma¬ 
hagoniholze mit Goldverzierung be¬ 
raubt. Sie wurden auf zwölf Wagen 
verladen und standen, wie ein Chro¬ 
nist in Bonn (Handschr. d. Stadtbibi, 
zu Bonn) berichtet, längere Zeit am 
Martinswall, ehe sie die Reise nach 
Paris antraten. 

Überhaupt waren die Kunsträube¬ 
reien der Franzosen von 1794—1807 
nicht wie frühere derartige Handlungen 
im Dreißigjährigen Kriege und in den 
Kriegen Ludwigs XIV. rein militärische 
Ausschreitungen, an denen es natürlich 
auch damals nicht gefehlt hat, sondern 
sie waren vielmehr ein wohlorganisier¬ 
tes, und was die Auswahl der ausfüh- 
renden Personen, wie auch was deren 
Ausrüstung und Instruktion anbetraf, 
wohl vorbereitetes staatliches Unter¬ 
nehmen. Bereits die ersten Kommissare 


2) Napoleon, der die völkerrechtliche An¬ 
fechtbarkeit dieses Vorgehens wohl erkannte, 
gebrauchte deshalb die Vorsichtsmaßregel, 
sich den Besitz der geraubten Kunstwerke 
nachträglich durch besondere Paragraphen 
der Friedensverträge zu sichern. 


hatten sich, wie man leicht aus den 
Dingen erkennen kann, die sie genom¬ 
men haben, in den älteren Reisewerken, 
wie: Voyage des deux B6n6dictins und 
Gerckens Reisen in Deutschland, und 
anderen Beschreibungen der Kunst¬ 
werke und der Literalien genau unter¬ 
richtet, und wußten sehr genau Be¬ 
scheid darüber, was sie in den einzel¬ 
nen Klosterbibliotheken zu suchen hat¬ 
ten. Gelegentlich ließen sie sich durch 
ihre Quellen wohl auch auf falsche Spu¬ 
ren leiten. So haben sie hartnäckig in 
dem Franziskanerkloster zu Köln nach 
Autographen des Joh. Duns Scotus ge¬ 
sucht und wollten daselbst durchaus 
sein Grab öffnen, weil sie argwöhnten, 
daß die Mönche dieselben darin ver¬ 
steckt hätten. Außerdem bekamen die 
Kommissare aber auch von Paris aus 
bestimmte Anweisungen, was sie suchen 
sollten. Die Commission temporaire des 
arts hatte aus ihrer Mitte einen beson¬ 
deren Ausschuß von vier Mitgliedern 
gewählt, welcher die Aufgabe hatte, 
alle Nachrichten über hervorragende 
Kirnst- und Literaturschätze in den er¬ 
oberten und noch zu erobernden Ge¬ 
bieten zu sammeln und sie den ausge¬ 
sandten Kommissaren mitzuteilen. Auch 
die Museen und Bibliotheken von Pa¬ 
ris machten auf Dinge aufmerksam, de¬ 
ren Erwerbung sie wünschten. Eine 
solche Suchliste der Nationalbibliothek, 
hat sich in der Universitätsbibliothek 
Bonn gefunden. 

Wenn wir aber die Namen derjeni¬ 
gen durchgehen, die von dem fran¬ 
zösischen Konvente bzw. später von 
dem französischen Ministerium, erst 
dem republikanischen, dann dem kai¬ 
serlichen, mit dieser Aufgabe betraut 
worden sind, so finden wir darunter 
Männer von hohem wissenschaftlichen 
Ruf wie Andr6 Thouin, Mitglied des In¬ 
stituts und Professor am naturhisto- 


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13 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 1 4 


rischen Museum, Faujas de St-Fond, 
Professor der Geologie, Le Blond, dem 
Leiter der nachmaligen Bibliothek Ma- 
zarin, der sich durch verschiedene 
Schriften über Münzen, Medaillen und 
geschnittene Steine einen Namen ge¬ 
macht hatte, de Wailly, der als Sprach¬ 
forscher durch Schriften über die 
deutsche und über die französische 
Sprache bekannt war. Sein Buch über 
die letztere war damals bereits in 
zehn Auflagen erschienen. Unter den 
späteren ist der Direktor der fran¬ 
zösischen Staatsarchive Arm. Gaston 
Camus hervorzuheben, der beson¬ 
ders die Archive bereiste und über seine 
Reise ein umfassendes Buch geschrie¬ 
ben hat, das auch ins Deutsche über¬ 
setzt ist Vor allem aber ist Vivant 
Denon zu nennen. Denon, der einer 
Adelsfamilie in Chälons-sur-Saöne ent¬ 
stammte, war unter dem an eien r&gime 
zunächst einige Jahre in diplomatischen 
Diensten in Petersburg und Neapel tä¬ 
tig, vertauschte dann aber das Hand¬ 
werk des Diplomaten mit dem des Ma¬ 
lers und Kupferstechers. Beim Aus¬ 
bruch der Revolution in Italien weilend, 
wurde er auf die Liste der Emigranten 
gesetzt und seiner Güter verlustig er¬ 
klärt. Die Fürsprache des Malers David, 
der dem Wohlfahrtsausschüsse ange¬ 
hörte, rettete ihn, als er trotzdem nach 
Frankreich zurückkehrte. Später wurde 
er durch Josephine Beauhamais mit Na¬ 
poleon bekannt gemacht und begleitete 
ihn auf der Expedition nach Ägypten. 
Das große Prachtwerk über das Land 
der Pharaonen, das noch heute zu den 
geschätztesten Werken seiner Art zählt, 
befestigte ihn in der Gunst Napoleons, 
der ihm zwei Jahre nach der Rück¬ 
kehr aus Ägypten die Leitung der kai¬ 
serlichen Museen übertrug. In dieser 
Stellung fiel ihm dann 1807 die Auf¬ 
gabe zu, die umfassenden Räubereien 


in Berlin, Kassel, Wolfenbüttel und 
Schwerin in Napoleons Aufträge aus¬ 
zuführen. Weniger bekannt als Ge¬ 
lehrte, aber darum nicht weniger un¬ 
heilvoll in ihrer Wirksamkeit als Kom¬ 
missare, sind Keil und Maug6rard ge¬ 
wesen; ersterer ein Deutscher, der es 
bis zum öffentlichen Ankläger bei dem 
republikanischen und kaiserlichen Ge¬ 
richte in Köln brachte, letzterer ein 
ehemaliger Benediktiner aus Metz, der 
seit 1792—1802 ständig in Deutschland 
geweilt hatte, aber auch bereits vorher 
viel in Deutschland gereist war und 
hier mit Handschriften und Inkunabeln 
einen lebhaften, nicht immer einwand¬ 
freien Handel getrieben hatte. Seiner 
Bekanntschaft mit van Praet, dem Di¬ 
rektor der Druckschriftenabteilung der 
Nationalbibliothek, verdankte er diese 
Berufung als Raubkommissar seitens 
der französischen Regierung. Van Praet 
war auch zweifellos über die moralische 
Unzuverlässigkeit Maugörards unterrich¬ 
tet, aber wir werden sehen, daß es mit 
seiner eigenen durchaus nicht besser be¬ 
stellt war, so daß wir uns nicht wundem 
dürfen, daß er daran keinen Anstoß nahm. 
Sachlich war aber auch sicherlich kaum 
jemand besser als Maug6rard ausge¬ 
rüstet, in den bereits zweimal von den 
Franzosen ausgeplünderten Kirchen und 
Klöstern den letzten Rest des Wertvollen 
an Kunst- und Literaturschätzen her¬ 
auszusuchen, da er eben Übung und 
Erfahrungen auf diesem Gebiete besaß, 
wie kaum ein zweiter. Was Maug6rard 
an Kunstschätzen genommen hat, ist 
leider nicht im einzelnen festzustellen, 
doch läßt z. B. der Umstand, daß er 
Prümer Reliquien seinem Heimatorte 
Auz6ville schenkte, vermuten, daß der 
dazugehörige Reliquienschrein von ihm 
einen anderen Weg gewiesen bekam; 
auch die Entführung des Potentinus- 
schreines aus Steinfeld wird wahr- 


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15 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 1 6 


scheinlich auf seine Rechnung gestellt 
werden dürfen. Über die Bücher und 
Handschriften, die er entführte, sind 
wir aber ziemlich genau unterrichtet, da 
uns der größte Teil seiner Quittungen 
darüber erhalten ist. Diesen Quittungen 
zufolge hat er aus Trier und Umge¬ 
bung, wo er vom 30. Oktober 1802 bis 
Ende Juni 1803 weilte, eine große An¬ 
zahl von Handschriften und Inkunabeln 
nach Paris geschickt. Es müssen 152 
Handschriften und 254 Inkunabeln bzw. 
andere seltene Bücher gewesen sein, 
denn die uns erhaltenen Listen über 
seine Sendungen aus Koblenz-Bonn, 
Köln und Aachen setzen mit der Num¬ 
mer 153 bei den Handschriften und mit 
der Nummer 255 bei den Büchern ein. 
Der gesamte literarische Raub Maug6- 
rards aus der Rheinprovinz belief sich 
nach Ausweis der letzten, d.h. der Aache¬ 
ner Liste vom 9. Brum. An 12 (28. Okt. 
1803), auf 644 Inkunabeln und 176 Hand¬ 
schriften. Hierzu kommen aber dann 
noch 84 Handschriften aus Echternach, 
die er am 26. Dezember 1803, d. h. also 
nach der Abfassung der Aachener 
(Roerdep.) Liste, in Luxemburg be¬ 
schlagnahmte und nach Paris sandte, 
ferner 10 Werke (8 Inkunabeln und 2 
Handschriften), welche ihm am 27. Ja¬ 
nuar 1804 aus der Bibliothek der Zen¬ 
tralschule in Köln ausgehändigt wer¬ 
den mußten, und eine Anzahl von Hand¬ 
schriften und Büchern, die er im Mai 
1804 von Mainz aus nach Paris schickte. 
Ein Irrtum Traubes und anderer ist es 
aber, wenn sie annehmen, daß unter 
dieser Mainzer Sendung die berühmte, 
1815 nur durch einen glücklichen Zu¬ 
fall wieder zurückgewonnene Trierer 
Adahandschrift gewesen sei. Diese war 
nämlich bereits drei Jahre vorher mit 
3 anderen Handschriften und 68 St. 
Maximiner Urkunden aus Mainz, wo¬ 
hin sie von den Mönchen 1792 in Si¬ 


cherheit gebracht war, von Fischer, dem 
Bibliothekar der Zentralschule, nach 
Paris geschickt worden. Dieser hat, 
um sich in Paris Liebkind zu machen, 
mehr seine Aufgabe darin gesucht, die 
ihm anvertraute Bibliothek ihrer grö߬ 
ten Schätze zugunsten der Pariser Na¬ 
tionalbibliothek zu berauben, als für 
eine ordentliche Verwaltung und Ord¬ 
nung zu sorgen. Durch ihn ist auch 
ein großer Teil der Pariser Gutenberg¬ 
sachen, wie z. B. die aus Mainzer 
Einbänden ausgelösten Donatfragmen- 
te, Medizinalkalender und Ablaßbriefe, 
nach Paris gelangt. 

Ein weiterer recht herber Verlust ist 
deutschem Lande von Maugferard ver¬ 
ursacht durch die Übersendung von 15 
außerordentlich kostbaren Handschrif¬ 
ten und 223 Drucken (jedoch ist es mög¬ 
lich, aber nicht wahrscheinlich, daß 
diese Zahlen in die oben angegebenen 
einzurechnen sind), die er aus Metz 
im November 1802 3 ) nach Paris schik- 
ken ließ, und die jetzt die prächtigsten 
Stücke der Pariser Schausammlung 
bilden. 

Die Maugörardsche Brandschatzung 
war die letzte, aber sicherlich nicht die 
bedeutendste, welche die Rheinprovinz 
über sich ergehen lassen mußte, um die 
Pariser Bibliotheken und Museen mit 
deutschem Gute zu bereichern; denn 
zweifellos war die erste Plünderung von 
1794/5 weit ergiebiger gewesen, und 
insoweit hat Delisle 4 ) am Ende recht, 
wenn er behauptet, daß der Erfolg von 
Maug6rards Sendung nicht den Erwar¬ 
tungen entsprochen habe, die man in 
Paris daran geknüpft hatte. Immerhin 
war sie für die Rheinlande eine herbe. 


3) So Delisle aus den Akten, während 
Morteuil und nach ihm Traube fälschlich 
1803 angeben. 

4) L. Delisle, Le Cabinet des manuscrits 
de la bibliothöque nationale II (1874) p. 35. 


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17 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 18 


Heimsuchung, welche die Präfekten 
vergeblich abzuwenden, zu vereiteln 
und zu hindern versuchten. In unmittel¬ 
barem Anschluß an diesen letzten Raub¬ 
zug für die Pariser Sammlungen er¬ 
folgte aber noch eine weitere; bedeu¬ 
tende Schädigung der Rheinprovinz an 
ihren literarischen Gütern. Zur Vorbe¬ 
reitung der Maug6rardschen Sendung 
hatte man nämlich die Reste der ausge- 
plünderten Klöster und Kirchenbibliothe- 
ken durch besondere Kommissare durch¬ 
sehen, inventarisieren und unter Siegel 
legen lassen. Man hatte die Absicht, 
das Wertvolle dieser Reste den Bi¬ 
bliotheken bei den Zentralschulen in 
Koblenz, Bonn und Köln zu überweisen 
und auch einige andere Bibliotheken 
bei den Regierungsstellen damit zu be¬ 
gründen. Zur Ausführung dieser Ab¬ 
sicht ist es aber nur in ganz beschränk¬ 
tem Maße gekommen. Besonders ge¬ 
naues Material in dieser Hinsicht liegt 
für das Roerdepartement vor. In die¬ 
sem Bezirk hat ein gewisser Schoene¬ 
beck, der zweiter Bibliothekar an der 
Zentralschule in Köln war, die Be¬ 
stände verzeichnet und versiegelt, und 
seine Berichte und Listen liegen vor. 
Dieselben sind mit einer in Anbetracht 
der Schnelligkeit und Umstände, unter 
denen die Aufnahme vor sich gehen 
mußte, erstaunlichen Sorgfalt und mit 
guter Sachkenntnis gearbeitet. Was 
Schoenebeck in 26 Kloster- und Kir¬ 
chenbibliotheken und -archiven, unter 
denen die von Kalkar, Kamp, Kleve, 
Gaesdonk, Gladbach, Marienbaum und 
Xanten besonders reichhaltig waren, 
verzeichnet hat beläuft sich auf 7883 
Werke, darunter 337 Handschriften, 
767 Inkunabeln und 74 Urkunden. Ehe 
aber die Überführung dieser Reste, 
nachdem aus ihnen noch Maug6rard 
seine Auswahl für die Nationalbiblio¬ 
thek in Paris getroffen hatte, nach Köln, 


von einigen wenigen Ausnahmen ab¬ 
gesehen, stattfinden konnte, wurde die 
Bibliothek der Zentralschule in Köln 
geschlossen und die Reste der Kloster¬ 
bibliotheken, die Schoenebeck für diese 
Zentralschule versiegelt hatte, von 
der Domänenverwaltung beschlagnahmt 
und schnell verkauft. Ebenso ging es 
mit den Klosterbibliotheken in Köln 
selbst. Was davon meist mit dem Wal- 
rafschen Nachlaß an die jetzige Stadt¬ 
bibliothek gekommen ist, sind ganz 
kümmerliche Reste im Vergleich zu 
dem, was einst vorhanden war und 
verlorengegangen bzw. in alle Winde 
zerstreut ist, namentlich an älteren 
Druckwerken und Handschriften, denn 
die Auswahl, welche in der Zeit von 
1797 bis 1802 mit den übriggebliebenen 
Resten der alten Jesuitenbibliothek ver¬ 
einigt wurde, hatte auf den historischen 
und antiquarischen Wert der Bücher 
wenig Rücksicht genommen, sondern 
war nur nach dem ödesten Augenblicks- 
nutzungswert für die mäßigen Ziele der 
Zentralschulen geschehen. Und so 
kommt es denn, daß die Stadtbibliothek 
in Köln nur ganz geringe Trümmer des 
Reichtums der alten Klosterbibliotheken 
aus Köln und Umgebung aufweisen 
kann und daß von den alten Hand- 
schriftenbeständen dieser Klöster im hi¬ 
storischen Archive der Stadt nur ver¬ 
hältnismäßig recht wenig zu finden ist 
So sind z. B. von dem Karthäuserklo¬ 
ster kaum 20 Handschriften dort, wäh¬ 
rend die Bibliothek des Klosters vor 
ihrer Ausplünderung, wie aus dem hand¬ 
schriftlichen Kataloge von 1748 zu erse¬ 
hen ist, einen Besitzstand von fast 600 
Handschriften aufwies, die nun in alle 
Winde zerstreut sind. Ein großerTeil ge¬ 
rade dieser Klosterbibliothek ist später 
durch das Lempertzsche Antiquariat ge¬ 
gangen und in die Hände des Marbur- 
ger Professors L. van Eß gekommen. 


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19 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 20 


von ihm aber 1824 nach vergeblichen 
Verhandlungen mit dem Ministerium in 
Berlin Ober einen Ankauf für Bonn oder 
Berlin an Sir Thomas Philipps in Chel- 
tenham weiterverkauft worden. Von 
dorther ist aber durch Ankauf auf den 
Londoner Auktionen in den letzten Jah¬ 
ren eine Reihe von Stücken nach Berlin. 
Bonn und Köln zurückgekommen. Mit 
den anderen Klosterbibliotheken der 
Stadt verhält es sich nicht viel anders. 
Auch sie sind so gut wie vernichtet und 
namentlich ihre Handschriften und In¬ 
kunabeln meist verschwunden. Von der 
reichen Bibliothek von St. Martin, von 
der Legipontius (Ziegelbauer), wie er 
ausdrücklich hervorhebt, aus einer grö¬ 
ßeren Anzahl 162 Handschriftenbände 
aufzählt, sind ca. 45 in der Stadtbi¬ 
bliothek, ein paar andere in der Pfarr- 
bibliothek von St. Martin bzw. in dem 
Priesterseminar zu Köln, die übrigen 
sind, soweit sie nicht 1794 und 1803 
nach Paris verschleppt sind, zerstreut 
oder der Vernichtung anheimgefallen. 

So geht es nun aber durch die ganze 
Rheinprovinz hindurch, so in Aachen, 
in Brauweiler, in München-Gladbach, 
in Kamp, in Brühl, in Knechtsteden, in 
Marienbaum, in Prüm, in Steinfeld, in 
Koblenz, in Boppard, in Xanten und in 
zahlreichen anderen Orten. Von nicht 
weniger als 78 Klosterbibliotheken las¬ 
sen sich urkundliche Nachweise bei- 
bringen, daß die Franzosen aus ihnen 
literarische Schätze entführt haben. 
Zweifellos sind aber noch mehr Orte 
von ihnen heimgesucht worden, nur 
schweigen eben die Akten. Was in 
Bonn an Klosterbibliotheken vom Bi¬ 
bliothekar Krupp zusammengebracht und 
im Schlosse aufgestellt war, davon hat 
zuletzt Maugörard 33 meist Maria-Laa- 
cher Handschriften und 37 Inkunabeln 
ausgewählt und nach Paris geschickt, 
von denen die Handschriften 1815 alle 


zurückverlangt und auch zurückgekom¬ 
men sind, während die Inkunabeln meist 
in Paris verblieben sind. Alles übrige 
ist 1811, wie der oben erwähnte Bonner 
Chronist berichtet, verauktioniert und 
um ein Spottgeld an Hökerfrauen ver¬ 
kauft. Ihnen kaufte der Kölner Anti¬ 
quar Spieß die Sachen sofort wieder ab 
und ließ sie nach Köln schaffen. Der 
Chronik zufolge waren es. 14 Wagen 
voll Bücher. In Koblenz ging es nicht 
so schlimm. Was dort an Resten nach 
Maugörards Auswahl, die 2 Handschrif¬ 
ten und 116 Inkunabeln umfaßte, ver¬ 
blieben war, ist 1818 an die Bonner Uni¬ 
versitätsbibliothek gekommen. 

Verhältnismäßig am glimpflichsten 
ist noch Trier davongekommen, ob¬ 
wohl natürlich auch dort mit der Zer¬ 
streuung großer Teile der Bibliotheken 
der Abteien von St. Maximin und St 
Martin, worüber wie über dem Ver¬ 
schwinden eines großen Teiles des Ar- 
chives von St. Maximin und St. Paulin 
ein mystisches Dunkel schwebt ein 
ganz beträchtlicher Schaden durch 
französische Schuld angerichtet ist 
In betreff Triers liegen die Verhält¬ 
nisse überhaupt recht eigenartig. Nach 
Morteuils bestimmten, genau datierten 
(13 Floröal und 26 Flor. An XI) Anga¬ 
ben, die zweifellos auf Einsicht der Pa¬ 
riser Akten beruhen, sind aus Trier im 
Mai 1803 von Maugörard 4 Kisten mit 
Handschriften und Büchern an die Na¬ 
tionalbibliothek geschickt Das würde 
eine ganz erhebliche Anzahl von Bän¬ 
den gewesen sein und könnte wohl den 
obengenannten 152 Handschriften und 
254 Inkunabeln entsprechen. Nun sind 
aber 1814 von Trier aus durch Wytten- 
bach, der zur Zeit der Maugörardschen 
Beschlagnahmen in Trier bereits der 
Bibliothek Vorstand, also darüber si¬ 
cherlich Bescheid wußte, immer nur 
3 Handschriften für dieselbe reklamiert 


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21 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 22 


worden» von denen sie zu guter Letzt zu¬ 
sammen mit 368 Urkunden auch 2, d. h. 
die Adahandschrift und die Ludlibur- 
gensia von Wiltheim, wiedererhalten 
hat, wahrend die aus Ehrenbreitstein 
stammende Handschrift der Briefe des 
Petrus de Vineis an die Königliche Bi¬ 
bliothek in Berlin gekommen ist. An¬ 
dererseits befinden sich aber auf der 
Trierer Stadtbibliothek heute, wie man 
aus ihren Katalogen und besonders aus 
dem handschriftlichen von Wyttenbach 
und Laven 1831 angefertigten Verzeich¬ 
nisse der Handschriften, von dem die 
Königliche Bibliothek eine Abschrift be¬ 
sitzt, ersehen kann, eine größere An¬ 
zahl, wenn auch wohl kaum die statt¬ 
liche Zahl von 152 Handschriften (von 
den Inkunabeln läßt sich leider eine 
solche Feststellung nicht machen),die 
den Stempel der Pariser Nationalbi¬ 
bliothek tragen, also einmal dort gewe¬ 
sen sein müssen. Es können das meines 
Erachtens also nur die von Maug6rard 
genommenen Handschriften sein, wel¬ 
che die französische Regierung wohl 
auf Reklamation der Stadtverwaltung 
zurückgegeben hat. Irgendwelche Ak¬ 
tenstücke haben sich freilich in Trier 
darüber nicht ausfindig machen lassen. 
Ober einen Präzedenzfall gegenüber den 
Beschlagnahmungen des obengenann¬ 
ten Kommissars Keil, der im Jahre 
1797 212 Werke aus der Bibliothek des 
Kollegiums zu Trier ausgewählt hatte, 
berichten Akten der Stadtbibliothek zu 
Trier dahin, daß Keil seine Beute bis 
auf 40 Druckwerke, die Wyttenbach 
dann 1815 vergeblich reklamiert hat, 
auf Anordnung des Ministers wieder 
herausgeben mußte. 

Es ist bemerkenswert, daß die wie¬ 
derholte Ausplünderung der Rheinpro¬ 
vinz durch die Sendboten des franzö¬ 
sischen Konvents, durch die Volksreprä¬ 
sentanten, durch die Kommissare des 


Komitees des öffentlichen Unterrichts 
und der Commission temporaire desarts 
und wie sie sich sonst noch nennen moch¬ 
ten und schließlich durch die Agenten 
des französischen Ministeriums in den 
Kreisen der französischen Präfektur- und 
Arrondissementsverwaltung der vier 
Provinzen eine lebhafte Mißbilligung 
fand, die sich in mannigfachen Vorstel¬ 
lungen und Reklamationen gegen die 
Pariser Anordnungen geltend machte. 
Übereinstimmend weisen Jean-Bon de 
St-Andr6 in Mainz, Shee in Trier und 
Mechin in Aachen darauf hin, .daß das 
ständig wiederholte Wegführen von 
Kunst- und Literaturschätzen aus ihren 
Verwaltungsgebieten zu einem das gei¬ 
stige Leben, Kunst und Wissenschaft 
schwer schädigenden Zustande daselbst 
geführt hätten, für den sie zum Teil so¬ 
gar mit scharfen Worten ihrerseits jede 
Verantwortung ablehnen. Wiederholt 
wird von ihnen wenigstens ein Ersatz 
für die Wegnahme der Handschriften 
und Inkunabeln durch neuere Werke, 
bzw. für die Kunstwerke durch Ab¬ 
güsse und Abbildungen gebeten. Zu 
wiederholten Malen haben die Kolle¬ 
gien der Zentralschulen und anderer 
Unterrichtsanstalten Wunschlisten zu 
diesem Zwecke bearbeiten müssen. Nir¬ 
gends ist aber jemals ein derartiger 
Ersatz wirklich von Paris aus geleistet 
worden. Es wird in den erwähnten Re¬ 
klamationen der Präfekten mehrfach 
darauf hinge wiesen, daß die Kommis¬ 
sare bei der Wegnahme wohl einen 
solchen Ersatz versprochen hätten, daß 
diese Versprechungen bisher aber stets 
unerfüllt geblieben seien. 

Mit der Sendung Mauggrards von 1803 
und 1804 scheinen, wie gesagt, aus der 
Rheinprovinz zum letzten Male literari¬ 
sche Schätze nach Paris gewandert zu 
sein, und auch mit dem Wegführen von 
Kunstschätzen ist es von da ab im 


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23 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 24 


großen und ganzen vorbei. Wenigstens 
sind mir nur noch Akten über eine 
Sammlung von Glasgemälden des 16. 
Jahrhunderts in Köln, aus den nieder* 
gerissenen Kirchen stammend, bekannt, 
deren Übersendung • der französische 
Minister durch ein Schreiben vom 6. 
Therm. an 12 (25. Juli 1804) verfügt. 
Die Versendung nach Paris scheint vom 
Präfekten hintertrieben zu sein, aber 
die Gläser sind trotzdem verschwunden. 

Man darf nun aber nicht denken, 
daß an den Resten, welche von den 
Klosterbibliotheken nach 1804 noch üb¬ 
riggeblieben waren, nicht mehr viel zu 
verlieren war. Um nur ein Beispiel her¬ 
auszugreifen, so ist in den Schoene- 
beckschen Aufnahmen des Klosters Ma¬ 
rienbaum ein Exemplar der 42zeiligen 
Bibel in 2 Bänden aufgeführt mit der 
genauen Wiedergabe einer Schenkungs¬ 
eintragung, durch welche sich aus Sey- 
mour de Ricd’s Katalog der Mainzer 
Drucke feststellen läßt, daß sich dieses 
Exemplar heute in einer amerikanischen 
Bibliothek befindet. Nach Seymour de 
Ried a. a. O. S. 33 ist es aber im 
Februar 1814 in Paris aus dem Nach¬ 
laß von Pierre Henry Larcher zur Ver¬ 
steigerung gelangt. Wie ist es aber 
nach Paris gelangt? Ist es glaublich, 
daß ein Kenner wie Maug6rard, durch 
dessen Hände so viele Gutenbergdrucke 
gegangen sind, ein solches Stück über¬ 
sehen haben sollte, dessen Wert Schoe- 
nebeck in seiner Liste ausdrücklich her¬ 
vorhebt? Ich möchte eher vermuten, 
daß Maugörard das Werk unterschla¬ 
gen und seinerseits an Larcher ver¬ 
kauft hat. Nach den Kölner Akten hat 
ihn Schoenebeck wegen solcher Dinge 
(Verkauf von Handschriften, die er für 
die BibliothCque Nationale beschlag¬ 
nahmt hatte, an den Baron Hübsch in 
Köln) bei dem Präfekten Mechin ver¬ 
klagt, und auch an anderen Orten, wie 


Mainz, Koblenz, Trier und Metz, hat 
man ihn stets mit schlecht verhehl¬ 
tem, ja manchmal mit unverhohlenem 
Mißtrauen und Argwohn empfangen 
und behandelt. Eine Handschrift aus 
Brühl (Trithemius Historia monasterii 
Sponhemensis), die er nach seiner Quit¬ 
tung in Aachen als Msc. Nr. 164 für die 
Bibliothöque Nationale beschlagnahmt 
hat, ist nicht dorthin gekommen. Sie 
ist 1842 von der Königlichen Bibliothek 
in Berlin aus dem Lempertz(Heberle)- 
schen Antiquariat in Köln erworben, 
in dessen Lagerverzeichnisse Nr. VIII 
sie im Anhang als Nr. 6 verzeichnet 
steht. Maugörard hat sie also nicht 
abgeliefert, denn an der Identität der 
beiden Stücke ist gar kein Zweifel möglich. 

Der Krieg 1806/7 hat dann den nord¬ 
deutschen Staaten neue große Verluste 
an Kunstwerken und Literaturschätzen 
gebracht. Sie erstreckten sich aber nicht 
so wie die früheren Räubereien im 
Rheinlande in die Breite. Wohl ist 
manches Privateigentum und Kirchen¬ 
gut auch damals abhanden gekommen, 
aber damit hat der französische Staat an 
sich nichts zu tun; das sind Einzel¬ 
vergehen einzelner Personen, wie sie 
wohl in jedem Kriege Vorkommen und 
auch bei der strengsten Manneszucht 
nicht völlig vermeidbar sind. Der Staat, 
und das hieß damals Napoleon, nahm 
nur im großen und vom öffentlichen 
Staatseigentum bzw. vom Privateigen¬ 
tum der Fürsten, mit denen er im 
Kriege stand oder, wie im Fall Hessen, 
mit denen er im Kriegszustand zu sein 
plötzlich für gut befand: hier aber auch 
um so gründlicher. So beschränken sich 
denn die damaligen Beraubungen im 
ganzen und großen auf die fürstlichen 
Sammlungen und Schlösser. Berlin, 
Potsdam und Charlottenburg, Braun¬ 
schweig, Salzdahlum und Wolfenbüt¬ 
tel, Kassel und Wilhelmshöhe und end- 


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25 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 26 


lieh Schwerin wurden von Denon in 
Napoleons Aufträge gründlichst aus¬ 
geplündert, andere Orte blieben ver¬ 
schont, und es sind nur Einzelheiten, 
die außerdem weggeschleppt wurden, 
wie die geflüchteten Kirchensilber von 
Münster, Paderborn, Halberstadt und 
Quedlinburg, die bei der Eroberung 
von Magdeburg den Franzosen in die 
Hände fielen, oder das Memlingsche 
Bild aus Danzig und der Altar des 
Krodo aus Goslar. Die Bibliotheken 
blieben damals im allgemeinen unbe¬ 
rührt, mit Ausnahme von Wolfenbüt- 
tel, das dafür freilich um so gründ¬ 
licher gebrandschatzt wurde und wo 
es sich aber auch der Mühe lohnte. Die 
Berliner Bibliothek, in der zu jener 
Zeit noch nicht viele Seltenheiten zu 
finden waren, blieb .unangetastet, eben¬ 
so Göttingen und Hannover; aus der 
Kasseler Museumsbibliothek scheint, 
nach einem Briefe Wilhelm Grimms zu 
urteilen, auch Einiges genommen zu 
sein, um dessen Wiedererlangung man 
sich 1814 bemüht zu haben scheint; 
aber Akten haben davon, abgesehen 
von solchen über ziemlich belanglose 
Entwen dringen französischer Baubeam¬ 
ten, nicht ermittelt werden können. 
Was aus der Bibliothek im Schlosse 
Wilhelmshöhe genommen war, scheint 
1814 zurückgebracht zu sein. Sonst 
sind an Büchern und Handschriften 
nur ein paar Stücke aus Potsdam und 
Charlottenburg genommen und aus den 
Stadtbibliotheken zu Elbing und Danzig. 
Die Stadt(Gymnasial)bibliothek in Thom, 
die nach der Schlacht bei Eylau schleu¬ 
nigst zu Lazarettzwecken ausgeräumt 
werden mußte, verlor bei dieser Gele¬ 
genheit einige hundert Werke, von de¬ 
nen einige seltene Polonica nach Paris 
gekommen zu sein scheinen. 

Der Raub an Kunstwerken war aber 
dafür um so bedeutender. Wir sind 


aber diesen Räubereien gegenüber in 
einer besseren Lage als bei den rheini¬ 
schen Sachen, denn hierbei ging alles, 
von Kleinigkeiten, welche französische 
Generale und ihre Bedienung privatim 
nahmen, abgesehen, in einer gewissen 
Ordnung und unter Abgabe von Quit¬ 
tungen vor sich. Die Quittungen sind 
alle noch wohlerhalten und geben uns 
über die wesentlichen Stücke genaue 
Auskunft und haben sie gegeben, als 
man sich 1814 und 1815 um ihre Rück¬ 
gabe bemühte. Daher ist denn auch 
von diesen Sachen, wenigstens was 
das alte Königreich Preußen anbe¬ 
trifft, das meiste 1814 und 1815 zurück- 
erlangt. Aber Hessen und Braunschweig 
haben ganz erhebliche Einbußen an 
Kunstsachen, besonders an Gemälden, 
erlitten. 

II. 

Ich wende mich nun zu den Rückfor¬ 
derungen dieser entführten Kunst- und 
Literaturschätze in den Jahren 1814/15 
und 1815/16 und ihren Erfolgen. 

Bereits unmittelbar, nachdem aus den 
Rheinlanden die Raubkommissare 1794 
ihre Beute weggeschleppt hatten, ja 
zum Teil noch bevor diese ihren Weg 
nach Paris angetreten hatte, bemüh¬ 
ten sich die betroffenen Städte, wie 
Aachen und Köln, in Paris bei dem 
Konvente und bei den Ministerien, die¬ 
jenigen Dinge zurückzuerhalten, auf 
welche die Volksmeinung den größten 
Wert legte. So versuchte Köln, das 
Rubensbild, die Sammlungen der Je¬ 
suiten an Kupferstichen, Münzen, Na¬ 
turalien und Handschriften und die al¬ 
ten Geschütze und Waffen sowie die 
römischen Grabsteine aus dem Arsenal 
zurückzuerlangen. Diese Bemühungen 
waren aber vergeblich. Einige echt 
französische Phrasen waren, wie ge¬ 
sagt, däs einzige, was die Abgesandten 
der Stadt aus dem Konvente mit heim- 


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27 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 28 


brachten. Spätere Versuche beim Be¬ 
such des Kaisers Napoleon in Köln, 
wenigstens das Rubensbild wiederzu¬ 
erhalten, scheiterten an Denons Wider¬ 
stände. In Aachen hatte man dagegen 
einen kleinen Erfolg, indem man eine 
Brunnenfigur Karls des Großen und 
eine Holzfigur, die angeblich ebenfalls 
Karl den Großen darstellte und früher 
in den Prozessionen mitgeführt war, 
zurückerhielt. Die Säulen und sonsti¬ 
gen Kunstgegenstände vom Dom, wie 
den Pinienzapfen, die Bärin und den 
Proserpinasaricophag, die Bilder von 
Rubens und Diepenbeck aus der Fran¬ 
ziskaner- und Kapuzinerkirche, die Ur¬ 
kunden und Handschriften des Stadt¬ 
archivs reklamierte man vergeblich. 
Von 140 Urkunden, welche der Staats- 
archivar Camus 1802 auswählte und 
Maug6rard 1803 beschlagnahmte, wur¬ 
den aber 51 auf die Reklamation der 
Stadt in Aadhen belassen. Trier hatte 
bereits 1796 einen Erfolg, indem Keil 
vom Ministerium in Paris angewiesen 
wurde, unter 212 Werken, die er aus 
der Bibliothek der Trierer Zentralschule 
ausgewählt und für die Biblioth&que 
Nationale bestimmt hatte, eine engere 
Auswahl zu treffen, die seinen Raub auf 
40 Werke ermäßigte. Auch von den von 
Maug6rard in Trier weggenommenen 
Handschriften und Inkunabeln scheint 
wenigstens ein Teil, wie wir bereits 
oben erwähnt haben, aus Paris auf Re¬ 
klamation zurückgegeben zu sein. Das 
sind aber nur Kleinigkeiten gegenüber 
dem, was alles 1794—1804 aus den 
Rheinlanden weggenommen ist. 

Von dem, weis in den Kriegsjahren 
1806/1807 aus den norddeutschen Staa¬ 
ten entführt worden ist, ist natürlich 
vor 1814 kaum eine Reklamation mög¬ 
lich gewesen. Nur die Königliche Aka¬ 
demie der Wissenschaften machte unter 
A.v. Humboldts Vermittlung gleich 1807 


vergeblich den Versuch, die ihr ge¬ 
nommenen Kupferplatten für den Druck 
von Landkarten, auf deren Erlös ein 
Teil ihrer Einnahmen beruhte, wieder 
zurückzuerhalten. Jedoch erreichte Hum¬ 
boldt bei dieser Gelegenheit das Ver¬ 
sprechen, daß von den weggenomme¬ 
nen Berliner Antiken Gipsabgüsse an¬ 
gefertigt und als Ersatz gegeben wer¬ 
den sollten. Diese Gipsabgüsse fanden 
sidi 1814 auf der Gesandtschaft in Paris 
vor, und sie sind 1815 mit anderen bei 
Getti in Paris neu bestellten Gipsabgüs¬ 
sen an die Düsseldorfer Kunstakademie 
gelangt 

In Preußen hat man aber bereits so¬ 
fort 1807 an die Möglichkeit gedacht, 
dereinst den Franzosen den Raub wie¬ 
der abzunehmen. Wie der Oberpräsi¬ 
dent der Rheinprovinzen von Sack in 
Aachen 1814 an Blücher in Paris schrieb, 
hat er bereits im Jahre 1807 auf Grund 
von Denonschen Quittungen und der 
Zeugenaussagen der Schloßverwalter 
einen genauen Bericht über die Vor¬ 
gänge und eine Liste ausarbeiten las¬ 
sen, auf welche er für die zu erwarten¬ 
den Reklamationen verweist. 

Den Anstoß zu den preußischen Rück¬ 
forderungen gab eine Notiz der Haude 
und Spenerschen Zeitung vom 6. Fe¬ 
bruar 1814, worin aus Wien gemeldet 
wurde, daß man dort eine Liste dessen 
zusammenstellte, was die Franzos«! 
1805—1809 aus österreichischen Län¬ 
dern an Kunstsachen fortgeschleppt 
hätten, um sie zurückzufordern. Der 
Staatsrat Uhden schlug daraufhin in 
einem Bericht vom 14. Februar vor, 
in gleicher Weise Listen der geraubten 
preußischen Kunstgegenstände aufzu¬ 
stellen und beim Staatskanzler Fürsten 
von Hardenberg die Zurückforderung 
dieser Sachen zu beantragen. Ehe diese 
Listen fertig sein konnten, reichte der 
königliche Bauinspektor Prof. Rabe am 


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29 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 30 


23. Februar eine außerordentlich sorg¬ 
fältig gearbeitete Denkschrift über die 
französischen Räubereien aus Preußen 
ein, in welcher die vollständigen Listen 
der entführten Kunstschätze mit ihren 
alter Inventamummem, mit Verweisen 
auf die Puhlmannschen Kataloge, mit 
den Nummern der Denonschen Quittun¬ 
gen sowie mit denen des französischen 
Ausstellungskataloges von 1807 enthal¬ 
ten waren. Diese Denkschrift trägt das 
Datum vom 12. Februar 1814. 

Auch im Hauptquartier der Armee und 
in der Umgebung des Königs hatte man 
sich inzwischen bereits mit demGedanken 
beschäftigt, die geraubten Kunstschätze 
zurückzufordem. Der König selbst hatte 
dem Maler Temite, welcher als freiwil- 
ger Offizier im Heere stand, wie aus 
einem Briefe desselben an den Fürsten 
von Hardenberg hervorgeht, das Ver¬ 
sprechen gegeben, ihn beim günstigen 
Ausgange des Krieges bei der Zurück¬ 
nahme des Raubes zu beschäftigen. Und 
tatsächlich wurde Temite auch gleich 
nach dem Einzuge in Paris von seinen 
militärischen Diensten entbunden, um 
für diese Aufgabe frei zu sein. Die 
Ausführung sollte jedoch bis zu Har¬ 
denbergs Ankunft in Paris verschoben 
werden. Inzwischen erhielt er aber die 
Listen, vermutlich die Abschriften der 
Denonschen Quittungen, ausgehändigt, 
um auf Grund derselben den Verbleib 
der Stücke in Paris festzustellen. Ne¬ 
ben ihm war noch zugleich der Maler 
PhQipp Franck in derselben Weise tä¬ 
tig. der gleichfalls einen Katalog der 
entwendeten Kunstgegenstände in den 
Händen hatte, und zwar scheint das der 
obenerwähnte, im Aufträge von Sack 
gleich im Jahre 1807 angefertigte Be¬ 
richt gewesen zu sein. Von Berlin aus 
wurden als Kommissare am 21. April 
von seiten des Ministeriums des Innern 
der Bibliothekar und Vorsteher der Kö¬ 


niglichen Kunstkammer, Prediger Henry, 
und von seiten des Hofmarschallamts 
der Hofrat Bußler nach Paris geschickt. 
Sie trafen dort in der ersten Maiwoche 
ein, von Hardenberg, der seinerseits am 
30. April in Paris angelangt war, bereits 
mit Ungeduld erwartet. Ihnen waren 
bei ihrer Abreise die im Ministerium 
bearbeiteten Listen und vermutlich auch 
die Originalquittungen Denons und die 
übrigen offiziellen aktenmäßigen Be¬ 
lege mitgegeben worden; die aus dem 
Rabeschen Berichte ausgezogenen Listen 
wurden ihnen am 27. April nach Paris 
nachgeschickt. Somit war alles für die 
Zurücknahme der 1807 geraubten 
Sachen, denn nur um diese handelte es 
sich natürlich zunächst, aufs beste vor¬ 
bereitet, aber nun beging man einen 
verhängnisvollen Fehler. Statt zu han¬ 
deln, ließ man sich, wie Henry klagend 
an den Minister von Schuckmann in 
Berlin schrieb, auf Unterhandlungen 
ein. Das Richtigste würde, wie der fran¬ 
zösische Minister von Blacas selbst ein¬ 
mal in einem Briefe an den preußi¬ 
schen Gesandten von der Goltz be¬ 
merkte, gewesen sein, gleich nach der 
Einnahme von Paris mit dem Recht 
des Siegers genügende Faustpfänder 
genommen und die Rückgabe des Ge¬ 
raubten ohne Einschränkung als Frie- 
densbedingung gefordert zu haben. 
Statt dessen hatte der König Friedrich 
Wilhelm persönlich mit dem Könige 
Ludwig XVIII. verhandelt und von ihm 
das Versprechen erhalten» die ihm ge¬ 
nommenen Kunstschätze zurückgeben 
zu lassen, und im Vertrauen auf dieses 
Versprechen, erhielten nun die preußi¬ 
schen Kommissare die Weisung, bei 
den Verhandlungen mit den französi¬ 
schen Behörden möglichst schonend 
und rücksichtsvoll vorzugehen. Damit 
war aber schon von vornherein alles 
verdorben, denn dadurch waren unsem 


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Unterhändlern gegenüber den Franzo¬ 
sen die Hände gebunden, so daß diese 
in ihrer Überhebung bald so weit gin¬ 
gen, ihrerseits das Maß dessen bestim¬ 
men zu wollen, was Preußen zurück¬ 
verlangen dürfe, und das Zurückzuge¬ 
bende als ein Geschenk des franzö¬ 
sischen Königs an den König von Preu¬ 
ßen zu bezeichnen. Auch ließen sie es 
nicht an dem nötigen Geschrei über die 
barbarische Zerstörung ihrer angeblich 
mit dem Blute französischer Landes¬ 
kinder so teuer erkauften Sammlungen 
fehlen, das leider nur allzu eindring¬ 
liche Wirkungen auf unsere politischen 
Führer ausübte und sie von energische¬ 
rer Vertretung der berechtigten Forde¬ 
rung abhielt. Das Schlußergebnis war 
ein von französischer Seite vorgeschla¬ 
gener Vergleich, auf den einzugehen 
von der Goltz vom Staatskanzler Har¬ 
denberg von Wien aus angewiesen 
wurde, der aber von der preußischen 
Regierung nie offiziell anerkannt wor¬ 
denist. Hardenburg belobt den Ge¬ 
sandten von der Goltz in einem Briefe 
vom 4. März 1815 aus Wien ausdrück¬ 
lich im Namen des Königs dafür, daß 
er die offizielle Anerkennung desselben 
in dem Schriftwechsel mit dem franzö¬ 
sischen Minister so geschickt vermie¬ 
den habe. Nach diesem Abkommen, das 
in den späteren Akten als die Wiener 
Konvention bezeichnet wird, sollten alle 
die Stücke an Preußen zurückgegeben 
werden, welche in öffentlichen Samm¬ 
lungen noch nicht aufgestellt seien, 
während diejenigen, welche bereits ein¬ 
gereiht und in den dem Publikum zu¬ 
gänglichen Räumen öffentlicher Samm¬ 
lungen ausgestellt seien, dem französi¬ 
schen Staate belassen werden sollten. 
Als Grund dafür, daß man preußischer- 
seits auf dieses schwächliche, man 
möchte fast sagen schmähliche Abkom¬ 
men schließlich stillschweigend und in 


der Hoffnung, bei günstigerer Gelegen¬ 
heit die Ansprüche auf das übrige wie¬ 
der geltend machen zu können, einging, 
hat erstens der Wunsch zu gelten, das 
zurückgeführte Königtum nicht durch 
Maßregeln, welche möglicherweise eine 
Verletzung der französischen National¬ 
eitelkeit zur Folge haben könnten, in 
irgendwelche eine gedeihliche Entwick¬ 
lung der neuen Staatsordnung hin¬ 
dernde Schwierigkeiten zu bringen, an¬ 
dererseits aber auch der Umstand, daß 
man bei offener Weigerung, den fran¬ 
zösischen Vorschlag anzuerkennen, Ge¬ 
fahr lief, trotz des königlichen Ver¬ 
sprechens, infolge der Machenschaften 
des Ministers von Blacas und des Mu¬ 
seumsdirektors Denon überhaupt nichts 
zurückzuerhalten, nachdem man die 
günstigen Tage der militärischen Okku¬ 
pation im Vertrauen auf ein französi¬ 
sches Königsrwort hatte ungenützt ver¬ 
streichen lassen. So bedauerlich schlie߬ 
lich dieses Abkommen aber auch war, 
das den preußischen Staat um unge¬ 
fähr zwei Drittel, und zwar um die 
besten Stücke, der ihm 1807 genomme¬ 
nen Schätze vermutlich unwiederbring¬ 
lich gebracht haben würde, so hätte 
man sich dabei beruhigen müssen und 
können, wenn die Franzosen nun ihrer¬ 
seits wenigstens die durch dasselbe 
übernommenen Pflichten ehrlich und, 
soweit es möglich war, rückhaltlos er¬ 
füllt hätten. Das ist aber, wir können 
mit Recht sagen, glücklicherweise, nicht 
der Fall gewesen, sondern die Franzo¬ 
sen haben mit allen möglichen und er¬ 
denkbaren Lügen und Kniffen daran 
gearbeitet, auch von den nach diesem 
ihrem eigenen Vorschläge unzweifel¬ 
haft doch herauszugebenden Stücken 
noch so viel als nur irgend möglich den 
verhaßten Preußen zu entziehen. Die 
Berichte und Briefe, welche Henry ln 
dieser Angelegenheit nach Berlin an 


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33 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 34 


Schuckmann schrieb, lassen uns einen 
Einblick tun in den Tiefstand franzö¬ 
sischer Moral; scheut sich doch selbst 
der Minister de Blacas nicht, um dem 
Museumsdirektor Denon Zeit zum 
Verschwindenlassen von reklamierten 
Sachen, bzw. zur Überführung von an¬ 
deren aus den Depots in öffentlich zu¬ 
gängliche Räume zu verschaffen, den 
Empfang amtlich zugestellter Schrift¬ 
stücke abzuleugnen, was ihm dann auch 
der preußische Gesandte von der Goltz 
ziemlich unverblümt unter die Nase 
reibt Ich kann hier natürlich nicht wei¬ 
ter auf Einzelheiten eingehen, ich will 
aber nur bemerken, daß selbst die heu¬ 
tige französische Forschung (E. Muntz, 
Ch. Saunier, E. Ferrand) offen zuge¬ 
steht daß die französischen Behörden 
und namentlich Denon, Lavalley, von 
Praet und Langläs 1814 und auch 1815 
mit Lüge und Betrug gearbeitet haben, 
um den Erfolg der berechtigten Rekla¬ 
mationen zu hintertreiben. Weit ent¬ 
fernt aber, ihnen daraus einen Vorwurf 
zu machen, versuchen sie vielmehr, 
ihnen eine Gloriole daraus zu weben, 
und machen sich dadurch also zu ihren 
Mitschuldigen. Das Ergebnis der Re¬ 
klamationen von 1814 war denn auch 
ein geradezu klägliches für uns. Von 
28 antiken Statuen aus Berlin und Pots¬ 
dam wurden 15, von 56 antiken Büsten 
und Reliefs 6 , von 7 neueren Bildwer¬ 
ken 3, von 123 Gemälden 41, von 15 
Handschriften 3 zurückgegeben, von 
den Münzen, Medaillen und geschnitte¬ 
nen Steinen fehlten ganze Serien und 
überall gerade die besten Stücke. In 
einem Bericht vom 12. März 1815 be¬ 
zeichnet Henry das Zurückgekommene 
als kaum den dritten Teil des Geraub¬ 
ten und des gemäß der Wiener Kon¬ 
vention Zurückzugebenden. Von den 
rheinischen Altertümern, Kunstschätzen 
und Handschriften war kaum die Rede 

Internationale Monatsschrift 

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gewesen, geschweige denn etwas zu¬ 
rückgegeben. Kassel erhielt 1814 so gut 
wie nichts zurück. Braunschweig bekam 
85 Gemälde, 42 Vasen, Basreliefs usw., 
174 Limousiner Emailwerke, 980 Va¬ 
sen, 12 Holzskulpturen und 9 andere 
Stücke zu rüde. Die Wolfenbütteler 
Handschriften blieben dagegen damals 
in Paris, ebenso eine große Anzahl von Ge¬ 
mälden aus dem Salzdahlumer Schlosse. 

Während aber in bezug auf die 
1806/1807 entführten Kunstsachen die 
Schuld der mangelhaften, völlig un¬ 
genügenden Ausführung der für die 
Franzosen so vorteilhaften Wiener Kon¬ 
vention einzig und allein der Untreue 
und Vertragsbrüchigkeit der Franzosen 
zuzuschreiben ist, liegt in Hinsicht 
der rheinischen 1794 bis 1804 entführ¬ 
ten Gegenstände ein großer Teil der 
Schuld auf unserer Seite wegen der 
mangelhaften Vorbereitung dieser Re¬ 
klamationen. Zwar hatte der Oberpräsi¬ 
dent von Sack auch im Rheinlande dazu 
angeregt, aber seine Forderungen er¬ 
streckten sich nicht weiter als auf die 
bekanntesten Stücke; wie das Rubens¬ 
bild und die Jesuitensammlungen, die 
Aachener Säulen und drei Bilder eben¬ 
da, d. h. also Dinge, die man in den 
Akten über die früheren Reklamationen 
zu französischer Zeit vorfand. Die 
Rückgabe der meisten von diesen Sachen 
fiel aber nach der Wiener Konvention 
weg, da sie im Louvre und anderen 
öffentlichen Sammlungen eingereiht 
und aufgestellt waren, und so verblie¬ 
ben sie damals noch in Paris. Von den 
Büchern und Handschriften, die in so 
großer Anzahl aus dem Rheinlande 
weggenommen waren, scheint 1814 
überhaupt nicht die Rede gewesen zu 
sein, wenigstens enthalten die Akten 
darüber keinerlei Angaben. Weitere 
Verhandlungen, die der Gesandte von 
der Goltz mit den französischen Behör- 

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35 Hermann Degenng, Französischer Kunstraub ln Deutschland 1794—1807 35 


den führte, die aber seit Henrys Heim¬ 
reise im Anfang Oktober 1814 allmäh¬ 
lich mehr und mehr resultatlos im 
Sande verliefen, unterbrach die Rück¬ 
kunft Napoleons und der neue Krieg. 

Zweifellos hatte die französische Re¬ 
gierung, wie Henry sofort, als die 
neuen Siege und die zweite Einnahme 
von Paris die erfolgreiche Wiederauf¬ 
nahme unserer Forderungen ermöglich¬ 
ten, in einem Bericht vom 8. Juli her¬ 
vorhob, die für sie so günstige Wiener 
Konvention in der schmählichsten 
Weise durch Lüge und Betrug ge¬ 
brochen und uns dadurch, auch ganz 
abgesehen davon, daß preußischerseits, 
wie wir oben gesehen haben, nie der 
Verzicht auf die ausgestellten Kunst¬ 
sachen anerkannt war, und daß durch 
die Erneuerung des Krieges überhaupt 
neue Rechtsverhältnisse geschaffen 
worden waren, einen unzweifelhaften 
Rechtsgrund für die Erneuerung unse¬ 
rer Forderungen in vollem Umfang an 
die Hand gegeben. Auch hatte sich in 
den höchsten Kreisen nunmehr infolge 
der Erfahrungen, die man in den vor¬ 
jährigen Verhandlungen mit der Taktik 
der Franzosen gemacht hatte, die Über¬ 
zeugung durchgesetzt (leider hielt sie 
nicht lange vor!), daß man mit ihnen 
am besten verfahren würde, wenn man 
scharf und energisch Zugriffe und ihnen 
zu dem Ränkespiel diplomatischerVer- 
handlungen keine neue Gelegenheit 
gebe. In diesem Sinne beauftragten 
Blücher und Gneisenau dann auch den 
Generalintendanten der Armee v.Rib- 
bentrop mit der Leitung der neuen Re¬ 
klamationen und gaben ihm neben den 
schon im Vorjahr mit diesen beschäf¬ 
tigten Sekretären Schütz, Schober und 
Jacobi einen energischen Helfer in der 
Persern des Volontäroffiziers Eberhard 
von Groote, einem Sohne des Rhein¬ 
landes und der Stadt Köln, der nun 


mit vollem Eifer daran ging, seiner 
Heimat das entrissene Gut wiederzu¬ 
gewinnen. Das Rubensbild seinerVater- 
stadt war das erste Stück, das er de» 
Diebesklauen der Franzosen entriß, zu¬ 
gleich mit einer Reihe von Bildern» 
Statuen, Büsten und Antiquitäten aus 
Berlin und Potsdam, die im Louvre 
ausgestellt waren und deshalb 1814 
nicht hatten genommen werden kön¬ 
nen. Verschleppungsversuche Denons 
wurden mit militärischer Exekution ab¬ 
gewehrt und ihm bei weiteren derarti¬ 
gen Versuchen Internierung auf der 
Festung Graudenz in Aussicht gestellt. 
So ging zunächst alles schnell und glatt 
vor sich, und es bestand die begrün¬ 
detste Aussicht, so gut wie restlos allen 
Kunstraub, wenigstens soweit er nach¬ 
weisbar war, zurückzuerhalten. Ein 
Fehler war es aber bereits damals, sieb 
mit den Franzosen wieder insoweit in 
Verhandlungen einzulassen, als man 
auf Erörterungen über die Rechtmäßig¬ 
keit erhobener Forderungen im einzel¬ 
nen einging und dabei grundsätzlich zu¬ 
gestand, daß der Nachweis der Forde¬ 
rungsberechtigung unsererseits geliefert 
werden müsse. Richtiger und wirksamer 
wäre es dagegen gewesen, den Franzo¬ 
sen, welche durch ihre materiell und 
formell gesetzlosen Räubereien einen 
solchen Nachweis unsererseits vielfach 
unmöglich gemacht hatten, in den Fäl¬ 
len, wo sie glaubten, unsere Forde¬ 
rungen mit Recht anfechten zu kön¬ 
nen, die Pflicht des Nachweises recht¬ 
mäßiger Erwerbung der Gegenstände 
dieser Forderungen aufzuerlegen. Außer¬ 
dem kam man dadurch sofort wieder 
zum Unterhandeln und gab damit den 
Franzosen wieder Gelegenheit, ihre ver¬ 
logene Diplomatenkunst in Anwendung 
zu bringen. 

Leider sollte ihnen recht bald ein 
außerordentlicher Erfolg auf diesem 


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37 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 33 


Gebiete beschieden sein. Als es sich 
nämlich darum handelte, die aus 
dem Aachener Dome ausgebrochenen, 
nach Paris geschleppten antiken Por¬ 
phyr-, Granit' und Marmorsäulen 
zurückzimehmen, versuchte Denon zu¬ 
nächst, die Berechtigung Preußens zu 
dieser Forderung mit dem Einwande in 
Zweifel zu stellen, daß die Wegfüh- 
rang vor 20 Jahren geschehen sei, 
während Aachen erst seit drei Monaten 
zu Preußen gehöre. Als er damit kein 
GlOck hatte, schob er Arbeitermangel 
vor, bis Ribbentrop der Geduldsfaden 
riß und er ihm schriftlich androhte, die 
Säulen, von denen acht Stück in dem 
sogenannten Apollosaale eingebaut wa¬ 
ren, durch preußische Pioniere wegneh¬ 
men zu lassen. Nun wandte sich De¬ 
non in einem Immediatgesuche unter 
Vermittlung von Alexander von Hum¬ 
boldt an den König von Preußen. Er 
stellte in seinem Gesuche dem/ Könige 
die Sache so dar, als ob den Franzosen 
und ihrem Könige wer weiß welches 
Unrecht damit geschähe, daß man die 
Säulen wieder nehmen wollte, und als 
ob bei dem Ausbrechen derselben aus 
der Galerie des Apollo das Louvre in 
Einsturzgefahr und womöglich der fran¬ 
zösische König in Lebensgefahr gera¬ 
ten würde. In echt französischer Gei¬ 
stesverfassung verband er mit seinen 
Lamentationen auch noch einige perfide 
Beschuldigungen gegen E. v. Groote, 
der ihm offenbar in seiner energischen 
Art der gefährlichste Gegner dünkte, 
and versuchte, ihn unter geflissentlich 
eingestreuten Lobeserhebungen für den 
Heim Schober, einen anderen der Kom¬ 
missare, beim Könige in Mißkredit zu 
bringen. Damit hatte er nun freilich 
weniger Glück, sondern er zog sich da¬ 
mit nur von Schober und Groote ein 
paar Briefe zu, die an Deutlichkeit 
nichts zu wünschen übrigließen; aber 

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in der Sache selbst verfügte der König, 
daß man sich mit zehn Säulen begnü¬ 
gen sollte, die von denen ausgewählt 
werden sollten, die nicht in dem Louvre 
eingebaut seien. Diese königliche Ent¬ 
scheidung erregte bei den Kommissaren 
und den übrigen Beteiligten-einen leb¬ 
haften Protest Groote wandte sich 
brieflich an den Oberpräsidenten von 
Sack in Aachen und, wie es scheint, 
auch anGörres; auch Benzenberg spitzte 
die Feder, und so gab es in den rhei¬ 
nischen Blättern, vor allem im Rheini¬ 
schen Merkur, einen lebhaften Gedan¬ 
kenaustausch, bei dem namentlich 
Alexander von Humboldt manches harte, 
nicht unverdiente Wort zu hören bekam. 

Gestützt auf diese Preßfehde, ge¬ 
lang es Ribbentrop, die königliche Ent¬ 
scheidung hinsichtlich der Aachener 
Säulen wenigstens dahin umzuändern, 
daß alle nicht eingebauten, statt 10 also 
28 Säulen zurückgefordert und zurück¬ 
gegeben wurden. Immerhin ist auch 
diese Schonung der Eitelkeit der Fran¬ 
zosen, die sich doch ihrerseits nicht ge¬ 
scheut hatten, den altehrwürdigen Bau 
des Kaisers Karl durch das Ausbrechen 
der Säulen zu zerstören, eine bedauer¬ 
liche Schwäche gewesen, die nur dazu 
gedient hat, die Franzosen zu weiteren 
Ränken und Listen zu ermutigen. Zu¬ 
nächst behielt man so gut wie alle zu 
den Säulen zugehörigen Basen und Ka¬ 
pitelle zurück, und als man sie heraus¬ 
gab, wußte man in vielen Fällen wert¬ 
lose und ganz wo anders herstammende 
Stücke an Stelle der echten unterzuschie¬ 
ben. ein Betrug, welcher anscheinend 
bei der Restauration des Aachener Do¬ 
mes in den vierziger Jahren des vori¬ 
gen Jahrhunderts ganz in Vergessenheit 
geraten war. 

Auch sonst begann nun, nachdem 
man einmal beim Verhandeln wieder 
an gelangt war, das alte Spiel von 

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39 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 40 


neuem. Namentlich die Kämpfe um die 
Bilder der Kasseler Galerie, sowohl um 
die in Malmaison im Nachlaß der Kai¬ 
serin Josephine befindlichen, als um die 
den französischen Provinzialmuseen ab¬ 
getretenen Bilder, sind Schulbeispiele 
französischer Perfidie, worüber beson¬ 
ders die Schrift von Ferd. Engerrand, 
L’histoire du Musöe de Caän auf 16 in 
den ausgegebenen Exemplaren unter¬ 
drückten, vom Verfasser nur an gute 
Bekannte (das mir vorliegende Exem¬ 
plar war für E. Muntz bestimmt) ver¬ 
teilten Blättern erbauliche Aufschi üsse gibt 
Altpreußen hat freilich das meiste 
ihm 1806/1807 genommene Kunstgut 
1815 zurückerhalten, weil hierüber ge¬ 
naue Verzeichnisse und Beschreibun¬ 
gen Vorlagen, die zu Ausflüchten we¬ 
nig Raum boten, und doch ist es auch 
hier den Franzosen gelungen, eine 
Reihe von Kunstwerken zurückzubehal¬ 
ten. Wo aber solche Verzeichnisse und 
Quittungen nicht Vorlagen, wie bei den 
meisten rheinischen Raubstücken, da 
versagten auch 1815 die Reklamationen 
zum größten Teile, eben weil man preu- 
ßischerseits in übertriebener Gewissen¬ 
haftigkeit den oben gekennzeichneten 
Standpunkt einnahm, eine Forderung 
nur dann mit Nachdruck zu vertreten, 
wenn ihre Berechtigung bis auf das 
letzte Pünktchen dokumentarisch belegt 
war. Dieser Standpunkt hat sich ganz 
besonders verderblich und unheilvoll 
für die Rückforderungen der literari¬ 
schen Schätze des Rheinlandes erwie¬ 
sen, denn hier waren sichere Grund¬ 
lagen nur wenig vorhanden, und wo 
Belege da waren, leugnete man auf der 
Nationalbibliothek schlankweg ab, diese 
Sachen jemals erhalten zu haben. Man 
konnte das um so leichter, als die 
große Menge der aus Deutschland dort¬ 
hin geschleppten Handschriften, Inku¬ 
nabeln und anderen Seltenheiten noch 


unverarbeitet in den Magazinen stand, 
so daß eine Nachkontrolle der wissent¬ 
lich falschen Beurkundungen vonPraets 
und Langl&s damals zu den Unmöglich¬ 
keiten gehörte, solange man sich eben 
nicht dazu entschließen konnte, nöti¬ 
genfalls unter Anwendung von Ge¬ 
walt, die französische Bibliotheksver¬ 
waltung für die Zeit der Reklamationen 
völlig beiseite zu schieben und die 
Herausgabe der Zugangsakten zu er¬ 
zwingen. Es sind damals im ganzen nur 
102 rheinische Handschriften und 84 In¬ 
kunabeln zurückgegeben, sowie 51 Ur¬ 
kunden nach Aachen, zirka 300 nach 
Trier und ungefähr 50 nach Köln. Was 
aber an diesen Dingen aus dem Rhein¬ 
lande fortgeschleppt ist, übersteigt das 
Zurückgegebene um ein Vielfaches, 
denn was Maugörard allein genommen, 
beträgt, wie wir oben sahen, an Hand¬ 
schriften fast 300 und an Inkunabeln 
und anderen seltenen Drucken über 
700 Bände. Was aber 1794 allein aus 
Köln daran fortgeschafft ist, übertrifft 
an Umfang die Maugörardsche Gesamt¬ 
beute auch bei der vorsichtigsten Schät¬ 
zung um ganz beträchtliche Zahlen. Der 
außerordentliche Reichtum der Pariser 
Nationalbibliothek an deutschen und be¬ 
sonders an Kölner Frühdrucken, von 
denen sich dort häufig fünf bis zehn 
Exemplare vorfinden, ist nur dadurch 
zu erklären, daß von den aus dem 
Rheinlande weggeschleppten Sachen 
1814/1815 so außerordentlich wenig zu¬ 
rückverlangt und noch weniger zurück¬ 
gegeben ist. Es wäre 1815 das Rich¬ 
tigste gewesen, alle die unverarbeiteten 
Depots der Nationalbibliothek mit Be¬ 
schlag zu belegen und aus ihnen durch 
deutsche Kommissare das deutsche Gut 
aussuchen zu lassen, statt sich mit den 
französischen Bibliotheksbeamten in 
Erörterungen über die Beweiskräftig¬ 
keit eingereichter Beschlagnahmequit- 


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41 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 42 


tragen einzulassen und ihren bewu߬ 
terweise wahrheitswidrig abgegebenen 
Zeugnissen Glauben zu schenken. So¬ 
wohl van Praet, der Vorsteher der 
Drackschriftenabteilung, als auch Lang- 
Ifes» der Leiter der Handschriftenabtei- 
lung, haben das Vertrauen, das ihnen 
die deutschen Kommissare in diesen 
Dingen entgegenbrachten, wiederholt, 
wie sich jetzt dokumentarisch erweisen 
läßt, auf das schmählichste mißbraucht 
und getäuscht. Ausführliche Listen von 
Inkunabeln und Handschriften, die aus 
Kölner Klöstern, aus Brau weiler, Knecht¬ 
steden, Prüm und anderen Klöstern 
weggenommen waren, haben sie zu- 
rilckgegeben mit ihrem amtlichen Zeug¬ 
nisse, daß die darin aufgeführten Werke 
niemals in die Pariser Bibliothek ge¬ 
kommen seien, während sich jetzt mit 
Leichtigkeit der Nachweis führen läßt, 
daß das damals doch der Fall war. An- 
zunehmen, daß sie das nicht gewußt 
hätten, hieße ihre geistigen Fähigkeiten 
und ihr Erinnerungsvermögen denn 
doch zu niedrig einschätzen, es bleibt 
also kein anderer Ausweg, als ihr mora¬ 
lisches Konto mit dieser Lüge zu belasten. 

Die Franzosen stellen den Kunst¬ 
raub, den sie in allen von ihnen besieg¬ 
ten Ländern in den Kriegen der Revo¬ 
lution und des Kaiserreiches ausge- 
führt haben, gern dar als ein aus Liebe 
und Begeisterung zur Kunst entsprun¬ 
genes Unternehmen, das für den Fort¬ 
schritt der Kunst und der Wissenschaft 
von höchstem Werte gewesen sei, das 
sie mit dem Blute ihrer Landeskinder 
bezahlt und für das sie auf die finan¬ 
zielle Ausbeutung der eroberten Länder 
verzichtet hätten. Diese Legende, in 
tausendfacher Wiederholung verbreitet, 
bat viele Gläubige, leider auch unter 
den Deutschen, gefunden, und sie spukt 
noch heutzutage in vielen Köpfen. Sie 
ist aber in jeder Beziehung unwahr. 


Was den letzten Punkt anbetrifft, so ist 
es denn doch eigentlich zur Genüge be¬ 
kannt, in welcher geradezu haarsträu¬ 
benden Weise die eroberten Länder, 
namentlich Belgien, Holland und die 
Rheinprovinz und später Norddeutsch¬ 
land, an Gut und nicht zum mindesten 
auch an Blut für rein französische 
Interessen ausgepreßt und ausgebeu¬ 
tet worden sind, so daß die Wegnahme 
der Kunstschatze wenigstens hier durch¬ 
aus nidit als ein Ersatz solcher Er¬ 
pressungen, sondern vielmehr nur als 
eine Steigerung und Erweiterung der¬ 
selben angesehen werden kann. 

Was aber die Förderung der Kunst 
und Wissenschaft anbetrifft, so soll 
nicht verkannt werden, daß, wie durch 
das Durcheinanderwirbeln der Ideen- 
und Gedankenwelt durch die Franzö¬ 
sische Revolution überhaupt auf man¬ 
chen Gebieten Fortschritte erzielt wor¬ 
den sind, so auch durch die französi¬ 
schen Räubereien manche in Klöstern 
und Kirchen bis dahin versteckte und 
vergrabene Schätze ans Licht gebracht 
und der Wissenschaft zugänglich ge¬ 
macht sind. Aber man soll diese För¬ 
derungen auch nicht überschätzen. Es 
herrschte ein durchaus reges geistiges 
Leben bereits vor der Französischen 
Revolution, und gerade die Erforschung 
der klösterlichen Verstecke geistiger 
Schätze hatte bereits seit längerer Zeit 
eingesetzt, wie die großen Publikatio¬ 
nen der Benediktiner Frankreichs und 
Deutschlands und die mannigfachen 
Reiseberichte beweisen, so daß auch 
ohne die Beraubung der Klosterbiblio¬ 
theken ihre Nutzbarmachung für Kunst 
und Wissenschaft geschehen konnte. Je¬ 
denfalls bedurfte es aber dazu nicht 
ihrer Wegführung nach Paris. Zudem 
aber haben sich die Franzosen durch¬ 
aus nicht damit begnügt, etwa nur die 
hervorragendsten Werke unserer Kunst 


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43 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 44 


und Wissenschaft in Paris in einem 
Mustermuseum und in einer allum¬ 
fassenden Bibliothek zu vereinigen, 
sondern sie haben, nachdem sie 
vorher, ja während sie noch im eige¬ 
nen Lande unersetzliche Werte an 
Kunst- und Wissenschaftsschätzen in 
vandalischem Eifer vernichteten und 
zerstörten, im Wechsel der Laune 
ihrer Raubgier, der sie das fadenschei¬ 
nige Mäntelchen neu erwachter Kunst- 
liebe umhingen, in den eroberten Ge¬ 
bieten in vollen Zügen Genüge getan 
und alles, was nur irgendwie über die 
bescheidensten Ansprüche an Sammel¬ 
wert hinausging, nach Paris geschleppt. 
Die dort zusammenströmenden Massen, 
die man, wie stets behauptet wurde, für 
die nationalen Sammlungen in Paris, 
d. h. also für den Louvre und die Na¬ 
tionalbibliothek beschlagnahmt hatte, 
konnte man natürlich gar nicht so 
schnell verarbeiten und ordnen. Man 
begnügte sich also damit, die Haupt- 
stücke he rau szu greifen und aufzustel- 
len, und ließ das meiste in Depots ver¬ 
kommen und ging endlich sogar dazu 
über, die Kunstsachen, die man doch 
angeblich für eine universelle Samm¬ 
lung den Stellen genommen hatte, in 
denen sie Heimatrecht von Natur hatten 
oder durch die Pflege kunstsinniger 
Fürsten erworben hatten, an franzö¬ 
sische Provinzialmuseen abzugeben, wo 
sie mindestens ebenso versteckt und 
abgelegen waren, als an den Orten, wo¬ 
her man sie genommen hatte. Aber das 
war nicht das Schlimmste, sondern man 
stattete mit den Rauhstücken auch 
Privatwohnungen von Generalen, höhe¬ 
ren Beamten und Angehörigen des 
ersten Konsuls und nachmaligen Kai¬ 
sers Napoleon aus. Namentlich die 
Kaiserin Josephine entwickelte einen 
lebhaften Sammeleifer für Kunstgegen¬ 
stände, Pretiosen und Reliquien. Vieles 


aber, besonders von den Büchern, ließ 
man in den Speichern verkommen, und 
anderes ist offenbar verkauft, ohne zu 
bedenken, daß mit der Preisgabe ihres 
angeblichen Zweckes diese Konfiskatio¬ 
nen auch vor französischen Augen als 
das erscheinen mußten, was sie waren, 
nämlich als gemeiner Diebstahl. Übri¬ 
gens sind auch durchaus die Franzosen 
nicht durchweg mit den Räubereien 
der Revolutionsheere und Napoleons 
einverstanden gewesen. Bereits 1795 
protestierte eine große Anzahl her¬ 
vorragender Künstler und Gelehrter 
unter Führung von Quatrem&re de 
Quincy gegen dieses Raubsystem in ei¬ 
ner Eingabe an den Nationalkonvent, 
unter deren Unterschriften man mit 
nicht geringem Erstaunen auch den 
Namen Denons erblicken kann; und 
als im Jahre 1815 die Reklamationen 
ansetzten, vereinigte sich eine ganze 
Anzahl französischer Künstler in Rom 
mit den Künstlern anderer Nationen 
daselbst, um in einer Sammeladresse 
an die verbündeten Mächte um Unter¬ 
stützung der Bemühungen des Papstes 
für die Rückführung der aus Rom ent¬ 
führten Kunst- und Literaturschätze zu 
bitten. 

Es ist aber außerdem zu bedenken, 
daß die preußische Regierung den Fran¬ 
zosen auch 1815 noch in weitestgehen¬ 
der Weise entgegenkam mit einem Vor¬ 
schläge, alle die noch strittigen Punkte 
durch ein gütliches Übereinkommen zu 
beseitigen und zu erledigen. Sie ließ 
zu diesem Zwecke von Jacob Grimm, 
der dazu eigens nach Paris berufen 
wurde, einen Vergleichsvorschlag aus¬ 
arbeiten, nach dem für die nicht zu¬ 
rückgegebenen Kunstsachen und für die 
aus dem Rheinlande weggenommenen 
und angeblich nicht auffindbaren Hand¬ 
schriften und Inkunabeln als Ersatz ge¬ 
geben werden sollten: . 


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45 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 45 


1. die Manessische Liederhandschrift 

2. die aus der Villa Albani stammen¬ 
den Winckelmann-Handschriften, 

3. eine näher zu vereinbarende An¬ 
zahl (Grimm schlägt vor 500) Hand¬ 
schriften zur deutschen Geschichte 
und Literatur, wobei ausdrücklich 
nur solche Stücke gewählt werden 
sollten, welche in mehreren Exem¬ 
plaren in der Nationalbibliothek 
vorhanden seien, und deren Aus¬ 
wahl in der Hauptsache der franzö¬ 
sischen Bibliotheksverwaltung Vor¬ 
behalten sein sollte, 

4. sollte ein Leihverkehr von Hand¬ 
schriften und seltenen Drucken 
zwischen der Pariser und der Ber¬ 
liner Bibliothek eingerichtet wer¬ 
den. 

Diesen gewiß billigen Vergleichsvor¬ 
schlag haben die Franzosen abgelehnt 

Zum Schlüsse sei hier eine summa¬ 
rische Obersicht dessen beigefügt was 
uns durch die französischen Räube¬ 
reien verlorengegangen ist. Auf Voll¬ 
ständigkeit kann diese Aufstellung na¬ 
türlich keinen Anspruch erheben, zu¬ 
mal sich diese bei der geschilderten 
Sachlage gar nicht erreichen läßt auch 
sind an Einzelstücken nur solche von 
erheblichem Werte darin genannt. Wir 
beginnen mit den literarischen Stücken. 

An Handschriften sind eine ganz er¬ 
hebliche Anzahl aus den rheinischen 
Gebieten z. T. nach Paris geschleppt, 
z. T. durch die Auktionen von 1804 
und 1811 in alle Winde zerstreut; die 
Gesamtzahl derselben ist auf minde¬ 
stens 2500 zu schätzen, und ihr Ge¬ 
samtwert ist da sich unter den nach 
Paris gebrachten Stücken Handschrif¬ 
ten von ganz außerordentlichem wissen¬ 
schaftlichem und künstlerischem Werte 
befinden, mit 3 bis 4 Millionen Mark 
schwerlich zu hoch veranschlagt. Her¬ 
vorzuheben sind besonders das kost¬ 


bare Prümer Graduale, die Sammel¬ 
bände St. Maximiner, der Kölner und 
Aachener Urkunden, die prächtigen Mi¬ 
niaturhandschriften aus Metz, die alten 
Klassikerhandschriften aus Echternach, 
die hebräische Bibelhandschrift aus 
Köln, der Sammelband von Briefen 
Leibniz’ an den Jesuiten de.Broches 
aus Köln, die Handschrift der Köl¬ 
ner Chronica regia aus Aachen und 
des Theodorus Priscianus aus Köln. 
Auch der rheinische Verlust an Inku¬ 
nabeln und anderen literarischen Sel¬ 
tenheiten ist außerordentlich groß. 
Was allein aus Köln 1794 daran für 
Paris fortgenommen worden ist, kann 
auf mehrere tausend Bände veranschlagt 
werden, und den Gesamtverlust der 
Rheinlande wird man, zumal wenn man 
das mit berücksichtigt, was durch man¬ 
gelnde Aufsicht und sonstige Mißwirt¬ 
schaft und durch die Verschleuderung 
in den Auktionen der Domänenverwal¬ 
tung verlorenging, unbedenklich in der 
Höhe von fünfstelligen Zahlen ansetzen 
und den Geldwert, mit Rücksicht auf 
die zahlreichen Pergamentdrucke, auf 
die die Kommissare nach van Praets 
Anweisung ihr besonderes Augenmerk 
richteten, und der Mainzer Gutenberg¬ 
sachen, sowie der oben erwähnten 
42 zeitigen Bibel aus Marienbaum mit 
mindestens einer Million Mark berech¬ 
nen dürfen. 

Die literarische Schädigung Altpreu¬ 
ßens ist demgegenüber nur gering. Das 
Wertvollste daran sind die verlorenen 
Autographen von Friedrich dem Gro¬ 
ßen und Voltaire aus Potsdam. 

Aus Wolfenbüttel sind die sogenann¬ 
ten Mazarinhandschriften zu erwähnen 
und 7 deutsche Handschriften, die 1815 
angeblich nicht aufzufinden waren, die 
aber heute sämtlich in Paris nachweis¬ 
bar sind, außerdem aber einige Block¬ 
bücher und Inkunabeln, darunter die 


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47 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 4B 


vertauschte 36zeilige Bibel und Hart¬ 
liebs Chiromantie. 

Aus Bayern haben französische Ge¬ 
nerale aus Eichstädt, Rebdorf und In¬ 
golstadt Handschriften weggenommen, 
von denen schließlich ein großer Teil 
in die Bibliothöque Nationale gekom¬ 
men ist. Es befinden sich darunter 
wertvolle Heiligenleben. 

Unter den Verlusten an Kunstgegen- 
ständen sind an erster Stelle zu nennen 
24 Bilder aus der Kasseler Galerie, 
von denen 21 während der Rückforde¬ 
rungsverhandlungen von den Erben der 
Kaiserin Josephine an den Kaiser von 
Rußland verkauft wurden, und die sich 
jetzt meist in der Eremitage zu Pe¬ 
tersburg befinden, während die 3 an¬ 
deren in die Museen von Montpellier, 
Toulouse und Caön gekommen sind. 
Der Wert dieser Bilder dürfte jetzt auf 
mehrere Millionen Mark zu schätzen 
sein. 5 ) Außerdem hat Kassel eingebüßt 
36 Pretiosen, 548 goldene und 4328 sil¬ 
berne Medaillen, deren Gesamtwert auf 
1700000 geschätzt wird. 

Braunschweig beklagt den Verlust 
von 69 Gemälden, die 1807 aus dem 
Salzdahlumer Schlosse, sowie von 18 
anderen Bildern, die aus der Galerie 
in Braunschweig genommen und 1814/15 
nicht zurückgegeben sind. Unter ihnen 
sind Bilder von Raffael, Tizian, Rem- 
brandt, Rubens, van Dyck, und ihr heu¬ 
tiger Wert kann gleichfalls auf mehrere 
Millionen geschätzt werden. 

Aus dm Rheinlande sind entführt: 

1. Aus Aachen ein Rubensbild (An¬ 
betung der Hirten), das sich jetzt im 
Museum zu Rouen befindet; 

2 . aus Koblenz die Altartafel der 
Kastorkirche in Email und Silber, jetzt 


5) Von den Bilderentwendungen wird 
ausführlicher noch in einem der nächsten 
Hefte gehandelt werden. Die Red. 


im Clunymuseum, und ein altes Ge¬ 
schütz, der Vogel Greif genannt, jetzt 
im Invalidenpalais zu Paris; 

3. aus dem Kloster Steinfeld der 
Potentinusschrein, jetzt im Louvre; 

4. aus Streelen ein geschnitzter Altar,, 
jetzt in St'Germain-l’Auxerrois in Paris. 

5. aus Köln eine Reihe von histori¬ 
schen Kanonen aus dem Zeughause, 
ebendaher 3 römische Grabsteine, aus. 
dem Exjesuitenkolleg eine Sammlung 
von 6113 Handzeichnungen und ca. 150 
Sammelbände von Stichen und Holz¬ 
schnitten und eine große Sammlung 
mittelalterlicher Münzen sowie von 
Gemmen und Kameen, aus St. Maria 
im Kapitol ein mittelalterliches Grab¬ 
mal in Mosaik. 

Aus Berliner Kunstsammlungen feh¬ 
len endlich noch ungefähr 4000 Mün¬ 
zen und Medaillen, deren Wert auf 
500000 Mark geschätzt wird, und 76 ge¬ 
schnittene Steine im Werte von 100000 
Marie, ferner 5 antike Marmorwerke 
und eine kleine antike Bronzebüste Ju¬ 
lius Cäsars sowie einige Gemälde. — 

Wenn man die Summe dieser Ver¬ 
luste ins Auge faßt, versteht man, wie 
den Zeitgenossen nicht die vielgeschmäh¬ 
ten Deutschen, sondern die Franzosen 
als Barbaren erschienen, und daß Schil¬ 
ler seinem Unwillen über „Die Antiken 
zu Paris“ in den Versen Ausdruck ge¬ 
geben hat: 

Was der Griechen Kunst erschaffen. 
Mag der Franke mit den Waffen 
Führen nach der Seine Strand, 

Und in prangenden Museen 
Zeig’ er seine Siegstrophäen 
Dem erstaunten Vaterlandl 

Ewig werden sie ihm schweigen. 

Nie von den Gestellen steigen 
In des Lebens frischen Reihn. 

Der allein besitzt die Musen, 

Der sie trägt im warmen Busen — 
Dem Vandalen sind sie Stein. 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916. 

Von Karl Bahn. 


(Z)Von zuständiger Seite ist veröffent¬ 
licht worden, daß die deutschen Hoch- 
seeStreitkräfte am 31. Mai nachmittags 
vorgestoßen seien, um englische Flot¬ 
tenteile, die in letzter Zeit mehrfach an 
der norwegischen Südküste gemeldet 
worden waren, zur Schlacht zu stellen. 
Daraus geht hervor, daß der deutsche 
Admiralstab die Schlacht herbeigeführt 
hat, sobald die englische Flotte dazu 
Gelegenheit bot. Deutscherseits ist sie 
also nicht aus zufälliger Begegnung, 
sondern planvoll entstanden. Einleitung 
und Durchführung des Kampfes geben 
hierfür vollgültigen Beweis. Nicht so 
zweifelsfrei ist die Absicht des engli¬ 
schen Admiralstabes zu erkennen und 
festzustellen. Die englische Flotte, na¬ 
mentlich ihr gegen Deutschland be¬ 
stimmter wertvollster Teil, die neuesten 
Kampfschiffe, Kleinen Kreuzer und Zer¬ 
störer, ist 22 Monate hindurch ängstlich 
gehütet, versteckt worden; zuerst in 
den unzugänglichen Häfen der West¬ 
küste Englands und dann in den buch¬ 
tenreich«! Orkneyinseln an der Nord¬ 
ostspitze Schottlands. Dort ist sie trotz 
aller Angriffe der englischen Ostküste 
durch unsere Geschwader festgehalten 
worden. Die Schonung ging so weit, 
daß das Linienschiff Queen Elizabeth, 
eines der neuesten englischen Schiffe, 
das wegen der großen Tragweite sei¬ 
ner 38,1-cm-Kanonen vor Gallipoli ver¬ 
wendet wurde, von dort zurückgezogen 
wurde, als die deutschen U-Boote da¬ 
selbst auftraten und die englischen Li¬ 
nienschiffe Majestic, Ocean, Goliath, 
Irresistible, Triumph und Lord Nelson 
in schneller Folge versenkten. Diese auf¬ 
fällige Schonung muß als Anzeichen 


aufgefaßt werden, daß die englische 
Flotte für die letzte Entscheidung auf¬ 
gespart werden sollte, um durch ihre 
Überlegenheit und Unbesiegbarkeit dem 
Vierverbande den entscheidenden Sieg 
und England die alleinige und un¬ 
eingeschränkte Seeherrschaft zu brin¬ 
gen. 

War nach dem Stande des Land¬ 
krieges dieser entscheidende Augen¬ 
blick schon gekommen oder lagen noch 
andere Gründe für das plötzliche Auf¬ 
treten der gesamten englischen Hoch¬ 
seeflotte in der Nordsee vor? 

Die letzte Beschießung von Lowe- 
stoft am 24. April d. J. durch eines 
unserer Geschwader ließ in England 
immer heftiger und nachdrücklicher 
nach Schutz der Ostküste durch die 
Flotte rufen. Unsere Marineluftschiff¬ 
geschwader hatten ihre Angriffe immer 
weiter nach Norden getragen. Es lag 
also die Gefahr nahe, daß sie die eng¬ 
lische Flotte in ihren Schlupfwinkeln 
in den Orkneyinseln aufsuchen könn¬ 
ten. Die Sicherheit der Flotte war da¬ 
hin. Audi die gesamte Kriegslage Ende 
Mai erheischte dringend ein Eingreifen 
der englischen Flotte. Vor Verdun ver¬ 
blutete sich das französische Heer ohne 
Erfolg mehr und mehr und ein großer 
Teil der für den inzwischen begonnenen 
Hauptangriff in Nordfrankreich ange¬ 
sammelten Reserven wurde vor Verdun 
aufgebraucht. Das plötzliche siegreiche 
Vordringen Österreich-Ungams gegen 
die Poebene und die starke Gefährdung 
Valonas, des letzten Stützpunktes der 
Italiener auf dem Ostufer der Adria^ 
mit dessen Verlust der Traum Italiens 
von der Adria als geschlossenem ita- 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


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lienischen See und von seinem Einfluß 
.auf dem Balkan zu Ende ist, ließen den 
Verzweiflungsschrei nach Entlastung 
durch einen russischen Angriff in Ga¬ 
lizien ertönen. Sollte die viel bespro¬ 
chene und gerühmte Einheit der Kampf¬ 
linie des Vierverbandes durchgeführt 
werden, so mußte der geplante Haupt¬ 
angriff im Westen dem russischen An¬ 
griff ungesäumt folgen. Dem jetzt to¬ 
benden erbitterten Kampf an der Som¬ 
me wäre eine merkbare Unterstützung 
geworden durch Landung eines eng¬ 
lischen Heeres im Rücken unserer Front. 
Daß eine solche auf der Pariser Zu¬ 
sammenkunft beschlossen worden ist, 
hat im Laufe der Zeit immer mehr 
an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Nur 
wollte Holland die Rolle Griechenlands 
■nicht spielen, sondern ergriff Maßre¬ 
geln, seine Neutralität mit Waffenge¬ 
walt zu verteidigen. Deshalb ließ Eng¬ 
land diesen Plan fallen. Aber es hat 
große Wahrscheinlichkeit für sich, daß 
an Stelle einer Landung in Holland 
«eine solche in Dänemark ins Auge ge¬ 
faßt wurde. Schon vor einem Jahrzehnt 
•etwa hatte die englische Flotte gele¬ 
gentlich eines Manövers Landungsver¬ 
suche in Esbjerg geübt. Esbjerg liegt 
an der Westküste Dänemarks, etwas 
nördlich der schleswigschen Grenze. 
.Man hoffte vermutlich, mit Dänemark, 
das eine ähnlich ungünstige Lage hat 
wie Griechenland, und dessen langge¬ 
streckte West- und Nordküste dem 
Feuer der englischen Schiffe schutzlos 
preisgegeben ist, leichter fertig zu wer¬ 
den und hoffte auch wohl, neben der 
Bedrohung des Rückens unserer West¬ 
front und der rückwärtigen Verbindun¬ 
gen durch Wegnahme des Kaiser-Wil- 
helm-Kanals gleichzeitig unsere Ver¬ 
bindung zwischen Nord- und Ostsee zu 
unterbrechen und Kiel von der Land¬ 
seite her anzugreifen. 


Eine Landung in Dänemark war aber 
erst möglich, wenn die deutsche Flotte 
vernichtet war. England kannte von 
Gallipoli und Saloniki her die unend¬ 
lichen Schwierigkeiten von Übersee- 
unternehmungen und wußte auch, daß 
eine noch kampffähige deutsche Flotte 
einer Landung und der Versorgung des 
gelandeten Heeres nicht ruhig Zusehen 
würde. Eine Seeschlacht war also die 
unumgängliche Voraussetzung dieses 
Planes. Dazu kam noch, daß der 
Reichskanzler erklärt hatte, ernsthaf¬ 
ten Friedensangeboten müsse die zeitige 
Kriegskarte Europas zugninde gelegt 
werden und daß englischerseits darauf 
schroff und stolz erklärt wurde, auch 
die Seekriegskarte müsse maßgebend 
sein und England beherrsche noch im¬ 
mer alle Meere uneingeschränkt. Der 
Beweis hierfür war noch nicht erbracht, 
und das ängstliche Zurückhalten der eng¬ 
lischen Flotte zeigte trotz aller Ruhm¬ 
redigkeit gewiß nicht viel Vertrauen 
zu der unbedingten Überlegenheit der 
englischen Flotte. Diese Verhältnisse 
drängten dazu, die Entscheidung auf 
dem Meere zu suchen, so daß hiernach 
auch englischerseits die Schlacht als 
eine geplante angesehen werden muß. 
Vielleicht nur nicht für den Nachmittag 
des 31. Mai, sondern für den 1. Juni, 
worauf das etwas verspätete Eintreffen 
der englischen Hauptmacht, das in der 
englischen Presse heftig getadelt wor¬ 
den ist, und auch das Erscheinen eines 
englischen Geschwaders aus der süd¬ 
lichen Nordsee erst am' 1. Juni morgens 
hinzudeuten scheinen. Nachdem der 
Ausgang der Schlacht am 31. Mai die 
Vernichtung der deutschen Flotte nicht 
gebracht, sondern zu schwerwiegenden 
englischen Verlusten und arger Enttäu¬ 
schung geführt hat, mußte jeglicher 
Landungsplan vorerst aufgegeben wer¬ 
den. Demgemäß wurde das englische 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


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Millionenheer im Juni nach Frankreich 
übergesetzt und die Vorbereitungen für 
den Angriff getroffen, der dann am 
1 . Juli losbrach. 

Ob die englische Heeresleitung sol¬ 
che Pläne hegte, wird erst spätere Zu¬ 
kunft klarstellen. Aber die zeitliche 
Aufeinanderfolge der Begebenheiten be¬ 
kräftigen die Möglichkeit solcher Ab¬ 
sicht. Eine weitere Bestätigung findet 
sie dadurch, daß die Vermutung, Lord 
Kitchener sei in der Seeschlacht am 
Skagerrak und nicht am 7. Juni bei 
den Orkney-Inseln ertrunken, durch den 
Aufruf der englischen Regierung zur 
Bergung seiner Leiche nahezu Gewi߬ 
heit erlangt hat Lord Kitchener soll 
zum Leiter des geplanten Unterneh¬ 
mens bestimmt gewesen sein. 

Ober Sieg und Niederlage in der 
Seeschlacht vor dem Skagerrak, sowie 
über Bedeutung beider wird in der 
Presse beider Länder hin- und herge¬ 
stritten. Will man zu einem Urteil ge¬ 
langen, müssen die taktischen Absich¬ 
ten und das Stärkeverhältnis der Geg¬ 
ner erörtert werden. 

Nach dem Bericht des englischen Ad- 
miralstSbes war die gesamte mo¬ 
derne Schlachtflotte an dem Kampf 
beteiligt. Sie bestand aus dem Aufklä- 
rungsgeschwader unter Admiral Beatty 
und der Hauptmacht unter dem Flotten¬ 
chef Admiral Jellicoe. Zu dem ersteren 
gehörten als erste Division die 4 
Schlachtkreuzer: Lion (1910abgelaufen), 
Princess Royal (1911), Queen Mary 
(1912) und Tiger (1913); als zweite Di¬ 
vision New-Zealand (1911) und In- 
defatigable (1909). Nach wohlbegrün¬ 
deter Ansicht soll zwar Tiger am 24. 
Januar 1915 im Gefecht an der Dogger¬ 
bank gesunken sein. Der Verlust wird 
aber von der englischen Admiralität 
bestritten. Es ist also nicht zweifels¬ 
frei, ob wirklich der 1913 abgelaufene 


Tiger oder aber ein als Ersatz für ihn 
eingestellter Neubau gleichen Namens 
im Kampf war. Dies ist insofern von 
Wert, weil ein Neubaukreuzer mit 38,1- 
cm an Stelle von 34,3-cm bewaffnet 
sein würde, wodurch dessen Kampf¬ 
kraft wesentlich größer wäre als die 
des letzteren. Man sagt der britischen 
Admiralität nach, dieses Verfahren auch 
bei dem am 27. Okt. 1914 gesunkenen 
Audacious angewendet zu haben. Die 
nach Zahl und Kampfkraft dem deut¬ 
schen Geschwader Großer Kreuzer über¬ 
legene Schlachtflotte war noch durch 
die Beigabe von 4 oder 5 Linienschiffen 
der Queen-EIizabeth-Klasse verstärkt 
worden, und zwar sehr erheblich, denn 
diese 1913 und 1914 abgelaufenen 
Schiffe gehören mit zu den neuesten 
Linienschiffen Englands und führen je 
8—38,1-cm-Geschütze neben der Mittel¬ 
artillerie von je 16— 15,2-cm L/50. Da¬ 
durch wurde die Mündungsarbeitslei¬ 
stung der Geschütze einer Breitseite 
bei dem Aufklärungsgeschwader um 
1.120560 mt vermehrt, ohne die Fahr¬ 
geschwindigkeit der Schlachtkreuzer be¬ 
langreich zu vermindern, denn die Eli¬ 
zabethklasse läuft 25 Sm., der langsam¬ 
ste der Panzerkreuzer 26,7 Sm. Diese 
Zuteilung und außerordentliche Verstär¬ 
kung des Kreuzergeschwaders war doch 
vermutlich nur zu dem Zweck gesche¬ 
hen, um das Aufklärungsgeschwader zu 
befähigen, die deutsche Flotte im Nor¬ 
den und Nordwesten mit überlegener 
Macht festzuhalten und einzukreisen. 

Als Maß für die Kampfkraft ist eben 
und auch für die Folge die Mündungs¬ 
arbeitsleistung der Schiffsbreitseiten ge¬ 
wählt. Die Angabe der Zahl und der 
Seelenweite der Geschütze eines Schif¬ 
fes genügt zur Beurteilung seiner 
Kampfkraft nicht. Wenn auch bei 
den neuesten Schiffsbauten die Türme 
mit den schwersten Geschützen fast 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


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ausnahmslos so eingebaut sind, daß 
alle Geschütze nach beiden Breit- 
seiten wirken können, so ist dies 
bei den älteren Schiffen — eng¬ 
lischen wie deutschen —, die in der 
Schlacht mitgewirkt haben, noch nicht 
der Fall, so daß bei diesen beim Breit¬ 
seitenfeuer mindestens 2 schwere Ge¬ 
schütze nicht feuern können. Die Mit¬ 
telartillerie ist nicht in Türmen, son¬ 
dern in Kasematten untergebracht, so 
daß meist nur die Hälfte der Geschütze 
nach einer Breitseite schießen. Daraus 
geht hervor, daß die alleinige An¬ 
gabe der Geschützzahl eines Schiffes 
das Urteil über seine Feuerkraft irre¬ 
führt. Ebensowenig erschöpfend ist die 
Angabe der Seelenweite der Geschütze. 
Aus ihr ist das Gewicht des Geschos¬ 
ses zu folgern, und die Angabe des Ge¬ 
schoßgewichtes einer Breitseite vermei¬ 
det den oben besprochenen Fehler, 
weil natürlich nur die Zahl der nach 
jeder Breitseite feuernden Geschütze 
in Rechnung gezogen wird. Nun ist 
aber für die Geschützwirkung das Ge¬ 
schoßgewicht allein nicht maßgebend, 
sondern in sehr viel höherem Grade 
die Geschoßgeschwindigkeit. Beide, Ge¬ 
schoßgewicht und Quadrat der Ge¬ 
schwindigkeit, sind in dem Arbeitsver¬ 
mögen des Geschosses enthalten. Des¬ 
halb gibt nur dieses in Verbindung mit 
dem Geschoßdurchmesser oder was 
dasselbe ist mit dem Seelendurchmes¬ 
ser des Rohres einen Maßstab für die 
Durchschlagskraft der Geschosse. Zum 
Vergleich ist allgemein das Arbeitsver¬ 
mögen der Geschosse an der Mün¬ 
dung gewählt worden. 

Zu dem Aufklärungsgeschwader ge¬ 
hörte eine größere Anzahl der neuesten 
Kleinen Kreuzer und vermutlich 2 Flot¬ 
tillen Torpedobootszerstörer mit ihren 
Führerschiffen. Wie viele, ist nirgends 
veröffentlicht worden und läßt sich 


auch nicht feststellen, weil auch zum 
Hauptgeschwader Kleine Kreuzer ge¬ 
hörten. Dem ersteren waren wenigstens 
die 8 Schiffe der Calliopeklasse zuge¬ 
teilt, die neuesten, die England bis zur 
Schlacht fertig hatte. Sie haben die 
große Geschwindigkeit von 30 Sm. und 
sind mit 3—15,2-cm L/50 und 6— 10,2cm 
L/50 verhältnismäßig stark bewaffnet. 
Eine englische Torpedobootsflottille 
umfaßt vermutlich 20 Boote, so daft 
dem Aufklärungsgeschwader anschei¬ 
nend 40 Zerstörer und 2 Führerschiffe 
zugeteilt waren. 

Die Hauptmacht umfaßte: 

1. 3 Geschwader zu je 8 Großkampf¬ 
schiffen. Die Geschwaderstärke war 
also der unsrigen gleich. Ob ein beson¬ 
deres Flaggschiff als 25. Linienschiff 
dabei war, läßt sich nicht sicher fest¬ 
stellen. Seit dem Jahre 1906, dem Ab¬ 
lauf des ersten und eigentlichen Dread¬ 
noughts, der für diese stark bewaffneten 
Linienschiffe Namengeber geworden ist, 
sind 33 solcher Dreadnoughts und Über¬ 
dreadnoughts fertiggestellt worden; 5 
davon waren, wie oben gesagt, dem 
Aufklärungsgeschwader zugeteilt, 3 ge¬ 
hörten der Hauptmacht als besonderes 
Geschwader an. Dann verbleiben ge¬ 
rade noch 25 Schiffe für das Hauptge¬ 
schwader übrig, wenn Superb mit ein¬ 
gerechnet wird. Derselbe soll angeb¬ 
lich bei einem Seegefecht zweier eng¬ 
lischer Geschwader gegeneinander, die 
eins das andere für ein deutsches hiel¬ 
ten in der Nähe Bergens in der Nacht 
vom 7. zum 8. April 1915 gesunken 
sein. Ob dies zutrifft, sei dahingestellt. 
In dem neuesten Taschenbuch von 
Weyer ist Superb in die Schiffsnamens¬ 
liste ohne jeden Vorbehalt aufgenom¬ 
men und fehlt in der Schiffsverlustliste. 
Um aber keinesfalls zu hoch zu greifen, 
ist Superb in die Stärkeberechnung 
nicht mit aufgenommen. Die Größe, 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


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die Geschwindigkeit und die Feuerkraft 
dieser 24 Schiffe ist sehr verschieden; 
die Größe ist von 18190 T auf 28 450 T 
und die Geschwindigkeit von 21,5 auf 
23 Sm. gewachsen. 

2 . Das oben erwähnte besondere Ge¬ 
schwader von 3 Schiffen der Royal 
Sovereign-Klasse, die erst 1916 dienst¬ 
fertig geworden sein können. Sie sind 
die neuesten Schiffe der englischen 
Flotte. 

3. Eine Division Schlachtkreuzer, und 
zwar Invincible, Indomitable und Infle¬ 
xible, die hinsichtlich ihrer Fertigstel¬ 
lung und ihres Kampfwertes unmittel¬ 
bar hinter den Schlachtkreuzern des 
Aufklärungsgeschwaders kommen. 

4. Ein Panzerkreuzeigeschwader von 
6 Schiffen. Aus den bekannt geworde¬ 
nen Verlusten läßt sich schließen, daß 
es bestand aus je 2 Schiffen der De- 
fence- und der Achillesklasse, nebst 
Black Prince und Euryalus. 

5. Wenigstens 10 Kleine Kreuzer. 

6 . Etwa 4 Flottillen Zerstörer zu ver¬ 
mutlich 20 Booten, wenigstens 80 Boote. 

Erläuternd sei bemerkt, daß die eng¬ 
lischen Schlachtkreuzer und Panzer¬ 
kreuzer beide den deutschen „Großen 
Kreuzern“ entsprechen, wie die Bezeich¬ 
nung nach unserem Flottengesetz lau¬ 
tet England hat die Unterscheidung 
vorgenommen, weil die seit 1907 ab¬ 
gelaufenen Schlachtkreuzer wesentlich 
größer und stärker sind als die früher 
fertiggestellten Panzerkreuzer. 

Ober die Stärke der deutschen Streit¬ 
kräfte hat der Vertreter des Reichsma- 
rine-Amtes im Reichstage erklärt, daß 
unsere gesamte Hochseeflotte ange¬ 
griffen habe. Nach Vollendung des 
Flottengesetzes sollte der Schiffsbestand 
gegliedert werden in: 

A Aktive Schlachtflotte: 25 Linien¬ 
schiffe, 8 Große Kreuzer, 18 Kleine 


Kreuzer und 9 Torpedobootsflottillen 
zu je 11 Booten. 

B. Reserve-Schlachtflotte. 

C. Die Auslandsflotte. 

Nach dem Taschenbuch der Kriegs¬ 
flotten von Weyer 1916 bestand die 
Hochseeflotte aus 1. dem Flaggschiff 
Friedrich der Große, das auch in der 
Schlacht das Flaggschiff des Admirals 
Scheer war, und 2. aus je 4 Schiffen 
der Klassen König, Kaiser, Ostfries¬ 
land, Nassau, Deutschland und Braun¬ 
schweig, zusammen 25 Schiffen. Im 
großen und ganzen muß dies auch nach 
Zahl und Klasse die Zusammensetzung 
der Linienschiffsflotte in der Schlacht 
am 31. Mai gewesen sein. Die Schiffe, 
die älter als Braunschweig sind, haben 
24-cm-Geschfltze, d. h. sie sind so 
schwach bestückt, daß sie vermutlich 
alle nur zur Reserve gehört haben. 
3. Aus 5 Großen Kreuzern, Von der 
Tann, Moltke, Goeben, Seydlitz und 
Derfflinger. In der Schlacht waren auch 
nur 5 Große Kreuzer. Der im Frühjahr 
1915 dienstfähig gewordene Kreuzer 
Lützow ist an Stelle des an die Tür¬ 
kei verkauften Kreuzers Goeben ge¬ 
treten. Daß unsere Flotte nicht die 
Sollstärke von 8 Großen Kreuzern ge¬ 
habthat, ist darauf zurückzuführen, daß 
infolge Verlustes von 4 Großen Kreu¬ 
zern — York bei der Einfahrt in den 
Hafen auf eine Mine gelaufen, Scharn¬ 
horst und Gneisenau bei den Falk- 
landsinseln, Blücher bei der Dogger¬ 
bank — bis auf Roon und noch frühere 
Schiffe hätte zurückgegriffen werden 
müssen. Diese Schiffe sind nach Größe, 
Fahrgeschwindigkeit und Bewaffnung 
selbst noch dem Von der Tann gegen¬ 
über so geringwertig, daß durch ihre 
Beigabe die Einheitlichkeit des Ge¬ 
schwaders und seine Gefechtskraft nicht 
gestärkt, sondern eher vermindert wor¬ 
den wäre. 4. Aus 8 Kleinen Kreuzern 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


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gegenüber 18 nach dem Flottengesetz. 
Wieviel Kleine Kreuzer in der Schlacht 
waren, ist amtlich nicht veröffentlicht 
worden und laßt sich mit Sicherheit 
auch nicht ermitteln. Da aber bis auf 
Frauenlob, am 31. Mai untergegangen, 
zurückgegriffen ist, so läßt sich an¬ 
nehmen, daß die für notwendig erach¬ 
teten 3 Geschwader zu je 6 Kleinen 
Kreuzern auch mitgeführt sind, denn 
Frauenlob, 1902 abgelaufen, gehört mit 
zu den ältesten Kleinen Kreuzern. 


Diese Zahlen sprechen für sich selbst. 
Die englische Flotte war der deutschen 
an Zahl in der Gesamtheit wie in jeder 
einzelnen Schiffsart, an Rauminhalt und 
Feuerkraft sehr bedeutend überlegen: 
an Rauminhalt fast dreifach, an Feuer¬ 
kraft fast doppelt so stark. Dabei sind 
bei beiden die Kleinen Kreuzer und die 
Torpedoboote nicht mit eingerechnet, 
sondern nur die Großkampfschiffe, Li¬ 
nienschiffe und Großen Kreuzer. Das 


5. 7 Torpedobootsflottillen, statt der 
Sollstärke von 9. Es läßt sich anneh¬ 
men, daß 9 Flottillen zu je 11 Booten 
gleich 99 an der Schlacht beteiligt 
waren. 

Aus der hier folgenden Zusammen¬ 
stellung, die auf den vorstehenden Er¬ 
wägungen aufgebaut und berechnet ist, 
gehen alle Einzelheiten hervor, die zu 
einem selbständigen Urteil über das 
Stärkeverhältnis der beiden Flotten not¬ 
wendig sind und dazu befähigen. 


englische Aufklärungsgeschwader lief 
nach der Schnelligkeit des langsamsten 
Schiffes 25 Sm., das deutsche 28,1 Sm. 
Sobald aber Linienschiffe und Große 
Kreuzer im Verbände fuhren, war die 
Geschwindigkeit der deutschen Flotte 
nur 18,5 Sm., die der englischen aber 
21 Sm. Dies ist ein Umstand, der die 
Durchführung der taktischen Absichten 
des englischen Admirals nur begünsti¬ 
gen konnte. 



£ 

i 

M 

c 

jo 

c 

3 

Große Kreuzer 

Kleine Kreuzer 

Torpedoboote 

2 , & 
»fh 

|!|‘ 

•0 

Seem. 

Größe 
der Schiffe 

in 

Tonnen 

MQndungs~ 
Arbeitsleistung 
der GeschQtze 
Je 1 Breitseite 

mt 

1. Aufklärungsgeschwader . 

5 

6 

i. 

8 

Engli 

40 

[sehe 

25 

26,4 

Flotte. 
140000 
147 650 

1 120560 
943760 

Im ganzen 
2 . Die Hauptmacht. 

(Schlachtkreuzer) 

(Panzerkreuzer) 

5 

24 

3 

6 

3 

6 

8 

12 

40 

80 

21 

21 

26,6 

22 

287650 

590600 

78600 

60900 

83050 

2064320 

4283560 

672336 

354480 

210720 

Im ganzen 

1 27 | 9 

12 

80 

- | 

| 813150 

5521096 

Die ganze Flotte 

1 32 | 15 

20 

120 

— | 

E 1100800 

7585416 

1. Aufklärungsgeschwader . 

— 

5 

II. I 

18 

)ie de 

99 

utsch 

28,1 

e Flotte. 
120600 

704473 

2 . Die Hauptmacht. | 

25 

— 

— 

— 

18,5 

143300 

3210427 

Die ganze Flotte 
Dagegen die englische Flotte 

25 

32 

5 

15 




263 900 
1100800 

3914000 

7585416 

Obermacht der englischen 
Flotte. 

7 

10 



B 

836909 

3670516 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


62* 


Auch die Zerstörer Englands sind 
größtenteils stärker bewaffnet als die 
deutschen Torpedoboote. Sie führen 
meistens 10,2-cm-Geschütze, neuerdings 
bis zu 6 auf jedem Boot und 6 53-cm- 
Torpedorohre. Die Größe der Torpe¬ 
dorohre ist von ausschlaggebendem 
Einfluß auf die Geschwindigkeit und 
Laufweite, ebenso auf die Größe der 
Sprengladung. Ein englischer 53-cm- 
Torpedo hat eine Laufstrecke von 
6400 m, der 45-cm-Torpedo, welchen 
die deutschen Boote führen, aber nur 
gegen 3600 m, und die Geschwindigkeit 
der ersteren ist 45 Sm. bei 1000 m Lauf, 
die der letzteren 33 Sm. bei 900 m Lauf. 
Durch Anwarmen der Preßluft kann 
die Geschwindigkeit allerdings gestei¬ 
gert werden. Die Sprengladung im 
Kopf des Torpedos wiegt beim 53-cm- 
113,4 kg, beim 45-cm- nur 93 kg. Diese 
Vergleiche lassen die Bedeutung der 
Größe des Torpedos erkennen. Diese 
Zahlen ändern sich aber mit der Bauart 
der Torpedos. Es soll heute Torpedos 
mit 10000 m Laufweite geben, die noch 
bei 7000 m gute Treffergebnisse liefern 
und bis zu 150 kg Sprengstoff ent¬ 
haften. 

Um eine Anschauung von den mut¬ 
maßlichen taktischen Absichten der 
Flottenführer und darüber zu gewin¬ 
nen, inwieweit diese verwirklicht wer¬ 
den konnten, ist es notwendig, sich den 
Gang der Seeschlacht nach den auf 
amtlichen Mitteilungen beruhenden Dar¬ 
stellungen kurz zu vergegenwärtigen: 

Die englische Flotte fuhr am 31. Mai 
von der Ostküste Englands in südöst¬ 
licher Richtung dem Skagerrak zu; das 
Aufklärungsgeschwader am südlichsten; 
vorgeschoben die Schlachtkreuzer New- 
Zealand und Indefatigable der zweiten 
Division. Allen vorauf die Kleinen 
Kreuzer und Torpedoboote zur Aufklä¬ 
rung und Deckung. Weiter nördlich 


fuhr die Hauptmacht. Die deutsche 
Flotte war etwa um 4 Uhr morgens,, 
die Torpedoboote schon 1 Vs Stunde 
früher, in nördlicher Richtung mit dem. 
Kurse auf Skagen-Hanstholm, wie schon 
oftmals, ausgelaufen. Um 7*5 Uhr nach¬ 
mittags kamen sich die am weitesten 
vorgeschobenen Aufklärungsschiffe ge¬ 
genseitig in Sicht. Durch die beider¬ 
seitige Absicht, die Schlacht herbeizu¬ 
führen und anzunehmen, entwickelte- 
sich daraus der Kreuzerkampf der Auf¬ 
klärungsgeschwader in einem 50 km 
breiten Raum etwa 70 Sm. vom Skager¬ 
rak und 160 Sm. westlich Hanstholm.. 
Zu den 8 Kleinen Kreuzern und etwa 
40 Torpedobooten der englischen Flotte¬ 
stießen sehr bald die 6 Schlachtkreuzer 
und etwas später auch die 5 Linien¬ 
schiffe, so daß, abgesehen von den 
Kleinen Kreuzern und Torpedobooten^ 
11 englische Großkampf schiffe mit 
287650 t Raumgehalt und 2064320 mt. 
Breitseitenfeuer den 5 Großen Kreuzern 
der deutschen Flotte mit 1206001 und 
704 473 mt gegenüberstanden. Das Über¬ 
gewicht der Engländer kennzeichnet, 
sich durch 6 Einheiten, 167050 t und 
1359847 mt. Um diesem erdrückenden. 
Übergewicht zu begegnen, wurde deut¬ 
scherseits ein Torpedobootsangriff an¬ 
gesetzt. Die gegnerischen Flottillen nä¬ 
herten sich einander bis auf 1000 m 
und lagen zwischen den beiden Reihen, 
der Großkampfschiffe. 

Das Ergebnis dieses Kampfabschnit¬ 
tes war, daß auf englischer Seite, trotz^ 
der erheblichen Übermacht in jeder Be¬ 
ziehung, sanken: die Schlachtkreuzer 
Queen Mary 6 Minuten nach Beginn 
des Artilleriekampfes und Indefatigable 
infolge Explosion durch Artillerietref¬ 
fer sowie 4 moderne Zerstörer. Der 
Verlust des deutschen Geschwaders be¬ 
schränkte sich dagegen auf 2 Tor¬ 
pedoboote. Dadurch verlor das engli- 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


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sehe Aufklärungsgeschwader 282 000 mt 
gleich 13,6 v. H. an Feuerkraft Diese 
Verminderung der englischen Feuerkraft, 
die zwar noch immer um 1077 847 mt 
größer war als die deutsche, ergab 
immerhin eine fühlbare Entlastung un¬ 
seres Kreuzergeschwaders. Erst mit 
dem Eingreifen der deutschen Haupt¬ 
macht — die Westfalen löste um 6 48 
ihren ersten Schuß — erlangte die deut¬ 
sche Flotte vorübergehend eine Über¬ 
legenheit an Feuerkraft von 1132580mt 
In dem zweiten Bericht des Admirals 
Jelliooe wird diese Überlegenheit stark 
hervorgehoben mit dem Zusatz, daß 
trotz dieses Vorteils unsere Flotte stark 
mitgenommen wurde. Diese Überlegen¬ 
heit dauerte übrigens nur etwa l 1 /* 
Stunde, nach den amtlichen englischen 
Angaben berechnet. Wenn es unserer 
Führung gelang, trotz der riesigen Über¬ 
macht der englischen Flotte an Zahl, 
Größe und Feuerkraft für einige Zeit 
die Übermacht zu haben, so ist das 
ihr Verdienst, ihre Geschicklichkeit, die 
die Kräfte zusammenhielt, so daß sie 
sie im richtigen Zeitpunkt verwenden 
konnte, und es ist ein Fehler des eng¬ 
lischen Admirals, daß er dies trotz sei¬ 
ner überlegenen Mittel nicht verhindert 
hat und nicht verhindern konnte. In 
diesem Gefechtsabschnitt muß auch der 
Schlachtkreuzer Princess Royal gesun¬ 
ken sein. Die englische Admiralität be¬ 
streitet zwar diesen Verlust; er wird 
aber durch übereinstimmende Aussa¬ 
gen gefangener englischer Matrosen be¬ 
stätigt Dann hat dieses aus 6 Schlacht¬ 
kreuzern bestehende Geschwader die 
Hälfte seines Bestandes verloren. Die 
anderen 3 Schiffe scheinen schwere Be¬ 
schädigung erlitten zu haben, denn sie 
schwenkten, gefolgt von unserer ersten 
Aufklärungsgruppe, nach Norden ab, 
verloren sich in der Feme und nahmen 
auch späterhin nicht mehr am Kampfe 


teil. Das Ausscheiden des ganzen Ge¬ 
schwaders von 6 der neuesten Schlacht¬ 
kreuzer ist ganz gewiß ein hervorra¬ 
gender Erfolg unserer Flotte. Vermut¬ 
lich zur Deckung dieses Rückzuges grif¬ 
fen die feindlichen Torpedobootsflottil¬ 
len unsere 5 Großen Kreuzer an. Dieser 
Angriff wurde von unseren Flottillen 
aufgenommen. Jetzt griff in denselben 
die plötzlich im Nordosten auftau¬ 
chende Hauptmacht der englischen 
Flotte mit ihren weittragenden 33,1-cm- 
Geschützen ein. Der Kleine Kreuzer 
Wiesbaden wird durch einen Schuß in 
die Maschine bewegungslos. Alle Ver¬ 
suche, ihn zu retten, scheitern, aber ein 
Angriff von 5 englischen Panzerkreu¬ 
zern auf ihn bricht unter schweren Ver- 

» 

lüsten zusammen. Zwei dieser Kreu¬ 
zer, Defenoe und Black Prince, sowie 
der Kleine Kreuzer Birmingham sinken, 
ein zweiter wird schwer beschädigt, 
ebenso der Panzerkreuzer Warrior, der 
noch die englische Linie erreicht, aber 
später sinkt. Zu gleicher Zeit verläßt 
auch ein Linienschiff der Queen-Eliza- 
beth-Klasse stark überliegend die Li¬ 
nie (Warspite?). 

Nach dem Eingreifen der englischen 
Hauptmacht kommt es zu einem schwe¬ 
ren Artilleriekampf zwischen den bei¬ 
den Flotten, der durch die Unsichtig¬ 
keit infolge Schomsteinqualms und 
Pulverrauchs wiederholt unterbrochen 
wird, weil die Gegner sich aus dem Ge¬ 
sicht verlieren. Zwischenhinein fallen 
zwei Angriffe der Torpedoboote, die 
unter dem Schutz des Feuers unserer 
schweren Artillerie bis in die Nähe der 
feindlichen Linie herangeführt werden. 
Bei dem dritten Vorstoß finden sie die 
feindliche Flotte nicht mehr hinter dem 
Dunstvorhang und kehren unverrichte¬ 
ter Sache zu ihren Führerschiffen zu¬ 
rück. Damit endet die Tagesschlacht. 
Die Geschütze schwiegen um 9 30 . Als 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


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Ergebnis der Schlacht ist bis jetzt an 
Verlusten zu verzeichnen: 

1. Bei der englischen Flotte: 

1 Linienschiff Warspite. Ein wei¬ 
teres, die Marlborough, wurde so 
schwer beschädigt, daß es auf der 
Heimfahrt gesunken sein soll. Die eng¬ 
lische Admiralität bestreitet diesen Ver¬ 
lust. Die 3 Schlachtkreuzer Queen 
MaVy, Indefatigable und Invincible. 
Princess Royal soll nach Gefange¬ 
nenaussagen ebenfalls gesunken sein. 
Die 3 Panzerkreuzer Defence, Black 
Prinoe und Warrior. Der Kleine 
Kreuzer Birmingham und mindestens 
5 Zerstörer. Ob noch ein zweiter Pan¬ 
zerkreuzer der Cressy-Klasse gesunken 
ist, wie von verschiedenen Seiten be¬ 
hauptet wird, ist einwandfrei nicht fest¬ 
zustellen. 

2. Bei der deutschen Flotte: 

Der Große Kreuzer LQtzow. Sinkt 
schwer beschädigt auf der Heimfahrt. 
Der Kleine Kreuzer „Wiesbaden“ und 
4 Torpedoboote. 

Die beschädigten Schiffe außer acht 
lassend, weil weder ihre Zahl noch die 
Schwere ihrer Beschädigung festzustel¬ 
len sind, und ebenso wie oben die Klei¬ 
nen Kreuzer und Torpedoboote unbe¬ 
rücksichtigt lassend, hat die viel klei¬ 
nere deutsche Flotte der so großen 
englischen einen Verlust von 90600 t 
Rauminhalt und 515510 mt Feuerkraft 
beigebracht, d. i. ein Mehrverlust von 
64000 t und 362598mt. Diese Zahlen 
sprechen für sich selbst. 

Nach Beendigung der Tagesschlacht 
fanden während der Nacht verschiedene 
Einzelkämpfe statt, in denen verloren 
gingen: 

A Englischerseits: 

1. Der Panzerkreuzer Euryalus, der 
in Brand geschossen wurde und voll¬ 
ständig ausgebrannt sein soll. Der Ver¬ 
lust wird von der englischen Admi- 

Internationale Monatsschrift 

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ralität bestritten. Ob der hier verloren¬ 
gegangene Panzerkreuzer wirklich Eu¬ 
ryalus oder ein anderer Kreuzer der 
Cressy-Klasse war, ist schwer festzu¬ 
stellen. Nach einigen Angaben soll die¬ 
ser Panzerkreuzer nach wenigen Minu¬ 
ten gesunken sein. Trifft dies zu, so 
müßte Euryalus, der 2 Stunden ge¬ 
brannt haben soll, außerdem zu an¬ 
derer Zeit und an anderer Stelle in 
Brand geschossen sein. 

2. 7 Zerstörer, die teils in wenigen 
Sekunden durch Artilleriefeuer vernich¬ 
tet wurden; einer davon wurde durch 
ein deutsches Linienschiff gerammt und 
mitten durchgeschnitten. 

Außerdem wurde ein „Kleiner Kreu¬ 
zer“ stark beschädigt. 

B. Deutscherseits: 

1. Der Kleine Kreuzer Frauenlob. 
Er sank durch Torpedotreffer, nachdem 
er vorher durch Artilleriefeuer stark 
beschädigt war. 

2. Der Kleine Kreuzer Rostock. Durch 
Torpedo schwer beschädigt, sank er auf 
dem Wege zu seinem Reparaturhafen. 

3. Der Kleine Kreuzer Elbing. Er 
ist nicht durch feindliches Feuer zer¬ 
stört, sondern durch eine unvermeid¬ 
liche Bewegung so beschädigt worden, 
daß er verlassen werden mußte und 
sank. 

4. Das Linienschiff Pommern. Es 
sank durch Torpedoschuß. 

5. 3 Torpedoboote, eines davon lief 
auf eine Mine. 

Bemerkenswert ist, daß die deutsche 
Flotte ihre größten Verluste in den 
Nachtgefechten, und zwar durch Tor¬ 
pedos, erlitten hat Dies ist deshalb be¬ 
merkenswert, weil es beweist, daß die 
englische Flotte in den Artilleriekämp- 
fen der Tagesschlacht trotz der größe¬ 
ren Zahl und Stärke ihrer Geschütze 
eine Überlegenheit nicht erringen konnte. 
Für die so heiß umstrittene Frage, wem 

3 

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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


68 


der Sieg zugefallen ist, ist die Größe 
der Verluste und die Entscheidung, ob 
und inwieweit die taktische Absicht des 
Führers erreicht wurde, von Bedeu¬ 
tung. 

Der einwandfrei festgestellte Ge¬ 
samtverlust an Schiffen beträgt nach 
oben gegebenen Einzelheiten: 

bei der bei der deut¬ 


englischen, sehen Flotte 
Linienschiffe ... 1 1 

Große Kreuzer . . 6 1 

Raumgehalt . . . 1370001 398001 

Feuerkraft .... 797510 mt 213691 mt 
Kleine Kreuzer u. 

Führerschiffe . . 3 4 

Zerstörer bzw. 

Torpedoboote . . 12 5 


Nicht eingerechnet sind die engli- 
scherseits bestrittenen Verluste von 
Marlborough, Princess Royal und Eu- 
ryalus. 

Von der Besatzung gingen verloren: 

Tote u. Verwundete 6104 2414 

Vermißte. 513 *) 449 

Die Zahlen lassen sich ohne wei¬ 
teres miteinander vergleichen; hervor¬ 
gehoben sei nur, daß der Verlust der 
englischen Flotte an Raumgehalt und 
Feuerkraft mehr als fünfmal, der an 
Toten und Verwundeten mehr als zwei- 
undeinhalbmal so groß ist wie der der 
so viel kleineren deutschen Flotte. Der 
Verlust an Offizieren und Mannschaf¬ 
ten wirkt in der englischen Flotte viel 
schwerer und nachhaltiger als in der 
deutschen, weil diese durch die all¬ 
gemeine Wehrpflicht in den älteren 
Jahrgängen genügend Fachleute be¬ 
sitzt, die für ihre Dienstvorrichtungen 
gründlich ausgebildet sind. England 
hat mangels der allgemeinen Wehr¬ 
pflicht diese Hilfsquelle aber nicht. Da¬ 
zu kommt noch, daß es eine jedenfalls 

1) Darin sind 177 eingerechnet, die in 
deutsche Gefangenschaft geraten sind. 


nicht unbeträchtliche Anzahl Matrosen¬ 
artilleristen zur Bewaffnung der Han¬ 
delsschiffe abgegeben hat. Der Mangel 
an Mannschaften, vielleicht auch der 
Ausfall einer größeren Anzahl Schiffe,, 
die teils untergegangen, teils so schwer 
beschädigt sind, daß sie für lange Zeit 
nicht mehr verwendungsfähig sind, 
haben die Heimberufung der atlanti¬ 
schen Flotte und die Heranziehung der 
Hälfte der Mannschaften der Geschwa¬ 
der im Indischen Ozean und im Mittel¬ 
meer veranlaßt. 

Nun ist allerdings die Größe der 
Verluste keineswegs für Sieg oder Nie¬ 
derlage allein entscheidend, denn wenn 
durch so große Opfer die taktische Ab¬ 
sicht des Führers erreicht ist, so sind 
sie gerechtfertigt. Diese Voraussetzung 
trifft aber für die englische Flotte 
nicht zu. Ganz abgesehen von der 
schon vor dem Kriege prahlerisch aus¬ 
gesprochenen Absicht, die deutsche 
Flotte in einer Nacht noch vor der 
Kriegserklärung vernichten zu wollen, 
mußte sein und war die Absicht der 
englischen Admiralität, die deutsche 
Flotte zu vernichten oder wenigstens 
derart zu schwächen, daß sie aufhörte, 
ein beachtenswerter Gegner in der Nord¬ 
see zu bleiben. Erst dann konnte die 
etwa vorhandene strategische Absicht 
einer Landung in einem neutralen Lande 
oder verstärkter Drude auf alle nordi¬ 
schen Neutralen ausgeführt werden.. 
Dazu ist es nicht gekommen, und die 
englische Flotte ist mehr geschwächt 
worden als die deutsche. Nicht einmal 
der wohlüberlegte und mit den reichen 
Mitteln der englischen Flotte vorberei¬ 
tete und eingeleitete Plan konnte durch¬ 
geführt werden, weil es nicht gelang, 
ein Übergewicht über die deutsche 
Flotte zu erringen. Nach der Verteilung 
der Schiffe und Bewegung der Ge¬ 
schwader zu schließen, sollte das eng- 


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69 


Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


70 


lisdbe Aufklärungsgeschwader, zu die¬ 
sem Zweck durch 5 der schnellsten 
Linienschiffe verstärkt, im Westen und 
Norden der deutschen Flotte den Weg 
verlegen, sie dort aufhalten. Die 
von Nordosten kommende Hauptmacht 
wollte, nach Süden steuernd, sich zwi¬ 
schen die dänische Küste und die 
deutsche Flotte legen, diese im Osten 
und Süden umfassen, und endlich sollte 
das aus dem Kanal kommende Ge¬ 
schwader von 12 Linienschiffen den 
Kreis im Südwesten schließen und die 
deutsche Flotte von ihrer Rückzugs- 
linie abschneiden. Völlig eingekreist, 
sollte sie durch die an Zahl und Stärke 
überlegene Artillerie und Torpedowaffe 
vernichtet werden. Diesen Plan konnte 
der englische Admiral nicht durchfüh¬ 
ren, weil die 6 Schlachtkreuzer infolge 
unseres Artilleriefeuers und unseres 
Torpedoangriffs ausfielen. Dadurch ent¬ 
stand eine Lücke in dem Kreis zwischen 
den 5 Linienschiffen der Queen-Eliza- 
beth-Klasse und der Hauptmacht, die 
diese durch Fahrt nach Südwesten zu 
schließen suchte, ehe sie sich anschik- 
ken konnte, unsere Flotte im Osten und 
im Süden zu umfassen. Nichtsdesto¬ 
weniger hatten die an der Spitze 
der Hauptmacht fahrenden 3 Schiffe 
der neuesten, der Royal-Sovereign- 
Klasse sich schon beinahe vor die 
Spitze unserer Panzerkreuzer gelegt. 
Die geschickte Führung unserer Flotte, 
ihr überlegenes Artilleriefeuer und die 
schneidigen Angriffe der Flottillen 
wandten die drohende Gefahr ab, ver¬ 
hinderten den Feind, seine Einkrei¬ 
sungsbewegung fortzusetzen und ver- 
anlaßten ihn, hinter dem undurchsich¬ 
tigen Rauchschwaden abzudampfen. 
Wohin ist zweifellos nicht festgestellt. 
Der zweite Bericht Jelliooes behauptet, 
daß die Engländer bei Tagesanbruch 
tun 1. Juni Herren des Schlachtfeldes 


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schienen, daß ihre Flotte bis 11 Uhr 
morgens dicht an dem Wege nach 
den deutschen Häfen blieb. Der Ad¬ 
miral kannte also Ziel und Weg der ge¬ 
schlagenen feindlichen Flotte, warum 
setzte er seine Einkreisungsbewegung 
nicht fort, warum verfolgte er sie nicht 
trotz der größeren Geschwindigkeit sei¬ 
ner Schiffe? Er mußte sie einholen. 
Die dritte Ursache für das Mißlingen 
des Planes war, daß das aus dem Ka¬ 
nal befohlene Linienschiffsgeschwader 
nicht rechtzeitig zur Stelle war, sondern 
erst am Morgen des 1. Juni, wie durch 
einen Zeppelin festgestellt wurde, in 
der Ferne des Kampfplatzes erschien. 
Nach so schweren Verlusten und völ¬ 
liger Vereitlung der taktischen Absicht 
von einem Sieg, noch dazu von einem 
großen und glänzenden Sieg zu spre¬ 
chen, ist politische Mache. Admiral Jel- 
liooe hat unter dem frischen Eindruck 
der Schlacht „schwere Verluste“ der 
englischen Flotte und „ernste Be¬ 
schädigungen“ beim Gegner nach Eng¬ 
land gemeldet. Durch die Veröffentli¬ 
chung dieses Berichtes stand ganz Eng¬ 
land unter dem Eindruck einer Nieder¬ 
lage, der noch verstärkt wurde, als die 
schwer beschädigten Schiffe einge¬ 
schleppt wurden. Das Volk sprach den 
verwundeten Offizieren sein Beileid 
über die Niederlage aus, und die Zei¬ 
tungen schrieben im gleichen Sinne. 
Die Times sagt: „Wir können auf das 
nächste Mal warten. Wir werden auch 
an die Reihe kommen. Das Glück 
wird nicht immer Deutschland begün¬ 
stigen.“ Admiral Beatty wurde beur¬ 
laubt, und Grey teilte öffentlich mit, 
daß sich nunmehr im ganzen Lande 
die Überzeugung durchgesetzt habe, 
daß die Seeschlacht ein vollständiger 
Sieg Englands war. Nichtsdestoweni¬ 
ger befürwortete Lord Crewe, die vom 
Herzog von Ruland im Oberhaus erbe- 

3* 

Original fro-m 

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71 


Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


72 


tene öffentliche Danksagung an Sir John 
Jelliooe und die Offiziere und Mann¬ 
schaften der Flotte aufzuschieben. Wo¬ 
zu das alles, wenn die Flotte zweifels¬ 
frei gesiegt hat? In Deutschland wurde 
der Sieg gemeldet, geglaubt und der 
Flotte der Dank des Reichtages zu er¬ 
kennen gegeben. Wir haben keine Ver¬ 
anlassung gehabt, im Laufe der nach¬ 
folgenden Zeit diesen Sieg geringer an¬ 
zusehen, als er gemeldet worden ist. 
Wenn wir auch unserem eigenen Ur¬ 
teil nicht allein trauen wollten, so 
sprechen Neutrale für unseren Sieg und 
selbst englische Zeitungen, die früher 
nur Hohn und Spott für die deutsche 
Flotte hatten, schreiben jetzt: „Wir 
wissen jetzt, was die Stärke der deut¬ 
schen Flotte bedeutet und kennen ihren 
Wert. Kein verständiger Mensch wird 
sie unterschätzen.“ 

Welches sind nun die Ursachen, daß 
die so viel stärkere englische Flotte ihre 
Absichten nicht durchführen konnte, 
sondern unterlag? Es sind: der Geist 
in der Flotte, das Vertrauen zwischen 
Offizieren und Mannschaften, die sich 
in zwei Kriegsjahren durch ruhmvolle 
Taten der ganzen Welt offenbart ha¬ 
ben; es ist die überlegene und ge¬ 
schickte Führung, die es verstand, zur 
rechten Zeit der englischen Flotte über¬ 
legene Kräfte entgegenzuwerfen, und 
als dies mit dem Eingreifen der über¬ 
mächtigen englischen Hauptgeschwader 
nicht mehr möglich war, durch ge¬ 
schickte Bewegungen und das Einsetzen 
aller Kräfte im richtigen Augenblick die 
erdrückende Übermacht abzuweisen; es 
sind: die vorzügliche Ausbildung der 
Offiziere und Mannschaften und die 
Güte der Schiffe und der Waffen. 

Ein Vergleich der Ergebnisse des 
beiderseitigen Artilleriefeuers führt zu 
der Überzeugung, daß von den an und 
für sich nur geringen deutschen Ver¬ 


lusten nur sehr wenige durch Artille¬ 
riefeuer, die meisten aber durch Tor¬ 
pedotreffer herbeigeführt worden sind. 
Zu letzteren gehören das Linienschiff 
Pommern und die beiden Kleinen Kreu¬ 
zer Frauenlob und Rostock. Durch Ar¬ 
tilleriefeuer sind nur schwer beschä¬ 
digt der Große Kreuzer Lützow und 
zerstört der Kleine Kreuzer Wiesbaden 
und 4 Torpedoboote. Der Große Kreu¬ 
zer Lützow hat wenigstens 15 schwere 
Treffer erhalten und der Kleine Kreuzer 
Wiesbaden ist erst gesunken, nachdem 
eine unglaubliche Überzahl von Schif¬ 
fen und sogar die 38,1-cm-Geschütze 
der Hauptmacht auf große Entfernung 
ihn beschossen. Hieran ist bemerkens¬ 
wert, daß Lützow trotz der großen Zahl 
schwerer Treffer nicht sofort zum Sin¬ 
ken gebracht werden konnte, sondern 
erst am anderen Morgen auf der Heim¬ 
fahrt unterging und daß es eines so 
großen Aufgebotes an Artillerie be¬ 
durfte, um Wiesbaden zum Sinken zu 
bringen. Dieselbe Erscheinung trat auch 
bei Frauenlob auf. Der Kreuzer hatte 
starke Beschädigungen durch Artille¬ 
riefeuer, ging aber erst nach einem Tor¬ 
pedotreffer unter. Aus diesen Beob¬ 
achtungen kann mit Wahrscheinlich¬ 
keit der Schluß gezogen werden, daß 
die Wirkung des englischen Artillerie¬ 
feuers ungenügend, jedenfalls weniger 
stark als die des deutschen war, denn 
das deutsche Artilleriefeuer hatte, so¬ 
weit Nachrichten darüber vorliegen, in 
den meisten Fällen fast augenblickli¬ 
chen Erfolg. Als Zeugnis diene die ge¬ 
wiß unvoreingenommene Äußerung ei¬ 
nes englischen Offiziers von dem Pan¬ 
zerkreuzer Warrior: „Zwei Granaten 
von wenigstens 30,5 cm Durchmesser 
schlugen vor dem Bug der Defence 
ein, 3 Sekunden später traf eine Sal¬ 
ve sie mittschiffs; sie krümmte sich 
und sank. Der Black Prince war der 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


74 


nächste an der Reihe. Zwei Granaten 
rissen ihm seine Schornsteine und den 
vorderen Turm weg, eine zweite Salve 
traf ihn in die Pulverkammer und er 
flog in die Luft.“ Warrior selbst ver¬ 
lor einen Aufzug fflr Rettungsboote, 
in das Hinterdeck drang eine Granate 
so tief ein, daß der Dynamo zerstört 
wurde. Die Geschütztürme waren bei¬ 
nahe unbrauchbar, weil der Munitions¬ 
aufzug weggeschossen war. Ein ein¬ 
ziger Schuß setzte die Maschine an 
Steuerbord und Backbord außer Tä¬ 
tigkeit und tötete 20 Mann. In 5 Minu¬ 
ten stand das Schiff in Brand und war 
nach einer halben Stunde ein Wrack, 
das allerdings noch die eigene Linie er¬ 
reichen konnte, später aber sank. Der 
Schlachtkreuzer Queen Mary sank nach 
einer durch Artilleriefeuer herbeige¬ 
führten starken Explosion bereits 6 Mi¬ 
nuten nach Beginn des Kampfes, und 
10 Minuten nach ihm sank der zweite 
Schlachtkreuzer Indefatigable. Unser 
Linienschiff König hat dem engli¬ 
schen Linienschiff Warspite schwere 
Treffer beigebracht die eine Explosion 
verursachten und später den Verlust 
des Schiffes herbeiführten. Das Linien¬ 
schiff Markgraf hat mit nur drei Salven 
einen Panzerkreuzer zum Sinken ge¬ 
bracht Der Panzerkreuzer Euryalus 
wurde in Brand geschossen und brannte 
innerhalb zweier Stunden vollständig 
aus. Unser Linienschiff Westfalen 
schoß 6 Zerstörer ab und hat dagegen 
nur 2 leichte Beschädigungen erhalten. 
Der Kleine Kreuzer Stuttgart schoß 
trotz seiner im Verhältnis zu den Gro߬ 
kampfschiffen nur schwachen Bewaff¬ 
nung einen überlegenen Gegner in 
Brand; ihm selbst aber blieben Ver¬ 
luste erspart. Dieses ungeheure Mi߬ 
verhältnis in der Artilleriewirkung bei¬ 
der Flotten erklärt Reuter damit, daß 
die Artillerie den deutschen Schif¬ 


fen ein enormes Übergewicht ge¬ 
geben habe. Damit gibt er also un¬ 
umwunden die Unterlegenheit der eng¬ 
lischen Schiffsartillerie zu. Die Ur¬ 
sachen für diese durchaus nicht über¬ 
raschende deutsche Überlegenheit sind 
verschiedene. Die Feuerleitung und 
Schießausbildung waren auf allen unse¬ 
ren Schiffen gleich vorzüglich. Nach 
Berichten von Augenzeugen saß meist 
schon die dritte Salve gut Neben der 
vorzüglichen Schießausbildung haben 
hierzu die unvergleichlichen Erzeug¬ 
nisse unserer optischen Industrie, voll¬ 
kommene Entfernungsmesser und Ziel¬ 
fernrohr-Aufsätze, beigetragen. Dage¬ 
gen sollen nach Zeitungsnachrichten die 
Engländer weniger gut geschossen ha¬ 
ben. Wenn man die oben mitgeteilten 
Schießergebnisse wertet und berück¬ 
sichtigt, daß auch die Elbing nicht ein 
einziges Mal getroffen worden ist, ob¬ 
wohl sie längere Zeit im ununterbro¬ 
chenen Feuer der englischen Linien¬ 
schiffe lag, so könnte man wohl zu 
einer solchen Folgerung kommen. An¬ 
dererseits beweisen aber die vielen 
Treffer des Großen Kreuzers Lützow, 
daß auch mit gutem Ergebnis geschos¬ 
sen worden ist. Danach scheint die 
Schießausbildung der englischen Ma- 
trosenartilleristen nicht durchweg so 
gleichmäßig gut gewesen zu sein wie 
die der deutschen. Ausschlaggebend ist 
ferner, daß unser Geschützsystem infol¬ 
ge seiner Konstruktion und seines Auf¬ 
baues (s. „Künstliche Metallkonstruk¬ 
tion“ Heft 5, Februar 1912) größere Treff¬ 
sicherheit hat und daß den Geschossen 
eine größere Durchschlagskraft und 
größere Sprengwirkung eigen ist Das 
erscheint auffällig, weil ja die eng¬ 
lischen Sdiiffe wesentlich schwerere 
Geschütze hatten. Nur die schwere Ar¬ 
tillerie berücksichtigt, stellt sich das 
Verhältnis wie folgt; 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


76 


England Deutschland 


38,1 cm 

L 45 . . 

64 




35,6 „ 

L 45 . . 

20 




343 „ 

L/45 . . 

142 

226 


0 

30,5 „ 

L50 . . 

74 


154 


303 „ 

L/45 . . 

70 

144 

— 

154 

28 „ 

L 50 . . 

— 


20 


28 „ 

L 45 . . 

— 


56 


28 „ 

L 40 . . 

— 


32 

108 


370 262 


Stärkere Geschütze als 30,5 cm, von 


denen England allein 226 in den Kämpf 
brachte, fehlten der deutschen Flotte 
ganz, der größte Seelendurchmesser 
war 30,5 cm und daneben hatte sie nur 
28-cm-Geschütze. Die Durchschlags¬ 
kraft der Geschosse ein und desselben. 
Geschützsystemes sollte mit ihrem 
Durchmesser und der Rohrlänge wach¬ 
sen. So durchschlägt z. B. ein Panzer¬ 
geschoß aus einem Kruppschen 


28 cm L/40 L/45 L/50 30,5 cm L/45 L/50 35,6 cm L/45 38,1 cm L/45 L/50 
nahe der Mündung eine Stahlplatte von einer Stärke von cm 

83 90 97 99 107 117 125 136 


Zum Vergleich hiermit seien die entsprechenden Zahlen gleichgroßer Geschütze 
englischer Fabriken beigesetzt 


Armstrong— — — 80 

Wickers. . <— — — 82 

Coventry . — — 87 83 

Die Zahlen für die englischen Ge¬ 
schütze sind durch Umrechnung ge¬ 
wonnen, weil die englischen Fabrik«! 
die Stärke schmiedeeiserner Plat¬ 
ten angeben, während die Kruppschen 
auf Versuchen mit stählernen Plat¬ 
ten beruhen. Der Vergleich dieser Zah¬ 
len lehrt eine vollkommen gesetzmäßige 
Zunahme der Durchschlagskraft der 
Geschosse Kruppscher Geschütze mit 
der Länge und mit dem Seelendurch¬ 
messer der Rohre. Bei den Geschützen 
englischer Fabriken ist eine solche 
Gesetzmäßigkeit nicht vorhanden. Er 
lehrt ferner, daß die Durchschlags¬ 
kraft der Geschosse englischer Rohre 
von gleichem Durchmesser und glei¬ 
cher Länge um 10 bis 23 cm Platten¬ 
starke geringer ist als die der Krupp¬ 
sdien Geschosse. Darin ist die Über¬ 
legenheit der Kruppschen Geschütze 
über die englischen zahlenmäßig ausge¬ 
sprochen. Hierin liegt auch der Grund, 
weshalb Deutschland mit Ruhe zuge¬ 
schaut hat, wie England in rascher 
Folge -den Seelendurchmesser seiner 
schwersten Schiffsgeschütze steigerte. 


89 90 — 

88 88 97 

— 87 102 

England hatte schon bei dem im De¬ 
zember 1894 abgelaufenen Linienschiff 
Magnificent 30,5 - cm - Geschütze, aller¬ 
dings nur L/35. 1901 waren sie 40, 
1906 45, 1908 50 Seelendurchmesser 
lang. Demgegenüber hatte Deutschland 
bis 1909 nur 28-cm-Rohre L/45 an Bord 
und ging erst in diesem Jahre zum 
30,5 cm L/50 über, als England infolge 
schlechter Erfahrungen mit seinen 50 
Seelendurchmesser langen 30,5-cm-Roh- 
ren 1910 zu 34,3 cm L/45, 1913 zu 35,6 
L/45 überging. Für die 1912 auf Stapel 
gelegten englischen Schiffe wurden be¬ 
reits 38,1cm L/45 vorgesehen. Deutsch¬ 
land beantwortete dies erst jetzt mit 
gleichstarken Geschützen für seine Neu¬ 
bauten. England hatte deshalb schon 
38,1 cm in der Seeschlacht, Deutsch¬ 
land aber noch nicht Unser stärkstes 
Geschütz war nur 30,5 cm L/50, aber 
dessen Mündungsdurchschlagskraft war 
noch immer größer als die der engli¬ 
schen 38,1 cm L/45. Wir sehen hierin 
klar ausgesprochen, daß die Leistung 
der Kruppschen Geschütze die der 
englischen übertrifft Wirft man nun 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


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noch auf die folgende Zusammenstel 
Jung einen Blick: 


38,1cm L'45 

Eng¬ 

L/50 

Krupps 

lands 

Krupps 

.Rohrgewicht kg 83800 
MOndungsarbeits- 

96000 

93200 

leistung mt . . 30680 

Auf jede mt Ar¬ 

26060 

34230 

beitsleistung 
kommt ein Rohr¬ 



gewicht von kg 2,7 

3,7 

2,7 


so erkennt man ohne weiteres, bei wel¬ 
chem Geschützsystem die bessere Kon¬ 
struktion, der bessere Aufbau und der 
bessere Stahl zu finden sind. 

Die Eindringungstiefe der Geschosse 
hängt naturgemäß in erster Linie von 
ihrer Haltbarkeit ab, denn Geschosse, 
die am Panzer zerschellen, dringen 
nicht ein. Daß die deutsche Marine in 
Ihren Kruppschen Panzergranaten das 
Beste hat, was es in der Welt gibt, ist 
selbstverständlich. Die Eindringungs- 
tiefe hängt aber auch im umgekehrten 
Verhältnis ab von dem Panzerschutz. 
Die englischen Linienschiffe und Pan¬ 
zerkreuzer haben sämtlich sogenannte 
K-Platten. Das sind Nickelstahlplatten, 
deren äußere Oberfläche nach dem 
Kruppschen Patent gehärtet sind. Die 
Außenfläche wird dadurch nahezu glas¬ 
hart, während der dahinter liegende 
stärkere Teil der Platte aus ungehärte¬ 
tem Nickel stahl außerordentlich zäh ist 
und die Platte davor bewahrt, beim 
Auftreffen eines Geschosses zu sprin¬ 
gen. Das würde zweifellos geschehen, 
wenn die Platte durch und durch stark 
gehärtet -wäre. FQr die Panzerplatten 
der deutschen Großkampfschiffe sind 
bis zum Jahre 1906 K-Platten angegeben. 
Von da ab hörte jede Bezeichnung der 
Panzerart auf. Es sei dahingestellt, 
welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. 
Jedenfalls hat sich unsere Panzerung 
der englischen Geschoßwirkung gegen¬ 
über bewährt. Es ist darauf hinge¬ 


wiesen worden, daß die englischen 
Großkampfschiffe schwächer gepanzert 
seien als die unsrigen. Um nicht alle 
Zahlen der wechselnden Panzerstärke 
aufzuführen, sei die größte Platten¬ 
stärke an der Wasserlinie herausge¬ 
griffen. Sie ist bei den neuesten eng¬ 
lischen Schlachtkreuzern 229 mm, bei 
den Linienschiffen 343 mm, beim Moltke 
280 mm, bei der Königklasse 350 mm. 
Über die neuesten Schiffe sind An¬ 
gaben nicht veröffentlicht Nach vor¬ 
stehenden Zahlen trifft die Annahme 
der stärkeren deutschen Panzer für die 
Kreuzer wohl zu. Die Geschoßwir¬ 
kung hängt aber auch sehr wesentlich 
ab von der Größe der Sprengladung 
und von der Kraft des Sprengstoffes. 
Die Kruppsche Fabrik beziffert die 
Größe der Sprengladung von Panzer¬ 
granaten mit 10 v. H. des Geschoßge¬ 
wichtes. Daraus folgt daß bei glei¬ 
cher Sprengkraft die Sprengwirkung 
mit dem Seelendurchmesser der Ge¬ 
schütze zunimmt, denn das Gewicht der 
Geschosse nimmt im kubischen Ver¬ 
hältnis mit ihren Durchmessern zu. 
Eine Kruppsche 28-cm-Granate hat nur 
30 kg Sprengladung, eine 38,1-cm- aber 
76 kg. Danach müßten die englischen 
Geschosse eine sehr viel verheeren¬ 
dere Wirkung ausgeübt haben, denn es 
ist eben nachgewiesen, daß die Eng¬ 
länder die größeren Geschütze hatten. 
Aber die Kraft der Sprengstoffe ist von 
ausschlaggebender Bedeutung; sie hat 
von der Ladung mit gewöhnlichem 
Schwarzpulver, das völlig unzulänglich 
ist stetig zugenommen; nach dem 
Schwarzpulver kam Schießbaumwolle, 
dann Pikrinsäure, Nitrotoluol, Trotyl, 
und es ist nicht ausgeschlossen, daß 
unsere „neutralen“ Freunde in Amerika 
zur Zeit noch stärker wirkende Spreng¬ 
stoffe erfunden haben, um sie dem Vier¬ 
verband in Zukunft zur Verfügung zu 


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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916 


80 


stellen. Die Explosions- und Brand¬ 
wirkung der englischen Granaten ist 
nach den oben mitgeteilten Schießer¬ 
gebnissen nur gering, jedenfalls gerin¬ 
ger gewesen als die der deutschen. Der 
Kontre-Admiral a. D. Weber führt in 
einem Aufsatz in der „Flotte“ die zahl¬ 
reichen schweren Bründe der englischen 
Schiffe m. A. mit vollem Recht auf 
die umfangreiche Anwendung flüssigen 
Heizstoffes zurück. Gerade die neue¬ 
sten englischen Großkampfschiffe sind 
sämtlich für Ölfeuerung eingerichtet, 
und es kann gar keinem Zweifel unter¬ 
liegen, daß eine in einem Öltank explo¬ 
dierende Sprenggranate eine Gasexplo¬ 
sion und durch Wasser überhaupt nicht 
zu löschende verheerende Brände her- 
vorrufen muß. 

Alle hier kurz besprochenen Vorteile, 
die unserer Schiffsartillerie die Über¬ 
legenheit über die englische gegeben 
haben, sind bleibende, denn es ist un¬ 
möglich, daß die Engländer ihre Unter¬ 
legenheit in allen diesen schwerwiegen¬ 
den Punkten bis zur nächsten See¬ 
schlacht beseitigen können. Wenn wir 
danach diese Vorteile dann ungeschmä¬ 
lert beibehalten und wenn das Stärke- 
verhältnis beider Flotten zueinander 
sich zu unseren Ungunsten nicht we¬ 
sentlich verschiebt, so können wir die¬ 
ser Schlacht mit Ruhe und Zuversicht 
entgegensehen. Läßt man auf beiden 
Seiten jede während des Krieges etwa 
betriebene Baubeschleunigung außer 
Betracht und berücksichtigt nur die¬ 
jenigen Neubauten, die nach dem Frie¬ 
densbauplan Sommer 1916 fertig wer¬ 
den sollten, so hat für die bevor¬ 
stehende Seeschlacht an Zuwachs zu 
erwarten: 

England: 2 Linienschiffe der Royal- 
Sovereign-Klasse, beide nur als Er¬ 
satz für die verlorenen Linienschiffe 
Warspite und Marlborough. (Der Ver¬ 


lust beider Schiffe wird von der eng¬ 
lischen Admiralität nicht zugegeben.) 
An Schlachtkreuzern ist ein Zuwachs 
nicht zu erwarten, da die nächsten Neubau¬ 
ten erst Ende 1916 fertig werden sollen. 

Deutschland: Die beiden Linienschiffe 
Ersatz Wörth und T., die Sommer 191& 
dienstbereit sein sollen. Diese sind un¬ 
eingeschränkter und sehr wertvoller 
Zuwachs, denn wir haben nur das äl¬ 
tere Linienschiff Pommern verloren, das. 
ohne weiteres durch ein gleichwertige» 
aus der Reserve-Schlachtflotte ersetzt 
werden kann. Dieser Zuwachs durch 
2 Neubauten ist darum so wertvoll,, 
weil mit ihm zum ersten Male 38,1-cm- 
Geschütze in unserer Flotte auftreten* 
die nach dem oben Gesagten den eng¬ 
lischen 38,1-cm- sehr wesentlich über¬ 
legen sind. Mit Indienststellung des 
Großen Kreuzers Hindenburg tritt voll¬ 
gültiger Ersatz seines Schwesterschif¬ 
fes Lützow, aber kein Zuwachs ein. 

Nach Ausgleich des Abganges in der 
Schlacht am 31. Mai erwächst der eng- 
lichen Flotte aus den in den nächsten 
Monaten dienstbereiten Neubauten kein 
Zuwachs an Großkampfschiffen weder 
der Zahl noch der Stärke nach. Der 
sehr beträchtliche Verlust an Schlacht¬ 
kreuzern kann zunächst nicht ausge¬ 
glichen werden. Deutschland hingegen 
wird an Großen Kreuzern in gleicher 
Stärke auftreten und an Linienschiffen 
zwei Neubauten mit starker Artillerie 
erhalten. 

Wir gehen also nicht geschwächt, 
sondern gestärkt in den neuen Kampf, 
gestärkt an Zahl, Feuerkraft und Ver¬ 
trauen in unsere Kraft, denn das Zu¬ 
trauen von Offizieren und Mannschaf¬ 
ten der Flotte zur Führung, zu den 
Schiffen, zu den Geschützen und den 
Torpedos ist durch den zweifellosen 
Sieg am 31. Mai unendlich gewachsen. 
Und das ist siegverheißend. 


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81 


Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


82 


Ein antikes System des Naturrechts. 

Von Hermann Diels. 


In dem kürzlich ausgegebenen elften 
Bande der aus Oxyrhynchos in Ägyp¬ 
ten stammenden griechischen Papyri 
finden sich einige Kolumnen eines alt¬ 
attischen Traktats über den Gegensatz 
des positiven und Naturrechts, der 
glücklicherweise sofort als ein Bruch¬ 
stück der Schrift des Sophisten Anti¬ 
phon „Ober die Wahrheit“ festgestellt 
werden konnte. 1 ) Abgesehen von dem 
literarischen Interesse, das ein solches 
Prosastück aus der Zeit des Pelopon- 
nesischen Krieges besitzt, erregt der In¬ 
halt dieser Inkunabel der attischen Phi¬ 
losophie hochgespannte Erwartungen. 
Denn das Hauptthema der damaligen 
Sophistik „Natur und Sitte“ steht hier 
zur Verhandlung. 

Der Widerspruch zwischen der alt- 
ererbten Vätersitte und dem gesetzlich 
normierten Rechte einerseits und den 
Geboten der Natur andererseits erfüllt 
die literarische Luft des ganzen fünf¬ 
ten Jahrhunderts. Philosophen wie 
Historiker, Tragiker wie Komiker be¬ 
mächtigen sich des Problems, das 
von nun an nicht mehr aus der 
Diskussion der Menschheit verschwin¬ 
det Der Zwist zwischen Natur und 
Menschensatzung (Physis und Nomos) 
oder, allgemeiner gesprochen, zwischen 
Natur und Kultur wird in allen schöp- 

1) Diese Feststellung ist von Wilamowitz 
gelungen, der noch vor der Veröffentlichung 
im Sommer 1914 dem englischen Heraus¬ 
geber der Oxyrhynchos-Papyri Mitteilung 
davon machen konnte. Den griechischen 
Text habe ich dann nach der inzwischen 
erschienenen Ausgabe mit einigen Ver¬ 
besserungen und Ergänzungen abgedruckt 
in den Sitzungsber. der Berl. Ak. 20. Juli 
1916. 


feilschen Zeitaltern stets von neuen» 
aufgenommen, und er entfacht immer 
von neuem erbitterte Kämpfe zwischen 
den Verfechtern des alten und des 
neuen Rechts, die sich bisweilen in ge¬ 
waltsamem Umsturz entladen und be¬ 
deutende staatliche und gesellschaft¬ 
liche Umwälzungen zur Folge haben 
können. 

Im alten Griechenland ist dieser 
Kampf vom sechsten Jahrhundert an 
ausgefochten worden. Es ist die Zeit 
der Aufklärung, die hier wie in der 
Aufklärungsperiode der Neuzeit von 
der Naturforschung ausgeht. Wie die 
astronomischen und physikalischen Ent¬ 
deckungen von Kopernikus, Kepler, 
Galilei, Newton die Welt neu orientier¬ 
ten, so hat die ionische Naturwissen¬ 
schaft und namentlich ihre astronomi¬ 
schen Theorien von Thaies und Anaxi- 
mander an bis auf Anaxagoras und 
Demokritos dem antiken Menschen die 
Augen geöffnet. Den Ioniern schlossen 
sich Westhellenen (Parmenides und 
Empedokles) und Athener (Archelaos) 
an. Sie alle schrieben „Über die Na¬ 
tur“, und sie alle versuchten mit Ver¬ 
werfung der mythischen Traditionen 
die Welt einheitlich und natürlich zu 
erklären. Indem sie das ewige Gesetz 
des Werdens und Seins zu ergründen 
strebten, mußte ihnen das menschliche 
Gesetz, das geschriebene wie das un¬ 
geschriebene, mehr und mehr ver¬ 
blassen. 

Wie man in der Zahl das Geheimnis 
der Natur entdeckte, so spannte man 
nun auch das politische Leben rationell 
in die Zahl ein. Kleisthenes, der Zeit¬ 
genosse des Pythagoras, entnahm dem 


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«3 


Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


84 


Kalender seinen Maßstab fQr die An¬ 
zahl der Senatoren Athens genau so 
•wie die französischen Verkünder der 
Menschenrechte und der Vernunftreli¬ 
gion die Welt mit dem von kosmischen 
©egriffen unpraktisch abgeleiteten Me¬ 
termaß beglückten. 

Es ist lehrreich zu sehen, wie sich 
t>ei den Naturphilosophen des Alter¬ 
tums der Kreis der vom Logos er¬ 
hellten Gebiete allmählich weitet und 
auf das politische und moralische Ge¬ 
biet übergreift. Schon Pythagoras, die 
Eleaten und Heraklit (so verschieden 
auch ihre Systeme waren) erweiterten 
das Naturgesetz zur sittlichen und po¬ 
litischen Norm, und der Athener Arche¬ 
laos, der den jungen Sokrates beein¬ 
flußt hat, lehrte, daß die Begriffe Ge¬ 
recht und Schimpflich (d. h. der Kodex 
des geschriebenen und ungeschriebe¬ 
nen Rechts) nicht der Natur, sondern 
der „Satzung“ angehören, also wan¬ 
delbar und unverbindlich erscheinen 
müssen. Zu derselben Zeit lehrten die 
Abderiten, daß alle Wahrnehmung des 
Menschen, Süß und Bitter, Warm und 
Kalt, Hell und Dunkel, subjektive, wech¬ 
selnde, willkürliche Eindrücke seien, 
wahrend die „Natur“ der Dinge, die 
«ewig dieselbige, die in den Atomen und 
dem Leeren besteht, allein wahrhaft 
und dauernd sei. So sei auch im sitt¬ 
lichen Leben, wie Demokrit*) lehrte, 
das Recht allein bei der Natur und nicht 
bei dem, was als Recht gelte. Die Ge¬ 
setze seien eine schlimme Erfindung, 
und der Weise solle nicht den Gesetzen, 
sondern frei von ihrem Zwange der 
'Natur folgen. 

In diesen Streit von Nomos und 
Physis führt uns nun Antiphon, der 
Zeitgenosse des Sokrates und Demo- 


2) Nach dem allerdings nicht immer zu¬ 
verlässigen Epiphanius (Vorsokr. 55A 166). 


krit **), in dem neugefundenen Bruch¬ 
stücke mitten hinein. Er wägt die Ge¬ 
setze des Herkommens und der Natur 
gegeneinander ab und laßt die Wage 
entschieden zugunsten der Natur aus- 
schlagen. 

Wer die bisher bekannten Fragmente 
der beiden Bücher „Über die Wahrheit“ 
durchmustert 3 ), wird nicht leicht für 
diese naturrechtliche Erörterung den 
Platz ausfindig machen. Wir finden da 
erkenntnistheoretische, physikalische 
und physiologische Fragen berührt* 
aber mit Ausnahme eines Sätzchens, 
das im Papyrus wiederkehrt (fr. 44), 
keine Andeutung naturrechtlicher Spe¬ 
kulationen. Trotzdem laßt sich viel¬ 
leicht der Zusammenhang aus einem 
Berichte des Aristoteles erraten. 

Im Anfang des zweiten Buches sei¬ 
ner Physik*), wo der Begriff der Phy¬ 
sis erörtert wird, erwähnt der Stagirite 
die Ansicht einiger Philosophen, man 
müsse unter „Natur“ das Erste, Ur¬ 
sprüngliche, Ungeformte im Gegensatz 
zu dem Abgeleiteten, Geformten, Künst¬ 
lichen verstehen. Die „Natur“ des Spei¬ 
selagers (Kline) sei Holz, die der Bild¬ 
säule Erz. Antiphon beweise dies durch 
ein Experiment. Man grabe eine Kline 
in die Erde ein und lasse sie verfaulen. 
Wenn sich dann aus dem Verfaulten 
neues Leben entwickle, so entstehe 
doch nie daraus eine Kline, sondern 
nur Holz. 5 ) Also sei die durch Kunst 

2 a) Nicht zu verwechseln mit dem Redner 
Antiphon. 

3) Sie sind zuletzt in meinen „Vor- 
sokratikem“ 80 B 1—44 zusammengesteUt 
worden. 

4) Arist. Phys. II1 p. 193 ( Vorsokr . 80B15). 

5) Da die Alten die falsche Vorstellung 
hatten, aus verfaulten Organismen könnten 
neue Lebewesen entstehen (z. B. aus Pferde- 
leichen Bienen), so ist jenes Beispiel nicht 
verwunderlich. Zugrunde liegt die wichtige 
Beobachtung, daß bei roh gezimmerten 
Möbeln, wenn mit der teilweise erhaltenen 


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85 


Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


86 


entstandene Form sekundär, die Sub¬ 
stanz dagegen, die dauernd haftet, sei 
das Primäre. Jenes sei der „Nomos", 
dieses die „Physis". 

Daraus, daß Aristoteles hier beiläu¬ 
fig den Nomos erwähnt, der mit dem 
gewählten Beispiele und dessen phy¬ 
sisch-technischem Gegensätze nichts zu 
tun hat, ersieht man, daß bei Antiphon 
jenes drastische Beispiel in die Erör¬ 
terung des Grundproblems Nomos-Phy¬ 
sis eingereiht und das Primat der Na¬ 
tur mit der Erörterung der Grundprin¬ 
zipien alles Seins verflochten war, von 
der uns bisher nur dunkle an Parmeni- 
des erinnernde Andeutungen in den 
bisherigen Fragmenten Vorlagen. Die 
Art und Weise, theoretische Sätze 
durch möglichst triviale Beispiele zu 
erläutern (sie erinnert an Sokrates* Me¬ 
thode), wird uns in dem neuen Bruch¬ 
stück öfter begegnen. 

Aus dieser Tendenz erklärt sich nicht 
nur der Titel des Werkes „Über die 
Wahrheit", der an Parmenides unmit¬ 
telbar anknüpft, sondern auch die apho¬ 
ristische Form des Bruchstückes, die 
keineswegs die einzelnen Sätze bis zu 
ihren letzten Konsequenzen verfolgt, 
sondern sich begnügt, mit leichter Hand 
die bisherige juristisch-ethische Basis 
der griechischen Kultur, den Nomos, 
vom Throne zu stoßen und die Physis 
als allmächtige Herrscherin an die 
Stelle zu setzen. Man darf also nicht 
vergessen, daß die paradoxen Sätze 
dieses naturrechtlichen Abrisses nur 
eine Episode im Rahmen des ganzen 
Buches bilden. 

Doch es ist Zeit, uns dem neuen 
Fragmente zuzuwenden. Ich werde den 

Binde das „Cambium“ geschont wird, unter 
Umständen „Adventivbildung“, d. h. Regene¬ 
ration der Pflanze, erfolgen kann. Bei Pappel- 
and Weidenholz mag dergleichen am leich¬ 
tasten Vorkommen. 


Text in deutscher Übersetzung mittei- 
len, wobei zum voraus zu bemerken 
ist, daß die Undeutlichkeit wie Über¬ 
deutlichkeit des Stils, die dem moder¬ 
nen Leser auf die Nerven fällt, nicht 
nur dem individuellen Ungeschick des 
Autors zur Last fällt 6 ), sondern teil¬ 
weise auch in der Absicht des Verfas¬ 
sers und vor allem in den Gewohn¬ 
heiten des archaischen Prosastils seine 
Erklärung findet. 

Antiphon geht aus von einer damals 
wohl allgemein anerkannten Definition 
der Gerechtigkeit. Sie besteht darin 
(BruchsL A. Kol. 1, 1—11), 

„alle gesetzlichen Vorschriften des 
Staates, in dem man Bürger ist, nicht 
zu übertreten". 

Dieselbe Formulierung der Gerech¬ 
tigkeit gibt Sokrates in Xenophons 
Memorabilien (IV 4, 12) im Gespräch 
mit dem Sophisten Hippias. Es ist 
wahrsdieinlich, daß auch dieser ältere 
und bedeutendere Sophist von dieser 
Basis aus seinen Angriff auf die kon¬ 
ventionelle Gesetzlichkeit gerichtet hat 
Freilich Xenophon, der ersichtlich nur 
aus zweiter Hand schöpft, läßt in jenem 
besonders schlecht komponierten Ge¬ 
spräche dem Hippias gar keine Zeit, 
seine eigene, als große Entdeckung an¬ 
gekündigte Theorie der Gerechtigkeit 
selbst vorzubringen. Aber daß Hippias 
genau wie Antiphon auf dem Boden 
des Naturrechts steht und daß der 
jüngere Sophist bei jenem in die Lehre 
gegangen ist, wird sich im weiteren 
zeigen. 

Wie die übrigen Sophisten ist auch 
Antiphon vor allem praktischer Philo¬ 
soph, der vom Nutzen ausgeht. Der 
Idealismus; mit dem Platon in den 
ersten Büchern seines Staates diesen 
„Pragmatismus“ bekämpft, liegt ihm 

6) Bereits die alten Stilkritiker schätzen 
seine Technik nicht hoch ein. 


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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


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wie seinen Zeitgenossen noch fern. So 
heißt es hier zuerst: Was bringt die Ge¬ 
rechtigkeit nach der gegebenen Defi¬ 
nition dem Menschen für Vorteile? 
(Kol. 1, 12—23): 

„Den vorteilhaftesten Nutzen kann 
der Mensch für seine Person aus 
der Gerechtigkeit ziehen, wenn er in 
Gegenwart von Zeugen die Gesetze 
hoch hält, dagegen ohne Zeugen die 
Gebote der Natur.“ 

Man ist versucht, bei diesem offenen 
Bekenntnis der Heuchelei an die Ma- 
chiavellisten der Platonischen Politeia 
zu denken, deren höchster Begriff von 
Ungerechtigkeit darin besteht, durch 
geschicktes Verstecken ihrer Schurken¬ 
streiche vor dem Volke als die wahr¬ 
haft Gerechten zu erscheinen (p. 361A). 
Allein unser Sophist will durch diese 
offenbar unmoralische Folgerung aus 
der vorausgeschickten Definition nur 
diese selbst als falsch und die Geltung 
des Nomos als unberechtigt erweisen. 
Denn er fahrt fort (Kol. 1,23—2,1): 

„Denn die Bestimmungen der Ge¬ 
setze sind künstlich, die der Natur 
hingegen notwendig, und die Ge¬ 
setze sind vereinbart, die der Natur 
dagegen gewachsen und nicht ver- 
. einbart." 

Vorausgesetzt wird hier die Theorie 
des Contrat social, die wir vermittelst 
dfer erwähnten Xenophonstelle wieder¬ 
um auf Hippias zurückführen dürfen. 
„Was verstehst du unter Gesetzen?“ 
fragt Sokrates den Sophisten (Mem. IV 
4, 13). Hippias antwortet: „Was die 
Bürger nach Vereinbarung für sich nie¬ 
dergeschrieben haben, was man tun 
und lassen solle.“ Dies war die all¬ 
gemeine Auffassung der antiken Demo¬ 
kratie. Die geschriebenen Gesetze, die 
das Volk sich selbst gegeben und be¬ 
schworen hatte, das ist die Norm, die 
der Gerechte beachten muß, weil er 


selbst als Mitglied des Volkes sich durch 
diesen Kontrakt gebunden hat. So sieht 
er den Nomos, den er selbst auf den 
Thron gesetzt hat, als seinen König 
an. So dachte noch der Athener der 
perikleischen Zeit. Aber die Mißwirt¬ 
schaft der Ochlokratie, die Gesetzma¬ 
cherei und vor allem die immer deut¬ 
licher werdenden Umrisse des Natur¬ 
rechts, das freilich noch oft in unkla¬ 
rer Weise mit dem ungeschriebenen 
Gesetze (Nomos agraphos) verwechselt 
wurde, ließ während des großen Krie¬ 
ges das Palladium des Gesetzes wenig¬ 
stens bei den Fortgeschritteneren der at¬ 
tischen Republik in den Hintergrund tre¬ 
ten. Der moderne Sophistenzögling, wie 
ihn'Aristophanes in den Wolken zeich¬ 
net, fühlt sich über die altvaterische 
Gesetzesgerechtigkeit erhaben: 

„Wie wonnig lebt sich’s in der neuen, 

richt’gen Weltl 

Was kümmert uns noch das bestehende 

Gesetz!“ 

Im Gegensätze zu dieser Gesetzes¬ 
ordnung, deren Künstlichkeit in jedem 
Prozeß deutlich zutage trat, sah der 
fortgeschrittene Sophistenjünger sein 
Heil in der Natur, deren gewachsene, 
nicht gemachte Normen allein Dauer 
und ewiges Leben haben wie das Holz 
im Gegensatz zur Kline. Das zeigt An¬ 
tiphon an den Folgen (2,3—24): 

„Wer also die gesetzlichen Gebote 
Übertritt, bleibt, wenn es die Verein¬ 
barer der Gesetze nicht merken, von 
Schande und Strafe verschont; wenn 
sie es aber merken, nicht. Wer aber 
irgendeines der natürlich mit uns 
verwachsenen Gebote über das mög¬ 
liche Maß hinaus gewaltsam ver¬ 
letzt, für den entsteht, wenn er von 
keinem Menschen entdeckt wird, kein 
geringeres Unheil, und wenn alle es 
sehen, kein größeres. Denn der 
Schade hängt nicht von der öffent- 


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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


90 


Heben Meinung ab, sondern von der 

wahren Wirklichkeit" 

Wenn Antiphon hier von den „Ver- 
einbarern" der Gesetze spricht so be¬ 
tont er wiederum jene Kontrakttheorie, 
welche den Nomos, mag es sich um ge¬ 
schriebenes oder ungeschriebenes Recht 
handeln, als ein Erzeugnis mensch¬ 
licher Schwachheit erscheinen läßt. 
Wenn er „Schande" und „Strafe“ als 
die Folgen der Gesetzesübertretung hin¬ 
stellt so deutet das erste auf die im 
Volke lebende Sittlichkeit die als unge¬ 
schriebenes Gesetz wirkt und so be¬ 
zeichnet wird, die Strafe dagegen auf 
das kodizierte Recht, das dem Über¬ 
treter nicht bloß Schande, sondern auch 
Strafe bringt. 

Für die Gebote der Natur ist es 
gleichgültig, ob sie unter den Augen 
der Menschen übertreten werden oder 
nicht Wer z. B. durch übermäßigen Ge¬ 
nuß des Weines (also über das von 
den Hellenen so geschätzte Mittelmaß 
hinaus) seinen Körper mit Gewalt 
schwächt hat die Folgen unweigerlich 
zn tragen, mag er dem Dionysosi in 
stiller Klause oder in zahlreicher Ge¬ 
sellschaft huldigen. Die Übertretung 
der Natumormen ist von der Meinung 
der Leute unabhängig. Nicht der Schein, 
sondern die Wahrheit entscheidet hier. 

Damit hat der Verfasser seinen er¬ 
sten Anlauf gegen den Nomos und 
seine Wertschätzung der Physis ge¬ 
rechtfertigt Die Beobachtung der po¬ 
sitiven Gesetze führt zur Rüdesicht auf 
die Menschen, d. h. zur Heuchelei, die 
Beobachtung dagegen der ewigen und 
unausweichlichen Naturgesetze führt 
zur Wahrheit der sein Buch gilt 

Nun legt sich der Verfasser die Frage 
vor: Wozu diese Scheidung des dop¬ 
pelten Rechtes? Berühren sich denn 
ihre Sphären? Er antwortet: Gewiß, 
sie berühren sich in vielen Fällen, und 


dann entsteht der Konflikt zwischen 
dem Nomos und der Physis, zwischen 
der Scheinnorm und der wahren Norm. 
Er sagt 2, 24—31: 

„Die Betrachtung dieser Dinge ist 
im allgemeinen um deswillen ange¬ 
stellt worden, weil die Mehrzahl der 
gesetzlichen Rechtsbestimmungen mit 
der Natur im Kampfe liegen." 

Die Art nun, wie Antiphon diesen 
Konflikt erläutert und begründet, bietet 
ernste Schwierigkeit. Sie liegt darin, 
daß er Selbstverständliches breit aus¬ 
führt und darüber vergißt, den inneren 
Zusammenhang der Gedanken klarzu¬ 
legen. Ich gebe die beiden scheinbar 
einander fremden Gedankenreihen zu¬ 
nächst wörtlich wieder (2, 31—3,18. 
3,18—4,1): 

„Da gibt’s Gesetze für die Augen, 
was sie sehen dürfen und was nicht, 
für die Ohren, was sie hören dürfen 
und was nicht, für die Zunge, was sie 
reden darf und was nicht, für die 
Hände, was sie tun dürfen und was 
nicht, für die Füße, wohin sie gehen 
dürfen und wohin nicht, und für 
unser Innres, was es begehren darf 
und was nicht." 

Diese erste, mit strenger Symmetrie 
der sechs Glieder gebaute Riesen¬ 
periode, die von den äußeren Sinnes¬ 
organen zum inneren Sinn (Nus) führt, 
umschreibt den Organismus des Men¬ 
schen, d. h. das Kampffeld, auf dem 
sich Satzung und Natur feindlich be¬ 
gegnen. Die Gesetze verbieten gewisse 
Dinge zu sehen, zu hören und auszu¬ 
sprechen (man denke z. B. an die Ge¬ 
heimnisse der eleusinischen Mysterien 
oder an das Verbot, gewisse heilige Be¬ 
zirke zu betreten), wovon der natür¬ 
liche Mensch nichts weiß. Dies ist klar. 
Nun fährt er aber abschließend fort: 

„Nun ist das, was die Gesetze dem 
Menschen verbieten, der Natur nicht 


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Hermann Diels, Ein antikes System'des Naturrechts 


im geringsten verwandter oder naher- 
stehend als das, was sie ihnen gebie¬ 
ten. Andererseits liegt Leben und 
Sterben in der Macht der Natur. Und 
zwar kommt uns das Leben aus dem 
Zuträglichen, das Sterben dagegen 
von dem Abträglichen.“ 

Der erste Satz soll wohl besagen, daß 
weder die Gebote noch die Verbote des 
heiligen oder profanen Rechts an sich 
irgend etwas mit der Natur zu tun 
haben. Nur wenn die Obrigkeit wegen 
Übertretung der Gesetze mit Leib und 
Leben straft, wird die Natur des Men¬ 
schen getroffen. Diese Wirkung beruht 
aber nicht auf einer unweigerlich ein¬ 
tretenden Folge der Übertretung, son¬ 
dern auf einer bloßen Meinung, deren 
Richtigkeit wohl fromm geglaubt, aber 
nicht wissenschaftlich erwiesen werden 
kann. Ebenso ist es mit den Gebo¬ 
ten der Sitte. Ein hellenischer Nomos 
gebietet die Toten in der Erde zu be¬ 
statten. Das hat keine Beziehung zur 
Natur. Schon Herodot hatte drastisch 
nachgewiesen, daß der Nomos gewissen 
Barbaren Völkern gebietet, ihre toten El¬ 
tern aufzuessen. 

Ganz anders wirken die Normen der 
Natur. Wer ihre Gebote und Verbote 
beachtet, erfährt unmittelbar und un¬ 
weigerlich ihre Wirkung an sich. Wer 
ihr folgt, erfährt ihren fördernden Ein¬ 
fluß zum Leben, wer ihr trotzt, ihren 
schädigenden Einfluß, der zum Tode 
führt. Mäßigkeit z. B., wie sie die Na¬ 
tur vorschreibt, wie sie das Tier von 
selbst innehält, fördert das Leben, Un¬ 
mäßigkeit straft mit dem Tode. Man 
sieht, wie hier der Grundsatz der 
autonomen Moral: naturae convenien- 
ter vivere, den die Sokratik allen spä¬ 
teren Schulen vermacht hat, im Keime 
vorgebildet ist. 

Von diesem Standpunkt der Auto¬ 
nomie aus, welche die selbstver- 


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ständliche Folge der Zertrümmerung 
des Nomos ist, erscheint dem Verfasser 
der Unterschied der Natur- und Men¬ 
schengesetze außerordentlich schroff 
(4,1-8): 

„Das Zuträgliche, das von den Ge¬ 
setzen kommt, ist nur eine Fessel der 
Natur, die Gebote dagegen, welche 
die Natur uns auferlegt, sind frei.“ 

Aristoteles, der nach Demokrit (frj 
264) und Platon (Rep. IV425 B) schöne 
Worte für den autonomen Standpunkt 
der Sittlichkeit gefunden hat, sagt ein¬ 
mal (Nie. Eth. IV 14): „Der anständige 
und freie Mann ist sich selbst Gesetz.“ 
So sieht Antiphon in den Gesetzen des 
Polizeistaates, der alles verordnet und 
verbietet, eine Knebelung des Men¬ 
schen. Selbst das Förderliche seiner 
Verordnungen verliert durch die Strafe, 
die angedroht wird, den Charakter der 
Freiheit, den die Natur wahrt Gebie¬ 
tet uns die Natur den Hunger zu stillen 
oder verbietet sie über den Durst zu 
trinken — in beiden Fällen läßt sie 
dem Menschen die Freiheit des Han¬ 
delns. Nur die späteren Folgen zeigen, 
was zu-, was abträglich ist. 

* Schwierig ist es nun, den Zusammen¬ 
hang der folgenden scheinbar trivialen 
Gedanken mit dem Vorhergehenden und 
Nachfolgenden zu erkennen, zumal der 
Schluß, der das Ziel dieses Absatzes 
zeigen mußte, in einer Lücke des Pa¬ 
pyrus untergegangen ist (4,8—24): 

„Also ist alles, was schmerzt, wenn 
man die Sache richtig beurteilt nicht 
förderlicher für die Natur, als was er¬ 
freut. Also ist auch alles, was be¬ 
trübt, nicht zuträglicher als das Er¬ 
heiternde. Denn alles, was wirklich 
zuträglich ist, darf nicht schaden, 
sondern nützen. Folglich ist das der 
Natur Zuträgliche von diesen Din¬ 
gen...“. (Hier fehlen einige Zeilen.) 


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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


94 > 


Die beiden mit „also" anhebenden 
Sätze sind Parallelausführungen, wel¬ 
che auf körperlicher wie geistiger Seite 
den schädigenden Einfluß des Schmer¬ 
zes, den fördernden der Lust auf die 
menschliche Natur feststellen. Ist das ein 
Bekenntnis zum Hedonismus? Erinnert 
das nicht an den ebenfalls vom Natur- 
recht ausgehenden Zeitgenossen Demo¬ 
krit, der „Lust und Unlust als die 
Grenzbestimmung des Zuträglichen und 
Abträglichen“ bezeichnet hatte (fr. 4. 
188)? Ein solches Ziel liegt schwerlich 
hier in der Absicht des Antiphon, der 
in den übrigen Fragment«! eher eine 
pessimistische Auffassung des Lebens 
zeigt. Vermutlich ist diese Stelle im 
Gegensätze zu dem Nomos zu fassen. 
Die Gesetze, so war oben gesagt, legen 
der Natur eine Fessel cm. Man versteht 
zwischen den Zeilen: sie bereiten durch 
ihren Zwang der Natur oft mehr 
Schmerzen als Freuden, mehr Betrüb¬ 
nis als Erheiterung, mehr Schaden 
als Nutzen. Die in der Lücke unter¬ 
gegangene Folgerung scheint demnach 
gelautet zu haben: „Folglich ist das der 
Natur Zuträgliche dieser Dinge (leben¬ 
fördernd, was von den Gesetzen keines¬ 
wegs gilt)." 

Hieran reiht sich nun ein weiterer 
Abschnitt, der zeigt, wie manche vom 
Nomos vorgeschriebene und gewöhn¬ 
lich als edel bezeichnete Handlungen 
im Widerstreit mit der menschlichen 
Natur liegen und ihr zum Schaden ge¬ 
reichen (4,30-5,24): 

„(Im Nachteil sind) die, welche 
sich gegen eine tätliche Beleidigung 
zu wehren haben, ohne selbst mit 
einer solchen zu beginnen, ferner die, 
welche ihre Erzeuger, auch wenn sie 
schlechte Menschen sind, gut behan¬ 
deln, endlich die, welche andern den 
Eid verstauen, ohne ihn selbst in An¬ 
spruch zu nehmen. Bei vielen der 


eben erwähnten Handlungen kann 
man finden, daß ein Widerstreit ge- 
gen die Natur vorliegt. Man sollte¬ 
erwarten, daß man von ihnen we¬ 
niger Schmerz und mehr Freude ha¬ 
ben würde. Aber tatsächlich erfährt 
man das Umgekehrte. Ebenso erlei¬ 
det man Schaden, wo man das Ge¬ 
genteil erwarten könnte.“ 

Die Beispiele edler Handlungen, die- 
denen, die sie tun, nur Schaden brin¬ 
gen, stammen weniger aus Solons ge¬ 
schriebenen Gesetzen als vielmehr au» 
dem gemeinhellenischen Ehrenkodex,, 
der als ungeschriebenes Gesetz über¬ 
all gilt. Unrecht nicht zuerst tun, son¬ 
dern nur abwehren, die Eltern unter¬ 
stützen, selbst wenn sie es nicht ver¬ 
dienen 7 ), dem Gegner vor Gericht 
großmütig den Eidschwur überlassen» 
das sind alles sehr edle und uneigen¬ 
nützige Handlungen, aber sie bringen 
mehr Schmerz als Genuß, mehr Leid, 
als Freude, weil sie der menschlichen 
Natur zuwiderlaufen. 

Nun sollte man erwarten, daß wenig¬ 
stens die positive Gesetzgebung de» 
Volkes diesen Altruismus unterstützte 
und die Nachteile ausgliche, die solche 
Uneigennützigkeit dem edlen Menschen 
bringt. Das ist aber nicht der Fall, wie 
das Folgende lehrt (5,25—6,9): 

„Würde nun denen, die sich solche 
Grundsätze aneignen, von seiten der 
Gesetze irgendeine Unterstützung zu¬ 
teil, und denen, die sie sich nicht an¬ 
eignen, sondern ihnen, widerstreben» 
ein Schaden: dann wäre der Ge¬ 
setzesgehorsam keine unvorteilhafte 

7) Xenophon erwähnt in dem genannten 
Hippiaskapitel das Gebot „Ehret die Eltern“ 
unmittelbar nach dem überall an der Spitze 
des Nomos agraphos stehenden „Ehret die 
Götter“. Diese „ungeschriebenen Gesetze“ 
führt er ferner auf die Götter selbst zurück 
(Mem. IV 4, 20), was Antiphon mit Vorbe¬ 
dacht vermeidet. 


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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


96 


Sache. So aber scheint denen, die 
solche Grundsätze sich aneignen, das 
aus den Gesetzen kommende Recht 
keine hinreichende Unterstützung zu 
leihen/' 

Unter den Gesetzen, die versagen, 
sind hier natürlich die geschriebenen 
zu verstehen, die den ungeschriebenen 
nicht zu Hilfe kommen. Er betrachtet 
.zunächst den Fall tätlicher Beleidigung 
<5,9-18): 

„Zuerst läßt das Gesetzesrecht 
doch zu, daß der Beleidigte über¬ 
haupt das Unrecht leiden und der 
Beleidiger es tun darf; und es war 
in diesem Falle nicht imstande, den 
Beleidigten an dem Leiden und den 
Beleidiger an dem Tun zu hindern.“ 
Schwerlich hat der Sophist an irgend¬ 
eine praktische Maßregel gedacht, wie 
man von Rechts wegen unprovozierte 
Belei digungen hintanhalten könne. Denn 
Schiedsgerichte waren ja damals etwas 
Alltägliches. Vielmehr will er nur über¬ 
haupt die Ohnmacht des Gesetzbuchs 
gegenüber jenen beständig vorkommen¬ 
den Übergriffen darlegen. Wenn nun 
aber zweitens auf das Bestehen der 
Gerichtshöfe hingewiesen wird, wo der 
ungerecht Angegriffene sein Recht su¬ 
chen und den Angreifer zur Verantwor¬ 
tung ziehen kann, so antwortet der So¬ 
phist (5,19-33)8): 

„Bringt man sodann den Rechts¬ 
streit zur Strafentscheidung, dann 
hat der Beleidigte vor dem Beleidi¬ 
ger nichts Besonderes voraus. Er 
würde wohl wünschen, die Straf¬ 
richter zu überzeugen, daß er die Be¬ 
leidigung erlitten, und die Möglich¬ 
keit zu erlangen, durch seine Anklage 
den Prozeß zu gewinnen. Allein die¬ 
selbe Möglichkeit verbleibt dem Be- 

8) Die Stelle ist lückenhaft überliefert 
und meine Ergänzung unsicher. 


leidiger, wenn er sich aufs Leugnen 

legt..." 

Hier bricht leider der Text ab. Die 
vereinzelten Buchstaben der folgenden 
Kolumne7 zeigen nur so viel, daß Anti¬ 
phon ausführte, die Aussicht, den Pro¬ 
zeß zu gewinnen, hinge für den Kla¬ 
ger ebenso wie für den Angeklagten 
nicht von der Wahrheit der Behauptun¬ 
gen und der Wirklichkeit der Tatsachen 
ab, sondern lediglich von der größeren 
oder geringeren Redegewandtheit der 
Gegner. 

Es ist bedauerlich, daß das erste 
Fragment (A) gerade da abbricht, wo 
die oftbeklagte Rechtsunsicherheit der 
attischen Geschworenengerichte ge¬ 
brandmarkt und die Scheinwelt dieser 
auf ihren Nomos stolzen Demokratie 
aufgedeckt werden sollte. 

Noch bedauerlicher aber ist es, daß 
das zweite Fragment (B), das mit dem 
vorhergehenden nicht unmittelbar zu¬ 
sammenhängt, aber zum ius naturale 
gehört und vermutlich einen späteren 
Platz in diesem Exkurse einnahm, nur 
eine lesbare Kolumne enthält. 

Wahrend in dem ersten Bruchstücke 
nur das Prinzipielle des Naturrechts 
und die Beziehungen des einzelnen 
Staatsbürgers dazu behandelt waren, 
wendet sich der Verf. nun zu den so¬ 
zialen und internationalen Problemen 
des Gegenstandes. Er spricht hier An¬ 
schauungen mit Schärfe aus, die wir 
bisher nur jüngeren Sophisten wie Ly- 
kophron und Alkidamas zuschreiben 
konnten. Freilich wußten die Einge¬ 
weihten, die in den Dramen des Euri- 
pides und Aristophanes das Echo der 
gleichzeitigen sophistischen Diskussion 
vernahmen, daß die große Idee der 
Aufklärung, die Freiheit, Gleichheit und 
Brüderlichkeit für alle Klassen und alle 
Völker fordert, bereits im fünften Jahr¬ 
hundert verkündet ward. Die Emanzi- 


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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


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pation der Sklaven wie der Kosmopoli- 
tismus, wodurch der antike Staat ver¬ 
nichtet ward, sind damals zuerst als 
Konsequenzen des ius naturale ausge¬ 
sprochen worden. In dem zweiten Frag¬ 
mente des neuen Fundes fassen wir 
nun die erste systematische Formulie¬ 
rung des radikalen Evangeliums. 

Zunächst muß die im antiken Nomos 
trotz aller Demokratie zäh festgehal¬ 
tene soziale Scheidung von guten und 
schlechten Familien (d. h. von Aristo¬ 
kraten und Plebejern) fallen. Auch hier 
geht er wie in dem ersten Bruchstück 
von der Feststellung des tatsächlich be¬ 
stehenden sozialen Zuftandes aus (fr. 
B Kol. 1,35—2,15). 

„Die von vornehmen Vätern ab¬ 
stammen, achten und ehren wir, die 
dagegen aus nicht vornehmem Hause 
abstammen, achten und ehren wir 
nicht. In dieser Scheidung behan¬ 
deln wir uns gegenseitig wie Barba¬ 
ren. Denn von Natur sind wir alle in 
allen Beziehungen, Hellenen wie Bar¬ 
baren, gleich erschaffen.“ 

Der modern gesinnte Sophist ver¬ 
wirft vom Standpunkt des Naturrech¬ 
tes aus die sozialen und internationalen 
.Wertabstufungen durchaus. Vor dem 
Richterstuhl der Natur sind Aristo¬ 
kraten und Plebejer, Freie und Sklaven, 
Hellenen und Barbaren gleich. Er be¬ 
gründet dies durch Beispiele, deren Tri¬ 
vialität wieder an die sokratische Ma¬ 
nier erinnert (B2,15—35): 

„Das läßt uns die Betrachtung der 
natürlichen und allen Menschen un¬ 
entbehrlichen Lebensbedingungen er¬ 
kennen. Erwerben lassen sich diese 
von allen in gleicher Weise 9 ), und 
in allen diesen Dingen ist kein Bar¬ 
bar und kein Hellene von uns ge- 

9) Dieses Sätzchen wie der Schlußsatz 
beruht auf meiner keineswegs sicheren 
Ergänzung. 

Internationale Monatsschrift 

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schieden. Atmen wir doch alle durch 
Mund und Nase in die Luft aus und 
essen wir doch alle mit den Hän¬ 
den ...“ 

Das gewaltige ethnographische Ma¬ 
terial, das die ionische Forschung (He- 
kataios, Herodot, Hippokrates de aere) 
gesammelt hatte, war von der Toleranz¬ 
idee der Aufklärung dazu benutzt wor¬ 
den, um die geistigen Schranken zwi¬ 
schen Hellenen- und Barbarentum nie¬ 
derzureißen. Diese Ausgleichung war 
theoretisch schon längst angebahnt, ehe 
Orient und Okzident politisch zusam¬ 
mengeschweißt wurden. Diese Tole¬ 
ranzbestrebungen hatten die Relativität 
des partikularen Nomos durch Verglei¬ 
chung der Sitten aller bekannten Völker 
der Erde herausgestellt. Wer konnte 
sich demgegenüber erkühnen zu sagen, 
daß dieses oder jenes Volk den „rich¬ 
tigen“ Brauch in staatlichen oder so¬ 
zialen Einrichtungen besitze? Wohl 
aber ergab sich eine vollständige Über¬ 
einstimmung in allem, was des Men¬ 
schen Natur betrifft Atmen und essen 
müssen wir alle, um leben zu können. 10 ) 
Und wir üben diese Lebensnotwendig¬ 
keiten alle in derselben Weise aus, wie 
es uns unsere natürliche Körper¬ 
beschaffenheit vorschreibt. Gegenüber 
der Tierwelt und ihren verschieden¬ 
artigen Lebensbedingungen bildet der 
Mensch gleichsam nur eine Familie: 
das ist Natur; alles andere, was der 
eine so, der andere so gestaltet hat, ist 
Konvention. Jenes ist notwendig zur 
Erhaltung des Lebens, dies ist zufällig 
und gleichgültig. 

Ehe wir nun zum Schlüsse der Frage 
nähertreten, inwiefern diese für Antike 
wie Moderne gleich wichtigen Gedan¬ 
ken als Eigentum des Sophisten Anti¬ 
phon betrachtet werden können, ist 

10) Er fuhr vielleicht fort: „Und wir alle 
gehen auf zwei Beinen.“ 

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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts 


100 


noch etwas über die Form der Schrift 
„Uber die Wahrheit", die wir durch das 
neue Fragment erst näher kennen ge¬ 
lernt haben, zu bemerken. Sie weicht 
sowohl von den größeren Fragmenten 
seiner sozial-politischen Schrift „Ober 
die Eintracht" wie von dem Stil der 
Zeitgenossen merklich ab. Die Sym¬ 
metrie der Satzglieder und andere 
kleinen Künste der Rhetorik erinnern 
an das gorgianische Muster. Das ist 
bei einem attischen Schriftsteller des aus¬ 
gehenden fünften Jahrhunderts nichts 
Verwunderliches. Allein selbst Gor- 
gias hat sich vor so schulmeisterlich 
gleichgebauten Satzgefügen gescheut, 
wie sie uns z. B. Kol. 2, 31 ff. begegnen. 
Ich erkenne vielmehr in dieser Pedan¬ 
terie, die durch Wiederholung dersel¬ 
ben Wörter an der gleichen Stelle den 
Inhalt besser in den Kopf hämmern 
will, die Einwirkung des mathemati¬ 
schen Stils. Wie die modernen Natur¬ 
rechtslehrer Spinoza und Hobbes ihren 
Rationalismus in dem mos geometricus 
ihres Stils zum Ausdruck brachten, so 
übertrug Antiphon, der sich mit mathe¬ 
matischen Problemen (Irrationalität des 
Kreises) abplagte, den umständlichen 
Stil der damaligen hellenischen Mathe¬ 
matik, wie wir ihn aus einem Frag¬ 
mente seines Zeitgenossen Hippokrates 
von Chios kennen lernen, auf seine na¬ 
turrechtlichen Spekulationen. Dieses Be¬ 
streben nach Exaktheit schließt stel¬ 
lenweise Unklarheit und Überspringen 
der Verbindungsglieder nicht aus, wie 
wir dies auch bei Hippokrates, ja selbst 
bei dem größten Meister des geometri¬ 
schen Stils, bei Aristoteles, mitunter be¬ 
merken können. Diese formelhafte Dia¬ 
lektik ist also dem Schriftsteller und 
speziell dieser Schrift eigentümlich. Ist 
es auch der Inhalt? 

Der Anfang des ersten Bruchstückes 
knüpft, wie wir sahen, an Hippias an. 


Bereits Ferdinand Dümmler hat auf 
allerdings allzuschmaler Basis die Ver¬ 
mutung aufgestellt, die naturrechtliche 
Theorie, die den Sophisten Antiphon zu 
seiner Schrift „Über die Eintracht“ ge¬ 
führt habe, beruhe auf der Anregung 
jenes älteren Sophisten. 11 ) Diese Ver¬ 
mutung läßt sich jetzt auf Grund des 
neuen Fundes besser begründen. 

Wenn Plato im Protagoras zur Cha¬ 
rakteristik des Hippias, der die beiden 
Streiter Sokrates und Protagoras zur 
Eintracht führen will, mit einem weit¬ 
hergeholten Preise der natürlichen Ver¬ 
wandtschaft aller Menschen anhebt, so 
ist dieser TopoS offenbar den Schriften 
des Hippias entlehnt. „Verehrte An¬ 
wesende," so beginnt seine Anrede, „ich 
glaube ihr seid alle durch die Natur, 
nicht durch das Gesetz Verwandte, 
Freunde und Mitbürger. Denn Gleiches 
ist Gleichem von Natur verwandt. Das 
Gesetz aber ist der Tyrann der Men¬ 
schen und zwingt sie zu vielem wider 
die Natur.“ 

Man sieht jetzt, wie diese leitende 
naturrechtliche Theorie, die Hippias sei¬ 
nerseits wieder von der älteren Natur¬ 
philosophie des Archelaos entlehnt ha¬ 
ben mag, bei Antiphon eine freilich 
nicht in die Tiefe und nicht bis ans 
Ende gehende Weiterentwicklung ge¬ 
funden hat. Sie schien ihm willkom¬ 
men zur Begründung der Prinzipien¬ 
lehre, die schicklich ihren Platz im 
Eingang seiner Schrift „Über die Wahr¬ 
heit“ fand. In der Tat bezeugt uns ein 
Randvermerk des Papyrus, daß das 
erste Bruchstück (und somit auch das 
inhaltlich zugehörige zweite) nur 400 
Raumzeilen vom Beginn des Buches 
abstand. Der Darstellung Antiphons 

11) Akademika S. 258. Kleine Sehr. I 
182 ff. Er fußt hauptsächlich auf dem er- 
erwähnten Kapitel der Xenophontischen 
Memorabilien (IV 4). 


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[ND1ANA UNfVERSITY 




101 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 102 


kommt also nur in formaler Beziehung 
Originalität zu, und man darf nicht 
glauben, daß die Anklänge an diese 
Spekulationen, die wir bei Euripides 
und später bei Plato finden, auf der 
Lektüre dieses wenig beachteten Bu¬ 
ches beruhen. Antiphons Paradoxa sind 
nur sekundäre Strahlen der Morgen¬ 
röte, welche die moderne Welt an¬ 
kündigend über dem hellenischen Him¬ 
mel aufgegangen war. Wirksam zeig¬ 
ten sich diese naturrechtlichen Ideen 
erst als sie von dem linken Flügel der 
Sokratik (Antisthenes, Aristippos) be¬ 
gierig aufgegriffen in den späteren 
Weltsystemen Zenons und Epikurs ihre 
wissenschaftlichere Begründung und 
zugleich ihre praktische Anwendung 
gefunden hatten. In dieser Form hat 
der naturrechtliche Radikalismus auf 
die Neuzeit eingewirkt. Je und je sind 
Propheten auferstanden, die der Kon¬ 
vention den Krieg erklärten und das 
Evangelium der Natur verkündeten. 
Die an der Aufklärungs-Sophistik des 
18. Jahrhunderts entflammte und ge¬ 
nährte Französische Revolution hat dann 


versucht, dieses Evangelium der gan¬ 
zen Welt aufzunötigen. Aber griechi¬ 
scher Wein bekommt nicht, wenn er 
nicht mit Wasser verdünnt wird. Die 
historische Rechtsanschauung des vo¬ 
rigen Jahrhunderts hat uns Deutschen 
diesen Dienst geleistet und vielfach zu 
einem befriedigenden Kompromiß zwi¬ 
schen Nomos und Physis geführt. Im 
Ausland dagegen haben die radikalen 
Schlagworte des Naturrechts noch ihren 
vollen Kurs. Sie dienten in diesem 
Weltkriege dazu, uns als rückständige 
Sklaven des Nomos bei allen freien 
Seelen zu verschreien. Aber der Erfolg 
hat unsere Gegner belehrt, daß unser 
Nomos, unsere Organisation die besten 
sind. So sind sie genötigt gewesen, 
Schritt für Schritt zu Zwangsmaßre¬ 
geln zu greifen, die sie im Grunde ihres 
Herzens verabscheuen. Uns ist der Ge¬ 
setzesgehorsam eine gern und freudig 
erfüllte Pflicht, jenen wird er wirklich, 
wie Antiphon sagt, zu einer „Fessel", 
die sie der Not gehorchend, aber zähne¬ 
knirschend tragen. 


Gräfin Elise von Ahlefeldt 
im Leben Lützows und Immermanns. 


Von Harry Maync. 


1 . 

Ein „reiches, wie von einem großen 
melancholischen Dichter erfundenes 
Frauenleben", „typisch und poetisch 
und an die höchsten Ereignisse anknüp- 
fend“: so nennt Gottfried Keller 1 ) das 
Leben der Frau, die fünfzehn Jahre lang 
die Gattin des berühmten Freischaren- 
iührers Adolf v. Lützow war und nach 

1) Ermatinger-Bächtold, G. Kellers Briefe 
und Tagebücher 451 ff. Stuttgart u. Berlin 
1916. 


der Scheidung von diesem fast ebenso 
lange mit dem Dichter Karl Immer¬ 
mann, ohne mit ihm vermählt zu sein, 
das Haus teilte, um dann einer jungen 
Gattin weichen zu müssen. Keller 
äußert sich so in einem Brief an Lud¬ 
milla Assing, und zwar nach der Lek¬ 
türe ihres Buches über ebendiese Frau, 
dem wir die umfänglichsten Mitteilun¬ 
gen über sie verdanken. Ihr Buch, be¬ 
merkt er des weiteren, lasse eine Stim¬ 
mung zurück, wie nach dem Genuß 

4* 


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103 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 104 


eines tiefsinnigen, wohlgeschriebenen 
Romans. Er will damit ein Lob ausspre¬ 
chen, aber auch das Romanhafte im üb¬ 
len Sinne muß man dem Buche zum 
Vorwurf machen. Die eingehende, 351 
Seiten umfassende Biographie: „Gräfin 
Elisa v. Ahlefeldt, die Gattin Adolphs 
v. Lützow, die Freundin Karl Immer- 
manns“, 1857 im Dunckerschen Verlag 
zu Berlin erschienen und in ihrer zwei¬ 
ten, kleineren Hälfte aus Briefen von 
Immermann, Möller und Henriette Paal- 
zow bestehend, ist, wie alle die zahl¬ 
reichen Veröffentlichungen Ludmilla As- 
sings nur mit größter Vorsicht zu be¬ 
nutzen, weil auch sie von parteiischer 
Einseitigkeit ist Das Buch bedeutet 
eine wahre Verhimmelung der dar¬ 
gestellten, gewiß bedeutenden und 
sympathischen Frau und wirft alle 
Schuld auf die beteiligten Männer, 
drückt namentlich Lützows ehren¬ 
werte Persönlichkeit unter starker 
Verdrehung der Tatsachen ganz unge¬ 
bührlich herab. Die schönselige und 
schreibselige Verfasserin war durchaus 
die klatschhafte Nichte des klatschhaf¬ 
ten Vamhagen, wie sie die Erbin und 
Herausgeberin seines schier unerschöpf¬ 
lichen Nachlasses war. Als tendenziöse 
Schriftstellerin hat sie manches verur¬ 
teilende Wort einstecken müssen; so ist 
Hebbel äußerst scharf mit ihr ins Ge¬ 
richt gegangen, und Gustav Freytag 
nennt z. B. ihre Veröffentlichung des 
Briefwechsels zwischen Vamhagen und 
Alexander von Humboldt eine „greu¬ 
liche Taktlosigkeit“ (Brief an Graf Bau- 
dissin vom 2. März 1860). Gerade auch 
ihr Ahlefeldt-Buch wirbelte viel Staub 
auf und rief Kritik und Antikritik auf 
den Plan. Adolf Stahr nahm eifrig gegen 
sie und für seinen toten Freund Immer¬ 
mann Partei, und ebenso tat Gutzkow. 
Zwar bemüht sich die Biographin, auch 
Immermann Gerechtigkeit widerfahren 


zu lassen, gleichwohl aber spiegelt ihr 
Buch doch durchaus die menschlich be¬ 
greifliche parteiische Auffassung der 
Frau wider, die sich nach langen Jah¬ 
ren inniger Gemeinschaft einem jungen 
Ding vorgezogen seih und alle Schuld 
von sich ablehnen zu dürfen überzeugt 
war. Frau v. Ahlefeldt hatte bei ihren 
Lebzeiten — das Buch ist bald nach ih¬ 
rem Tode veröffentlicht worden — ihrer 
künftigen Biographin freundschaftlich 
sehr nahegestanden; aus ihren Erzäh¬ 
lungen und aus ihrem handschriftlichen 
Nachlaß ist die Darstellung geschöpft. 
Die natürliche Tendenz dieser einseiti¬ 
gen Quellen hat Ludmilla Assing nur 
noch schärfer herausgearbeitet 
Unsere zweite Hauptquelle bilden 
späte Niederschriften Immermanns an 
seine Braut, der er Rechenschaft ablegt 
über das zweideutige Verhältnis, das er 
um ihretwillen löst Auch diese Darstel¬ 
lung ist, bei aller Schonung der nach 
wie vor verehrten Gräfin, naturgemäß 
gleichfalls apologetisch gehalten und 
steht unter dem Gesichtswinkel der Par¬ 
teinahme für die neue Geliebte. End¬ 
lich hat lange nach des Dichters Tode 
dessen Gattin selbst als alte Frau sich 
über ihres Mannes Beziehungen zur Grä¬ 
fin ausgelassen, und zwar in der den 
Namen Gustavs v. Putlitz tragenden, im 
Jahre 1870 erschienenen, heute längst 
veralteten Immermann-Biographie. Die¬ 
se Darlegung ist durchaus nicht etwa 
gehässig gegenüber der Gräfin, die 
bis zu ihrem Tode mit Marianne Im¬ 
mermann freundliche Beziehungen un¬ 
terhalten hat, aber auch sie ist infolge 
ihrer kritisch-polemischen Tendenz ge¬ 
gen Ludmilla Assing parteiisch. Die von 
dieser öffentlich Angegriffene ist be¬ 
strebt, sich und den Gatten zu recht¬ 
fertigen und die Hauptschuld Elisen zu¬ 
zuschieben. Putlitz, der Herausgeber 
des im wesentlichen von Marianne ver- 


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105 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LOtzows und Immermanns 106 


faßten Budies, stellt sich, obwohl er 
selbst zu Elisens persönlichen Freunden 
and Verehrern gehört hatte, in seinem 
Vorwort nachdrücklich auf die Seite von 
Immermaim und dessen Witwe; in der 
Assingsdien Schilderung, erklärt er, 
sei des Dichters „Bild nicht nur verzerrt, 
sondern durch Entstellung der Fakta so¬ 
gar sein Charakter in falsches Licht ge- 
stellt“. 2 ) 

In allen den genannten Ausführungen 
muß der Historiker, von den bezeich- 
neten kritischen Gesichtspunkten gelei¬ 
tet und sorgsam zwischen den Zeilen 
lesend, durch unbefangenes Urteil zu 
einer möglichst objektiven Auffas¬ 
sung, der psychologisch-geschichtlichen 
Wahrheit vorzudringen suchen. Immer¬ 
manns Briefe an die Gräfin befanden 
sich in deren Nachlaß und sind aus die¬ 
sem zum Teil von Ludmilla Assing ver¬ 
öffentlicht worden; eine Nachprüfung 
ihrer Wiedergabe ist nicht möglich. Der 
Gräfin Briefe an den Dichter befinden 
sich dagegen in dessen umfänglichem 
Nachlaß nicht; entweder hat sie sie noch 
bei Lebzeiten Immermanns, etwa bei 
dem Auseinandergehen, von ihm zu¬ 
rückempfangen, oder er selbst hat sie 
vernichtet, oder endlich, sie sind bei der 
Obergabe des Dichternachlasses an das 
Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv 
zurflckbehalten worden. 

Von noch anderen Quellen, die von 
Fernerstehenden stammen, ist wegen 
seiner Unbefangenheit und offenbaren 
Zuverlässigkeit ganz besonders beach¬ 
tenswert der betreffende Abschnitt in 
Friedrich Kohlrausch’s „Erinnerungen 
aus meinem Leben“ (Hannover 1863, 
S. 206 ff.). Der treffliche Verfasser be¬ 
richtet uns da knapp über seinen per¬ 
sönlichen Verkehr mit dem Ehepaar 
Lützow und Immermann während des 


2) Putlitz I IV. 


gemeinsamen Zusammenlebens in Mün¬ 
ster und gibt seine Eindrücke über das. 
Verhältnis der drei Hauptpersonen zu¬ 
einander mit schlichter Sachlichkeit und! 
gutem Takt wieder. Er tut es ebenfalls 
im Hinblick auf das Assingsche Buch 
und kann es dabei nicht unterlassen, 
„vor der Einseitigkeit der Darstellung 
in diesem, übrigens mit Begeisterung 
für die schönen Eigenschaften der un¬ 
gewöhnlichen Frau geschriebenen Buche 
zu warnen“. 8 ) 

2 . 

Die Frau, die im Leben von zwei der 
besten deutschen Männer eine so große 
Rolle gespielt hat, war keine Deutsche 
von Geburt, sondern stammte aus Däne¬ 
mark, das ja auch für das Leben ande¬ 
rer deutscher Dichter, wie Klopstock, 
Schiller, Hebbel, so bedeutungsvoll war. 

Elise Davidia Margarete Gräfin von 
Ahlefeldt-Laurwig war im Jahre 1788 4 ) 
im väterlichen Schlosse Trannkijör auf 
Langeland von einer holsteinischen Mut¬ 
ter geboren. Körperliche und geistige 
Vorzüge hatten sie früh zu einer höchst 
liebenswerten Erscheinung gemacht, 
und bis an ihr Ende flogen der Viel¬ 
geliebten die Herzen geradezu be- 

3) Varohagen, der freilich nicht unbefan¬ 
gen ist, empfiehlt das Buch seiner Nichte 
seinem Freunde Justinus Kerner mit den 
Worten: »Wie von treuer Liebe war sie 
dabei zugleich von strenger Wahrhaftigkeit 
geleitet, jeder Zug des Gemäldes kann, wie 
ich bezeuge, genau belegt werden.“ (J. Ker¬ 
ners Briefwechsel mit seinen Freunden II491. 
Stuttgart u. Leipzig 1897.) Dagegen erklärt 
Rieh. Fellner (Geschichte einer deutschen 
MusterbQhne, S. 99, Stuttgart 1888): »Dieses 
Buch ist durchwegs nicht von Wahrheitsliebe, 
sondern von unmaßgeblicher Sympathie und 
naiver, schwärmerischer Kindlichkeit dik¬ 
tiert“, und Immermanns Enkel Johannes 
Geffcken nennt das Assingsche Buch schlecht¬ 
weg ein albernes (K. Immermann, Gedächt¬ 
nisschrift 217. Hamburg u. Leipzig 1896). 

4) So nach Putlitz I 91; L. Assing gibt das 
Jahr 1790 als Geburtsjahr an. 


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107 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 108 


geistert zu. Ohne Geschwister aufwach' 
send, sah sie sich schon als Kind viel 
auf sich selbst und ein von ihrer sehr 
lebhaften Phantasie beherrschtes Innen¬ 
leben angewiesen. Ihre ausgezeichnete 
deutsche Erzieherin übte einen Einfluß 
auf sie aus, der ihre Jugendjahre lange 
überdauerte. Getrübt wurde diese 
glückliche Zeit dadurch, daß der leicht¬ 
sinnige und herrische Vater, der übri¬ 
gens am dänischen Hofe als Freund Kö¬ 
nig Friedrichs VI. eine sehr einflu߬ 
reiche Persönlichkeit war, seine Neigung 
von der edlen und schönen Gattin un¬ 
würdigen Geliebten zuwandte, so daß- 
die tiefgekränkte unglückliche Gräfin 
ihr Leben mit der Tochter zusammen 
meist auf einem einsamen Gute oder auf 
Reisen zubrachte. Entscheidend für Eli¬ 
sens Leben wurde 1808 der Aufenthalt im 
Bade Nenndorf. Hier trat ihr huldigend 
der damals sechsundzwanzigjährigeFrei- 
herr Adolf v. Lützow entgegen. Schon 
mit dreizehn Jahren in die preußische 
Garde eingetreten, hatte der märkische 
Edelmann 1806 bei Auerstädt mitgefoch- 
ten. Nach der Auflösung seines Regi¬ 
ments hatte er sich dem Schillschen 
Korps in Kolberg angeschlossen und 
dessen Reiterei organisiert. In der 
Schlacht bei Stargard verwundet, hatte 
er als Major seinen Abschied genommen 
und sich zur Ausheilung nach Nenndorf 
begeben. 

Obwohl an sich keineswegs eine hin¬ 
reißende Erscheinung und für die reiche 
dänische Erbin, der schon mehrere Be¬ 
werber genaht waren, nichts weniger als 
eine gute Partie, machte der charakter¬ 
volle Mann und bewährte Offizier, des¬ 
sen Brust schon der Orden pour le m6- 
rite zierte, doch einen starken Eindruck 
auf Elise. Die romantisch Veranlagte 
liebte ihn, „weil er Gefahr bestand“, wie 
Desdemona den Mohren. Seine vater¬ 
ländische Begeisterung riß das für alles 


Große so empfängliche Mädchen, dessen 
geistige Heimat Deutschland war, mit 
und machte sie seinen feurigen Werbun¬ 
gen geneigt Daß es nicht eigentlich eine 
tiefere persönliche Liebe war, was sie 
zu ihm zog, kam ihr damals wohl kaum 
zum Bewußtsein. Ihr Vater wollte von 
einer Verbindung durchaus nichts wis¬ 
sen, aber allen Widerständen zum Trotz 
wurden die beiden 1810 ein Paar. Im 
glorreichen Jahre 1813 spielte dann 
Elise an der Seite des tapferen Freischa¬ 
renführers die schöne Rolle, die Immer¬ 
manns „Epigonen“ 5 ) der edlen Johanna 
zuweisen; sie war die Seele und die 
Muse der schwarzen Jäger, dieser „Poe¬ 
sie des Heeres“, wie Immermann ein¬ 
mal die Lützower nennt. In Lützows 
häufiger Abwesenheit warb sie selbst 
in Breslau die Freiwilligen an. Johanna 
nennt diese Zeit „die hohe Brautwoche, 
der süße Honigmonat meines Lebens“. 
„Wir zogen... auf eine Zeitlang nach der 
großen Stadt, welche der Herd des hei¬ 
ligen Feuers war... Welche Tagei 
Welche Gefühle!... Mein Mädchenherz 
wollte mir oft die Brust zersprengen, 
wenn ich bis Mitternacht ja bis an 
den frühen Morgen die Binden Zu¬ 
schnitt welche das Blut der Wunden 
hemmen sollten. Ich weinte, daß mein 
Vater reich war, daß ich nicht auch 
mich genötigt sah, mein Haupthaar auf 
dem Altäre der allgemeinen Begeiste¬ 
rung zu opfern.“ Körner, Jahn, Schen- 
kendorf und namentlich Friedrich Frie¬ 
sen huldigten Elisen, die ihren Gat¬ 
ten auf seinen Zügen nach Möglichkeit 
begleitete, den oft Verwundeten getreu¬ 
lich pflegte. Bei Belle-Alliance war 
auch Immermann unter den Mitkämp¬ 
fern, aber noch erfuhren die beiden 
nichts voneinander. 

/ 5) Vgl. Bd. 3, S. 410ff. meiner Immermann- 
Ausgabe nebst Kommentar am Schlüsse des 
Bandes. 


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109 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns HO 


Im Jahre 1817 wurde Lützow als 
Brigadegeneral nach Münster versetzt 
Wie alle Welt fand sich auch das 
Lützowsche Ehepaar nach den hoch* 
gestimmten Aufregungen der Befrei¬ 
ungskriege, die gerade in ihr Le¬ 
ben einen fast abenteuerlichen Zug ge¬ 
bracht hatten, im gewöhnlichen All¬ 
tagsdasein schwer zurecht. Den Gat¬ 
ten verließ der jugendliche Schwung, 
und ihrer bemächtigte sich mehr und 
mehr ein Gefühl der Leere, der Unbe¬ 
friedigung, zumal da dieser Ehe das 
Glück der Kinder versagt blieb. Ge¬ 
rade wie den Dichter Immermann be¬ 
drückte die Nüchternheit der stock¬ 
katholischen Kleinstadt die phantasie- 
volle, nach geistigem Austausch 
schmachtende Frau, um so mehr, als 
ihr Gemahl, der im Garnisonseinerlei 
sich unbehaglich fühlende Reitersmann, 
zwar vornehm und ritterlich, gutmütig 
und brav, aber tieferer Bildung und 
höherer Bedürfnisse bar war. Nur aus 
Höflichkeit nahm er, der seiner Gattin 
jede Rücksicht gewährte und alle Frei¬ 
heit einräumte, an den ästhetischen Zir¬ 
keln teil, die ihr großes geselliges Ta¬ 
lent denn doch schließlich um sich zu 
sammeln verstand. 

Zu den häufigsten, beliebtesten und 
geehrtesten Gästen des Lützowschen 
Hauses gehörte bald der schon vom 
Ruhm berührte junge Dichter, der seit 
Ende 1819, damals dreiundzwanzigjäh- 
rig, als Vortragender Auditeur bei dem 
Generalkommando in Münster tätig war 
und seit 1821 die Generalin in ihren Ver¬ 
mögensangelegenheiten juristisch be¬ 
riet. Der geistvolle Gesellschafter und 
glänzende Vorleser fremder und eigener 
Dichtungen erregte mehr und mehr den 
Anteil der für Poesie so empfänglichen 
Frau und fand bei ihr, was er so 
schmerzlich vermißt hatte, ein be¬ 
glückendes Eingehen auf seine dichte¬ 


rischen Werke, auf seine reifenden 
Pläne. 

Immermanns Verhältnis zu Frau 
v. Lützow blieb lange freundschaftlich 
unbefangen, war es auch noch, als er 
einmal an seinen Bruder schrieb: „Ich 
war drauf und dran, den dümmsten 
Streich in meinem Leben zu machen 
und mich in eine Frau zu vergaffen 
und so mutwillig das schöne geistige 
Verhältnis zu zerstören, welches ein 
edles Weib mit Vertrauen zu bilden im 
Sinne hat." 6 ) 

Elise war nicht gerade schön, aber 
überaus anziehend. Ein Bild der Acht- 
undzwanzigjährigen zeigt kühle, etwas 
resigniert blickende Augen, die vom 
sanftesten Blau waren, und einen zier¬ 
lich geschwellten Mund ^reiches Blond¬ 
haar krönte ihr feines, schmales Ge¬ 
sicht. Immermann preist in einem Brief 
an sie ihre Anmut und Würde. Sie 
hatte nichts äußerlich Blendendes und 
Anspruchsvolles, sondern zeigte, eine 
Frau des Maßes, vornehme Zurückhal¬ 
tung, war aber klug und fein begabt, 
sicher und selbständig in ihrem Urteil, 
dazu von Herzensgüte und nicht ohne 
Energie. Übrigens gilt auch von ihr, 
was Herman Grimm von Charlotte 
v. Stein sagt: „Wir gewinnen kein Bild 
von ihr für unsere Phantasie, das Gei¬ 
stige tritt zu sehr hervor bei ihr." Bald 
fesselte sie nicht nur den Dichter, son¬ 
dern auch den Mann, der, nach Liebe 
verlangend, bis dahin nur unglückliche 
Erfahrungen mit dem weiblichen Ge¬ 
schlecht gemacht hatte. „Die Gräfin 
liebte ich tief und innig, als sie mit 
ihren Flammen mich entzündet hatte," 
bekannte Immermann nachmals. 7 ) 

Das Gefährlichste an ihr und für sie 
selbst war wohl — wovon bei ihrer 
Biographin freilich nichts zu lesen ist 
— ein gewi sses Mißverhältnis zum rea- 

6) Putlitz I 90. 7) Putlitz II 290. 


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111 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 112 


len Leben, ein Überträgen des Phan¬ 
tastischen auf die Wirklichkeit Sie 
hat mein dies von den schönen Seelen 
des achtzehnten Jahrhunderts an sich, 
erinnert z. B., auch in ihrem äußeren 
Geschick, an Schillers Freundin Char¬ 
lotte v. Kalb, die die Freigeisterei der 
Leidenschaft nicht nur selbst vertrat 
sondern vorübergehend auch in ihm 
erweckte. Nicht minder nahe steht sie 
den Jean Paulschen Titaniden und 
dem Typus der auf Emanzipation be¬ 
dachten romantischen Frau. 

Es gab vieles, was geeignet war, Im¬ 
mermann und Frau v. Lützow zuein¬ 
ander zu treiben. Wie er, fühlte sie sich 
einsam; beiden fehlte der höhere Le¬ 
bensinhalt beide seufzten unter der 
kahlen Alltäglichkeit ihres an geistigen 
Anregungen armen Lebens. Den Dich¬ 
ter beseelte ein leidenschaftlicher Hang, 
bei edlen Frauen anzufragen; zumal 
Elisens Vornehmheit zog den gesell¬ 
schaftlich noch Ungewandten und zum 
Linkischen neigenden starken Mann zu 
der feinen, zarten Dame; selbst daß sie 
um acht Jahre älter war als er, schien 
nur ein Reiz mehr. Der junge Dichter 
verlangte nach einer Muse, die feinsin¬ 
nige Frau nach einem talentvollen 
Schützling, und bald konnten sich beide 
wie Tasso und Leonore von Este Vor¬ 
kommen. Als Immermann die gefähr¬ 
liche Rolle des Trösters einer unver¬ 
standenen Gattin übernahm, waren 
beide auf dem bedenklichen Punkte de¬ 
rer, die, wie es im „Götz" heißt durch 
Liebesunglück gebeizt sind. Im geisti¬ 
gen Geben und Empfangen fanden sich 
auch die Seelen und die Herzen. 

Im Frühjahr 1823 übersandte Immer¬ 
mann seinem Freunde Abeken 8 ) eine 
eigene (uns nicht erhaltene) Überset¬ 
zung der berühmten Stelle aus dem 
fünften Ge sänge des Danteschen „In- 

8) .Hannoverland“, Jahrg. 1900, S. 232. 


femo“, die von der unseligen Leiden¬ 
schaft zwischen Paolo und Franceska 
kündet Es war ein ähnliches Verhält¬ 
nis, das Immermann und seine Freun¬ 
din verband. Auch hier fehlte sogar 
der kupplerische „Lanzelot“ nicht;nach¬ 
dem sie seine Lehrerin im Englischen 
geworden war, begannen sie eine ge¬ 
meinsame Übersetzung von Walter 
Scotts „Ivanhoe“: auch dies eines der 
vielen erlebten Motive, die später in 
die „Epigonen“ übergingen. 9 ) Immer¬ 
mann empfand, was Byrons Don Juan 
schildert: 

Lust muß es sein, zu lernen fremde Zungen 
Aus Frauenmund und Augen, sollt’ ich 

meinen, 

Wenn Lehrer, Schüler Jugendlich durch¬ 
drungen; 

Mir mind’stens wollt’ es früher so erscheinen. 
Sie lächeln, wenn es einem recht gelungen, 
War’s falsch, noch mehr; dabei kann leicht 

sich einen 

Ein Händedruck, ein leicht verstohlner Kuß— 
So lernt’ ich selbst mein Bißchen mit Genuß. 

Auch hier kam ein Tag, an dem sie 
nicht weiterlasen und die zarte Grenze 
überschritten, doch ohne etwa die vor 
ihnen gähnende Kluft in ihrer ganzen 
Tiefe auszumessen. 

Der würdige Konsistorialrat Kohl¬ 
rausch 10 ) berichtet uns: „Für un¬ 
sere Augen, die wir in fast ununter¬ 
brochenem Umgänge mit dem Lützow- 
schen Hause lebten, blieb das Ungenü¬ 
gende der ehelichen Verhältnisse und 
die Aufmerksamkeit, die Immermann 
der Frau v. Lützow und diese ihm 
schenkte, nicht verborgen, allein beides 
hielt sich in solchen Grenzen des An¬ 
standes und der Sitte, daß wir zwar 
den ganzen Zustand der, übrigens so 
achtungswerten, Menschen bedauerten, 
allein gar keinen Anlaß finden konnten, 
weder warnend dazwischenzutreten, 

9) Vgl. Bd. 3, S. 153 meiner Ausgabe. 

10) A. a. O. 211 f. 


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113 H.Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 114 


noch uns aus dem Umgänge zurückzu¬ 
ziehen. LQtzow behandelte seine Ge¬ 
mahlin mit der größten Achtung, und 
sie wiederum vergaß nie die Pflichten 
der Gattin, die sie rücksichtsvoll gegen 
ihn übte, und ebenso beobachtete Im¬ 
mermann den bescheidensten Anstand 
in dem geselligen Zusammensein, so 
daß ein Anstoß in dieser Beziehung 
niemals eintrat,“ 

Die Ehe wurde nicht erst gebrochen, 
sie war schon lange in sich gebrochen; 
des Dichters Hinzutreten war nicht ei¬ 
gentlich die innere Ursache, sondern 
mehr nur die äußere Veranlassung ih¬ 
res Zerfalls, den übrigens keiner der 
Gatten tragisch nahm und aufzuhalten 
bemüht war. In aller Ruhe und Freund¬ 
schaft beschloß das Ehepaar die Schei¬ 
dung. Ludmilla Assing sucht nachzu¬ 
weisen, daß der Gedanke von Lützow 
ausging, und daß die Ursache in seiner 
Neigung zu einer koketten, reichen 
Dame lag, die er zu heiraten wünschte. 
Dagegen erwägt sie nicht einmal die 
Möglichkeit, daß des Dichters Verhält¬ 
nis zur Generalin mitgewirkt haben 
könne. Demgegenüber versichert Kohl¬ 
rausch, ausdrücklich gegen L. Assings 
konstruierte Darstellung Einspruch er¬ 
hebend, daß von einem solchen Liebes¬ 
verhältnis Lützows, das doch unter sei¬ 
nen Augen stattgefunden haben müßte, 
auch „nicht die geringste Spur“ zu sei¬ 
ner oder seiner Frau Kenntnis gekom¬ 
men sei. 11 ) Und die doch gerade in 
diesem Punkte gewiß imverdächtige 
Quelle des Putlitzschen Buches spricht 
unumwunden das „schwere Wort“ aus, 
daß die Leidenschaft zwischen Immer- 
mann und der Generalin es war, die 
später „die Trennung der Lützowschen 
Hie herbeiführte“. 1 *) Sie kam erst im 
April 1825 zustande, mit aller Leichtig¬ 
keit der sit tlich so laxen Zeit. Die für 

11) Kohlrausch 213. 12) Putlitz I 95. 


unser Empfinden mehr als fadenschei¬ 
nigen „Gründe“ des Scheidungserkennt¬ 
nisses lauteten nach L. Assings Be¬ 
richt: „Obgleich diese Ehe anfangs 
glücklich war, so ward doch der ehe¬ 
liche Friede späterhin durch verschie¬ 
dene Ansicht von der Welt und dem 
menschlichen Leben gestört. — Keinem 
Teil ist ein Übergewicht der Schuld 
beizulegen. Beiden Teilen ist die Wie¬ 
derverheiratung in unverbotenen Gra¬ 
den gestattet." 1S ) Die geschiedenen Ehe¬ 
leute sind, ähnlich wie Fürst Pückler- 
Muskau mit der Tochter Hardenbergs, 
dauernd im herzlichsten Briefwechsel 
geblieben und haben sich wiederge¬ 
sehen; auch hat Lützow dem Dichter 
nicht nur keine Vorwürfe gemacht, son¬ 
dern freundschaftlich weiter mit ihm 
verkehrt, ja ihm die Eheschließung mit 
seiner Frau, die Immermann alsbald 
ins Auge faßte, sogar zu erleichtern ge¬ 
sucht 

Der Dichter vermochte alle diese 
Entscheidungen nicht in Münster ab¬ 
zuwarten und mitzuerleben; ergreifend 
ist die Herzensangst mit der er wieder¬ 
holt von dem „fürchterlich schönen La¬ 
byrinth" spricht, in das er geraten 
sei. 14 ) Er kam um seine Versetzung 
ein; sicher auch in der Annahme, Frau 
v. Lützow an einem anderen Orte leich¬ 
ter zur Heirat mit sich zu bewegen. Im 
Herbst 1823 erfolgte seine Ernennung 
zum Kriminalrichter in Magdeburg, im 
Januar des folgenden Jahres trat er die 
neue Stelle in der Vaterstadt an. 

3. 

Wie hatte Immermann sich nach Ver¬ 
gessen, nach Ausruhen am treuen Mutter¬ 
herzen gesehnt 1 Aber sein zerspaltenes 
Herz lebte nach wie vor sein eigentliches 
Leben im fernen .Münsterlande, und 
gleich am ersten Abend erschütterte 

13) Assing 103f. 14) Putlitz I 102. 


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115 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LOtzows und Immermanns US 


der leidenschaftlich Erregte die treuen 
Angehörigen durch einen Ausbruch sei- 
nes bekümmerten Gefühls. Er - stürzte 
sich in eine Fülle verschiedenster Ar¬ 
beit, sein strenges Pflichtgefühl suchte 
in „schwerer Dienste täglicher Bewah¬ 
rung“ den besten aller Auswege aus 
Seelennot zu finden. Aber immer deut¬ 
licher erkannte er und erkannten seine 
treu und verständnisvoll zu ihm stehen¬ 
den Nächsten, die Mutter und Bruder 
Ferdinand, daß er Elisen nicht einfach 
vergessen und aus seinem Leben strei¬ 
chen könne, daß sie vielmehr immer 
entschiedener in den Mittelpunkt seines 
Daseins rücke. Wir besitzen aus der 
kurzen Zeit vom 1. Februar bis zum 
24. Juli 1824 achtzehn Briefe des „treuen 
Freundes“ an die „liebe Freundin“. 15 ) 
Sie sprechen sein herzliches Bedürfnis 
aus, mit der geliebten Frau „in bestän¬ 
diger naher Verbindung zu bleiben“. 
Es sind keine Dichter-Liebesbriefe, wie 
sie Goethe an Frau v. Stein oder Lenau 
an Sophie Löwenthal geschrieben hat, 
und der Gatte, an den Immermann oft 
beste Empfehlungen und Danksagun¬ 
gen „für alle erwiesene Gewogenheit“ 
einflicht konnte sie unbedenklich mit¬ 
lesen. Sie enthalten keine leidenschaft¬ 
lichen Beteuerungen und glühenden Wer¬ 
bungen, zeigen im Gegenteil große Zu¬ 
rückhaltung, atmen aber aufrichtige 
Verehrung und bescheidene Huldigung. 
Der Nachdruck liegt auf der Beibehal¬ 
tung der geistigen Lebensgemeinschaft. 
Vor allem sucht er sie in tagebucharti- 
gen Berichten an seinem eigenen Le¬ 
ben teilnehmen zu lassen. Er macht sie 
mit Mutter und Brüdern bekannter, hält 
sie auf dem laufenden hinsichtlich sei¬ 
ner Amtsgeschäfte und seiner sonstigen 
Arbeiten, seiner Lektüre und seiner 
Theatereindrücke. Mit Wärme geht er 
anderseits auf die kleinen Münsterer 
15) Assing 520ff. 


Erlebnisse der Freundin ein, deren Ge¬ 
genbriefe uns nicht vorliegen. Er ver¬ 
gleicht diese mit ölblättern, die ihm 
in seiner abgeschlossenen Arche Noä 
Zeugnis ablegen, daß es noch grüne 
Stellen des Lebens gebe. In jeder Be¬ 
ziehung bekennt er durch die Tren¬ 
nung zuviel verloren zu haben, als daß 
er vergnügt sein dürfte; „Neigung und 
Dank wandern beständig in die Ferne, 
da kann man freilich in der Nähe und 
Gegenwart nicht zu Hause sein“. Er 
bittet die Freundin herzlich, ihm, wie 
früher, ihr volles Vertrauen zu schen¬ 
ken: „Ich hoffe es zu verdienen und 
glaube Ihnen sagen zu können, daß 
meine Gesinnung sich Ihnen in jeder 
Lage des Lebens bewähren wird; daß 
es keinen Dienst gibt, den ich Ihnen 
nicht mit Freuden leisten kann, keine 
Treue, welche mein Gemüt Ihnen nicht 
bewahrt.“ So klingen, trotz aller offen¬ 
bar durch ihren Ton bestimmten Ver¬ 
haltenheit, seine Wünsche und Hoff¬ 
nungen überall durch. Er erzählt von 
den Seinigen, von der Vaterstadt und 
seiner Lebensführung doch in dem er¬ 
kennbaren Bestreben, die wurzellos ge¬ 
wordene Freundin in Magdeburg zu¬ 
nächst geistig heimisch zu machen, ihr 
die Stadt als ein Asyl hinzustellen, in 
dem sie freudig erwartet werde. Sie 
aber verhielt sich zurückhaltend. In 
Münster, berichtet Immermann später 
rückschauend seiner Braut hätte Elise 
eingewilligt, nach der Scheidung seine 
Gattin zu werden. „Sobald ich aber in 
Magdeburg war, fiel sie in die frühere 
Ablehnung zurück. Es entspann sich 
ein traurig hinüber und herüber kämp¬ 
fender Briefwechsel, der endlich zu der 
Erklärung meinerseits führte, sie müsse 
sich äußerlich zu mir stellen, wie sie 
innerlich zu mir stehe, oder unser gan¬ 
zes Verhältnis müsse überhaupt auf¬ 
hören. Es erfolgte ihre Antwort, die 


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U7 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns H8 


alles Folgende einleitete. Sie schrieb 
mir, heiraten könne sie mich nicht, die 
Trennung von Lützow müsse der letzte 
Schritt sein, der sie, wie sie sich aus* 
drückte, ,der Welt bloßstelle*. .Sie 
wolle dann 4 , wie sie sich ebenfall aus* 
drückte, .mit mir nur ihren Gefühlen 
leben. Ob ich damit zufrieden sei 1 ? 18 ) 
Hat sich Immermann damals wohl 
wirklich ein so entscheidendes Ultima* 
tum an die leidenschaftlich Geliebte 
abringen können? Die Annahme ihres 
Entschlusses beklagte er später jeden¬ 
falls als seinen „großen Fehltritt“. Al¬ 
lerdings beruhte sie auf seinem Glau¬ 
ben, Elise „werde bei dem seltsamen 
Entschlüsse nicht verharren, es werde 
ihr, wenn sie nur erst zur Ruhe und 
Besinnung gekommen sein werde, der 
Platz einer Frau an meiner Seite wün¬ 
schenswerter sein, als der von ihr be- 
zeichnete“. 17 ) 

Im August begab sich Frau v. Lützow 
von Münster aus zunächst nach Dres¬ 
den. Hier lebte sie im Hause der ihr 
befreundeten Witwe des romantischen 
Philosophen Solger und wurde von die¬ 
ser auch Tieck und seinem Kreise zu¬ 
geführt. In Halle hatte sie ein Zusam¬ 
mentreffen mit Immermann. „Nach 
einem erschütternden Wiedersehen 
brachten beide einige stürmische Tage 
in dem vergeblichen Bemühen zu, sich 
über ihre Zukunft zu verständigen. Es 
ward kein entscheidender Entschluß ge¬ 
faßt, und das Verhältnis spann sich in 
einem aufreibenden schriftlichen Ver¬ 
kehr verzehrend weiter." So berichtet 
Putlitz. 18 ) 

Den tiefsten menschlichen und künst¬ 
lerischen Ausdruck fand diese Lebens¬ 
krise, die schon in Immermanns „Pe- 
trarca“-Drama hineingespielt hatte, in 
seinem Tra uerspiel „Cardenio und 

16) Putlitz I 99. 17) Ebenda. 

18) A a. O. I 136. 


Celinde“, das, in der Münsterischen 
Zeit wurzelnd, in diesem Winter 
1824/25 in Magdeburg entstand. Das 
letzte der großen Immerrnannschen 
Jugenddramen ist zugleich sein bestes. 
Der tiefere Seelengehalt, aus stürmi¬ 
schen Herzenswirren herausgeboren, 
und eine vertiefte Kunsteinsicht, in 
praktischer wie theoretischer Arbeit her¬ 
angereift, haben daran gleichen Anteil. 
„Cardenio und Celinde“ ist in erfreu¬ 
lichem Gegensätze zu den früheren, 
allzu rasch abgestoßenen Dramen ein 
ausgetragenes Werk, ein Stoff, um den 
Immermann wirklich innerlich gerun¬ 
gen hat Hier ist er nicht mehr der 
bloße Gestaltungsdichter, sondern vor 
allem auch Ausdrucksdichter. Das Drama 
wurde ihm ein Gefäß, das sein ganzes 
Sein in sich aufnahm, nicht mehr nur 
einzelne Tropfen seines Herzblutes. Ein 
großes reines Kunstwerk freilich konnte 
es nicht werden, da sein Dichter noch 
der menschlichen Läuterung entbehrte. 
Ganz äußerlich nur läßt sich Immer- 
manns Leidenschaft zu der Frau eines 
anderen mit Richard Wagners Verhält¬ 
nis zu Mathilde Wesendonk verglei¬ 
chen, und ganz äußerlich nur entspre¬ 
chen sich bei beiden „Cardenio und 
Celinde“ und „Tristan und Isolde“. Der 
„Tristan“ ist reinste, von jedem pein¬ 
lichen Erdenrest befreite Kunst, weil 
sein Schöpfer sich als Mensch zurecht- 
gefunden hatte, als er seinem Herzens- 
erlebnis symbolischen Ausdruck gab. 
„Die letzten Entscheidungen zwischen 
uns“, schreibt er an Mathilde 19 ), „ha¬ 
ben mich zu dem klaren Bewußtsein 
gebracht, daß ich eben nichts mehr zu 
suchen, nichts mehr zu ersehnen habe. 
Nach der Fülle, in der Du Dich mir 
gegeben hast, kann ich das nun nicht 
Resignation nennen, am allerwenigsten 
Verzweiflung. Diese verwegene Stim- 
19) Brief vom 12 . Oktober 1858. 


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mung stand mir früher als Ausgang 
meines Suchens und Sehnens gegen¬ 
über: von ihrer Notwendigkeit bin ich 
aber, durch Dich tief beglückt, erlöst. 
Mir ist das Gefühl einer heiligen Sätti¬ 
gung zu eigen. Der Drang ist ertötet, 
weil er vollkommen befriedigt ist. — 
Von diesem Bewußtsein beseelt, blicke 
ich nun von neuem in die Welt, die mir 
somit in einem ganz neuen Lichte auf¬ 
geht.“ Immermann, der Ungesättigte, 
stand dem Entschluß zur Entsagung 
als einer freien sittlichen Tat sehr fern; 
es gärt in seinem Herzen, und es gärt 
in seinem Werke. 

Wie stark der persönliche Gehalt des 
Immermannschen Dramas ist, das zei¬ 
gen besonders die letzte Szene des drit¬ 
ten und die erste des vierten Aufzugs, 
die beiden Gespräche, in denen Car- 
denio die Geliebte vergeblich zur Ehe 
zu gewinnen sucht Celinde wiederholt 
leidenschaftlich: „Ich sage nein zu 
allem, was nicht stimmt zu meinem 
Wesen“ und verweigert die Ehe voll 
Abscheu: 

WeU ich nicht bin geschaffen, Vettern, Basen 
Mein inniges Geheimnis zu verraten. 

Weil Neigung welkt am grellen Tageslicht, 
Weil ich vor Scham mOBt’ in die Erde sinken, 
Trät’ ich mit dir zum Altar, tauschte Ringe. 
Ich liebe dich, du weißt von ganzem Herzen; 
Allein dein Ehweib werd' ich nimmermehr. 
Die Eh’ ist mir verhaßt; sie deckt mit Schatten 
Des Lebens sonnenhellsten Garten zu. 

Die Dichter fabeln viel von Dolch und Gift 
Als Feinden zarter Liebe; sie vergessen 
Die schlimmste Feindin stets, die Heirat 

drüber. 

Jedwedes Schönen kläglich Trauerspiel. 

Sie will unter allen Umständen ihre 
persönliche Freiheit auch dem gelieb- 
testen Manne gegenüber, behaupten. 
Vergebens versichert ihr Cardenio, 
diese Anschauung komme nicht aus 
ihr selbst sondern sei ihr „nur so ein¬ 
gesprochen von gelehrten Schmeckern, 
die ihre Falschheit und verkehrte Lust 


mit Blumen überdeckten“. So spricht 
der Antiromantiker Immermann mit der 
Romantikerin Elise und muß schließlich 
doch mit Cardenio tiefbekümmert fest¬ 
stellen : 

Ein tiefer Zwiespalt liegt in unserm Sinn; 
Das HeUigste, das Würdigste in mir 
Ist leider ein verschloßnes Kleinod dir. 

Die Scheidung der Lützowschen Ehe 
war ausgesprochen. Innerlich fühlte sich 
Elise zu Immermann gehörig und sei¬ 
nen Bitten nachgebend, verlegte sie, 
nachdem sie im Hinblick auf ihre an¬ 
gegriffene Gesundheit eine Badereise 
unternommen hatte, im September ihren 
Wohnsitz nach Magdeburg. Im Oktober 
machte sie mit dem Dichter zusammen 
eine kleine Harzreise und zog darauf 
ganz und gar in das Haus seiner Mut¬ 
ter, die in ihr schon die künftige 
Schwiegertochter sah. Glückselig ge¬ 
noß Immermann anfangs die Nähe der 
geliebten Frau, doch auf die Länge 
blieb es nicht verborgen, daß sie sich 
zu dem so sehnlich erhofften Schritt 
des neuen Ehebundes nicht verstehen 
wolle, und so griff im Verkehr aller 
Beteiligten denn doch bald wieder 
Zwang und Pein Platz. 

Im Dezember 1826 erhielt Immer¬ 
mann die Ernennung zum Landgerichts¬ 
rat in Düsseldorf, und im März des 
folgenden Jahres siedelte er in seinen 
neuen Wirkungskreis über. So schwer 
er von Mutter und Bruder schied, die er 
fortan nur bei kurzen Besuchen wieder¬ 
sah, er vertauschte gern die unroman¬ 
tische Elbe und ihre geistig unregsamen 
Anwohner mit dem heiteren Rhein und 
seinem frischen Leben. Wieder be¬ 
stürmte Immermann Elisen, ihm als 
Gattin zu folgen; sie widerstand aber¬ 
mals. Audi Lützow, „der sich mit dem 
seltensten Edelmute in dieser Sache be¬ 
nahm, wünschte diesen Ausweg auf das 
eifrigste, sein Vertrauter Schl.... war 


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der Dolmetsch seiner Wünsche und Ge¬ 
sinnungen“. So lesen wir bei Putlitz 20 ) 
in Immermanns späteren Berichten an 
Marianne. Der genannte Vertraute war 
des Generals Adjutant, der Rittmeister 
Schlüsser. Vor einigen Jahren ist ein 
Brief Immermanns an diesen aufge¬ 
taucht, der uns näher unterrichtet 21 ) 
In der Meinung, die Eheschließung 
werde nur durch Immermanns derzei¬ 
tig noch zu geringe Einnahmen verhin¬ 
dert, ließ Lützow dem Dichter einen 
jährlichen Zuschuß anbieten. Immer¬ 
mann, der ja wußte, daß die Gegen- 
grflnde von Elisens Seite lediglich 
innerlicher Natur waren, lehnte ab und 
verwies auf eine spätere Zeit, da er 
selbst in der Lage sein werde, der Ge¬ 
liebten ein standesgemäßes Dasein an 
seiner Seite zu bieten: „habe ich dieses 
Ziel erreicht, so werde ich mit der¬ 
selben Festigkeit, womit ich mich jetzt 
gegen voreilige Handlungen setzen 
muß, versuchen, ihre Bedenken zu 
heben, die Sache ihr aus dem richtigen 
Gesichtspunkte zu zeigen, und sie bit¬ 
ten, einen Entschluß zu fassen, der uns 
alle endlich beruhigt Sie ist gut sie ist 
vernünftig, ich darf hoffen, daß Grillen 
das gesunde Gefühl nicht überwältigen 
werden. Bis dahin ist es meine Pflicht, 
sie zu schonen, und entsagend dem, 
was mir das Glück des Lebens dünkt, 
ihr Freund zu sein.“ 

Nach Ludmilla Assings Angabe er¬ 
klärte sich Frau v. Lützow nur unter 
der Bedingung bereit dem Dichter nach 
Düsseldorf zu folgen und auch ferner 
sein Leben zu teilen, daß sie beide sich 

20) A. a. O. I 99. 

21) Vgl. Katalog Martin Breslauer Nr. 2: 
. Autographen und Historische Dokumente": 
Nr. 110 (mit Auszug); und dazu: Deutsche 
Literaturzeitung Jahrg. 1907, Spalte 355. Fer¬ 
ner Hassencamp in den Beiträgen zur Ge¬ 
schichte des Niederrheins XI10. Dasseldorf 
1807. 


gelobten, keiner wolle je eine andere 
Heirat eingehen. Dürfen wir dieser An¬ 
gabe der parteiischen Biographin Glau¬ 
ben schenken? In Immermanns spä¬ 
teren rückhaltlosen Darlegungen edler 
dieser Verhältnisse findet sich kein 
Wort davon, auffallenderweise aber 
wird diese Angabe auch bei Putlitz 
nicht widerlegt oder bestritten, indessen 
das Assingsche berichtigendem Buch 
wir überhaupt einige Ausführungen un¬ 
zweideutiger wünschten. Jedenfalls ist 
so viel klar: ein solches Versprechen 
hätte Elise nie fordern, Immermann 
nie geben dürfen, denn es lag in der 
Natur der Dinge, daß die alternde Frau 
einst dasselbe harte, aber menschliche 
Los erleiden werde wie Charlotte 
v. Stein. Der Hauptanteil an dieser Schuld 
und ihren Folgen fällt ihr, der reiferen, 
zu. Gewiß waren es nicht Standesvor¬ 
urteile oder bloßer Eigensinn, daß sie 
dem Freunde die Ehe versagte. „Ihr 
Grund war," schreibt Immermann nach 
der späteren Trennung an seinen 
Freund Schnaase, „daß sie durch die 
Heirat unrettbar mit ihrer Familie zer¬ 
fallen werde. Nun kennst Du ihre zarte 
Treue gegen alles ihr Liebgewesene, 
und so muß ich sagen, daß jene ver¬ 
hängnisvolle Entsagung nur unüber¬ 
windlichen Schranken ihres Wesens 
entsprungen ist“ 22 ) Sie wollte es nicht 
darauf ankommen lassen, sich zum 
zweiten Male zu einer Scheidung ge¬ 
zwungen zu sehen. 23 ) Auch daß sie 
erheblich älter war als er, war für sie 
schwerlich entscheidend; in den mei¬ 
sten Romantiker-Ehen war ja der Mann 

22) J. Kloevekom, Immermanns Verhält¬ 
nis zum deutschen Altertum 60f. Münster 
1907. 

23) .Oft sagte sie, sie wQrde keiner Frau 
raten, sich scheiden zu lassen, und wenn sie 
auch noch so viel zu erdulden habe." So 
berichtet L. Assing (S. 192) aus Elisens alten 
Tagen. 


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der jüngere, und eine der ganzen ro- 
mantisch-emanzipierten Zeit zur Last 
fallende Auffassung, die in der Ehe das 
Widerspiel der Poesie und den Tod der 
wahren Liebe zu erblicken meinte, 
sprach doch wohl vor allem mit. Wie 
oft stoßen wir in romantischen Lebens¬ 
läufen auf solche Anschauungen! So 
versagte sich ja auch die geschiedene 
Sophie Mereau dem herzlich und un¬ 
ermüdlich andringenden Flehen Bren¬ 
tanos, ihr Verhältnis zur Ehe zu er¬ 
heben , so lange mit unverhohlenem 
Widerwillen, bis die Natur selbst ihr 
Machtwort sprach. Der romantisch 
schlaffe Brentano schrie nach der heili¬ 
gen Ordnung der Ehe, weil er, vom 
Dämon der Unordnung und Unrast be¬ 
herrscht, einen unverrückbaren Pol für 
sein zerbröckelndes Dasein brauchte 
und suchte. Der feste Charakter des 
unromantischen Willensmenschen Im¬ 
mermann verlangte nach der Ehe nicht, 
um erst Ordnung in sein Leben zu brin¬ 
gen, sondern um das auf Ordnung und 
sittliche Zucht gegründete nicht zu ge¬ 
fährden und sich selbst untreu zu wer¬ 
den. Mit der Ablehnung uralter Satzun¬ 
gen hat Elise den Freund in seinen 
edelsten Gefühlen nicht verstanden und 
ihn so durch seine Liebe von sich selbst 
abtrünnig gemacht. Sie hat damit den 
tiefen Zwiespalt und die schwere Le¬ 
benslüge in sein Dasein gebracht, die 
am Marke dieses Kernmenschen nagten. 
Denn es gehört zum deutschen Wesen, 
so führt Immermann, der Bräutigam, 
nachmals in den „Memorabilien“ aus, 
„daß bei uns auch die Ehe zu der Liebe 
hinzutreten muß, soll sie von dem 
Zweifel, sie könne doch nur eine Grille, 
ein Anstoß, ein Irrtum, eine Leiden¬ 
schaft sein, ausgeheilt werden. Denn 
niemand darf sich jenen durch nichts 
anderes willkürlich zu ersetzenden Prü¬ 
fungsmoment vor dem Antlitze Gottes 


unterschlagen, will er im Strome deut¬ 
schen Lebens verbleiben“. 

4. 

Im Hochsommer 1827 traf auch Frau 
von Lützow, nachdem sie noch in Ems 
eine Kur gebraucht hatte, in Düsseldorf 
ein, um wie in Magdeburg an Immer¬ 
manns Leben teilzunehmen. Er hielt 
ein stilles, grünes Häuschen im Hofgar¬ 
ten, unweit des Rheins, für sie in Be¬ 
reitschaft; ein Zimmer darin ward ihm 
selbst zur Arbeitsstätte eingerichtet, 
aber nicht lange, so gab er seine kahle 
Stadtwohnung überhaupt auf und zog 
ganz mit der Freundin zusammen. Da¬ 
mit setzte er freilich ihren und seinen 
Ruf bewußt aufs Spiel, aber er handelte 
nicht aus Leichtsinn, sondern aus Über¬ 
zeugung. Noch elf Jahre später ver¬ 
trat er gegen Gutzkow den Standpunkt: 
daß, wenn man in sich die Notwendig¬ 
keit fühle, anders und freier sich zu 
Frauen zu stellen, als wie es die prüde 
Konvenienz der Gegenwart gestatte, 
man eben seinem Gefühle unbefangen 
folgen solle; Gewissen, Takt und 
Zartgefühl würden schon einen jeden 
vor dem Überschreiten der zu respek¬ 
tierenden Grenzen behüten, im Notfall 
würden die Verhältnisse nicht erman¬ 
geln, sich zum Korrektiv der verletz¬ 
ten Schranken zu machen. 24 ) Daß die 
kleinstädtischen Düsseldorfer und die 
korrekten preußischen Beamten an die¬ 
sem Zusammenleben starken Anstoß 
nahmen, versteht sich von selbst 
und darf ihnen auch nicht zum Vor¬ 
wurf gemacht werden. 26 ) Da Frau 


24) Putlitz II 233. 

25) Der Klatsch entstellte das Verhältnis 
natürlich auch vielfach. So spricht Hebbel 
in seinem Tagebuch vom 19. Juli 1854 von 
.Immermanns Geliebten, der Gräfin Ahle¬ 
feldt, die ... zehn Jahre in dem Hause des 
letzten Romantikers lebte, ohne daß seine 


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125 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lützows und Immermanns 126 


v. Lfltzow in den Häusern, zu denen 
Immermann vorher schon Zugang ge¬ 
funden hatte, nicht auch ihrerseits Be¬ 
suche machte, konnte sich ein gesell¬ 
schaftlicher Verkehr mit ihr nicht leicht 
anbahnen. Einige von den vorurteils¬ 
losen jungen Düsseldorfer Künstlern, 
die der Dichter nach und nach ein¬ 
führte, gaben ihr zuerst von neuem Ge¬ 
legenheit, ihre geselligen Talente und 
ihre geistige Anmut spielen zu lassen. 
Nur allmählich vergrößerte sich der 
Zirkel und verringerte sich das Mi߬ 
trauen. Die Damen hielten sich aber 
nach wie vor zurück, und der Stempel 
des Pikanten, Verbotenen verblieb dem 
Hauswesen. 

Immermann genoß dankbar die 
dauernde Nähe der geliebten Frau und 
die Behaglichkeit ihres vornehm ein¬ 
gerichteten Haushalts. Er fühlte sich 
dadurch wieder zum Vorlesen Shake- 
spearesdier Dramen im kleinen Kreise, 
vor allem aber auch zu eigenem Schaf¬ 
fen angeregt Es war wieder wie einst 
im Lützowschen Hause zu Münster, nur 
daß er jetzt nicht mehr Gast sondern 
Hausherr war. Die Bestreitung dieses 
Haushalts freilich wollte sich mit der 
Besoldung nicht ermöglichen lassender 
Dichter suchte auf alle mögliche Weise 
seine Einnahmen zu erhöhen und kam 
doch aus den wirtschaftlichen Nöten 
nie recht heraus. 

Da sich die Wohnung im Hofgarten 
als zu klein erwies für den Doppelhaus- 
halt so bezog man im Frühjahr 1830 
ein geräumigeres Haus vor den Toren 
der Stadt im Dörfchen Derendorf. Hier 
lebte man hinter der hohen Weißdom¬ 
becke, die der Dichter auch in die Ni- 
niana-Liebesszenen seines „Merlin“ ver¬ 
pflanzte, noch mehr für sich und weni¬ 
ger beobachtet. Von ganzer Seele er- 

htimsten Freunde es wußten oder vielmehr 
es wissen durften“. 


freute sich Immermann des großen ge¬ 
pflegten Gartens und der ländlichen 
Freiheit Zwei ineinandergehende, übri¬ 
gens recht schlicht ausgestattete Zim¬ 
mer des Erdgeschosses bildeten seine 
Arbeitsräume. An dem einfachen Steh¬ 
pult entstanden die meisten Schriften 
dieser Zeit. Zwischen diesen mit einer 
stattlichen Bücherei besetzten Wänden 
fanden sich mit der Zeit allerlei kleine 
Kunstscbätze zusammen, über denen die 
ordnende und schmückende Hand der 
Freundin waltete. In ihren eigenen, der 
Geselligkeit dienenden Räumen suchte 
Immermann seine Erholung. 

Von Lützow empfing Elise fortge¬ 
setzt die herzlichsten und verehmngs- 
vollsten Briefe, ja auch einen persönli¬ 
chen Besuch. Im Jahre 1828 teilte er ihr 
seinen Entschluß mit, sich mit der 
Witwe seines Bruders Wilhelm zu ver¬ 
heiraten. Um nicht mit dieser zweiten 
Frau Adolf v. Lützow verwechselt zu 
werden, erwirkte sie vom König von 
Dänemark die Berechtigung, sich wie¬ 
der mit ihrem Mädchennamen Gräfin 
v. Ahlefeldt zu nennen. Schon sechs 
Jahre später starb Lützow unerwartet 
und vor der Zeit. Elise bewahrte ihm 
das wärmste Gedächtnis. Noch in 
ihren letzten Lebensjahren erklärte sie 
einmal einer Freundin mit bewegter 
Stimme: „Lützow ist mir immer ein 
treuer Freund geblieben, und wir haben 
beide oft bereut, uns getrennt zu ha¬ 
ben." 26 ) 1832 war auch Elisens Vater 
einem Nervenschlag erlegen. Die Aus¬ 
sicht auf eine große Erbschaft war 
längst verschwunden, doch erhielt Elise 
kraft eines Erbvertrags mit ihrem Vet¬ 
ter fortan wenigstens eine lebensläng¬ 
liche Rente, die sie sicher stellte und 
unabhängig machte. 

26) Assing 192. Ganz ähnlich äußerte sich 
Karoline nach ihrer Scheidung Ober Wil¬ 
helm Schlegel. 


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127 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lützows und-Immermanns 128 


Gleichmäßig lief da» Derendorfer Zu¬ 
sammenleben Jahr um Jahr dahin, nur 
durch einige gemeinsame Reisen unter¬ 
brochen, deren eine nach Holland ging. 
Elise tat das ihre, dem Freunde das 
Dasein zu erhöhen und angenehm zu 
machen. Sie blieb die Genossin seiner 
dichterischen Entwürfe; mit feinem Ge¬ 
fühl und lebhaftem Anteil folgte sie 
seiner Bahn und stellte, durchaus nicht 
kritiklos, sein ideales Publikum dar. 
Sie brachte das frauenhafte Element in 
sein Leben, auf das seine Natur ange¬ 
wiesen war. Ihre weibliche Fürsorge 
bot ihm Arbeitsruhe und Schaffensstim- 
mung und treue Pflege in Leidenstagen. 
Vertiefte Lebens- und Menschenkennt¬ 
nis und Einblicke in eine größere Welt 
dankte Immermann der Frau v. Ahle¬ 
feldt wie das gleiche Goethe und Schil¬ 
ler den Frauen v. Stein und v. Kalb 
dankten. Aber wie diese, vermochte 
auch sie den Geliebten nicht ganz aus- 
zufüllen, nicht voll zu beglücken. So 
eng sie Neigung und Gewohnheit in viel- 
jähriger Lebensgemeinschaft verknüpf¬ 
ten, das Eheband, das allein einer Liebe 
die Dauer verbürgt, war nicht zu er¬ 
setzen. Daß Immermann die Gräfin 
auch in der Düsseldorfer Zeit noch 
wiederholt dringend um ihre Hemd bat, 
ist ein Beweis dafür, daß er sich so 
nicht befriedigt fühlte; ihre fortdauernde 
Weigerung ein Beweis, daß ihr das 
volle Verständnis sowohl für ihn 
wie für das Problematische ihrer Lage 
fehlte. Sie mußte wissen und sehen, 
daß ihm die eheliche Gemeinschaft un¬ 
abweisbares Bedürfnis war, und hätte 
sich darüber klar werden müssen, daß 


sie mit ihTem schlecht begründeten 
Nein alles aufs Spiel setze. „Welch 
wildes Wetter auch dem Schiffer drohe, 
ein Ankergrund winkt ihm — der eigne 
Herd“; so hatte sie in des Freundes 
„Gedichten“ gelesen, und sie sah ihm 
über die Schulter, als er am Schlüsse 
der „Epigonen“ seinen Helden, dem die 
Geliebte sich zu versagen scheint, kla¬ 
gen ließ: „Ist denn die Staude etwas 
ohne ihre Blüte? Vollendet den Baum 
nicht erst seine Krone? Zuletzt, nach 
allen Irrfahrten, Abenteuern, Wider¬ 
sprüchen des Denkens und Handelns 
ist dem Menschen, welcher sich nicht 
selbst verloren ging, gegeben, mit dem 
Einfachsten sich zu begnügen, und alle 
Fieber der Weltgeschichte werden end¬ 
lich wenigstens in dem einzelnen Ge- 
müte von zwei treuen Armen und Augen 
ausgeheilt. Mir aber soll diese uralte, 
ewig-neue Lösung und Schlichtung 
immerdar fehlen I“ 27 ) 

(Schluß folgt.) 


27) Bd. 4, S. 266f. meiner Ausgabe. Da¬ 
gegen halte man ebenda Bd. 3, S. 375 Her¬ 
manns Worte im Hinblick auf die Ehe des 
zum Philister gewordenen Philhellenen: 
„Ehe! — wie rauschen die Redensarten, wenn 
das Wort ausgesprochen wird. Das Sakra¬ 
ment der Ehe! Die Heiligkeit der Ehe! Der 
Segen des Ehestandes! — Und was bringen 
denn nun diese schönen Dinge bei vielen 
hervor? Daß sie einen Stillstand in ihrem 
Leben machen, daß die edelsten Verhältnisse, 
die unschätzbarsten Verbindungen ihren Reiz 
verlieren, die zarte Berührung mit dem Le¬ 
ben und den Menschen aufhört und am Ende 
jene dumpfe Erstarrung eintritt, welche für 
das Ziel des Daseins ausgegeben wird." 
Das ist nur der Ausdruck einer vorüber¬ 
gehenden Stimmung des Dichters. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicellus, Berlin W30, LultpoldstraBe 4. 

Drude von B.Q.Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 

11. JAHRGANG HEFT 2 L NOVEMBER 1916 


Vom inneren Frieden des deutschen Volkes. 

Von Eduard Spranger. 


Der gegenwärtige Krieg wird von bei¬ 
den Seiten im Namen der Kultur geführt; 
aber während dieses Gefühl bei den 
anderen sich mit unbedingter Selbst¬ 
sicherheit ausspricht, bemerken wir beim 
eignen Volke einen ernsten Willen zur 
Selbstprüfung, ob das Hohe, für das wir 
kämpfen wollen, auch schon unser eigen 
sei. Es ist wieder, wie 1807, ein allgemei¬ 
ner Eifer des Bessermachens und Besser- 
Werdens. Und zugleich regt sich schon 
heute das Streben, den erhöhten Geist 
der Kriegstage zu bewahren und in die 
Zukunft hinüberwirken zu lassen. Noch 
ehe der äußere Friede greifbare Gestalt 
gewonnen hat, redet zu uns ein Buch 
„Vom inneren Frieden des deutschen 
Volkes“. 1 ) Ein Buch gegenseitigen Ver¬ 
stehens und Vertrauens — so nennt es 
sich auch im Anklang an die Kaiser- 
worte einer Thronrede. Es hat seine 
Wurzel in den nationalen Erlebnissen 
des 4. August 1914; und es will den Ge¬ 
halt dieses Erlebens gleichsam über die 
ganze Breite der nationalen Kultur aus¬ 
strahlen lassen. So handelt es nicht nur 
von dem Frieden unter den politischen 
Parteien, der damals Wahrheit wurde, 
sondern auch vom Frieden unter den 
Weltanschauungen, unter den Konfes¬ 
sionen und kirchlichen Parteien, unter 
den Klassen und Berufsständen, ja selbst 
vom Frieden unter den Nationalitäten. 
Vierzig Männer haben jeweils zu dem 

1) Herausgegeben von Friedrich Thimme, 
2 Bände, Leipzig 1916, S. Hirzel. 

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ihnen nächstliegenden Problem das 
Wort ergriffen. Die Individualität des 
Urteils ist nirgends erstickt; das Bild 
einer reichen Bewegung und eines viel 
verschlungenen Kulturgewebes entfaltet 
sich vor unsem Augen. Das nationale 
Leben selbst gesehen vom Gesichts¬ 
punkt seiner möglichen Einheit ist in 
diesen Blättern zusammengedrängt und 
man wird sie nicht lesen, ohne zu 
lernen. 

Das Problem ist zu groß und zu wich¬ 
tig, als daß man die Anregung nicht mit 
empfänglichster Seele aufgreifen sollte. 
Und die Frage, ob hier wirklich der 
großen Zukunftsaufgabe vorgearbeitet 
ist verdient nicht zuletzt jene Selbst¬ 
prüfung, von der wir sprachen. Man 
wird nicht dabei stehen bleiben, daß tau¬ 
sendfach ausgesprochene Einleitungs- 
gedanken sich in den verschiedenen Auf¬ 
sätzen ermüdend wiederholen: das ist 
das Schicksal jedes Sammelwerks. Man 
wird sich auch nicht wundern, daß man¬ 
cher Gegensatz im Eifer des Schreibens 
beinah unfriedlich betont wird. Ist es 
doch hier wie in einem großen Saal, der 
dicht von Menschen angefüllt ist und in 
dem alles erwartungsvoll schweigt; nur 
flüsternd wagt man sich zuzuraunen: 
„Wie still ist es hier!“, und schon ent¬ 
steht ein brandendes Gemurmel. Die 
Frage vielmehr ist, ob hier das große 
Ziel mit meisternder Gedankenkraft er¬ 
faßt ist, oder ob nur die Einheit eines be¬ 
glückenden Gefühls diese Aufsätze zu- 

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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes 


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sammengemeindet hat Auch im letzte¬ 
ren Falle bleibt dieses Werk ein schönes 
Denkmal tief erregter Zeit das nicht un¬ 
rühmlich die Widmung: „Unseren ge¬ 
fallenen Brüdern“ trügt Aber was durch 
Sammelarbeit nicht zu erreichen war, 
gehört deshalb nicht weniger zu dem, 
„was nottut". 

Erwägen wir die Lage, wie sie 
ist Ein gewaltiges Schicksal hat die 
Geister tief bewegt. Und mit eiser¬ 
ner Faust hat die Not eine Einheit ge¬ 
schmiedet die fast überwältigend die 
Seele trifft Noch halten diese Klam¬ 
mem fest Aber vergessen wir nicht daß 
das, was Schicksalsschöpfung war, von 
Tag zu Tage mehr in freie Geistestat 
verwandelt werden will. Dann will der 
Enthusiasmus durch Einsicht und Über¬ 
zeugung ersetzt sein. Heute besitzen wir 
den Frieden ov xi%vy oid’ iziartj/ir], 
ullä d'eCa [ioCqcc xal xavoxco^fj, so würde 
Plato den Gegensatz aussprechen. Die 
Stunde rückt näher, wo wir über den 
geistig-sittlichen Ertrag des Krieges zum 
Bewußtsein kommen müssen. Nur was 
zu fester Form gelangt wirkt fort. Auch 
der innere Friede des deutschen Volkes 
wird mehr sein müssen als ein Gefühls¬ 
friede. Nur als Gedankenmacht als 
innerstes Besitztum unseres Geistes, ver¬ 
mögen wir ihn zu bewahren. Durchblät- 
tert man die beiden Bände, so findet 
man recht mannigfaltige Friedensstim¬ 
mung darin ausgeprägt. Der eine läßt 
von der Strenge seines Standpunktes 
mildernd etwas nach; der andere sucht 
durch eindrucksvolle Betonung des Ech¬ 
ten seiner Welt die Widerstrebenden 
in sie hineinzuziehen; der dritte zeigt 
wie scheinbar Feindliches an einem un¬ 
bemerkten Punkte sich versöhnt oder 
doch ohne scharfen Kampf miteinander 
leben kann. Nachgeben, Beharren und 
Vermitteln — das sind die Wege zum 
gegenseitigen Verstehen und Vertrauen, 


die hier eingeschlagen sind. Aber es ist 
nicht bloße philosophische Engherzig¬ 
keit, wenn die Frage uns beunruhigt, an 
welchem Punkte wir nachgeben dürfen 
und wo Beharren Pflicht ist, wo wir 
verstehen, wo verzeihen, wo vertrauen 
dürfen. 

I. 

Bringen wir das Problem auf seinen 
allgemeinsten Ausdruck, so handelt es 
sich um die Grenzen der Toleranz, das 
heißt um ihre mögliche Weite und ihre 
notwendigen Schranken. Aber dieses 
Problem ist aufgerollt worden durch 
einen ganz konkreten Anlaß, nämlich 
durch die Erfahrung unbedingter Einig¬ 
keit des Volkes in einer Stunde politisch¬ 
nationaler Gefahr. Die alte Wahrheit, 
daß die Errungenschaften aller Kultur 
nur lebensfähig sind unter dem Schutze 
einer festen Machtorganisation, diese in 
Friedenstagen dem Bewußtsein leicht 
entschwindende Tatsache, verlor in jener 
Stunde ihre Selbstverständlichkeit und 
grub sich dem allgemeinen Bewußtsein 
wieder mit der Gewalt ein, die nur ele¬ 
mentare Wahrheiten haben. Der Staat 
erschien nun nicht nur als der höchste 
Wert, den ein Volk sich für sein eigenes 
Dasein zu erzeugen vermag, sondern 
auch als das Einende und Übergeord¬ 
nete, das im Grunde für alles Weitere 
Voraussetzung ist. Das Staatsleben 
hatte sich wie eine Blüte zur Zeit der 
wärmenden Sonnenglut in den Reichtum 
mannigfacher politischer Überzeugun¬ 
gen auseinandergelegt; aber wie der 
Frost einer herbstlichen Nacht brachte 
der feindliche Einbruch das Bewußtsein 
zurück, daß der Staat erst schützende 
Hülle sein muß, ehe seine Organe 
sich einem auseinanderstrebenden Eigen¬ 
dasein widmen dürfen. Oder mit einem 
anderen Bild: der Einheits- und Macht¬ 
wille strebte dem konzentrischen Druck 
von außen um so gewaltiger entgegen. 


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je starker dieser Druck auf das Zentrum 
wurde. Lange vergessene Gefühle inner¬ 
ster Zusammengehörigkeit und gemein¬ 
samer Bestimmung wurden wieder wach. 
Die Voraussetzung, unter der das Partei¬ 
leben Sinn hatte, die Sicherung des Staa¬ 
tes nach außen, war hinweggefaller); 
die Voraussetzung für den festesten Zu¬ 
sammenhalt: eine gemeinsame Gefahr, 
war gegeben. Das war die Stunde, in 
der das deutsche Volk wie nie zuvor 
die Möglichkeit eines inneren Friedens 
empfand. Und es ist begreiflich, daß das 
Beseligende dieses Hochgefühls bis in 
die letzten Tiefen der Volksseele nach¬ 
zitterte. Alle Verbitterung sollte nun 
begraben sein. Der nationale Gedanke 
entfaltete seine Kraft hoch über allen 
Gegensätzen. „Ein jeder Deutsche hat es 
sich hinfort stets gegenwärtig zu hal¬ 
ten, daß in der großen Probe des Welt¬ 
brandes alle Stämme, Glaubensgemein¬ 
schaften, Stände und Parteien sich voll 
bewährt, dieselbe Liebe zum Vaterlande, 
dieselbe Opferfreudigkeit und Ausdauer 
an den Tag gelegt haben ... Ist es im 
Kriege möglich gewesen, daß unbescha¬ 
det der gegenseitigen Überzeugungen 
alle wie ein Mann zu einem Zwecke 
zusammenstanden, so muß es auch im 
Frieden möglich sein, die Kräfte des 
ganzen Volkes zur Gemeinschaftsarbeit 
zusammenzufassen." (T h i m m e, S. 566.) 
Es liegt in diesen Worten ein Bekennt¬ 
nis von ungeheurer Tragweite: die 
Oberzeugung nämlich, daß Volks- und 
Staatsgemeinschaft das höchste Gut sei, 
oder anders gesagt: daß die nationale 
Idee über alle anderen Ideen zu herr¬ 
schen habe. Und wer kann sich nach 
den Schicksalen der beiden letzten Jahre 
dem Eindruck verschließen, daß wirk¬ 
lich unter den heutigen Verhältnissen 
der Staat allein die Gewähr für die Er¬ 
haltung alles eigentümlichen Geistes¬ 
lebens bedeute, nicht nur dem Volk, son¬ 


dern auch jedem Höchsten und Letzten 
in ihm? Unter den Gesichtspunkt des 
Staates rücken daher alle anderen Werte, 
und es fragt sich, in welchem Grade und 
in welcher Gestalt sie unter seinem Zep¬ 
ter zur Einheit gebracht werden können. 
Die Rede kann nicht sein von einem 
Frieden um jeden Preis und in jeder 
Hinsicht, sondern nur um das friedliche 
Nebeneinanderbestehen materieller oder 
geistiger Gegensätze ineinem Staat 
Wenn also unser Buch gelegentlich den 
Schein erwecken könnte, als ob es ihm 
um Vermittlung zwischen den Inter¬ 
essensphären oder den Weltanschau¬ 
ungen oder den Konfessionen überhaupt 
zu tun sei, so wird man, eingedenk des 
Titels, diesem Irrtum nicht verfallen; 
denn ob in allen diesen Dingen Friede 
möglich sei, ja nur zu wünschen sei, das 
unterliegt wohl ernstem Zweifel. Der 
Untersuchung wert hingegen ist die 
Frage, wie dies alles zu einer frucht¬ 
baren nationalen Lebensgemeinschaft 
organisiert werden könne, wie vom Ge¬ 
sichtspunkt dieser Einheit die fessellose 
Vielheit der Kulturgebilde sich verhalte. 
Ein Zweifler könnte z. B. schwanken, ob 
durch die Augusterlebnisse von 1914 an 
dem Verhältnis der Weltanschauungen 
oder der kirchlichen Bekenntnisse etwas 
geändert sei. Und in der Tat begegnet 
uns in diesem Teile des Buches, der nur 
indirekt politisch ist, manche zurückhal¬ 
tende Stimme, als ob ein voreiliger 
Friede auf diesem Gebiet das echte 
Leben mehr verwische als befördere. 
Was vom Gesichtspunkt des Krieges als 
unerheblich erscheint, mag religiös be¬ 
trachtet und in geistiger Ruhe betrach¬ 
tet doch noch von großem Belang sein. 
So etwa Ra de: „DiePreisgabe der reli¬ 
giösen Eigentümlichkeit voneinander zu 
verlangen, das darf der nationalen 
Einigkeit auch nach diesem Kriege 
nicht einfallen.“ Nicht alle Gegensätze 

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werden vor dem Forum des neuen 
Deutschland sich nur als veraltete Vor¬ 
urteile und kleinliche Leidenschaften er¬ 
weisen. Nicht alle werden damit über¬ 
wunden sein, daß man der Nation die 
Forderung gemeinsamer politischer Ar¬ 
beit entgegenhält Vielleicht nun er¬ 
scheint diese Einschränkung des Ge¬ 
sichtspunktes auf das politische Problem 
als selbstverständlich. Da aber unser 
Buch dies Selbstverständliche kaum 
irgend stark betont so sei es hier im 
voraus festgelegt: Der Friede, auf wel¬ 
chem Gebiet er auch erwachse, ist hier 
gemeint nicht als ein Unterdrücken gei¬ 
stiger Verschiedenheit, sondern als ihre 
Unterordnung unter das politische Ziel 
der nationalen Macht und Einheit So 
etwa, wie im Reich der Wissenschaft 
Polemik unentbehrlich bleibt, wenn sich 
die Wahrheit emporringen soll, die Pole¬ 
mik aber ihre Grenzen an den Forderun¬ 
gen des Anstandes, der Menschlichkeit 
oder gegebenenfalls des Staatsinteresses 
findet, so ist auch auf anderen Gebieten 
die unbedingte Ruhe nicht zu lieben; 
wohl aber ist in Zeiten nationaler Ge¬ 
fährdung jeder unnötige Streit und 
schon in politisch ruhiger Zeit jede 
feindselige Trennung der Geister im 
Volke zu beklagen. 

II. 

Nicht von der Toleranz überhaupt 
also, sondern von der Toleranz im Staate 
soll die Rede sein. Und da liegt es nahe, 
einen Blick auf jene Epochen zu wer¬ 
fen, in denen der Staat schon einmal 
gegenüber geistigen Gegensätzen in 
seinem Schoße eine einigende Kraft ent¬ 
faltet hat Der Ausdrude selbst weist 
uns den Weg: es ist vielleicht eine der 
gewaltigsten Bewegungen der neueren 
Geschichte, wie sich die einheitliche 
Staatsmacht über den Gegensatz der 
konfessionellen Überzeugungen heraus¬ 


gerungen hat Die Duldung auf religiö¬ 
sem Gebiet die Toleranz im engeren 
Sinne, ist die erste Form, in der der Staat 
leidenschaftliche Kämpfe in seinem In¬ 
nern zum Frieden gebracht hat An der 
Gestalt dieses Friedens läßt sich viel¬ 
leicht studieren, wie der Kampf der Gei¬ 
ster in einem gemeinsamen Übergeord¬ 
neten zur Ruhe gelangt Und zugleich 
offenbart sich daran die Gefahr und die 
Grenze eines solchen Umbildungspro¬ 
zesses. 

Es waren besondere historische Be¬ 
dingungen, unter denen vom 16. bis 
zum 18. Jahrhundert diese Bewegung 
sich vollzog. Ein ideeller und ein real- 
politischer Faktor wirkten zusammen, 
bis der Staat erwuchs, in dem jeder nach 
seiner Fasson selig werden konnte. Auf 
ideeller Seite liegt die Umbildung des 
positiven Offenbarungsglaubens in das 
Prinzip einer allgemeinen, gleichen, ewi¬ 
gen Vernunft, in der auch die religiösen 
Wahrheiten eindeutig enthalten sind. So 
entstand über der unerträglichen Zer¬ 
splitterung der Bekenntnisse in Anknüp¬ 
fung an den platonischen und stoischen 
Rationalismus eine neue Philosophie, 
deren sieghafte Gewalt auf dem Mo¬ 
ment der Allgemeingültigkeit und Uni¬ 
formität beruhte. Der Glaube an die 
Vernunft ist gleichbedeutend mit dem 
Glauben an die Gleichheit; sie hat für 
Jahrzehnte die individuelle Ausprägung 
der religiösen Standpunkte in den Hin¬ 
tergrund gedrängt und ein geistig einen¬ 
des Band um die Konfessionen ge¬ 
schlungen, die zuvor auf blutigen 
Schlachtfeldern um den rechten Weg 
zur Seligkeit gestritten hatten. — Mit 
dieser ideellen Bewegung ist eine real- 
politische innerlich verknüpft: denn 
auch der Staat selbst mußte die letzte 
Hülle theokratischer Begründung und 
Bestimmung erst abwerfen, ehe er als 
einigende Kraft über den Konfessionen 


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und Kirchen erscheinen konnte. Auch er 
mußte weltlich werden, wie die Ver¬ 
nunft der Offenbarung gegenüber ein 
innerweltliches Prinzip bedeutete; auch 
er mußte sich zu diesem rationalen Prin¬ 
zip, der Staats raison, bekennen, ehe 
er von dem territorialen Grundsatz; 
„Cuius regio, eius religio“ zu dem Gro߬ 
staatsgedanken der Parität gelangte. 
Zweierlei also hat das Werden der To¬ 
leranz nach den Glaubenskriegen er¬ 
möglicht: die Abkühlung des religiö¬ 
sen Lebensgefühls unter dem Einfluß 
der wissenschaftlichen Allgemeingültig' 
keitsidee und das Anwachsen des po¬ 
litischen Pathos unter dem Zeichen des 
Großmachtstrebens und der staatlichen 
Uniformität. Doppelt ist daher auch die 
Grenze dieses ganzen Vorganges. Er hat 
Einheit geschaffen, soweit ein beherr¬ 
schender Staatsgedanke da war, und so¬ 
weit die Menschen geneigt waren, 
diesem Staat ihre religiösen Überzeu¬ 
gungen unterzuordnen. Fiel eine dieser 
Bedingungen weg, wie in der Zeit der 
Restauration oder des Kulturkampfes, 
so schlug die Flamme des alten Gegen¬ 
satzes, der in der Asche fortgeglommen 
hatte, mächtig heraus. Und in der Tat, 
es hat keine Zeit gegeben, und es wird 
keine Zeit geben, die das Letzte der 
Lebensüberzeugung, wie es in der Reli¬ 
gion zum Ausdruck kommt, bedingungs¬ 
los dem Staat anheimstellt. Gilt doch der 
Staat selbst nur dann im tiefsten Sinn als 
gerecht, wenn er zugleich als religiöser 
Wert erlebt wird. Daß also jene Tole¬ 
ranz verwirklicht werden konnte, beruht 
im letzten Grunde darauf, daß* in der 
Epoche, in der der nationale Staat sich 
vorbereitete, das politische Band bereits 
als Wert von überlegenster Bedeutung 
empfunden wurde. Wir zweifeln nicht, 
daß heute, nachdem der nationale Staat 
sich auch in seiner inneren Struktur voll¬ 
endet hat das gleiche, ja ein höheres 

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Recht ihm innewohne, da gleichsam 
überpersönliche Sittlichkeit in ihm Ge¬ 
stalt gewonnen hat. Die Frage wird nun 
sein, ob er in gleichem Maß die Ein¬ 
heit aller auseinanderstrebenden Über¬ 
zeugungen zu bewirken weiß und ob 
sich diese Kraft vom konfessionellen Ge¬ 
biet nach allen andern Seiten der Kul¬ 
tur erweitert hat. Und sollte, wie der 
religiöse Kampf nie ganz erloschen ist, 
so auch im übrigen die Welt der Gegen¬ 
sätze fortbestehen, so bleibt die Mög¬ 
lichkeit noch zu erwägen, ob einem Volk 
nicht ebenso die innere Bewegung, wie 
innerer Friede zu wünschen sei. 

III. 

Machen wir also die Anwendung auf 
unsere Epoche, so hat sich zweierlei 
gegen die Verhältnisse des 18. Jahrhun¬ 
derts verschoben: die Sehnsucht nach 
Einigung betrifft heute nicht mehr aus¬ 
schließlich oder auch nur überwie¬ 
gend das konfessionelle Leben, sondern 
Gegensätze zwischen Volksgruppen, die 
durch wirtschaftliche, soziale oder po¬ 
litische Momente voneinander getrennt 
sind, also Berufsstände, Klassen und 
Parteien. Es sind trotz aller Reste des 
alten Ständestaates im wesentlichen 
neue Schichtungen, die erst im Gefolge 
des allgemeinen, gleichen Staatsbürger¬ 
tums, des wirtschaftlichen und poli¬ 
tischen Liberalismus und der industriel¬ 
len Entwicklung auftreten konnten. 
Gleichzeitig aber hat sich unter dem 
Einfluß der historisch-psychologischen 
Denkweise die Auffassung vom Men¬ 
schen tiefgehend verändert. Der alte Ge¬ 
danke der allgemeinen, gleichen Men¬ 
schennatur, der dem Rationalismus ge¬ 
mäß war, hat sich nicht aufrechterhal¬ 
ten lassen, vielmehr hat man gelernt, zu¬ 
nächst jedes Menschenwesen durch den 
Zusammenhang seiner Individuallage 
(Milieu) bedingt zu denken, sodann aber 

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auch jeder Individualität eine beson¬ 
dere innere Struktur zuzuschreiben. So 
steht für unser Auge heute nicht mehr 
Vemunftwesen einförmig neben Ver¬ 
nunftwesen, sondern das Bild der 
Menschheit hat sich individualisiert 
Wir unterscheiden nun, da das absolut 
Individuelle der Auffassung unzugäng¬ 
lich ist mannigfache geistige Typen, 
und jeden von ihnen begreifen wir als 
ein geistiges Gebilde von innerer Kon¬ 
sequenz des Wachstums. Durch die Zu¬ 
gehörigkeit zu einem Volk, zu einem Be¬ 
ruf, zu einer Klasse, zu einer Partei sind 
typische Züge des Menschen gegeben, 
wie im rein geistigen Gebiet etwa der 
Künstler und der Forscher, oder der Or¬ 
ganisator und der Mystiker einen ver¬ 
schiedenen seelischen Typus verkörpern. 
Verstehen heißt solche Lebensgebilde 
in ihrer inneren Folgerichtigkeit und 
gleichsam in ihrem Aufbauprinzip zu 
begreifen. Die geistige Welt ist also für 
uns nicht mehr ein Reich der Unifor¬ 
mität, sondern eine Mannigfaltigkeit die 
nur durch lebendige Variierung des eig¬ 
nen Innern aufgefaßt und gelenkt wer¬ 
den kann. 

Demgemäß liegt nun für uns der Weg 
zum Frieden mit andern Standpunkten 
nicht mehr in ihrer Zurückführung auf 
eine vernunftgemäße Normalform, son¬ 
dern im Verstehen, das heißt: einem 
Anerkennen des Andersseins. Nicht mehr 
das äußere Gleichmachen, sondern die in¬ 
nere verständnisvolle Angleichung durch 
Hineinversetzen in eine andere Lebens¬ 
form führt zum Ziel. Aber wir würden 
auf diesem Wege zu einer hoffnungs¬ 
losen Anarchie gelangen, wenn wir ihn 
im Sinne des: tout comprendre c’est tout 
pardonner auffaßten. Denn das Ver¬ 
stehen ist zunächst eine rein intellek¬ 
tuelle Leistung; das Billigen und Ver¬ 
trauen aber ist eine ethische Zustim¬ 
mung. Vieles läßt sich verstehen, was 


in einer Welt sittlicher Arbeit nie be¬ 
stehen bleiben darf. Die unendliche 
Fülle der Menschentypen bedeutet noch 
keine Gleichberechtigung aller Formen, 
sondern hier erst beginnt das Problem, 
welche von ihnen zugleich bleibende 
Ausprägungen echten sittlichen Gehal¬ 
tes sind. Solange das Anderssein vor 
dem unbestechlichen ethischen Urteil 
noch als ein Geringersein erscheint, so 
lange ist kein Friede zwischen beiden 
Standpunkten denkbar. Nur Sittlichkei¬ 
ten, Wertgestalten, die sich als gleich¬ 
wertig erkennen, vermögen auf die 
Dauer einander zu achten und mitein¬ 
ander zu leben. 

Vielleicht aber gibt es Menschen- und 
Geistestypen von ewiger Bedeutung. So 
wie im Leben das männliche und das 
weibliche Prinzip, die Jugend und das 
Alter ewig nebeneinander stehen und 
jedes seine eigentümliche Vollendung 
hat, so mögen auch religiöse Stand¬ 
punkte, soziale Ideale, philosophische 
Weltanschauungen in allem Wandel der 
Zeiten gewissen Grundtypen folgen, die 
wohl verschieden sind, aber die gleiche 
Höhenlage der Ausprägung erreichen 
können. Vielleicht ist es das Schicksal 
der Menschheit im engen Rahmen einer 
begrenzten Zahl von Typen, gleichsam 
spiralig, immer schönere Höhen zu er¬ 
reichen, ohne jemals den Grundformen 
eine gänzlich neue hinzuzufügen. Wir 
stehen noch in den Anfängen dieser Auf- 
fassungsart und unsere Wissenschaft 
hat kaum die einfachsten Typen zum 
Bewußtsein erhoben. Dilthey hat Ty¬ 
pen der Weltanschauung aufgestellt, 
Wölfflin ähnliche Wege in der Theo¬ 
rie der bildenden Kunst beschritten, ich 
selbst habe die Fülle der Lebensfor¬ 
men auf einige Grundgestalten zurück¬ 
geführt So mag man künftig Typen der 
politischen Grundstellung, des sozial- 
ethischen Bewußtseins, der religiösen 


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Geisteshaltung, und vor allem Typen der 
Bemfsklassen ausbilden. — Zu den ewi¬ 
gen Typen gesellen sich dann noch die, 
die auf der Stufenleiter historischer Ent¬ 
wicklung sich ablösen, in ihr aber not¬ 
wendige Durchgangsstationen bedeuten. 
Ihnen sind der französisch-englische Po¬ 
sitivismus, bei uns vor allem Dilthey, 
Lamprecht und Paul Barth nach¬ 
gegangen. Diesen typischen Entwick¬ 
lungsstufen werden wir von vornherein 
nicht gleiche Berechtigung in einer 
gegebenen Kultursituation zuschreiben. 
Wahrend wir jene ersten Typen schlecht¬ 
weg gelten ließen, gleichviel, ob mit 
oder ohne Sympathie, werden wir uns 
diesen gegenüber schon pädagogisch ge¬ 
stimmt fühlen, wie der Mann etwa den 
Knaben achtet und versteht, aber doch 
zu sich emporzuheben strebt. — Und 
endlich eine dritte Möglichkeit: es 
sind Grundstandpunkte denkbar, deren 
Schicksal es ist sich ewig wieder zu er¬ 
zeugen und doch einander ewig zu be¬ 
kämpfen. Sobald in eine politische An¬ 
schauung oder ein wirtschaftliches Pro¬ 
gramm vitale Interessen eingehen, die 
das Recht des Gegners ausschalten wol¬ 
len, ensteht die ewige Gegenbewegung, 
die wir den Kampf ums Dasein nennen 
und die von den materiellen Existenz¬ 
bedingungen bis in das Geistigste hin¬ 
ein reicht Auch hier mag Ethos gegen 
Ethos stehen, wie der Patrizier und der 
Plebejer beide ihre echte Idealwelt 
haben. Ihr Los ist der Krieg, und selbst 
in der letzten Feme erscheint nichts 
anderes als die Möglichkeit diesen 
Kampf durch einen Ton der Achtung zu 
veredeln. Nehmen wir also dies als 
eigentliches Ergebnis: unauslöschbar 
werden auf allen Gebieten der Kultur 
die Grundstandpunkte und daher die 
Gegensätze sein; aber da, wo der Geg¬ 
ner in dem Gegner ein echtes Ethos, 
einen sittlichen Standpunkt gleicher 


Höhe anerkennt da wird auch die Mög¬ 
lichkeit erwachsen, sich trotz allem in 
einem höheren Gemeinsamen, etwa in 
dem sittlichen Sinn des Staates, zu finden. 

Unser ganzes Denken Ober Kultur und 
Geistesleben ist methodisch zu wenig 
entwickelt als daß wir in den Fragen 
der unmittelbaren Praxis schon auf 
solche Maßstäbe zurückgingen. Und doch 
liegt erst in ihnen die Möglichkeit, zu 
den inneren Bewegungen eines Volkes 
und ihrem Ausgleich anders als gefühls¬ 
mäßig Stellung zu nehmen. Es ist kein 
Zufall, daß Anklänge an solche Gedan¬ 
ken sich gerade auf dem Gebiet finden, 
in dem das Problem der Toleranz am 
ältesten ist Die einzige Andeutung, daß 
es sich bei kulturellen Gegensätzen um 
bleibende Gebilde von verschiedener 
innerer Gesamtstruktur handeln könnte, 
findet sich in dem Aufsatz von Baum* 
garten. „Sollte nicht“, sagt er gegen 
die unduldsam Konfessionellen, die reib 
gionsgeschichtliche und religionspsycho¬ 
logische Forschung unserer Tage sol¬ 
chen von sich selbst Überzeugten Sturm- 
geistem zum Bewußtsein bringen, daß 
in den großen Grandrichtungen katho¬ 
lisch - institutioneilen, evangelisch - kon¬ 
servativen und protestantisch-beweg¬ 
lichen religiösen Denkens und Empfin¬ 
dens bleibende Typen religiöser Ver¬ 
anlagung und geschichtlicher Erziehung 
liegen?“ (S. 211.) Gleichviel, ob man 
dem Satz zustimme oder hier vielmehr 
sich ablösende Entwicklungsstufen der 
Religiosität zu finden geneigt ist, — die 
Methode ist die einzige; die an das Pro¬ 
blem überhaupt heranführt Und den 
anderen Teil des Gedankens — die Mes¬ 
sung an der Höhenlage des Ethos — fin¬ 
den wir in dem gehaltvollen Aufsatz von 
K a h 1, in dem es mit Zuspitzung speziell 
auf das Kirchenproblem heißt: „Alle 
Rechts- und Kulturordnungen sind nur 
Mittel für den höchsten Zweck, die Men- 


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sehen zu Christus zu führen und bei ihm 
zu erhalten. Ihrer sind aber unendliche 
'Gestaltungsformen und Verschiedenhei¬ 
ten möglich und gerechtfertigt, wenn 
immer nur die Menschen, die sie hand¬ 
haben und beleben, jeder nach seiner 
Gabe und in seinem Kreise, evangelisch- 
christliche Persönlichkeiten sind. Das 
ist, ich wiederhole, Wahrzeichen und 
Maßstab.“ (S. 204.) Eine ähnliche Selbst¬ 
bescheidung gegenüber dem eigentüm¬ 
lichen Recht fremder Lebenssphären und 
Lebensgestaltungen wird auch im Ver¬ 
hältnis der Klassen, der Berufsstände, 
der Parteien, ja der Nationalitäten zuein¬ 
ander am Platze sein. Die Formel, die 
Faßbender der Überschrift seines Auf¬ 
satzes gibt: „Durch Kenntnis zum 
Verständnis unserer Landbevölkerung“, 
ließe sich allgemein anwenden, wofern 
unter Verständnis eben mehr gemeint ist 
als Kenntnis, nämlich in unserem Fall 
(wie beim Gegenstand des Buches über¬ 
haupt): Anerkennung der nationalen 
Leistung; denn in dieser Gestalt tritt der 
sittliche Wert im vorliegenden Zusam¬ 
menhang allein auf. Berufe, die in einem 
langen Prozeß der Arbeitsteilung einen 
kräftigen, aber einseitigen Menschen¬ 
typus erzeugt haben, Klassen, die durch 
Lebenshaltung und Weltanschauung 
weit voneinander getrennt sind, empor¬ 
ringende Gruppen, die, wie die erwer¬ 
benden Frauen, einen neuen Typus erst 
zu erzeugen im Begriff sind, müssen sich 
in ihrem ganzen Werden und Wirken 
begreifen lernen, ehe sie gleichsam auf 
der gemeinschaftlichen Basis des Lebens 
miteinander verkehren können. Dazu ge¬ 
hört ein Hinauswachsen über den engen 
natürlichen Geisteshorizont, der jedes 
Anderssein als ein Minderwertigsein 
empfindet, und mit dieser breiteren Be¬ 
sitznahme vom Leben erwacht auch die 
Gabe des Achtens und der Blick für den 
Wert der Leistung, der dem eignen be¬ 


grenzten Dasein versagt ist In diesem 
Reicherwerden der Menschennatur ent¬ 
faltet sich eine höhere Sittlichkeit, 
wenn wir in der weitesten Fassung unter 
Sittlichkeit alles das verstehen, was 
Werte schaffend in das Reich der Kultur 
hineinwirkt und in der Seele weltgestal¬ 
tende Kräfte löst Es ist nicht so, daß in 
einem Gesetz die ganze Fülle der sitt¬ 
lichen Lebensaufgabe aller Menschen 
und Zeiten umschrieben werden könnte, 
es sei denn ein ganz leeres und das bloße 
„du sollst“. In Wahrheit ist der Sinn 
dieses Sollens so reich wie der Stoff und 
die Struktur des Lebens, und jede eigene 
Gestalt des Daseins hat auch ihre eigne 
Sittlichkeit Diesen geheimen, aber uner¬ 
bittlichen Zusammenhang zu ergründen 
zwischen dem, was ein Mensch und eine 
Zeit schon ist und dem, was als eigen¬ 
tümlichste Pflicht über ihnen leuchtet, — 
das erst ist der wahre Tiefblick in die 
Menschenwelt In ihm liegt zugleich die 
unendliche Kraft der Liebe für alle 
Formen des Lebens, auch die aus der 
Not und dem Schmutz sich mühsam em¬ 
porringenden, in denen vielleicht darum 
das Göttliche am hellsten leuchtet, weil 
es von so viel Dunkel und Drude um¬ 
geben ist Und wie sollte nicht dem eig¬ 
nen Volke gegenüber uns dieser Blick 
am leichtesten aufgehen, wo uns tausend 
zarte Fäden, ererbt und unbewußt, mit 
Tiefen verknüpfen, die sonst in ewigem 
Schweigen ruhen? 

IV. 

Wir haben bisher das Problem in 
seiner allgemeinsten Bedeutung und 
seinem größten Umfang genommen. Er¬ 
innern wir uns aber, daß es sich im 
Grunde nur um die Möglichkeit des 
Nebeneinanderbestehens verschiedener 
Richtungen im nationalen Staat, 
und auch hier wieder um einen Spezial- 
fall handelte, der zu der ganzen Frage 


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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes 


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den Anlaß gegeben hat Es ist daher kein 
Zufall, daß in dem Sammelwerk der 
Kampf der Weltanschauungen nur sehr 
lückenhaft zur Darstellung gelangt und 
der Streit der Konfessionen nur von sei¬ 
ner organisatorischen Seite, das heißt 
hinsichtlich des Kirchenproblems und 
des Verhältnisses von kirchlichem und 
staatlichem Leben in Betracht gezogen 
wird. So Schönes im einzelnen auch 
dieser Teil enthalten mag, er erscheint 
wie ein Beiwerk zu dem Hauptgegen- 
stande, von dem das Buch in Wahrheit 
handelt, und auf den auch wir jetzt die 
Anwendung machen müssen. Es ist auf 
den kürzesten Ausdruck gebracht die 
Aussöhnung der Sozialdemo¬ 
krat iemit dem nationalen Leben. 
Dieser Vorgang ist an sich groß genug, 
unsem Geist in der weltgeschichtlichen 
Bewegung dieser Tage zu beschäftigen. 
Was das Bild des inneren Friedens so 
schön und so lebhaft vor unseren Augen 
erstehen ließ, ist im Grunde der erste 
Schritt der Sozialdemokratie zum Frie¬ 
den mit der bürgerlichen Kultur in 
Deutschland. Und das Gefühl, daß die¬ 
ser Vorgang der Verständigung zunächst 
noch in Anfängen steckt die sorg¬ 
samster Pflege bedürfen, mag bei der 
Entstehung des Buches maßgebend ge¬ 
wesen sein. Insofern erfaßt es den Nerv 
und das Neue unserer Zeit mit sicherem 
Griff, und was es im einzelnen über die¬ 
ses umfassende Thema zu sagen weiß, 
ist interessant und lehrreich, auch wo die 
Erörterung sich ganz vom Prinzipiellen 
fembält und beim Konkretesten verweilt 
Die Aussöhnung der Sozialdemokra¬ 
tie mit dem nationalen Leben ist eine Er¬ 
scheinung, die alle Seiten der Kultur be¬ 
rührt und die so gut auf religiösem 
und philosophischem wie auf ökonomi¬ 
schem, sozialem und politischem Gebiet 
verfolgt werden kann. Betrachtet man 
die Annäherung von der wirtschaftlichen 


und sozialen Seite, so bedeutet hier die 
kurze Wendung: „Sozialdemokratie“ im 
Grunde den Industriearbeiterstand als 
Berufs- und Besitzklasse, deren Stellung 
im Ganzen der Nation offenbar seit dem 
August 1914 eine tiefgehende Verschie¬ 
bung erfahren hat Diese selbe Sozial¬ 
demokratie ist aber zugleich auch Inbe¬ 
griff einer Weltanschauung, oder wie sie 
selbst sich lieber ausdrückt: ihr Sozia¬ 
lismus hat eine wissenschaftliche Basis, 
nämlich eine Geschichtsauffassung, eine 
Soziologie und ein politisch-ethisches 
Programm. Es ist klar, daß auch mit 
dieser Seite der Sozialdemokratie durch 
den Annäherungsprozeß Veränderungen 
vor sich gegangen sein müssen, die um 
so interessanter sind, als sie nicht eigent¬ 
lich das wirkende Lebenszentrum, son¬ 
dern nur die theoretische Formulierung 
und den Ausdruck betreffen. Ist doch 
etwas Wahres an der pragmatischen 
Lehre von den id6es-forces, daß große 
Lebensprogramme nicht durch ihre theo¬ 
retische Folgerichtigkeit, sondern durch 
die Echtheit ihres subjektiven Wurzel¬ 
grundes wirken. Endlich aber bedeu¬ 
tet, auf Grund der ökonomisch-sozialen 
Schichtung und der ihr eigentümlichen 
Weltanschauung, die Sozialdemokratie 
auch eine politische Partei, die in den 
Machtkämpfen des neuen Deutschen Rei¬ 
ches, wie aller anderen industrialisier¬ 
ten Länder, eine erhebliche Rolle gespielt 
hat Das alte und unentwickelte Zwei¬ 
parteiensystem, das auf dem blassen 
Gegensatz von konservativ und liberal 
ruhte, ist durch das Hinzutreten dieser 
dritten Gruppe zu einem reicheren Par¬ 
teileben ausgestaltet worden, das zu den 
auffallendsten Neubildungen unserer 
Kultur gehört. 

Nimmt man diese drei Momente zu¬ 
sammen: eine im modernen Wirtschafts¬ 
leben erzeugte Klasse mit bestimmter 
Weltanschauung und bestimmtem politi- 


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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes 


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schein Programm, so hat man ein Bei¬ 
spiel für das, was wir oben eine gei¬ 
stige Struktur nannten. Der Mensch, der 
dieser Gruppe angehört, hat eine see¬ 
lische Organisation, deren Aufbau und 
innere Notwendigkeit wir aus dem Gan¬ 
zen seiner Lebensbedingungen begreifen 
können. Man kann ihm, und wäre es 
auch um des Friedens willen, nicht alle 
Eigenschaften aufpfropfen, die sonst 
noch wertvoll sind. Für vieles ist eben 
in einer Seele kein Raum, wenn sie nicht 
das Eigene und Echte über der Allseitig¬ 
keit verlieren soll. Schwer wird zu ent¬ 
scheiden sein, welche Seite in einer'sol- 
chen Geistesstruktur die Rolle der tra¬ 
genden Substanz spielt Der wissen¬ 
schaftliche Sozialismus ist geneigt sie in 
den ökonomischen Faktoren zu suchen, 
— eine Theorie, die kaum verallgemei¬ 
nert werden kann, wohl aber auf die 
Sozialdemokratie selber zutrifft Sie 
wenigstens darf ein Kind der kapitalisti¬ 
schen und maschinellen Produktions¬ 
form genannt werden. 

Darin liegt nun zugleich, daß ihr Cha¬ 
rakter grundlegend durch Interessen be¬ 
stimmt ist die wirtschaftlicher Natur 
sind und also dem vitalen Daseinskampf 
am nächsten liegen. So hat der Sozia¬ 
lismus begonnen: als Existenzkampf 
einer proletarischen Masse, die nichts ihr 
eigen nannte als die Kraft des verzwei¬ 
felnden Elends und die Macht der großen 
ZahL Wenn sie heute als aufbauende 
und schaffende Potenz in den Zusam¬ 
menhang des nationalen Lebens eintritt 
so muß aus ihr oder, genauer gesagt, 
aus einer Gruppe in ihr ein Anderes ge¬ 
worden sein, als das Kommunistische 
Manifest von 1848 ausspricht Ein An¬ 
deres nicht in dem Sinne der Verleug¬ 
nung, sondern in dem Sinne der Vollen¬ 
dung lebensvoller Keime, in denen von 
vornherein das enthalten war, was wir 
eine aufbauende Sittlichkeit nannten. 


Der Vorgang der Annäherung hat aber 
unvermeidlich zwei Seiten; er will be¬ 
trachtet werden als eine Leistung von 
seiten der Sozialdemokratie und als eine 
Leistung von seiten der Gruppen älterer 
Kultur. Soll hier die Hoffnung eines 
wirklichen Friedens aufgehen, so wird 
— in der Tat noch mehr als in der Theo¬ 
rie — der Nachweis zu führen sein, daß 
von der neuen Gruppe ein Ethos aus¬ 
geht, echt genug, um sich dem Ethos der 
andern zugleich befruchtend und emp¬ 
fangend an die Seite zu stellen. 

Wir begnügen uns, dieses Verhältnis 
in seiner politischen Ausprägung darzu¬ 
stellen. Die Anfänge der liberalen Par¬ 
tei liegen in Deutschland in unmittel¬ 
barer Nähe der klassischen Philosophie 
und Dichtung. Der Gedanke der sitt¬ 
lichen Autonomie, der Humanität, der 
pflichtbewußten Persönlichkeit bezeich¬ 
net das Ethos, das um die Zeit der fran¬ 
zösischen Revolution dem absoluten 
Staat mit seiner Ständegliederung ent- 
gegentrat Dieser liberale Fortschritts¬ 
glaube kann bis heute seinen Ursprung 
aus dem Rationalismus und den Ideen 
von einem allgemeinen gleichen Men¬ 
schentum nicht verleugnen. In die Praxis 
des politischen Lebens umgesetzt, ver¬ 
focht er das unverlierbare Recht des In¬ 
dividuums auf Selbstentfaltung, Selbst¬ 
bestimmung, Selbstdurchsetzung. Die 
Sittlichkeit vom Boden der liberalen Par¬ 
tei aus gesehen führt zu der Forderung 
des Rechtsstaates, der den Rahmen ab¬ 
gibt für den freien Wettbewerb selbst¬ 
bewußter Individuen, von der wirt¬ 
schaftlichen Konkurrenz aufwärts bis zu 
dem freien Kampf der Geister. Wer 
wollte leugnen, daß in diesem politi¬ 
schen Grundpathos ein echter und be¬ 
rechtigter Zug des nationalen Lebens 
zum Durchbruch kommt? Denn ohne 
Persönlichkeitsbewußtsein der einzelnen 
kein Nationalbewußtsein im Ganzen. 


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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes 


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Und doch setzt dieses politische Ethos 
zweierlei voraus: den gegebenen festen 
Rahmen des Staates und die Kraft jedes 
einzelnen zur Selbstdurchsetzung. Es 
fordert daher als Gegengewicht und Er¬ 
gänzung einen konservativen Geist, der 
den Schäden des rationalen Fortschritts 
und des Individualismus entgegenwirkt. 
An dem Gegensatz zu dem liberalen 
Ethos der Autonomie ist das konser¬ 
vative Ethos der Autorität zum Be¬ 
wußtsein seiner selbst gelangt In man¬ 
nigfachem Sinne forderte es Unterord¬ 
nung unter das Ganze. Der Staat, der aus 
dem individualistischen Naturrecht nie 
ganz begreiflich geworden war, wurde 
wieder mit einer religiösen Sanktion um¬ 
geben (sei es auch nur als Metapher für 
das eigene Gefühl). Dazu kam die Autori¬ 
tät des historisch Gewordenen, der Glau¬ 
be an die sinnvolle Zweckmäßigkeit der 
kontinuierlichen Entwicklung, deren For¬ 
men nicht ohne Gefahr für den einzelnen 
wie für das Ganze durchbrochen wer¬ 
den können; also auch die Autorität der 
Ständegliederung, mit der eine Tradition 
des Herrschens und Beherrschtwerdens 
gegeben ist, im Gegensatz zu dem wur¬ 
zellosen Aufschießen des einzelnen nach 
liberalem Stil. Auf konservativer Seite 
herrscht daher eine historisch - orga¬ 
nische, geruhige Denkweise, die nicht 
bloß Theorie ist sondern Ethos, Geistes¬ 
haltung; auf liberaler Seite ein rationaler 
Individualismus und Fortschrittsopti¬ 
mismus, der ebenfalls aus echten Gei¬ 
stestiefen entspringt. Beide Sittlichkei¬ 
ten sind nur Momente am Staat; der 
nationale Staat selbst ist aus beiden zu- 
sammengewoben und darum mehr als 
jedes von ihnen. 

Als um das Jahr 1848 der Sozialismus 
sich als Parteiprogramm formulierte, 
schlummerte auf seinem Grunde wohl 
ein sittliches Wollen. Aber es vermochte 
sich noch nicht anders zu begreifen denn 


als fatalistisch sich durchsetzende Na¬ 
turkraft. Das Proletariat erschien sich 
selbst als eine moles, die Widerstände 
bezwingt, nicht weil sie will, oder weil 
sie soll, sondern weil sie muß. Der künf¬ 
tige Geschichtsschreiber der Sozialdemo¬ 
kratie wird die packende Aufgabe haben, 
hinter den theoretischen Ausdruck zu 
leuchten und in der Partei die ersten 
Keime einer sittlichen Grundauffassung 
zu suchen, die seitdem auch in der For¬ 
mulierung immer deutlicher bewußt ge¬ 
worden ist Es ist das Ethos derSolida- 
rität, das heißt des Grundsatzes: „Alle 
für einen, einer für alle“; ein Kampf¬ 
ethos von uralter Geltung und von stür¬ 
mischer Kraft, sooft hinter ihm das Ge¬ 
spenst der Not und des Elends stand. 
Aber in diesen Sozialismus des 19. Jahr¬ 
hunderts sind von vornherein neue Mo¬ 
tive eingegangen. Er ist nicht mehr an den 
Idealen orientiert wie ein antiker Skla¬ 
venaufstand oder ein mittelalterlicher 
Bauernkrieg. Sondern er hat um in He¬ 
gelscher Wendung zu reden, das Bild 
der frei entwickelten Persönlichkeit sich 
gegenüber, und so meint sein Gleich- 
heitsgedanke, den er seit 1789 imver¬ 
ändert bewahrt hat, nicht eine Gleich¬ 
heit der Ebene, sondern eine Gleichheit 
der Höhe. Er hat ferner den modernen 
Rechtsstaat sich gegenüber, den er trotz 
alles Jugendfatalismus im Sinne seiner 
Gerechtigkeitsidee umzubilden gestrebt 
hat; ja sein Staatsgedanke ist härter, als 
es dem modernen Bewußtsein natürlich 
ist. Denn ohne das große Mittel der Or¬ 
gan i s a t i o n ist die Solidarität nicht zu 
vollenden. Es glüht im Sozialismus un¬ 
verkennbar ein Funke von der Idee der 
persönlichen Autonomie und ein noch 
stärkerer Funke von der Idee der Staats¬ 
autorität. Aber beides ist doch auf so 
eigentümliche Art aneinander gebun¬ 
den, daß nicht eine Mischung, sondern 
ein Drittes, Neues entsteht. 


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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes 


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Dieses Neue nun, geboren aus dem 
festen Solidaritätsgefühl einer kämpfen¬ 
den Klasse, übertragen auf das Ganze 
des Staatslebens und auf die posi¬ 
tive Mitarbeit am Staate, ist das 
Ethos der Kollektivverantwort¬ 
lichkeit Sein Sinn liegt darin, daß 
alles Werten und Handeln bemessen 
wird von dem Standpunkte eines gesell¬ 
schaftlichen Ganzen aus, in dem bis 
heute höchsten Falle also vom Stand¬ 
punkte der zum Staat geeinten Nation; 
daß aber der einzelne diesem Ganzen 
nicht geopfert wird, sondern gerade in 
seiner reichsten und höchsten Entfaltung 
zugleich als Träger und als letztes Ziel 
des Ganzen erscheint. Diese seltsame 
Reziprozität bei der ein Gleichgewicht 
von Individualismus und Kollektivismus 
vorschwebt mag von der Verwirk¬ 
lichung noch so fern bleiben: als ethi¬ 
sches Ziel entfaltet dieser Gedanke nicht 
weniger Kraft als der der Humanität 
oder der gottgewollten Abhängigkeit 
Auch hier liegt nur eine einseitige Sitt¬ 
lichkeit vor; auch sie kann vielleicht nur 
Moment am Staatsleben werden und nie¬ 
mals restlos von ihm Besitz ergreifen. 
Daß sie aber in den Ideengehalt der po¬ 
litischen Parteien eingetreten ist das 
scheint das Besondere der Zeit, die wir 
erleben. 

Betrachten wir die Erscheinung von 
der Seite der Industriearbeiterschaft, die 
vorwiegend die Trägerin des sozial¬ 
demokratischen Programms gewesen ist, 
so bedeutet für sie die Erfüllung mit die¬ 
sem Ethos den Übergang vom Klassen¬ 
egoismus zur Staatsgesinnung. Sie wird, 
sofern sie diesen Übergang vollzieht mit 
manchem brechen müssen, was zu ihren 
Jugenddoktrinen gehört hat. Wie weit 
die Theorie vom Klassenkampf, von der 
Aufhebung des Privateigentums am Ka¬ 
pital, von der Beseitigung der Familie 
und von vielem anderen künftig noch 


auf ihrem Programm stehen bleiben 
kann, das sind Fragen, über die man in 
dem Buch gern Auskunft erhalten hätte. 
Denn die künftige Stellung der Gewerk¬ 
schaften und der Verzicht auf die inter¬ 
nationale Tendenz, die alle jugendlichen 
Parteibildungen zu begleiten scheint 
sind nicht die einzigen problematischen 
Punkte. Nur Wilhelm Kolb hat hier 
einige Andeutungen gegeben. Aber 
gleichviel, wie weit diese Umbildung 
geht: unsere Hochachtung gehört schon 
der Ehrlichkeit mit der die Arbeiterschaft 
sich zu den neuen Ideen bekannt hat 
Sie hat den Beweis geliefert daß sie ein 
Überindividuelles in ihr Bewußtsein auf¬ 
zunehmen vermag und also politisch reif 
ist. Das Verständnis für die unüberseh¬ 
baren Zusammenhänge der Weltwirt¬ 
schaft für die nationale Bedeutung des 
Kapitals, für die Erschließung neuer 
Absatzgebiete, das Gefühl, für dies alles 
mitverantwortlich zu sein, ist an die 
Stelle der ewigen Verneinung, der gren¬ 
zenlosen Forderungen und der grund¬ 
sätzlichen politischen Opposition ge¬ 
treten. Das ist Kriegsertrag und wird, 
wenn auch nicht ohne Spaltung im so¬ 
zialdemokratischen Lager, im Frieden 
fortwirken, sofern er die erhofften poli¬ 
tischen und wirtschaftlichen Konstella¬ 
tionen bringt 

Der ehrlichen Selbstkorrektur auf der 
einen Seite sollte aber auch die ehrliche 
Selbstprüfung und das rechte Entgegen¬ 
kommen auf der anderen entsprechen. 
Man hat viel Rühmens gemacht von der 
Entwicklung des deutschen Arbeiters 
zum Qualitätsarbeiter; man sollte ein- 
sehen, daß er über die Berufsleistung 
hinaus zum Qualitäts men sehen zu 
werden strebt und daß sich da ein Stüde 
eigner Kultur zu entfalten beginnt. Sie 
trägt all die Züge an sich, die in innerer 
Folgerichtigkeit aus der wirtschaft¬ 
lichen und sozialen Lage des Arbeiter- 


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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes 


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Standes erwachsen sind. Man soll 
da nicht unorganisch hineinkorrigieren. 
Auch dieser Erscheinung gegenüber 
heißt es: durch Kenntnis zum Verständ¬ 
nis, und darüber hinaus: vom Verständ¬ 
nis zur gemeinsamen Arbeit Vielleicht 
darf man sagen, daß der gute Wille da¬ 
zu vor dem Kriege nicht unbedingt ge¬ 
fehlt hat aber oft schroffe Ablehnung 
erfuhr. Abgesehen von dem, was ein¬ 
zelne, seien es Unternehmer oder Volks¬ 
erzieher, getan haben, hat mindestens 
die nationalökonomische Wissenschaft 
in ihren bedeutendsten Vertretern die 
neuen Notwendigkeiten schon seit den 
siebziger Jahren begriffen und erkannt 
nicht nur als wirtschaftliche Phänomene, 
sondern als sozial-ethische und poli¬ 
tische. Legt man auf diese Ansätze den 
Ton. so sehen wir heute den Gipfel¬ 
punkt der Bewegung: daß nämlich nach 
langem Mißverstehen jetzt endlich ein 
Begegnen von beiden Seiten stattfindet. 
Der soziale Staatsgedanke, der auch von 
der Regierung seit den achtziger Jahren 
mit Bewußtsein ergriffen worden ist 
gibt der inneren Politik heute unver¬ 
kennbar diA hervorstechende Färbung. 
Der Krieg hat das Zusammenfassen aller 
Kräfte dringend notwendig gemacht; 
das Ethos der Kollektivverantwortlich¬ 
keit ist unter seinem Zeichen so weit zur 
Herrschaft gelangt daß auf manchen 
Gebieten der Übergang zum Staatssozia- 
lismus tatsächlich vollzogen wurde. 

Aber wir sind weit entfernt das drin¬ 
gende Gebot des Augenblicks zum ein¬ 
seitigen, ewigen Gesetz zu erheben; viel¬ 
mehr glauben wir, daß ein Großes schon 
in der Anerkennung dieser Staatsgesin- 
ming und in ihrer Gleichordnung mit 
den älteren Formen des politischen Be¬ 
wußtseins erreicht ist. In diesem Ver¬ 
stehen, Vertrauen und Achten liegt das 
Recht vom künftigen inneren Frieden 
des deutschen Volkes zu sprechen. 


Denn ein schneidender und schmerz¬ 
licher Gegensatz ist im Begriff sich zu 
mildern, durch positive Mitarbeit auf der 
einen, durch Gleichachtung und Ver¬ 
pflichtungsgefühl auf der anderen Seite. 
Der Staat hat seine einende Kraft von 
neuem bewährt Der nationale Staat hat 
einen weiteren Schritt vorwärts getan, 
indem er zugleich zum sozialen Staat ge¬ 
worden ist. Er hat eine Partei mit neuem, 
reichem Gehalt in sich aufgenommen 
und ist auch für sie zum „Vaterland" ge¬ 
worden. Neue Aufgaben für ihn selbst, 
Friedens auf gaben im ernstestenSinne, 
sind damit gegeben, denn „das Staats¬ 
gefühl als solches ist es, was entscheiden 
und was auch die verschiedenen Par¬ 
teien verbinden muß zur Erhaltung nicht 
etwa einzelner, gegebener Staatsformen, 
sondern des Staates als Ganzen, zur 
Durchführung der Staatsidee“. (Wolf- 
gang Heine. S. 465.) 

Und so könnte man am Schluß ernst¬ 
haft fragen, ob der Vorgang, der sich 
uns als das Zentrum des Ganzen enthüllt 
hat, nicht besser eine Bereicherung der 
inneren Bewegung des deutschen Vol¬ 
kes genannt werden soll als eine Anbah¬ 
nung des inneren Friedens. Denn 
nicht um Nivellierung handelt es sich, 
sondern um Aufnahme eines neuen 
Staatsprinzips zu den alten der Autori¬ 
tät und der Autonomie. Daß die Träger 
dieser abweichenden Prinzipien sich ge¬ 
genseitig verstehen und achten lernen, 
darin liegt das Moment des Friedens. 
Aber daß sie sich auseinandersetzen, 
teils die Bewahrung des Bewährten, teils 
freie Bahn für die Persönlichkeit, teils 
gesellschaftliche Organisation und Für¬ 
sorge verlangen, darin liegt eine Rhyth¬ 
mik des weiterwogenden Lebens. Und es 
scheint, als ob der Staat in dem gehei¬ 
men Prozeß seines Wachstums immer 
mehr dahin drängt, Individualität und 
Mannigfaltigkeit in seinem Schoß zu he- 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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gen und doch für dieses Meer von Le¬ 
ben Maß und Form zu finden. Der natio¬ 
nale Staat der Gegenwart ist nicht mehr 
ein mechanisches und uniformierendes 
Gebilde, sondern ein Organismus, „der 
aller seiner Glieder bedarf, von denen 
jedes nur in seiner Eigenart gedeihen 
kann, eines das andere in Wechselwir¬ 
kung ergänzt, eines daher auf Gedeih 
und Verderb mit allen anderen und mit 
dem Ganzen verwachsen ist.“ (August 
Pieper, Seite 262.) 

Eine merkwürdige Umbildung, die so 
mit dem Gleichheitsgedanken von 1789 
und 1848 erfolgt ist! Ein Jahrhundert 
hindurch hat er wie ein geheimer Hebel 
die innere Entwicklung Europas bewegt 
Und doch hat der Traum der Gleichheit 
sich nirgends erfüllt, weder als Natur¬ 
ausstattung, noch als Werk der poli¬ 


tischen Kunst Wohl aber dämmert 
der Gedanke einer zunehmenden 
Gleichwertigkeit bei aller Verschie¬ 
denheit der Lage und der Leistung 
empor. Darin liegt eine neue und tiefere 
ethische Bewertung. Die Gesellschaft ist 
weiter als je davon entfernt ein Aggre¬ 
gat homogener Glieder zu werden; aber 
sie beginnt gleichsam in jedem ihrer 
Glieder ein eigenes Leben mit eigenem 
Wert zu erzeugen. Das ist der Kern, der 
jetzt aus dem Gleichheitsgedanken her¬ 
ausspringt Und wie in jedem Einzelnen 
diese Stellung zum Ganzen mehr und 
mehr die ihn bewegende Sittlichkeit 
wird, so wird auch, das Ganze sich immer 
stärker mit dem Bewußtsein erfüllen, 
daß es diese Quellen sind, aus denen sein 
Leben strömt. 


Guido Gezelle. 

Von Franz Jostes. 

I. Des Dichters Lebensschicksal. 


„In der gesamten niederländischen 
Literatur gibt es nur zwei Gestalten, 
die das Bild des großen Dichters, des 
Dichters, verwirklichen: Vondel und Ge¬ 
zelle.“ So urteilt Prosper van Langen- 
donck, selbst ein feinsinniger flämischer 
Dichter, und der Brüsseler Literarhisto¬ 
riker Aug. Vermeylen hat sich in einem 
zu Lüttich über Gezelle gehaltenen Vor¬ 
trag ganz ähnlich ausgesprochen: „... il 
est admis aujourd’hui par les critiques 
les plus autoris6s que Gezelle est le 
plus grand poöte que les pays de la 
langue ngerlandaise aient depuis le 
XVIIe sifele et ... peut-ötre le seul de 
tous nos pofetes qui mörite, sans con- 
teste, une gloire europGenne.“ 

Je allgemeiner dieses Urteil aner¬ 
kannt wurde, in desto weiteren Krei¬ 
sen regte sich natürlich auch das 


Interesse für den Dichter, und jeder, 
der sich etwas mit Literatur befaßte 
oder doch darüber mitreden wollte, 
wünschte über den Dichter näher unter¬ 
richtet zu werden. Alle Blätter und 
Blättchen beeilten sich daher diesem 
Bedürfnisse abzuhelfen. 

„Alles, was nur eine Feder führt,“ 
sagt van Langendonck, „hat jetzt über 
ihn geschrieben, jeder von seinem 
Standpunkte und in seiner Art Jetzt 
haben sie ihn allzusammen entdeckt! 
Wie wird nicht mit ihm posiert 1 Er, der 
Schweigsame, der Weltverlorene, der 
In-sich-selbst-Lebende, der etwas Men¬ 
schen- und Freundesscheue, wurde nun 
auf einmal Allmannsfreund. Wenn ich 
all die Marktschreierei und all die De¬ 
klamationen über ihn höre, dann sehe 
ich wieder sein feines Lächeln und frage 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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mich, was er in seinem entschuldigend- 
ironischen Tone sagen würde, müßte 
er wieder lebendigen Leibes vor uns er¬ 
scheinen und den Duft einatmen von 
dem um sein Bild bis zum Ersticken 
abgebrannten Weihrauch, der nicht im¬ 
mer von der feinsten Sorte ist" 

Selbst das Leibblatt des gebildeten 
belgisch-französischen Bourgeois, die 
„Chronique“, sah sich endlich genötigt 
- der Dichter war freilich bereits zehn 
Jahre totl — sein Publikum über den 
ja modern gewordenen Dichter aufzu- 
Jdflren, und es ist interessant zu sehen, 
wie M. E. Picard sich dieser Aufgabe 
(I4.M&rz 1909) entledigte. „J’aurais döjä 
dfl en parier dans la Chronique, mais 
sait-on si on ne choque pas un lot de 
lecteurs en disant combien notre littera- 
ture flamande est belle, touchante et 
abondante! Puis oe fut un cur6, ce Ge¬ 
zelle 1 C’est pönible de vanter un curöl 
Mfme les plumes impudentes reculent 
devant de telles audaces.“ 

In Deutschland verspürte man nicht 
sehr viel von dieser Bewegung, die flä¬ 
mische Literatur liegt uns im allgemei¬ 
nen fern, und bei Gezelle bietet die 
Sprache noch besondere Hindernisse. 
Übersetzungen können ihn uns nicht 
hinreichend nahe bringen; denn man 
mag sagen, was man will, Vermeylen 
wird Recht behalten: „Malheureuse¬ 
ment, c’est le moins traduisible qu’il 
y ait Dös qu’on le transpose, il perd 
sa personnalitö la plus intime.“ Ich will 
nicht bestreiten, daß sich manches von 
ihm leidlich, ja sogar gut übersetzen 
läßt, aber das gilt nicht von den Ge¬ 
dichten, in denen sich seine Eigenart 
am schärfsten und klarsten ausspricht, 
m denen er der eigentlichste Gezelle ist. 

Gleichwohl hat sich auch bei uns die 
Zahl seiner Verehrer in den letzten Jahr¬ 
zehnten nicht unerheblich vermehrt, we¬ 
nigstens hier im Nordwesten, wo die 


Propaganda der Holländer im per¬ 
sönlichen Verkehr sich einigermaßen 
geltend macht So kenne ich einen 
Juristen, der von einem holländi¬ 
schen reformierten Pastor, mit dem er 
amtlich zu tun hatte, für Gezelle ge¬ 
wonnen wurde. Und wer sich nur erst 
mit einigem Mut in die Lektüre hinein¬ 
stürzt, findet seine Mühe bald belohnt 
und wird ihm nicht wieder untreu. 
Einen eigentümlichen Fall dieser Art 
erlebte ich in den letzten Osterferien. 
Ich hatte im Wintersemester ein klei¬ 
nes Kolleg über die flämische Literatur 
des 19. Jahrhunderts gelesen und mir 
dazu früh genug durch einen Buch¬ 
händler in Amsterdam die dort erschie¬ 
nene Gesamtausgabe von Gezelles Wer¬ 
ken bestellen lassen. Es kam und kam 
nichts, und ich mußte sehen, daß ich 
ohne sie fertig wurde. Als ich nun 
Ostern persönlich über die Grenze 
wollte und, um alle Scherereien zu ver¬ 
meiden, meine Papiere auf einem Zen¬ 
surbureau an der Grenze versiegeln 
ließ, bemerkte der würdige Militär, wel¬ 
cher die heilige Handlung vollzog, daß 
sich darunter auch Flämisches befand. 
„Kennen Sie auch Gezelle?" fragte er 
mich. Ich bejahte das und stellte die 
Gegenfrage, ob er sich denn auch für 
ihn interessiere. „Sehr,“ antwortete er, 
„es ist ein höchst interessanter Dichter, 
aber schwierig, ich lese ihn gerade“, 
und dabei zeigte er auf die Veensche 
Ausgabe. Ein Wort gab das andere, 
und bald hatte ich festgestellt, daß es 
das für mich bestimmte Exemplar war, 
in dem sich der biedere Sohn des Mars 
bei der Suche nach staatsfeindlichen 
Schriftstücken festgelesen hatte 1 
Das Semester war vorüber, die Vor¬ 
lesung geschlossen, und sobald mir das 
klar wurde, legte sich in mir der un¬ 
willkürlich aufgestiegene aber gegen¬ 
standslos gewordene Ärger, und ich 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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verabschiedete mich vergnügt lächelnd 
von dem Herrn mit den Worten: „Nun, 
dann lesen Sie auch nur noch vier Wo¬ 
chen weiter 1" 

Das ist ein vereinzelter Fall, der sich 
schwerlich wiederholen wird; allein, 
daß einer, der auf Rezensionen hin 
nicht leicht mehr Bücherfreundschaften 
schließt, von einem Dichter selbst sofort 
gewonnen wird, wenn ihm Zufall oder 
Absicht diesen in den Weg führt, das 
ist weder ungewöhnlich, noch unver¬ 
ständlich. Und so möge denn auch 
hier dem Leser, soweit es der Raum 
gestattet, Gezelles Dichtung selbst vor¬ 
geführt werden und ihr beschieden sein, 
was meinem Worte versagt bleibt. 

1 . 

Brügge, das keine Gegenwart zu 
kennen scheint, in dem alles Vergan¬ 
genheit ist, was den Besucher entzückt, 
wo die Steine von Poesie und die Men¬ 
schen von Prosa strotzen, dieses Brügge 
ist die Vaterstadt des größten moder¬ 
nen Dichters der Niederlande. In einem 
der stillsten Winkel dieser Stadt der 
Totenstille, im St. Annenkirchspiel am 
Rolleweg, auf dem das Gras nach Er¬ 
lösung von den Pflastersteinen zu seuf¬ 
zen scheint, stand sein Geburtshaus. 
Unweit davon lag das Englische 
Kloster, wo er, der hier am Mai¬ 
tage 1830 zum ersten Male die Augen 
aufschlug, sie 69 Jahre später für im¬ 
mer wieder schloß. Sein Vater war ein 
„tuinman“, wie die Holländer, ein „ho- 
venier oder boomqueeker“, wie die Fla¬ 
men den Gärtner nennen. Sein Haus 
lag in einem großen Garten, und die 
Familie führte mehr ein Land- als Stadt¬ 
leben. Die Mutter war überdies men¬ 
schenscheu, und daher kam der Knabe 
mit den Städtern wenig in Berührung. 
Dagegen durfte er bisweilen ihre Eltern 
auf dem Lande besuchen, und die Er¬ 


innerung an diese selige Zeit hat der 
Greis noch zwei Jahre vor seinem Tode 
in einem tief empfundenen Gedichte 
(„Terug“) zum Ausdruck gebracht 
Auch wenn der Vater auswärts Auf¬ 
träge auszuführen hatte, durfte der 
Sohn ihn bisweilen begleiten. So lernte 
er anläßlich einer Dünenbepflanzung 
„op den Haan" das Meer kennen, und 
noch wichtiger wurde für ihn die An¬ 
lage des großen Gartens am bischöfli¬ 
chen Kolleg in Rousselare, wohin ihn 
der Vater mitnahm. Das gab nämlich 
den Anlaß zu seiner Aufnahme ins Kol¬ 
leg (1846). Zwar mußte er sich das 
Kostgeld selbst verdienen, indem er 
außerhalb der Schulstunden den Pfört¬ 
nerdienst versah, aber diese Aufgabe 
war eher eine Lust als eine Last für 
ihn. Brachte sie ihn doch in die engste 
Berührung mit den Landleuten der Um¬ 
gegend, wenn diese kamen, um ihre 
im Kolleg studierenden Söhne zu be¬ 
suchen. Er hatte nämlich von seinem 
Vater, der sich mit Vorliebe in Sprich¬ 
wörtern und altgeprägten Redensarten 
ausdrückte, und im Verkehre mit sei¬ 
nen mütterlichen Verwandten auf dem 
Lande schon früh ein großes Interesse 
für alles Volkstümliche in Sprache und 
Sitte gefaßt, das ihn durch sein ganzes 
Leben begleitete. Diesem Interesse 
konnte er in seiner neuen Stellung nach 
Lust und Liebe frönen, indem er die 
Besucher in sein Kämmerlein lud und 
sie nach alten Wörtern, Sprüchen, Rei¬ 
men, Liedlein und Gebräuchen aus¬ 
fragte, kurz aufs eifrigste das pflegte, 
was heutzutage unter dem Namen Folk¬ 
lore nicht nur als Wissenschaft, son¬ 
dern auch als Modesache betrachtet 
wird. Was man aber in so jungen Jah¬ 
ren ganz natürlich und ungezwungen 
in sich aufnimmt, das wird kein toter 
Schatz, sondern setzt sich in Fleisch 
und Blut um: es ward ein lebendiger 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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Bestandteil von Gezelles eigener Denk-, 
Rede- und Schreibweise und bildet die 
sichere Grundlage für seine spätere 
Meisterschaft über Wort, Bild und 
Klang. Was er auf der Schulbank 
hörte, hatte zu alledem nicht die lo¬ 
seste Beziehung, denn der damaligeUn- 
terricht stand völlig außerhalb des Le¬ 
bens und der Natur. Es ist daher ver¬ 
ständlich, daß derselbe keine Anzie¬ 
hung für ihn hatte und er keineswegs 
ein Musterschüler im landläufigen Sinne 
des Wortes wurde. Namentlich von; der 
Regierungsmethode der griechischen 
Präpositionen soll er nur höchst unklare 
Vorstellungen gehabt haben, und 90 fiel 
er denn schließlich in Brügge durch 
das Examen, welches ihm die Tore zum 
Priesterseminar öffnen mußte! Als das 
in Rousselare bekannt wurde, fuhr in¬ 
des einer seiner Lehrer, der seinem Na¬ 
men keine Unehre gemacht zu haben 
scheint — er hieß nämlich Nachte- 
gaele — sofort zum Bischof Malou und 
legte ihm das beste der Gedichte vor, 
die der Verunglückte bereits damals ge¬ 
macht hatte: „De Mandelbeke“. Und der 
Bischof, der nach Hugo Verriest „ein 
hoher Geist“ war, ließ sich überzeugen 
und machte einen Strich durch das 
Examen: der erste und letzte Profit, den 
die edle Dichtkunst ihrem Jünger zeit¬ 
lebens eingetragen hat! 

Im Seminar scheint man bald von 
seiner Begabung eine hohe Meinung be¬ 
kommen zu haben, zwar nicht wegen 
seiner Dichtkunst, die dort nicht viel 
galt wohl aber wegen seines Wissens, 
und der Ruf eines tiefgründigen Ge¬ 
lehrten — verstand er doch 15 Spra¬ 
chen — ist ihm auch in jenen Kreisen 
durch das ganze Leben treu geblieben. 
Noch vor seiner Weihe wurde er nach 
Rousselare geschickt und zwar als 
„professeur de commerce“ — die erste 
Ironie des Schicksals, die ihn auf seiner 

Internationale Monatsschrift 


ganzen Laufbahn verfolgt hat. Denn 
dieser Vertreter der Rechen- und Han¬ 
delslehre hat wie H. Verriest bezeugt, 
nie 10 Cents besessen, ohne wenigstens 
5 davon zu verlieren! 

Erquickung brachte ihm die Vertre¬ 
tung des erkrankten Lehrers der flä¬ 
mischen Sprache, die freilich nur eine 
Stunde die Woche in Anspruch nahm. 
Der Löwener Mediziner Prof. Dr. Gu¬ 
stav Verriest hat uns die erste Stunde 
seines Unterrichts anschaulich geschil¬ 
dert: 

„Ich sehe ihn noch in seiner ersten 
Unterrichtsstunde mit einer ganzen 
Menge loser Blätter das Katheder be¬ 
steigen und sie schweigend auf seinem 
Pulte verteilen. 

Was konnte das sein? 

Er begann. — Die Lektion aus der 
Sprachlehre, die wir hatten lernen müs¬ 
sen, wurde nicht berührt noch erwähnt, 
sondern Gezelle überreichte uns eine 
Ansprache Herzog Johanns von Bra¬ 
bant vor der Schlacht bei Woeringen. 

Das klang so eigentümlich, das war 
keine halbfremde — das war unsere 
echte, eigene Muttersprache! Dann be¬ 
gann er Worte und Wendungen zu er¬ 
klären, und hier — welch eine Offen¬ 
barung für unseren Geist! — wurden 
die Reichtümer und Schätze unserer 
Sprache aufgedeckt, die verwandten 
Wörter von nah und fern angezogen, 
aus Gegenwart und Vergangenheit, ge¬ 
sprochene und gebuchte, aus unserer 
eigenen lebendigen flämischen Sprache, 
aus dem Griechischen, aus allen germa¬ 
nischen Sprachen, ja sogar aus dem 
indogermanischen Sprachgebiet.... 

Eine Welt wankte und wackelte auf 
ihrem alten Stande.“ 

1857 wurde er Lehrer der „Poesis“, 
und die Schüler erlebten es nun, wes¬ 
halb diese Klasse (die etwa unserer 
Unterprima entspricht) ursprünglich 

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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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diesen Namen bekommen hatte. Nach 
der herkömmlichen Methode hatten 
sie von den Werken der großen Mei¬ 
ster der Literatur nur wenig kennen 
gelernt, statt dessen aber einen Berg 
von Erklärungen, die ihnen genau anga- 
ben, was und weshalb etwas zu bewun¬ 
dern sei, gleichviel, ob Lehrer und Schü¬ 
ler es selbst glaubten und empfanden 
oder nicht: wenn die Schüler gut nach¬ 
schrieben und das Nachgeschriebene 
auswendig lernten, konnten sie sicher 
sein, bei der Prüfung zu glänzen, denn 
etwas anderes als diese seit Generatio¬ 
nen in Pökel aufbewahrte Weisheit be¬ 
saßen auch die Examinatoren nicht. 
Mit diesem System brach Gezelle. Er 
betrachtete es nicht als seine Aufgabe, 
den Schülern ein bestimmtes Maß we¬ 
nig lehr- und lemenswerten Wissens zu 
vermitteln, sondern ihnen das Verständ¬ 
nis für wahre Poesie zu erschließen, 
ihre geistigen Kräfte zu wecken und 
ihrer eigenen Natur entsprechend zu 
entwickeln. Deshalb las er viel und 
vieles mit ihnen, oder las es ihnen viel¬ 
mehr meistens vor, bei der Erklärung 
sich auf das Notwendigste beschrän¬ 
kend. Er las Homer und wieder Homer, 
wenig Vergil, aber mehr Horaz, Per- 
sius, Plautus, Terenz, Aischylos und 
Sophokles; Blätter um Blätter Proben 
brachte er mit aus Dante, Tasso, Franz 
von Assisi, aus englischen, deutschen 
und dänischen Dichtem, aus dem He¬ 
liand und Jacob van Maerlant, Anna 
Bijns und Pater Poirters. 

„An besonderen Tagen", schreibt G. 
Verriest, „begann die Seele dem Meere 
gleich in Bewegung zu geraten. Bei 
seinem Eintreten erkannten wir an 
seinem bleichen Gesicht, an seinen 
weißen Händen, an der Erschütte¬ 
rung seines Knies, die Stunden, wo 
der Daimon seiner Meister war, und 
wenn es nach innigem leise gemurmel¬ 


ten Gebete hieß: „fermez vos livres!“, 
dann krochen wir schweigend in un¬ 
sere Bänke, sahen einander an und lie¬ 
ßen uns eine Stunde lang von der Mee¬ 
resflut überspülen. In solchen Stunden 
kamen auch die bedeutenderen, tiefsten 
Gedichte." 

Vier seiner damaligen Schüler leben 
noch heute, und alle vier sind hoch- 
angesehne Schriftsteller geworden: die 
Gebrüder Verriest, Eug. van Oye und 
K. de Gheldere, drei Mediziner und ein 
Theologe. Und wenn man die Treue 
sieht, die sie unverbrüchlich ihrem Leh¬ 
rer bewahrt haben, wenn man die 
Wärme fühlt, mit der sie noch im 
Alter des Gezelleschen Unterrichts 
gedenken, dann kann man sich der 
Überzeugung nicht verschließen, daß 
dieser wirklich ein gottbegnadeter Leh¬ 
rer war, wenigstens für Schüler, die 
zu unterrichten sich wirklich lohnt, und 
die allein in den klassischen Studien 
unterrichtet zu werden verdienen. Aber 
in Rousselate, wie leider auch anders,- 
wo, drückten noch andere die Schul¬ 
bänke, und diese bekamen nichts in 
ihr Heftchen zum Auswendiglernen, und 
in ihrem Herzen schlummerte nichts, 
was sich wecken und von des Lehrers 
Feuers entzünden ließ: „il n’explique 
pas les beaut6s des auteurs“, sagte man, 
wenn dann die Prüfungen nicht stilge¬ 
mäß ausfielen, und das war in den 
Augen der Lehrerschaft doch das höch¬ 
ste Ziel allen Unterrichts. So wurde 
denn Gezelle als Revolutionär betrach¬ 
tet, sowenig er sich als solcher fühlte 
und es sein wollte. Aber in das gei¬ 
stige und pädagogische Milieu des Kol¬ 
legs paßte er in der Tat nicht hinein; 
es mag auch vielleicht ein Gymnasium 
mit lauter Lehrern wie Gezelle nicht 
bestehen können, eine traurige Anstalt 
ist es aber jedenfalls, die nicht einen 
einzigen Geist seines Schlages verträgt: 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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und der Bischof von Brügge, Msgr. 
Faid, glaubte Gezelle aus der seinigen 
entfernen zu müssen. Es war das sein 
Recht aber er beseitigte den großen 
Mann in verletzender Weise, das war 
sein Recht nicht und das wird auch das 
Flandern der Zukunft ihm nicht ver¬ 
gessen. 

Die Amtsentsetzung — er wurde 
noch einige Zeit als „Flickprofessor“ 
zur Aushilfe beibehalten — gab den 
Anlaß, daß alle kleinen Geister, deren 
Glanz er beeinträchtigt hatte, über ihn 
herfielen und nicht bloß den Päda¬ 
gogen, sondern auch den Dichter mit 
Spott und Hohn überschütteten. Ein¬ 
sam und verlassen stand er da. Nur 
seine Schüler bewahrten ihm die Treue. 
Geknickt und tief verwundet in seinem 
zarten Gemüte verlor er anscheinend 
das Vertrauen zu sich selbst. Er hörte 
auf in der bisherigen Weise zu dichten; 
er schwieg, schwieg Jahrzehnte lang. 
Lag der Grund davon wirklich allein in 
der rücksichtslosen Behandlung, die er 
seitens seiner Behörde erfuhr? Die ei¬ 
nen glauben es, andere zweifeln daran 
und suchen nach anderen Gründen, mit 
Recht, aber sie suchen an der falschen 
Stelle, wie ich glaube. Bevor ich in¬ 
des die Hauptursache seines langen 
Schweigens aufzudecken versuche — 
und das ist für das Verständnis seiner 
dichterischen Eigenart wie auch für die 
Beurteilung der damaligen Verhältnisse 
im geistigen Leben Flanderns von Be¬ 
lang —, ist es notwendig, zunächst 
kurz einen Blick auf die Gedichte sei¬ 
ner ersten Periode, d. h. bis etwa zu sei¬ 
nem 30. Lebensjahre, zu werfen. 

2 . 

Gezelles Beschäftigung mit der Poe¬ 
sie ging von der Schule aus. In den 
Lehranstalten Flanderns übt sich die 
Jugend noch heute im Versemachen, 


und die Folge'davon ist, daß diejeni¬ 
gen, welche einige Anlage dazu haben, 
sich darin eine große technische Fertig¬ 
keit erwerben. Das bekannteste Bei¬ 
spiel dafür bildet der geniale Prudens 
van Duyse, der ganz unvorbereitet Re¬ 
den in den glattesten Versen zu halten 
vermochte. Natürlich gerieten die Schü¬ 
ler dabei unter den Einfluß der meist¬ 
gelesenen niederländischen Dichter, vor 
allem Bilderdijks, der mit seiner Re- 
thorik überhaupt der gesamten flämi¬ 
schen Dichtung des 19. Jahrhunderts 
seinen Stempel aufgedrückt hat. In den 
kirchlichen Kreisen wurde neben ihm 
damals noch immer viel der alte 
Adriaan Poirters gelesen, dessen Haupt¬ 
werk „Het Masker van de wereld af- 
ghetrokken (Die entlarvte Welt)“ seit 
dem Jahre 1646 mehrere Ausgaben er¬ 
lebte. Dieser flämische Jesuit erinnert 
in mehr als einer Hinsicht an seinen 
deutschen Zeitgenossen Abraham a 
Sancta Clara: ein erfindungsreicher 
Kopf, voll gelungener Einfälle und Bil¬ 
der. Seine Verse fließen überaus leicht 
dahin, seine Sprache ist ohne Pathos, 
oft kunstreich, aber klar, natürlich und 
volkstümlich, dabei stets rein von 
Fremdwörtern. Er sieht scharf und 
weiß seine Beobachtungen anschaulich 
und faßlich vorzubringen, stets darauf 
bedacht, das Interesse des Lesers wach- 
zuhalten. Obwohl Satiriker, schwingt 
er die Geißel doch immer mit lächeln¬ 
der Miene, ohne Bitterkeit oder Grob¬ 
heit. Im Grunde liegt ein tiefes weiches 
Gemüt, was besonders dort hervortritt, 
wo er seine Freude an der Natur zum 
Ausdruck bringt Das sind Eigenschaf¬ 
ten, die wir zu einem guten Teile bei 
Gezelle wiederfinden, dessen eigener 
Natur sie zwar bereits anhafteten, die 
aber unzweifelhaft durch die Lektüre 
von Poirters erheblich gefestigt und 
entwickelt wurden und ihn gegen den 

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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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ausschließlichen Einfluß der zeitgenös¬ 
sischen Dichter feiten. Schon das oben 
erwähnte Gedicht aus seiner Gymna¬ 
siastenzeit erscheint als ein Anachronis¬ 
mus: denn wer hielt damals eine Man- 
delbeke für würdig, bedichtet zu wer¬ 
den? Das gebührte nur großartigen Ge¬ 
genständen, und so mußten denn auch 
die Schüler in Rousselare solche be¬ 
handeln, z. B. einen „Sturm auf dem 
Meere“, obschon keiner der Jungen ein 
Meer auch nur gesehen hatte! Davon 
wollte Gezelle, dessen oberster Grund¬ 
satz Wahrheit und Einfachheit war, 
nichts wissen; er verwies die Schüler 
auf Dinge, die sie kannten, lehrte sie, 
dieselben beobachten und zeichnen, und 
geriet das nicht sofort, dann machte er 
es ihnen vor. So entstanden seine eige¬ 
nen Gedichte; G. Verriest bezeugt, daß 
fast alle Stücke der „Gedichtöl usw.“ 
zuerst auf der Rückseite von Schul¬ 
aufgaben gestanden haben, und fühlt 
sich imstande, noch jetzt mit Namen 
und Vornamen die Schüler zu nennen, 
für die sie bestimmt waren. „Ja die 
Kehrseite der .devoirs* hat bei unserer 
Erweckung und Erziehung ein wunder¬ 
bares Spiel gespielt.“ Ein wunderba¬ 
res Spiel auch in der Erweckung Ge- 
zelles! Denn es war eine Eigentümlich¬ 
keit bei ihm, daß er zum Dichten der 
äußeren Anregung bedurfte: „ein Vers 
von ihnen (seinen Schülern), ein Wort, 
ein Klang, ein Zittern ihrer Seele, ein 
Funke ihres Geistes“ reichte dazu hin; 
aber irgendwie mußten die Saiten sei¬ 
ner Seele in Schwingung versetzt wer¬ 
den. Er selbst hat das auch gestanden: 

„Niet ooit en hebbe ik vrij gezongen 
maar vogelvrij, waar hier waar daar, 
als uit een angeroerde snaar 
is woord een dicht en deun te gaar 
van zelfs mij uit de ziel gesprongen!“ 1 ) 

1) Niemals habe ich frei (ohne Zwang) 
gesungen, aber vogelfrei, bald hier bald 
dort, wie aus einer angerührten Saite ist 


So kam es denn bisweilen zwischen 
Lehrer und Schülern zu förmlichen 
Wett- und Wechselgesängen, für die 
wir in dem Gedicht „Nachtegale Schui- 
felare" noch aus viel späterer Zeit ein 
bekanntes Beispiel haben. Zur Zeit 
nämlich, als Gezelle sich hauptsächlich 
mit dem Sammeln alter flämischer Wör¬ 
ter befaßte und mit seinem ehemaligen 
Schüler Karel de Gheldere über die Be¬ 
nennung „schuifelare“ (Flöterin) für 
Nachtigall korrespondierte, legte die¬ 
ser zu seinen Bemerkungen die erste 
Strophe zu einem Lied auf die Nachti¬ 
gall bei, mit der Aufforderung: „Macht 
Ihr die zweite.“ Gezelle schickte sie 
mit wendender Post, und nun ging es 
abwechselnd weiter, bis Gezelle mit der 
zwölften den Schluß machte, in der er 
auf Augustin und Ambrosius hinwies, 
die in derselben Weise das Tedeurn ge¬ 
dichtet haben sollen. 2 ) 

Aus dieser seiner ersten Periode 
stammen mehrere Veröffentlichungen, 
zunächst die „Dichtoefeningen“ (1858), 
in denen sich die ältesten Stücke und 
einige wirkliche Perlen befinden, die 
bereits seine ganze dichterische Eigen¬ 
art verraten, so die „Pachthofschilde¬ 
ring“, „Het Schryverke“, „Excelsior“, 
„De beitrommel“, „Aan de leuwerke in 
de lucht“ und das bekannteste von all 
seinen Gedichten „O’t ruischen van het 
ranke riet“, das bereits von Ida von 
Düringsfeld und später auch noch von 
anderen ins Hochdeutsche übersetzt 
worden ist. 

Der Tod eines 18jährigen Schü- 

Wort und Vers und Ton miteinander von 
selbst aus meiner Seele gesprungen. 

2) Ein Beispiel anderer Art bildet das 
Memento homo (quia pulvis es). Wie er in 
der letzten Strophe selbst sagt, hat er das 
Gedicht geschrieben, während 1894 der 
Bildhauer Lagae ihn in „pottebakkers aarde“ 
(Töpferton) modellierte! 


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Franz Jostes, Quido Gezelle 


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iers, Eduards van den Bussche aus 
Staden, rief die „Kerkhofblommen“ her¬ 
vor, eine Beschreibung des Begräbnisses 
in der Heimat des Schülers, an dem 
Gezelle sich mit der ganzen Klasse be¬ 
teiligte. Die Prosa wechselt hier mit 
Versen ab, unter denen sich auch eine 
Übersetzung des „Dies irae“ befindet, 
die schönste, die ich je gelesen, ein 
Meisterwerk vor allem durch die Wie¬ 
dergabe der mächtigen und farbenvol¬ 
len Klänge des Originals. Daneben 
zeigt sich hier auch schon Gezelles 
Vorliebe für das Volkstümliche, das bei 
ihm nicht der Verbindung mit dem li¬ 
turgischen Texte widerstrebte: er deutet 
das Strohkreuz, das vor dem Bauern¬ 
hause lag und den Vorübergehenden 
anzeigte, daß sich im Hause eine Lei¬ 
che befand. Er erzählt uns, wie der 
Knecht den Pferden den Tod zeitig mel¬ 
det, damit sie sich beim Fahren der 
Leiche keinen Schaden zuziehen. 

„En hij kust en kruist zie beiden, 
en „gij“, zegt hij „Blesse en Baai, 
moet een lijk naar’t kerkhof leiden, 
Baai en Blesse, stille! frai! 

Schuimen zoudt ge en lästig zweeten, 
zoo’k u zonder wete liet 
van de mare, en zoudt verheeten, 
gave ik u den zegen niet.“! s ) 

Die Prosa des Schriftchens sticht 
durch ihre Natürlichkeit und Glätte von 
der unnatürlichen und schwerfälligen 
Schreibweise seiner Zeit sehr zu ihren 
Gunsten ab. Auch hier schließt er sich 
in dem Streben nach dem einfachsten 
und zugleich treffendsten Ausdruck eng 
an die Volkssprache an, worin er für 
die flämische Jugend Vorbild geworden 

3) Und er küßt und bekreuzt sie beide, 
.und ihr", spricht er, „Blesse (Weißfleck) 
und Baai (Brauner) müßt eine Leiche zum 
Kirchhof fahren, Baai und Blesse, stille! 
artig 1 Schäumen würdet ihr und stark 
schwitzen, wenn ich euch die Märe nicht 
wissen ließe, und ihr würdet euch ver- 
hitzen, gäbe ich euch den Segen nicht.“ 


ist, obwohl er sonst, keine oder wenig 
Prosa schöngeistigen Inhaltes geschrie¬ 
ben hat. 

Keinem König der Erde ist je eine 
wahrer und wärmer empfundene, schö¬ 
nere und rührendere Totenklage gewid¬ 
met worden als jenem Bauembuben 
von Staden in Westfländern! 

1859 gab Gezelle eine Anzahl Über¬ 
setzungen religiöser Gedichte von Franz 
v. Assisi, Jacopone da Todi u. a. heraus. 
Sie sind in die Gesamtausgabe nicht 
aufgenommen, und den Originaldruck, 
der sehr selten ist, kenne ich nicht. Im 
folgenden Jahr erschienen „Het Kindeke 
van de dood en XXXIII Kleengedicht- 
jes“. Die letzteren wurden später ver¬ 
mehrt und sind jetzt mit den auch noch 
in Rousselare entstandenen „Gedichten, 
Gezangen en Gebeden“, die H. Verliest 
1862 herausgab, im 1. Band der Ge¬ 
samtausgabe vereint. 

3. 

Gezelles Stellung verbesserten die 
Veröffentlichungen nicht; der Dichter 
wurde nicht höher eingeschätzt als der 
verkrachte Lehrer, und die Ungunst der 
Behörde verfolgte ihn weiter. Weil er 
kein Durchschnittsmensch war, verstan¬ 
den ihn die Durchschnittsmenschen 
nicht, und trotz seinem nur allzuweit- 
gehenden Autoritätsgefühl und seiner 
übergroßen Bescheidenheit betrachtete 
man ihn als einen Revolutionär, der 
alles über- und durcheinander bringe, 
ohne selbst etwas Ordentliches leisten 
zu können. Sein seelisches Gleichge¬ 
wicht blieb durch die allgemeine Ver¬ 
kennung für lange erschüttert. Dazu 
kam die Trennung von seinen Schülern. 
Selbst eine durch und durch kindliche 
Natur hatte er im Verkehr mit der Ju¬ 
gend sich so wohl gefühlt wie nirgends 
anderswo und fortwährend Anregung 
zu dichterischer Produktion erhalten. 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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Daß diese für einige Zeit erlahmte, als 
er sein Schulamt aufgab, ist daher wohl 
verständlich, daß aber darin der Grund 
für ein jahrzehntelanges Schweigen ge¬ 
funden werden dürfte, ist nicht an¬ 
nehmbar bei einem Mann, der einge¬ 
standenermaßen so viel Trost, Genuß 
und Befriedigung im Dichten fand wie 
Gezelle. Da überschätzt man nun doch 
das Unglück, das ihn betroffen. Der 
Wirkungskreis, den er verlassen, mochte 
ihm lieb und teuer sein, aber sein Le¬ 
bensziel war er ja nicht gewesen, er 
war durch Zufall hineingeraten. Dieses 
bildete vielmehr die Seelsorge, die ihm 
nach wie vor offen blieb, und wenn 
er es darin nur zum Unterpastor hat 
bringen können, so wirft das zwar auf 
die Einsicht und das Wohlwollen der 
Behörde ein ungünstiges Licht, aber 
was für viele seiner Standesgenossen 
ein Ideal sein mag, Canonicus, Monsigno¬ 
re und wer weiß, was sonst noch zu wer¬ 
den, das war für ihn ebenso eitel Tand 
wie ein hohes Gehalt. Er war zeitlebens 
arm wie eine Kirchenmaus, aber er 
hätte es nicht zu sein brauchen; er hat 
es sein wollen und hingegeben, was 
man ihm zur Verfügung stellte: er war 
bedürfnislos, ein Weiser alten Schla¬ 
ges. Ferner ist zu bedenken, daß es 
auch früher und später in seinem wie 
in jedes anderen Menschen Leben trübe 
Stunden und schwere Tage gegeben 
hat, daß es aber gerade die Poesie war, 
die ihm dann stets darüber hinweghalf; 
sie bildete das Lebenswasser für ihn, 
das Wundertränklein, das ihm seine ir¬ 
dische Glückseligkeit verlieh. Dafür nur 
ein paar Zeugnisse aus seinen eigenen 
Gedichten: 

„0 dichtergeest, van wat al banden 

hebt gij mij, armen knecht, verloost 

en uit uw handen, 

wat heeft uw dierste gunst mij weinig 
werks gekost I 


Gij godlijk wezen doet mij leven, 
waar menig andre sterven zou’, 
en ongegeven 

is nog de groote gift, waarom ’k uw 
derven wou. 4 ) 

„0 Lied, o Lied! 
het zwijgend nat 
dat leekt mij längs de kaken, 
gij kunt het, en uw kunst is dat, 
gij kunt het honing maken . . . 
o Lied, o Lied!“*) 

„Jnt vrij bewind des vogels en 
int koele ruim daarvan 
en ’k weet niet waar ik nog al ben, 
wanneer ik dichten kan . . . 
neen, blij en is mij ziel toen niet, 
maar is iets meer als blij 
wanneer zij, God zij dank, geniet 
een dreupelke poezij.“®) 

Und wie rührend fleht er nicht: 

„Zoete lieve dichterengel 

slaat uw vlerken rondom mij“ . . .*) 

Nein, einen solchen Dichter verläßt 
im Leid die Muse nicht, wenn — nur 
er sie nicht verläßt! Und endlich:wenn 
auch die kirchliche Behörde bei Gezelle 
den Lehrer kalt stellen, den Menschen 
kränken, den Priester niederhalten 
konnte: über den Dichter stand ihr kein 
Richteramt zu; sie hat es sich auch nicht 

4) O Dichtergeist, aus welchen Banden 
hast du mich armen Knecht erlöst, und 
wie wenig Mühe hat mir deine teuerste 
Gunst aus deinen Händen gekostet! Du 
göttliches Wesen machst mich leben, wo 
mancher andere sterben würde, und an¬ 
gegeben ist noch die große Gabe, für die 
ich dich entbehren wollte. 

5) O Lied, o Lied, das stumme Naß, das 
mir jetzt die Wangen hinabtröpfelt, du 
weißt — und das ist deine Kunst — es zu 
Honig zu machen. . . . O Lied, o Lied!“ 

6) Im freien Bereiche des Vogels und 
dessen kühlen Raume, und ich weiß nicht, 
wo ich sonst noch bin, wenn ich dichten 
kann . . . nein, froh ist dann meine Seele 
nicht, sie ist noch etwas mehr als froh, 
wenn sie, Gott sei Dank, ein Tröpflein 
Poesie genießt. 

7) Süßer, lieber Dichterengel, schlag 
deine Flügel um mich! . . . 


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angemaßt und hätte sie es getan, so 
würde das Gezelle kaum berührt haben: 

„En dürft gij mij van dichten spreken, 
die nimmer zijt in Staat 
twee rehen 

te rijmen dat het gaat!“ *) 

Auch Prosper van Langendonck 
glaubt nicht an die herrschende Mei¬ 
nung: „Unendlich Unbedeutendere als 
ihn sah man ärgere Widerwärtigkeiten, 
Verkennung und Verfolgung, Leibes¬ 
und Seelenqualen durchkämpfen und 
nach kurzer Mutlosigkeit wieder um so 
kräftiger das Haupt erheben, je reicher 
sie geworden waren an Verachtung der 
feigen und hinterlistigen Menschlich¬ 
keiten, die ihnen den Weg zu versper¬ 
ren drohten ... Man kann gelten las¬ 
sen, daß Mangel an Anregung, Entzie¬ 
hung des natürlichen Publikums, auf 
das er und das auf ihn so heilsam ein- 
wirkte, dazu beitrug, ihm das Lied in 
der Kehle abzuschnüren, wie wohl in 
seinen letzten Jahren der Beifall der 
Jüngeren für ihn ein kräftiger Ansporn 
zu unablässiger Arbeit war — aber war 
das wohl der Hauptgrund? Muß nicht 
vielleicht sein Schweigen Ursachen von 
mehr innerer Natur zugeschrieben wer¬ 
den? Wer kann das sagen? Wem 
offenbarte er das Rätsel seines Seelen¬ 
lebens? Dies trug er vielleicht in sich 
wie einen schweren Stein, der auf dem 
Boden ruht und lediglich einzelne Bla¬ 
sen nach oben treibt.“ Aber es sind 
durch nichts begründete und bezeugte 
Vermutungen, mit denen van Langen- 
donck das Rätsel lösen will. Es ist ver¬ 
gebliche Liebesmüh, nach einem Schlüs¬ 
sel zum Rätsel zu suchen, denn in Wirk¬ 
lichkeit gibt es hier überhaupt kein 
Rätsel! Wer die Tätigkeit Gezelles wäh¬ 
rend seiner angeblichen Schweigezeit 

8) Und wagt ihr mir von Dichten zu 
sprechen, die ihr niemals imstande seid 
zwei Verse zu reimen, daß es stimmt 1 

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genauer ins Auge faßt, besonders den 
Anfang mit dem Ende vergleicht, der 
wird alles verständlich und natürlich 
finden. Nur darf er dabei nicht fort¬ 
während den Blick auf Brügge gerichtet 
halten, sondern muß auch berücksichti¬ 
gen, was zu gleicher Zeit in Gent, Brüs¬ 
sel, Antwerpen und Holland vor sich 
ging — aber davor scheint man in Flan¬ 
dern eine heilige Scheu zu haben! 

In einem Brief aus dem Ende der 
siebziger Jahre an Professor G. Verriest 
bezeichnet Gezelle sich als literarisch 
tot („literariter si non literaliter over- 
leden“). Er war es auch in Wirklich¬ 
keit. Aber er war keines natürlichen 
Todes gestorben, sondern dem Beil 
eines Henkers zum Opfer gefallen, und 
dieser Henker war nicht der Bischof 
Faict, sowenig Sympathie man auch 
dem Mann entgegenbringen mag, son¬ 
dern er hieß Heremans. 

In der Mainummer des Jahrganges 
1863 der Brüsseler „Nederduitsch Ma- 
andschrift“ veröffentlichte dieser eine 
16 Seiten lange „Würdigung“ von Ge¬ 
zelles „Gedichten, Gezangen en Gebe- 
den“, welche die Redaktion bei ihm be¬ 
stellt hatte: sie war vor die richtige 
Schmiede gekommen, denn dieser Rich¬ 
ter übernahm das Nachrichteramt so¬ 
fort mit! In seiner Besprechung heißt 
es unter anderm: „Der Herr Guido Ge¬ 
zelle ist kein Schriftsteller, dessen Herz 
voll Begeisterung für die großartigen 
liberalen Ideen klopft, auf die unser 
Jahrhundert stets mit so großem Recht 
stolz sein kann, er ist kein Dichter, der 
sich der seit langem festen und von 
jedermann geehrten Form bedient, wenn 
er seine Gefühle in Verse ausgießt; 
seine poetischen Erzeugnisse sind, was 
Ideen und Ausdruck betrifft, literari¬ 
sche Manifeste, die keine andere Poesie 
als national anerkennen als die, welche 
hinsichtlich der Ideen den Katholizis- 


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INDIANA UNIVERSITY 





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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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mus als Grundlage hat und hinsichtlich 
des Stiles sich auf einen dürftigen Pro¬ 
vinzialismus beschrankt.. 

„Im poetischen Ausdruck läßt sich 
Herr Guido Gezelle allzuoft durch un¬ 
sere ungemein musikalische Sprache 
verleiten: er gibt uns an Stelle von Ge¬ 
danken, ja selbst von Worten, mehrfach 
leere Klänge. Es ist indes nicht genug, 
Alliterationen an Alliterationen zu rei¬ 
hen und mit dem hohlen Gebrumme 
einer Reihe Onomatopöien unsere Oh¬ 
ren voll zu blasen: der Dichter, der mit 
diesem flittergoldenen Mantel die Ma¬ 
gerkeit seiner Muse verbergen will, be¬ 
weist nur seine Ohnmacht oder sei¬ 
nen schlechten Geschmack.“ 9 ) 
„Die von Herrn Guido Gezelle ge¬ 
wählten Vorwürfe sind oft unbedeu¬ 
tend, während er in der Behandlung 
anderer, die mehr Interesse erwecken, 
von Breitspurigkeit und langweiliger 
Lahmheit nicht freizusprechen ist. Oft 
werden dieselben Gedanken mit an¬ 
deren, bisweilen mit denselben Worten 
wiederholt, ohne daß die geringste Not¬ 
wendigkeit besteht oder Rhythmus und 
Harmonie dabei gewinnt. — Aber die 
Kritik, die ein strenges, mißbilligendes 
Urteil über die Gedichte des Herrn 
Guido Gezelle fällen muß, darf die Be¬ 
weise nicht schuldig bleiben. Die Ge¬ 
dichtsammlung bietet sie in Überfluß.“ 
Es werden dann als „Muster von Be¬ 
deutungslosigkeit“ und „Reimereien“ 
einige Gedichte angeführt, zuletzt das 
prächtige „Regina ooeli“ 10 ), und dann 
geschlossen: „Doch genügt wer von un¬ 
seren Lesern Lust hat, noch hundert 
Stück solcher geschmacklos in- 


9) Die Sperrung rührt hier wie folgende 
von mir her. 

10) In dem Büchlein Vlaemische Dich¬ 
tung, Jena bei E. Diederichs 1910, findet 
man es sogar unter den 14 aus Gezelles 
Gedichten ausgewühlten Stücken. 


einandergeschmiedeter Wör¬ 
terglieder kennen zu lernen, die Ge¬ 
legenheit hat er dazu.“ 

„Es ist vor allem die Metrik, in der 
der Herr Guido Gezelle sich als Revo¬ 
lutionär ärgster Sorte zeigt: dort 
wirft er keck das Unterste zu 
oben. Er mengt verschiedene Vers¬ 
maße durcheinander oder schert sich 
überhaupt nicht um solche; er reimt 
oder reimt nicht, ohne sich an eine Re¬ 
gel zu binden. Oft unterscheiden 
sich seine Verse von der Prosa 
nur dadurch, daß sie mit einem 
großen Anfangsbuchstaben be¬ 
ginnen und je nach ihrer Länge 
mehr oder minder aus -oder ein- 
sp rin gen. Der Herr Guido Gezelle 
macht einen übermäßigen Gebrauch 
nicht nur von Assonanzen, sondern von 
allerlei mangelhaften Reimen: .klingt 
es nicht, so klappert's doch'! scheint 
das oberste Gesetz seiner Metrik zu 
sein. Bietet sich ihm nicht ohne wei¬ 
teres ein Reim, so hat er doch noch sei¬ 
nen westflämischen Dialekt, der ihn 
aus der Verlegenheit zieht... Wir 
möchten wirklich dem Herrn 
Guido Gezelle anraten, über¬ 
haupt nicht mehr zu reimen, da 
es für ihn offenbar ein solch 
schreckliches Hexenwerk ist.“ 
An das Gedicht „Super flumina“ wird 
für den so überaus feinhörigen Dichter 
folgende Lektion geknüpft: „Wer Ohren 
hat, bemerkt sofort, daß es bei diesen 
harten would-be-Daktylen an vielen 
Stellen hapert. Man sieht es, der Dich¬ 
ter hat die Prosodie bei unse¬ 
rem feinen Dautzenberg nicht 
gelernt, und die vom Institut 
gekrönte Abhandlung über den 
Versbau von Prudens van Duyse 
ist ihm ein versiegeltes Buch.“ 
Zum Schluß wird doch noch die An¬ 
lage des Dichters anerkannt, zu einem 

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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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außergewöhnlichen Talente werde sich 
diese aber nur dann entwickeln, wenn 
er aufhöre, „allerlei planmäßigen Son¬ 
derbarkeiten und geschmacklosen Hals- 
brediereien“ zu huldigen. 

Wer aus diesen Proben, zu denen 
jede Bemerkung überflüssig ist, nicht 
den Eindruck gewonnen hat, daß diese 
Rezension noch etwas anderes als ein 
Ausfluß kritischer Unfähigkeit ist, der 
lese die Bemerkung zu dem Gedicht- 
chen: „’k zat bij’n boom te lezen“, und 
er wird sich davon überzeugen, daß 
auch Böswilligkeit ihren Anteil daran 
gehabt hat. Wäre Heremans irgendein 
beliebiger „letterkapaun“ gewesen, an 
denen Flandern so reich war, dann 
hätte sein Elaborat nicht verdient, hier 
wieder ausgegraben zu werden. Aber 
er war Professor der flämischen Sprache 
und Literatur an der Universität Gent 
und von einem schier unbegrenzten An¬ 
sehen und Einfluß auf literarischem 
Gebiet, dem freilich seine geistige Be¬ 
deutung in keiner Weise entsprach. 
Wehe ihm, gegen den er als literari¬ 
scher Pontifex maximus das Beil zu 
etwas anderem als zum Weihen er¬ 
hob: er war für die literarischen Kreise 
abgetan I Soviel ich weiß, haben nur 
zwei Männer seine Autorität je ernst¬ 
lich anzutasten gewagt: Nolet de Brau- 
were van Steeland und August Snie- 
ders: sie werden dafür aber noch heute 
in der flämischen Literaturgeschichte 
scheel angesehen 1 

Kein Mensch in ganz Flandern trat 
für den armen, ohnehin schon so tief 
erschütterten Dichter ein, keiner schalt 
das Urteil, alles schwieg vor dem Ge¬ 
waltigen, der da gesprochen: Accusa- 
tus. judicatus, justificatus, konnte Ge- 
zelle von sich sagen. Die Freidenker 
von literarischem Ansehen waren also 
mit seinen frommen Confratres einer 
Meinung über ihn, und wer hätte da 

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noch an der Gerechtigkeit des Urteils 
zweifeln können? Er selbst wurde irre 
an sich und seiner Begabung, und das 
war natürlich; denn es war die größte 
Schwäche des bescheidenen Mannes, 
daß er Leuten, die — wenn auch dei 
providentia et hominum confusione — 
zu höherem Amt und Ansehen gelangt 
waren, immer mehr zutraute als sich 
selbst Das kann hier nicht nachdrück¬ 
lich genug betont werden. Dabei war er 
gegen Lob und Tadel nichts weniger 
als unempfindlich; sein Neffe, Caesar 
Gezelle bezeugt es, daß „ein Wort der 
Anerkennung ihn in die Luft heben, 
Verkennung ihn zu Boden drücken“ 
konnte, ln dieser Hinsicht ging es ihm 
ganz wie seinem großen Landsmann 
Conscience, der offen von sich bekennt: 
„Er ist doch so wohltuend und süß, der 
Weihrauch, den der Künstler in Per¬ 
son einatmen kann." Weis Gezelle 
einzuatmen bekam, roch keineswegs 
nach Weihrauch 1 Er ertrug es und 
wehrte sich nicht, sondern suchte ein 
Mensch und Dichter zu werden, 
wie es die andern waren, die all¬ 
allgemein als musterhaft galten. Es ist 
ein Irrtum zu glauben, daß Gezelle zu 
dichten und Schriftstellern aufgehört 
habe, im Gegenteil, die sechziger Jahre 
bilden in seinem Leben die Zeit seiner 
regsten Betriebsamkeit, aber was er da¬ 
mals gedichtet, ist flüchtig hingeworfen, 
meist auch in alle Winde zerstoben, und 
unter dem Erhaltenen ist kaum etwas 
von bleibendem Werte: er half den To¬ 
ten ihre Toten begraben und wurde zu¬ 
nächst Tagesschriftsteller. Als er näm¬ 
lich 1861 am Englischen Seminar in 
Brügge, das ein steinreicher Engländer 
behufs Ausbildung katholischer Geist¬ 
lichen für England gegründet hatte, 
Lehrer geworden war, ohne gerade 
viel Arbeit zu bekommen, erhielt er 
„von hoher Hand" den Auftrag, eine 

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INDIANA UNliVERSiTY 





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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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volkstümliche katholische Zeitung als 
Gegengewicht gegen den liberalen 
„Westflaming“ zu gründen. Das poli¬ 
tische Leben in Brügge war damals 
sehr rege, trug aber einen durchaus 
kleinstädtischen Charakter: die Kämpfe 
wurden ländlich -sittlich in Hemds¬ 
ärmeln mit Pflastersteinen und Jauche¬ 
kübeln ausgefochten. „Persönliche An¬ 
griffe", schreibt de Flou in seinem 
Nachruf auf Gezelle 11 )„,Beschimpfun¬ 
gen und oft grobe Verleumdungen nah¬ 
men den Platz ein, welcher der Be¬ 
sprechung von Ansichten und Grund¬ 
sätzen hätte dienen sollen." Gezelle 
war dort noch weniger an seinem 
Platze denn früher als Rechen- und 
Handelslehrer in Rousselare: ein Poli¬ 
tiker war er sowenig wie ein Polemi¬ 
ker, und keins von beiden ließ sich auch 
aus ihm machen. Was er selbst für das 
von ihm redigierte „Kiesgazetje“ (Wahl¬ 
blättchen) und nach dessen baldigem 
Eingehen für die Wochenschrift „’t Jaar 
30“ geschrieben hat, besteht durchweg 
aus lehrhafter Prosa oder volkstüm¬ 
lichen Gedichten. Aber seine Mitarbei¬ 
ter richteten sich nicht nach ihm, son¬ 
dern beschossen den „Westflaming“ mit 
derselben Munition, deren er sich be¬ 
diente. „Welche Grobheiten und Ge¬ 
meinheiten die beiden Blätter jahre¬ 
lang austauschten, ist wirklich nicht zu 
beschreiben.“ Übrigens war Gezelle 
unter dem Decknamen „Spoker“ (Spuk¬ 
geist) auch Mitarbeiter an der viel ge¬ 
lesenen bissigen Wochenschrift „Rei- 
naert de Vos“, die der Faustübersetzer 
Vleeschouver von 1860 bis zu seinem 
Tode (1866) in Antwerpen herausgab. 

Was vorauszusehen war, trat ein: 
er machte es auch als Zeitungsschreiber 
keinem recht 1 Von den Gegnern mit 
einem Hage l von Bosheiten und Ver- 

11) Jaarboek der Koninklijke Vlaamsche 
Akademie 1901 S. 117 ff. 


leumdungen überschüttet, wurde er von 
der Behörde für die Übeltaten anderer 
verantwortlich gemacht und fiel noch 
tiefer in Ungnade, als er ohnehin schon 
stand. Das Ende war 1872 eine Ver¬ 
setzung als Unterpastor nach Kortryk. 

„Geen voetpad oft gaat nijdschap längs, 
geen huis oft woont verraad in, 
geen oore of is vol woordenvangs, 
geen goed of daar zit quaad in.“ l *) 

Eine Beförderung war die Versetzung 
keineswegs, sollte es auch nicht sein, 
aber sie war doch eine wahre Wohl¬ 
tat für Gezelle, da sie ihn aus unleid¬ 
lichen Verhältnissen heraus in einen 
Wirkungskreis führte, wo er Ruhe und 
Frieden fand. Im Verkehre mit dem 
Volke, das ihn verehrte, und mit Freun¬ 
den, die ihn verstanden, gewann er 
allmählich die Lebensfreude zurück. 
Freilich, ganz heimisch ist er dort 
nicht geworden, ebensowenig wie Con- 
science. Das scheint mir wenigstens aus 
einem Gedichte hervorzugehen, das 
„Kortryk“ überschrieben ist. Der Dich¬ 
ter befindet sich — das ist kurz der In¬ 
halt — auf der Eisenbahnfahrt von 
Brügge nach Kortryk, und die Abend¬ 
sonne zaubert allerlei Bilder vor seine 
Augen. Plötzlich ist alles verschwun¬ 
den. er erwacht aus seinen Träumen, 
der Zug ist am Ziele: 

„— Wat is er geschied? 

’k en zie mij noch zonne, 
noch boomen meer branden: 
ist vaartuig aan't zinken, 
met allen aan boord? 

Wat hoore ik voor vreemde 
geruchten? — Wij landen: 

’Courtrai’! ’t is al schuiflen 
en fransch, van nu voort.“ 1S ) 

12) Kein Fußpfad, oder es geht Bosheit 
entlang, kein Haus, oder es wohnt Verrat 
darin, kein Ohr, oder es ist voll Wortver¬ 
drehung, kein Gutes, oder es sitzt Böses 
darin. 

13) — „Was ist da geschehn? ich sehe 
weder Sonne noch Bäume mehr brennen; 


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Franz Jostes, Quido Gezelle 


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4. 

Die Mußezeit, welche die Seelsorge ihm 
ließ, benutzte Gezelle zunächst zum Sam-* 
mein ausgestorbener oder nur noch im 
Volksmunde erhaltener Wörter, die für 
das „Westvlaamsch Idioticon“ von de 
Bo bestimmt waren. 1881 gründete er 
mit seinen Schülern Hugo Verriest, Karl 
de Gheldere u. a. „Loquela", eine Mo¬ 
natsschrift für Sprachliebhaber. Wenn 
auch die Fachleute den sprachwissen¬ 
schaftlich nicht geschulten Sammlern 
dort, wo sie über das Sammeln hin¬ 
ausgingen, vielfach nicht zustimmen 
können, so hat er sich durch dieses 
selbst doch unstreitig ein großes Ver¬ 
dienst um die Wissenschaft erworben. 
Für ihn aber war diese Tätigkeit noch 
von ganz besonderer Bedeutung: er, für 
den das Wort an sich schon lebendige 
Poesie darstellte, von dessen Gedich¬ 
ten nicht wenige durch ein Wort, eine 
Wendung, einen Spruch hervorgelockt 
sind, wurde auf diese Weise allmäh¬ 
lich in die alte Bahn seiner schriftstel¬ 
lerischen Tätigkeit wieder eingelenkt. 
Zunächst zeigten sich die Folgen dieser 
Studien darin, daß er ein noch entschie¬ 
denerer Gegner der Fremdwörter wurde, 
als er früher schon war, da er erkannt 
batte, daß man im Mittelalter weit 
weniger Gebrauch von ihnen gemacht 
hatte, als es in der Gegenwart geschah, 
und man daher gewöhnlich nur in die 
mittelalterliche Schatzkiste zu greifen 
brauche, um den besten Ersatz für die 
ausländische Ware zu finden. Von jetzt 
ab bediente er sich keines Fremdwortes 
mehr, für das ein germanisches sich 
finden ließ; selbst die theologischen 
termini technici hat er zu verdrängen 
sich bemüht 


isfs Fahrzeug am Sinken mit allen am 
Bord? Was hör ich für fremde Laute? Wir 
landen: 'Courtrai’I 's ist alles Geflöte und 
Französisch von jetzt an.“ 

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Unterdes waren einige der ehemali¬ 
gen Schüler Gezelles selbst als Dich¬ 
ter und Schriftsteller aufgetreten; es 
schien sich eine Schule Gezelles bilden 
zu wollen, die freilich vorderhand auf 
Westflandem beschränkt blieb. Im 
übrigen Flandern wurde über sie, eben¬ 
so wie über den Meister, der Bann ver¬ 
hängt. Heremans war unterdes ver¬ 
altet (f 1884), und sein Nachfolger auf 
dem Stuhl des literarischen Hochgerich¬ 
tes in Flandern war der Museumsdirek¬ 
tor Max Rooses in Antwerpen geworden, 
unzweifelhaft ein erheblich feinsinnige¬ 
rer Kritiker als Heremans, doch auch nur 
innerhalb der von überliefertem Ge¬ 
schmack (Taine) geheiligten Gesetze von 
sicherem UrteiL Für das wirklich Neue 
hatte er kein Auge oder wenigstens 
keinen Sinn, und doch macht gerade 
das erst einen wirklich bedeutenden 
Kritiker aus. In einem Aufsatz „De 
Zuidnederlandsche Dichters van 1830 
tot 1880“, den er zuerst in der hollän¬ 
dischen Zeitschrift „De Gids“ veröffent¬ 
lichte und dann in sein „Nieuw Schet- 
senboek“ aufnahm (Gent 1882), spricht 
er auch über Gezelle. Er sieht in ihm 
nur einen Mystiker, wodurch der Dich¬ 
ter, der von einem wirklichen Mystiker 
sehr wenig an sich hat, von vornherein 
in ein falsches Licht gerückt wird. Aus 
seinen recht verschwommenen Herzens¬ 
ergießungen will ich hier des Raumes 
wegen nur zwei Sätze herausnehmen: 
„Die Nebelbilder, die dem Mystiker vor 
dem Geiste schweben, mögen geeignet 
sein, um in Gebeten und Seufzern aus¬ 
gegossen zu werden, aber sie lassen 
sich nicht mit festen Strichen 
und in lebendigen und anschau¬ 
lichen Farben in Liedern wie¬ 
dergeben, die Kunstwerke ge¬ 
nannt zu werden verdienen...“ 
„Die Schule von Gezelle hat die all¬ 
gemeine Beurteilung nicht Lügen ge- 

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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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straft; weder er selbst, noch seine 
Jünger, soweit sie ihm treu 
blieben, brachten ein Gedicht 
hervor, das bemerkenswert ge¬ 
nannt werden kann; sie verdienten 
doppelt und dreifach die Angriffe, 
denen ihre ungewöhnlichen Formen 
und Vorstellungen ausgesetzt waren.“ 14 ) 

Es ist wirklich tragisch, daß der 
größte flämische Dichter von den füh¬ 
renden Geistern seines eigenen Volkes 
dauernd so schmählich mißhandelt 
wurde, und uns Deutschen kann es 
wohltun, zu sehen, daß eine Deutsche, 
Ida von Düringsfeld, bereits 1861, als 
die „Gedichten“ noch nicht einmal er¬ 
schienen waren, ganz anders urteilte: 
„Einige seiner Dichtungen gehören zu 
den schönsten, die ich im Flämischen 
kenne, man kann von ihnen im besten 
Sinne des Wortes sagen: sie sind von 
einem Priester.“ Man kann übrigens aus 
der Rezension von Rooses deutlich er¬ 
sehen, daß die Schar der Anhänger 

14) Welches Ansehen Rooses bei den 
Flamen genoß und noch genießt, und wie 
tief diese noch immer im Rederijkertum 
stecken, möge folgendes Urteil über ihn 
zeigen, das Coopmann und Schärpe (Ge- 
schiedenis der Vlaamsche Letterkunde, 
Antwerpen 1910 S. 248) anführen und da¬ 
mit sich aneignen: „Möge einst die flämi¬ 
sche Literatur den hohen ästhetischen An¬ 
forderungen von Max Rooses entsprechen, 
dann werden die flämischen Schriftsteller 
Platz nehmen dürfen in der Reihe der be¬ 
deutenden Dichter und Denker Europas.“ 
Also nur fleißig Max Rooses studieren, ihr 
jungen flämischen Dichter, dann kann’s 
nicht fehlen! Konsequenterweise hätten die 
Verfasser übrigens Gezelle, der, wie man 
hier sieht, den hohen ästhetischen Anfor¬ 
derungen von Max Rooses ja in keiner 
Weise genügte und sich auch später noch 
den Teufel darum scherte, als abschrecken¬ 
des Beispiel vor Augen stellen müssen, — 
aber sie preisen auch diesen wie der beste 
Holländer! Es geht doch nichts darüber, 
wenn man kalt und warm aus einem Munde 
zu hauchen versteht! 


Gezelles stark im Wachsen begriffen 
war. Er sucht das den Holländern in 
folgender Weise zu erklären: „Die Be¬ 
geisterung oder die Schwärmerei, man 
nenne es, wie man will, verleiht seinem 
Wesen etwas Berauschendes, das auf 
junge Gehirne, die des Dichters Über¬ 
zeugung teilen, leicht ansteckend wir¬ 
ken muß. Ein junges und warmes Ge¬ 
müt findet es hier unten leicht etwas 
kalt und kann es für etwas Schönes 
halten, sich der alltäglichen Wirklich¬ 
keit zu entziehen und über den Wol¬ 
ken in himmlischen Visionen und träu¬ 
merischen Spekulationen zu schwel¬ 
gen.“ Allein schon damals konnte einer 
der flämischen „Schwarmgeister“, Al- 
brecht Rodenbach, in der Vorrede zur 
Gudrun (Gent 1882) ausrufen: „Und 
die Holländer mußten dazwischen kom¬ 
men, um Westflandern recht zu geben 
und die Schreier allhier zum Schwei¬ 
gen zu bringen. Und seitdem schweigen 
sie, aber die westflandrischen Dich¬ 
ter behandeln sie wie Parias in unse¬ 
rer Literaturgeschichte.“ Und wirklich 
waren es keine Mystiker und Visio¬ 
näre, sondern die nüchternen Holländer» 
die den schweren Stein von dem Grabe 
wälzten, in dem die führenden Geister 
Flanderns ihren größten Dichter ein¬ 
gesargt hielten. Und das ist so zu¬ 
gegangen : 

Vor 1880 lag die Dichtkunst in Hol¬ 
land wie in Flandern völlig in den 
Banden des rhetorischen Handwerks. 
Die Dichtkunst wurde als eine edle 
Gottesgabe betrachtet, dem begnadeten 
Menschen verliehen, um seine Muße¬ 
stunden in würdiger Weise damit aus¬ 
zufüllen. Wollte man sich ihr widmen, 
so suchte man zuerst nach einem „er¬ 
habenen“ Gegenstand, und hatte man 
ihn gefunden, so bemühte man sich, 
in eine feierliche Stimmung zu kom¬ 
men, um mit Eleganz den Stoff in die 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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überlieferten Formen der ehrwürdigen 
Dichtersprache gießen zu können. Diese 
lag in Worten und Wendungen, Ver¬ 
gleichen, Bildern und Figuren fertig 
vor, geeicht und abgestempelt von den 
Meistern der Kunst, Beets, Da Costa, 
Tollens, Bilderdijk usw. Wohl gab es 
den einen oder andern Dichter, der in 
diesem ästhetischen Kettenpanzer nicht 
völlig erstickte, aber seine ursprüng¬ 
liche Natur konnte darin doch nicht die 
notwendige Bewegungsfreiheit finden, 
die zur Schöpfung großer Werke un¬ 
erläßlich ist Bei der großen Masse 
der Mittelmäßigkeiten aber schlug die 
Kunst mehr oder minder in Formel¬ 
kram und Wortschwall aus, sie schaff¬ 
ten nicht frei und selbständig, sondern 
gossen Gipsfiguren in altüberlieferte 
Modelle. 

Anfangs der achtziger Jahre er¬ 
hob sich gegen diese Auffassung und 
Ausübung der Dichtkunst eine Anzahl 
junger Dichter, die sich unter fremdem 
Einflüsse, vor allem dem Shelleys, ge¬ 
bildet hatten. Außer William Kloos ge¬ 
hörten Albert Verwey, Herrn. Gorter, 
Fred, van Even, Helene Swarth u. a. zu 
dieser Gruppe. Sie verbrannten die hei¬ 
ligen Bücher der Dichtkunst, zerschlu¬ 
gen die Eilten Modelle und verlangten 
engsten Anschluß an Natur und Leben. 
Sie verwarfen die Suche nach „würdi¬ 
gen“ Gegenständen und schöpften aus 
eigener scharfer Beobachtung und ganz 
persönlicher Erfahrung. Wort und Bild 
sollte dem wirklichen Leben abge- 
lauscht werden, musikalisches Gefühl 
das einzige Gesetz des poetischen 
Rhythmus bilden und zwischen Inhalt, 
Sprache und Form eine vollkommene 
Harmonie bestehen. Dabei wurde die 
innere Welt vor der äußeren bevor¬ 
zugt; dasAustönenlassen von Stimmun¬ 
gen, individuellem Sehnen, Fühlen und 
Wahrnehmen betrachtete man als die 


Hauptaufgabe. Da den Anhängern 
dieser neuen Richtung in der öffent¬ 
lichen Meinung nicht Licht und Luft 
genug zugestanden wurde, stellten 
sie dem alten „Gids“ (Führer) einen 
„Nieuwe Gids“ gegenüber, und in dieser 
Zeitschrift, nach der man sie kurzweg 
„Nieuwe-Gidsers“ nannte, wurde der 
Kampf mit den Gegnern eröffnet. Zu 
diesen gehörten indes nicht nur die 
Vertreter der alten Ästhetik, sondern 
es gesellten sich zu ihnen auch solche, 
welche anerkannten, daß die „Nieuwe- 
Gidsers“ der Sprache neues Leben, dem 
Wortschätze Mannigfaltigkeit, den Bil¬ 
dern Wahrheit und Natürlichkeit ge¬ 
bracht hatten, sich aber mit dem Inhalt 
ihrer Dichtungen um so weniger be¬ 
freunden konnten, als sie in diesen 
mehr und mehr einen ausgeprägten Sen¬ 
sitivismus hervortreten sahen. In der 
Tat überschlug sich der Individualis¬ 
mus; die Dichter stellten ihr eigenes 
Herz in den Mittelpunkt des Interesses, 
betrachteten ihr Ich als die Achse, um 
die Welt und Menschen sich drehen 
sollten, ja ihr Egoismus wuchs sich 
stellenweise sogar zur Selbstvergötte¬ 
rung aus. Damit stießen sie nicht nur 
die Anhänger der christlichen Welt¬ 
anschauung ab, sondern auch die der 
ganzen sozialen Bewegung ihrer Zeit, 
welcher Art und Farbe sie auch sein 
mochten. Sie, die da immerzu Wahr¬ 
heit! NaturI Leben! riefen, übten einen 
Ichkult, den jeder gesunde und natür¬ 
liche Mensch als unwahr, unnatürlich 
und krankhaft empfinden mußte. Denen, 
welche in den sozialen Kämpfen der 
Gegenwart standen oder diese auch nur 
beobachteten, mußten diese Ich-Priester, 
die abseits von aller Welt in einem 
selbstgebauten Tempelchen dem Kulte 
ihres eigenen Seelchens oblagen, als 
eitle Sonderlinge, wenn nicht als etwas 
Schlimmeres erscheinen. Deshalb sank 


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Franz Jost es, Quido Gezelle 


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ihr Ansehen um so schneller und stär¬ 
ker, je mehr man erkannte, daß das 
Evangelium, welches sie verkündeten, 
nicht neu war, vielmehr das, was als 
richtig in ihm anerkannt werden mußte, 
bereits zu einer Zeit, als sie sich noch 
erst von der Wiege aus der Welt be¬ 
merkbar machen konnten, in die Tat 
umgesetzt worden war — von Guido 
Gezelle. 

Gezelle hatte in Holland von Anfang 
an einzelne Verehrer gehabt — waren 
doch seine „Gedichten“ usw. Jos. 
A. Alberdingk Thym in Amsterdam ge¬ 
widmet —, aber die Gemeinde war klein 
geblieben. Erst jetzt auch sah man 
ein, daß man in ihm nicht bloß einen 
wirklichen Dichter besaß, sondern so¬ 
gar einen Bahnbrecher, der zu früh ge¬ 
boren und seiner Zeit allzu weit voraus 
gewesen war. Zugleich aber überzeugte 
man sich davon, daß man getrost die 
alten Dichtergötter verlassen und den 
modernen anhangen könne, ohne eine 
neue Welt- und Lebensauffassung an¬ 
nehmen zu müssen. Übrigens waren es 
die „Nieuwe-Gidsers“ selbst gewesen, 
die Gezelle auf den Schild erhoben 
hatten und ihm auch nach wie vor treu 
blieben. 

5. 

Die Eisberge, welche sich um Gezelle 
aufgetürmt hatten, begannen so allmäh¬ 
lich zu schmelzen; das stets unter 
dem Einfluß der holländischen Sonne 
stehende literarische Flandern ver¬ 
mochte sich gegen die wannen Strö¬ 
mungen aus dem Norden nicht abzu¬ 
schließen. Die Autorität von Rooses 
und seinem Anhänge begann ins Wan¬ 
ken zu geraten; die fortschrittliche Ju¬ 
gend gründete in Brüssel ein eigenes 
Organ „Van Nu en Straks“ (1893), das 
zwar nicht gerade als ein Ableger 
von „Nieuwe Gids“ bezeichnet werden 
mag, aber doch ohne ihn nicht denkbar 


wäre. Zwar blieben die Gründer und 
Mitarbeiter: Aug. Vermeylen, Cyriel 
Buysse, Prosper van Langendonck, Karl 
van der Woestijne u. a., ebensowenig 
wie die „Nieuwe-Gidsers“ unangefoch¬ 
ten, aber Holland, auf das die litera¬ 
risch Altgläubigen früher immer be¬ 
wundernd geblickt und gewiesen hatten, 
stand jetzt auf ihrer Seite, und damit 
waren die Gegner ihrer besten und be¬ 
liebtesten Waffe beraubt. Jeder Anhän¬ 
ger von „Nu en Straks“ war aber zu¬ 
gleich ein Apostel Gezelles, wenn es 
freilich auch schwerer und langsamer 
ging, den Propheten in seinem Vater¬ 
lande zur Geltung zu bringen als in der 
Fremde. 

Aber die Zeiten wurden für Gezelle 
noch günstiger. 

In den sozial denkenden und wirken¬ 
den Kreisen, die sich um Kuyper auf 
reformierter und Schaepman auf katho¬ 
lischer Seite bildeten, stand Gezelle, der 
vom Scheitel bis zur Sohle individuelle, 
aber von allem Individualismus him¬ 
melweit entfernte Dichter, von Anfang 
an in hoher Achtung und Verehrung, 
aber zu allgemeiner Anerkennung ge¬ 
langte er doch erst, als die Sozia¬ 
listen auch auf dem Gebiet der Li¬ 
teratur eine Macht wurden und ein 
Programm für die Dichtung der Zu¬ 
kunft entrollten. Das ging nicht ohne 
heftigen Kampf und scharfe, zum Teil 
ungerechte Angriffe auf die „Nieuwe- 
Gidsers“ ab, von denen indes die be¬ 
deutendsten zum Feinde übergingen. 
Die Hauptvertreter der auf diesem Ge¬ 
biete durchaus reaktionären Fortschritt¬ 
ler waren van Eeeden, Herrn. Gorter, 
Henriette Roland Holst van der Schalk 
u. a. Als ihr Wortführer mag hier Ada- 
ma van Sdieltema dienen, auch als 
Dichter eine eigenartige und kraftvolle 
Persönlichkeit Mit der ganzen Glut 
eines Apostels, aber auch mit der Ein- 


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180 


Franz Jostes, Guido Gezelle 


100 


seitigkeit des Parteimannes verkündete 
er das Dichter-Evangelium der neuen 
Zeit in seiner Schrift „De grondslagen 
eener nieuwe Poezie" (Rotterdam 1907), 
die freilich erst acht Jahre nach Ge- 
zelles Tode erschien, aber den klarsten 
Blick in die ganze Bewegung und ihre 
Ideale tun läßt 

Die Kunst soll nach Scheltema sti¬ 
lisierte Humanität sein; keine Schön¬ 
heit allein der Schönheit wegen, wohl 
aber das Leben in der Form der Schön¬ 
heit Der Dichter muß mit seinem Den¬ 
ken und Empfinden im allgemein 
Menschlichen wurzeln, sonst gelingt es 
ihm nicht seine Gefühle in die Herzen 
seiner Leser zu überführen. Zwischen 
Gefühl und Verstand muß Gleichge¬ 
wicht bestehen, alle wahrhaft großen 
Dichter der Vergangenheit haben ihren 
Werken einen starken gedanklichen Ein¬ 
schlag gegeben. Auch Phantasie und 
Humor müssen wieder in ihre Rechte 
eingesetzt werden. 

„Nicht die Kunst um der Kunst, son¬ 
dern um der Gesellschaft um unserer 
Mitmenschen willen. Wir müssen an 
der Kunst ,etwas haben', Kunst muß 
uns ,etwas geben*. Wenn wir einen 
Abend sehen, dann muß ein Gedicht 
unsere Stimmung wiederholen und sie 
heben; wenn wir lieben, muß die Kunst 
unser Herz mit Lenzblumen bekränzen; 
wenn wir weinen, müssen wir in der 
Kunst die süße Spiegelung unserer eige¬ 
nen Trän«» sehen — das ist Kunst, da¬ 
zu ist die Kunst immer dagewesen, 
von den ersten Griechen, von den mit¬ 
telalterlichen Troubadours bis zu dem 
Vorgeschlecht der Achtziger — bis die 
Wahnwitzigen, ihre Mitmenschen igno¬ 
rierend, ihre Gemeinschaft beleidigend, 
dachten, daß sie die Meister anstatt 
edele Diener der Gemeinschaft seien..„ 
eine Aufgabe, die uns aufgelegt ist, 
weil wir zufällig eine tiefere; gefühl¬ 


vollere Seele haben als die anderen, 
weil unser Glück und unser Schmerz 
so viel größer ist als der ihrige, weil 
unsere Augen so viel weiter und tiefer 
die Schönheit erkennen als sie. Und um 
der Ehre und der Größe dieser Gaben 
würdig zu sein und sie in Ehren zu 
besitzen, legt der Adel unserer Seele 
uns die Pflicht auf, an ihrem Tische 
zu sitzen und mit ihnen das Beste, was 
wir haben, zu teilen, das Brot zu bre¬ 
chen, einen Lebensbecher zu trinken... 
um dann wieder wegzuschlüpfen, weil 
uns, wie dem alten Burgsänger, die 
Einsamkeit noch immer lieb ist.“ 

„Die Kunst der Kunst wegen! Nein, 
Gott Dank nicht mehr... Wir müssen 
wieder die Sänger von dereinst werden 
und uns niederlassen an der Tafel der 
Lebendigen und singen alles, was in 
ihrem Herzen vorgeht — unser eigenes 
Herz ist ja wie das ihrige! Und wenn 
sie uns nicht verstehen oder sich sogar 
langweilen, nun, dann haben sie das 
vollste Recht uns die Tür zu weisen: 
Geh, blinder Sänger! wenn deine Kunst 
uns Gott nicht näher führt als Wein 
und gebratene Ferkel, dann haben wir 
sie nicht nötig: sing für die Vögel, sie 
verstehen dich vielleicht besser als wir.“ 
Von diesem Standpunkte aus kommt 
er zu einer scharfen Verurteilung der 
„Nieuwe-Gidsers“ und zum Teil auch 
der Mitglieder von „Van Nu en Straks"; 
besonders hart ist er gegen Karel van 
de Woestijne: „der üppigste und zu¬ 
gleich echte Dekadent reich, berau¬ 
schend, von giftigem Duft, abeT ohne 
Samen oder Frucht“ Hingegen erschei¬ 
nen ihm als die echtesten und voll¬ 
kommensten Typen eines idealen „Ge- 
meinschaftsdichters“ die beiden Gott¬ 
begnadeten, Goethe und Gezelle, — die 
es beide freilich auf dem Wege durch 
die Sozialdemokratie nicht geworden 
sind! 


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101 


Franz Jostes, Guido Gezelle 


192 


So von Freund und Feind in gleicher 
Weise anerkannt, stand Gezelle auch 
nach dem Falle der „Nieuwe-Gidsers“ 
fester denn je im Ansehen bei den 
Niederländern; die offiziellen flämi¬ 
schen Kritiker waren ausgeschaltet und 
schwiegen oder stimmten bei — wenn 
auch zum Teil noch mit sehr sauer¬ 
süßen Mienen. 

Gezelle wurde in Holland ein wirk¬ 
lich populärer Dichter. So erschien 
denn auch die erste Gesamtausgabe sei¬ 
ner Werke (10 Teile) in Amsterdam bei 
L. J. Veen, und sie hat seit 1901 be¬ 
reits vier Auflagen erlebt, ein unge¬ 
wöhnlicher Erfolg, zumal sie nicht we¬ 
nig zu wünschen übrig läßt 

Das ist der geschichtliche Hinter¬ 
grund, vor den man den Dichter stel¬ 
len muß, wenn man seinen Werde¬ 
gang richtig verstehen will. 

6 . 

Wir haben oben gesehen, daß Ge- 
zelles „Verstummen" zeitlich zusammen¬ 
fiel mit seiner Verurteilung durch Here- 
mans. Die Entstehung seiner Überset¬ 
zung von Longfellows „Song of Hia- 
watha“ fällt zusammen 15 ) mit der Grün¬ 
dung des „Nieuwe Gids", und die erste 
Gedichtsammlung aus seiner zweiten 
Periode, der „Tijdkrans", erschien im 
selben Jahre wie die erste Nummer 
von „Van Nu en Straks". Ist das Zu¬ 
fall? Es wäre ein merkwürdiger Zu¬ 
fall, so merkwürdig, daß ich auch dann 
nicht an ihn zu glauben vermöchte, 
wenn noch eine andere Erklärung für 
sein auffälliges Verhalten zu finden 
wäre. Vielleicht hat kein anderer Dich- 

15) Die „Liederen, Eerdichten et Reliqua“ 
sind zwar bereits 1878 erschienen, aber es 
sind meist Gelegenheitsgedichte, und was 
Ober das gewöhnliche Mittelmaß hinaus- 
ragt (z. B. De Kobbe), gehört wahrschein¬ 
lich zu dem, was darin noch aus der Zeit 
vor 1860 stammt. 


ter die Sonne so verehrt und gepriesen 
wie Gezelle; er bedurfte ihrer zum Le¬ 
ben wie zum Dichten; das war auch in 
anderem Sinn der Fall: als endlich aus 
dem Norden der Wind kam und die 
dicken flämischen Nebel verjagte, so 
daß die Sonne wieder auf ihn herab¬ 
scheinen konnte, da wurde er wieder 
warm und froh und betrachtete die 
Kunst wieder mit den Augen seiner 
Jugend. Das ist das ganze Rätsel! 

t 

Zur Übersetzung von „Hiawatha" 
kam er auf einem bereits bekannten 
Wege. Ein Kortrijker Freund hatte das 
Gedicht übersetzt und die Übersetzung 
Gezelle zur Prüfung und Verbesserung 
übergeben. Er erhielt es in einem Zu¬ 
stand zurück, daß er es nicht mehr 
als seine Arbeit anerkennen wollte und 
Gezelle bat, es unter seinem Namen zu 
veröffentlichen. Das lehnte dieser ab, 
aber schließlich kam man überein, daß 
Gezelle eine ganz neue Übersetzung an¬ 
fertigen solle, was denn auch geschah. 
Der David-Fonds hat sie 1886 unters 
Volk gebracht Für Gezelle war diese 
Arbeit insofern von Bedeutung, als er 
hier nicht seinem eigenen inneren Drang 
nachgehen durfte, sondern durch eine 
umfangreiche Dichtung hindurch in Ge¬ 
danken und Ausdruch, Vorstellung und 
Bild, Maß und Klang einer fremden, 
scharf ausgeprägten Individualität fol¬ 
gen mußte. Der Wildling war unver¬ 
sehens in eine Schule geraten, und seine 
späteren Dichtungen verraten es, daß 
er darin gelernt hat Seine von Anfang 
an ungewöhnliche Herrschaft über die 
Sprache hat noch entschieden gewon¬ 
nen. 

Die späteren Dichtungen erschienen, 
von den posthumen „Laatste Versen“ 
abgesehen, in zwei Sammlungen „Tijd¬ 
krans" (1893) und „Rijmsnoer“ (1897). 
Ich gehe hier nicht auf sie ein, sondern 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


194 


will zunächst über sein weiteres äuße¬ 
res Leben kurz berichten. 

Sein Bischof Waffelaert hatte ihm 
gelegentlich gesagt, daß „etwas für ihn 
geschehen solle“. Dazu war’s auch 
wirklich höchste Zeit, aber trotzdem 
wurde aus dem Versprechen noch 
nichts, wenn anders nicht darunter die 
1899 erfolgte Versetzung Gezelles nach 
Brügge als Rektor der Englischen Au- 
gustinerinnen zu verstehen war. Die 
Nonnen verpflegten den alten Mann 
zwar vorzüglich, und das war immer¬ 
hin schon etwas, aber er mußte den 
ganzen Tag Englisch sprechen, und das 
lag dem Flamen nicht Die Gnade des 
Bischofs hatte überdies noch einen 
eigenartigen Beigeschmack: er über¬ 
trug Gezelle die Übersetzung seiner 
„Meditationes Theologicae“! Die Ar¬ 
beit hatte für diesen indes insofern 
einen gewissen Reiz, als sie ihm Gele¬ 
genheit bot, einmal seinen Confratres 
ein frommes Werk in einem meister¬ 
haften Flämisch zu bieten, und wenn 
das gelang, dann konnte sich der Bi¬ 
schof seinerseits beruhigt sagen (was 
sonst vielleicht zweifelhaft sein moch¬ 
te): Non omnis moriar! Aber es ge¬ 
lang nicht! Der alte Baum hatte das 
Verpflanzen nicht mehr vertragen kön¬ 
nen und begann zu siechen. Todesah¬ 
nungen beschlichen den Dichter: 

,’t En gaat niet meer zoo ’t ging 
in ’t eerste! En zijn de dagen 
u jongens veel te kort, 
mij dunkt het dat ze tragen 
en roekloos wederstaan 
mijn ongeduldig hert, 
dat hunkert naar den nacht 
en ’t eenzaam kistenberd.“ ,e ) 


16) Es geht nicht mehr, wie's früher 
ging! Und sind die Tage euch Jungen 
viel zu kurz, mich dünkt, daß sie träge 
werden und hartnäckig meinem ungedul¬ 
digen Herzen widerstreben, das nach der 
Nacht und dem einsamen Sargbrett hungert 

Internationale Monatsschrift 

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Eine Geschwulst am rechten Arme 
wurde zwar, wie gewöhnlich, glück¬ 
lich operiert, aber noch bevor das Jahr 
zu Ende ging, lag Gezelle unter der 
Erde, die „Goddelyke Beschouwingen" 
— so hatte er „Meditationes Theologi¬ 
cae“ übersetzt — unfertig seinem wohl¬ 
wollenden Bischof und ihrem Geschick 
überlassend. * 7 ) 

Er starb am 30. November 1899, ohne 
der Welt etwas schuldig zu bleiben; 
ob sie ihrerseits ihm gerecht geworden 
ist, ob namentlich seine Landsleute und 
seine Behörden sich nicht an ihm ver¬ 
fehlt haben, darüber mag und wird die 
Geschichte das Urteil sprechen: die Ge¬ 
genwart kann ihnen die schwersten An¬ 
klagen nicht ersparen! 

Gezelle war eine stattliche Erschei¬ 
nung mit einem gewaltigen Schädel, 
für den die Hüte eigens angefertigt 
werden mußten. In den Jahren seiner 
Kraft war er nach Hugo Verriest ein 
ungemein schöner Mann. In seinem 
Auftreten erschien er als Künstler, trug 
lang herabwallendes Haar, und wenn 
er durch die Straßen Brügges eilte, flog 
sein Mantel mehr, als er hing. Das Volk 
nannte ihn den „Zeerelooper“ (Schnell¬ 
läufer). Er war ein großer Kinder¬ 
freund, und jedes Kind in der Stadt 
kannte und liebte ihn. In seinem We¬ 
sen war er so aufrichtig, natürlich 
und schlicht wie in seinen Dichtun¬ 
gen. Als er einmal ein Bäuerlein sah, 
das sich in Brügges Straßen festge- 
fahren hatte, holte er nicht etwa Hilfe 
herbei, sondern stellte sich mit seinem 
breiten Rücken an den Wagen und hob 
ihn wieder aufs Pflaster. Beim Aus¬ 
bruche der Cholera in Brüssel hätte er 
ein Hilfskomitee mit der Gräfin von 

17) Im 10. Teile der Sämtlichen Werke 
S. 156 sind Stücke in Versen daraus mit¬ 
geteilt 

7 

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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


196 


Brabant als Patronin gründen können, 
aber statt dessen versorgte er selbst 
die Kranken und trug die Kinder auf 
seinen Armen zum Hospital Geld be¬ 
saß er nur selten, aber zum Geben war 
er stets bereit. Ein Stüde Tuch, das 
seinen eigenen Rock ersetzen sollte, gab 
er für einen hin, der ihn, nach seiner 
'Meinung, noch nötiger hatte. Einem 
anderen Bettler gab er seinen Schirm 
mit den Worten: Geh und verkauf ihn 
so teuer, wie du kannst Er war in 
allem anders als die anderen, und was 
diese hoch und teuer einschätzten, da¬ 
für fehlte ihm jeder Sinn. Andere froh 
zu machen war sein höchster Genuß. 

„Milde en goed zoe wilde ik wezen, 
als roo riekende eerdbezezen; 
als de lelie, blank en fjin, 
geurig als de rosmarijn.“ 18 ) 

Christus hätte ihn vielleicht zum 
Apostel gewählt, aber in Brügge ließ 
man ihn auf der untersten Stufe der 
Hierarchie sterben, man war dort zu 
reich an großen und guten Männern! 


18) „Mild und gütig möchte ich sein, wie 
rote sfißriechende Erdbeeren, wie die Lilie 
weiß und zart, duftig wie der Rosmarin.“ 


Gezelles einziger Schatz war die 
Dichtkunst, die er als eine beseligende 
Gottesgabe betrachtete, und deren Aus¬ 
übung für ihn Gottesdienst war. Wie 
leicht wäre es dem überlegenen Geist 
nicht geworden, und wie menschlich 
wäre es gewesen, in Versen einmal 
gründlich mit seinen Gegnern abzurech¬ 
nen; aber er hat es nicht getan. Kein 
Wort der Rache oder auch nur des 
Grolles ist je aus seiner Feder geflos¬ 
sen, nie hat er sie durch ein verletzen¬ 
des Wort oder sonst irgendwie ent¬ 
weiht Deshalb betrachtete er auch seine 
Gedichte als Fürsprecher bei seinem 
Schöpfer: 

„O spreekt voor mij, mijn dichten, als 
God eens mij reden vraagt, 
is ’t zake dat gij, krankgeboor- 
nen, ’t arme leven draagt 
tot verder als mijn grafstede, en 
niet steift, aleer ik sterf: 
o, ’n weze ’t dan om u niet dat 
ik daar het leven derf!“ ,e ) 

19) 0 sprecht für mich, meine Gedichte, 
wenn Gott einmal Rechenschaft von mir 
verlangt, falls ihr Schwächlichgeborenen 
das arme Leben Ober meine Grabstatt hin¬ 
aus führt und nicht sterbt, bevor ich sterbe: 
o, möge es dann nicht geschehen, daß ich 
euretwegen das Leben entbehre! 


Deutsche und französische Kultur und Kunst 

Von Richard Hamann. 


Die Katastrophe, die über Europa 
hereingebrochen ist, ist nicht auf den 
Kampf der Mächte und Heere be¬ 
schränkt Sie hat geistige Gegensätze 
offenbart, die sich zu Schlagworten ver¬ 
dichtet haben wie des Militarismus, der 
rohen Macht der Eroberungssucht auf 
der einen Seite, der Freiheit, den Men¬ 
schenrechte und der Kultur auf der an¬ 
deren Seite. Auch ist die Tatsache nicht 
wegzuleugnen, daß der Deutsche fast 
überall unbeliebt ist obwohl er doch in 


den meisten Dingen der große Lehr¬ 
meister der Menschheit geworden ist, 
und daß der Franzose sich einer viel 
allgemeineren Beliebtheit erfreut trotz 
seiner Rückständigkeit in vielen Din¬ 
gen, die gerade die moderne Zivilisa¬ 
tion angehen. Obwohl der Verlauf des 
Krieges genugsam bewiesen hat daß 
die Deutschen, überall in der Minder¬ 
zahl, nur durch geistige Beherrschung 
der Kräfte, durch Systematik den Sieg 
errungen haben und deutscher Wissen- 


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INDIANA UN1VERSITY 




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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


198 


Schaft in erster Linie ihre Überlegen¬ 
heit verdanken, dauert das Geschrei 
von den Barbaren noch immer un¬ 
vermindert fort Und es mag noch so 
viel von Mißwirtschaft, Korruption, 
Verleumdung und Unritterlichkeit in 
der Behandlung von Gefangenen bei 
den Franzosen die Rede sein, die Welt 
wird nicht aufhören, im französischen 
Geiste die Blüte der Zivilisation und 
Kultur zu feiern. Alle Versuche von 
deutscher Seite, dagegen zu protestie¬ 
ren und aufzuklären, haben die Sach¬ 
lage nur verschlimmert weil an der 
Tatsache nicht zu rütteln ist daß tatsäch¬ 
lich eine Überlegenheit der Franzosen 
besteht Ebenso unumstößlich ist es 
aber auch, daß die deutsche Kultur 
der französischen überlegen ist Es sind 
eben zwei verschiedene Kulturen, die 
sich hier gegenüberstehen, verschiedene 
Weisen menschlichen Lebens und 
menschlicher Werte, die sich hier bei 
zwei Nationen im Laufe der Geschichte 
herausgebildet verfeinert und zu jener 
dem ganzen Leben seinen Stempel auf- 
prägenden Form entwickelt haben, in 
denen wir das Zeichen von Kultur 
überhaupt sehen- In dem, was jedes 
Volk als eigenste Leistung hervor- 
gebracht hat ist es naturgemäß dem 
anderen überlegen. Ob aber die eine 
Kultur der anderen vorzuziehen sei, das 
zu entscheiden, kann niemals Sache lo¬ 
gischer Erwägung sein, sondern nur 
des Charakters oder der Geschichte, 
wenn sich in ihrem Verlaufe heraus¬ 
stellt daß die Entwicklung einer der 
beiden die Führung zuweist nachdem 
vielleicht vorher die andere die Zügel 
in den Händen gehabt hat Vielleicht 
stellt schon dieser Krieg eine Art von 
Weltgericht dar. 

L 

Den Kernpunkt französischer Le¬ 
bensverfassung treffen wir, wenn wir 

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sie als eine gesellig-gesellschaftliche 
auffassen, und ihr größtes Verdienst 
in dem Herausbilden von Formen des 
Gemeinschaftslebens finden. Das scheint 
zunächst paradox gerade im Gegensatz 
zum deutschen Wesen. Denn verdanken 
wir nicht gerade unsere Erfolge der 
Fähigkeit der Organisation, der Soziali¬ 
sierung der menschlichen Kräfte? Es 
ist aber nicht nur so, daß die Franzosen 
in der Entwicklung der gesellschaft¬ 
lichen Formen und Organisierung der 
Gemeinschaften vorangegangen sind, 
sondern daß der Sinn dieser Gemein¬ 
schaften innerhalb der französischen 
Kultur ein spezifisch anderer ist als der 
der deutschen. Diese französische Or¬ 
ganisation ist gesellig. Ihr kommt es 
auf den Verkehr der Menschen unter¬ 
einander an, auf die persönliche Gel¬ 
tung, die der einzelne dem anderen 
gegenüber in der Gesellschaft erlangt, 
die Rolle, die er darin spielt Mit einer 
gewissen Übertreibung kann man es 
als Aufgabe der ganzen französischen 
Kulturentwicklung bezeichnen. Regeln 
solchen Gemeinschaftslebens zu ent¬ 
wickeln, jedem Pflichten und Rechte 
nach seiner Stellung innerhalb dieser 
Gemeinschaft zuzuweisen. Formen und 
Formeln für die Zusammengehörigkeit, 
Symbole für die Gemeinschaft zu erfin¬ 
den und den Wert dieser Gemeinschaft 
selbst zu steigern und zu erhöhen, und 
mit ihm die Geltung des einzelnen, 
der an dieser Gesellschaft teilhat, zur 
Gesellschaft gehört. 

Das aber ist im Grunde dem deut¬ 
schen Wesen fremd. Die Deutschen 
sind immer in einer starken Isolierung 
der Personen steckengeblieben, Ge¬ 
sellschaft und Geselligkeit treten hin¬ 
ter dem Eigenleben des Individuums 
zurück. Daher haben auch alle Formen 
des Gemeinschaftslebens nie die Fein¬ 
heit und Selbstverständlichkeit erlangt 

7* 

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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


200 


wie in Frankreich, und was wichtiger ist, 
daher ist Frankreich jedesmal, wenn der 
Wert der Geselligkeit eine besondere 
Geltung in der Welt erlangte, stets ton¬ 
angebend gewesen und nirgends stär¬ 
ker als in Deutschland. Der Deutsche 
hat in dieser Hinsicht stets als Barbar 
gegolten. Es wäre ungerecht, zu leug¬ 
nen, daß er es auch heute noch bis zum 
gewissen Grade darin ist Diese Eigen¬ 
willigkeit aber bedingte, daß nun der 
Deutsche mit den Dingen allein, die 
zum Leben nötig sind, in der Erarbei¬ 
tung dieser sachlichen Werte zu einer 
Hingabe an diese gelangte, die nicht 
nur zu einer ständigen Vervollkomm¬ 
nung der Technik sachlicher Ausge¬ 
staltung des Lebens führte, sondern 
auch zu einer Vergeistigung edler die¬ 
ser objektiven Güter, für deren Vertie¬ 
fung nichts so sehr Zeugnis ablegt als 
die deutsche Musik. Hieraus ent¬ 
wickelte sich ein Reich der Zwecke, 
eine Organisation der Arbeit, die auch 
jedem Menschen seinen Platz anweist, 
aber immer nur mit Hinsicht auf seine 
sachliche Leistung, jenseits deren seine 
Person sich völlig unabhängig von der 
Gesellschaft, in der er schafft, erhalten 
kann. Ja, die höchsten Leistungen dieser 
objektiven, sachlichen Kultur gehen, 
auch wo sie durch die Rücksichten auf 
den gemeinsamen Bestand dieser objek¬ 
tiven Werte und ihren Zusammenhang 
bestimmt werden, in völliger Einsam¬ 
keit vor sich. 

Und noch ein anderer Grundzug 
deutschen Wesens resultiert aus diesem 
Individualismus, die Fähigkeit der Ver¬ 
senkung in fremdes Wesen und eine 
ausgesprochene Toleranz, das Gelten¬ 
lassen anderer Existenzen und Aner¬ 
kennung jeglichen Eigenlebens. 

Von diesem Geselligkeitstrieb und 
dem Bedürfnis persönlicher Geltung in 
der Gesellschaft bei den Franzosen und 


von dieser Eigenbrötelei und der Hin¬ 
gabe an sachliche Zusammenhänge ver¬ 
stehen wir viele Züge des heutigen Le¬ 
bens der beiden Völker und ihrer Ge¬ 
schichte. 

Frankreich ist früh zu einem politi¬ 
schen Einheitsstaat in nationalen Gren¬ 
zen gelangt, als Deutschland noch, zer¬ 
rissen in unzählige Territorien und 
Kleinstaaten, ein ohnmächtiges politi¬ 
sches Gebilde und ein Spielball fremder 
Mächte war. Vor allem aber ist Frank¬ 
reich das Land der großen Organisa¬ 
tionen gesellschaftlicher Art. Hier ha¬ 
ben die großen Mönchsorden ihre Hei¬ 
mat, die Kluniazenser, die Zisterzienser, 
und sind eine Weltmacht geworden 
durch den echt französischen Geist per¬ 
sonaler Vergesellschaftung, das Rang¬ 
gefühl des einzelnen und den Herr¬ 
schergeist des Ganzen. In Frankreich 
entfaltete sich das Rittertum mit seinem 
starken Standesbewußtsein, seinen fei¬ 
nen Lebensformen und geselligen Idea¬ 
len des Hoflebens und der Bindung 
des einzelnen unter den Geist der Ge¬ 
meinschaft Der Höhepunkt der fran¬ 
zösischen Kultur und politischen Ge¬ 
schichte bleibt doch immer die Zeit 
Ludwigs XIV., die klassische Epoche 
Frankreichs, wo uns ganz Frankreich 
als eine einzige streng geordnete Ge¬ 
sellschaft erscheint, in der der Wert 
jedes einzelnen davon abhing, wie nab 
oder fern er der Spitze dieses gesell¬ 
schaftlichen Wunderbaues, dem Gipfel 
der Macht, dem absoluten König stand. 
Nur aus diesem starken Gemeinschafts¬ 
gefühl und der Schätzung der gesell¬ 
schaftlichen Stellung heraus ist es zu 
verstehen, daß ein Volk, das eben in der 
Revolution sich die Freiheit von aller 
Tyrannei erkämpft hatte, einem Despo¬ 
ten und Eroberer wie Napoleon zuju¬ 
beln konnte. Noch heute sonnt sich 
ganz Frankreich im Glanze dieses Man- 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


202 


nes. Der Mönch, der Ritter (Kavalier), 
der Hofmann und im 19. Jahrhundert 
noch der Bourgeois als Standesbezeich¬ 
nung aufgefaßt, sind Typen des fran- 
sösischen Wesens, die die Geschichte 
verwirklicht hat. Sollten wir aber Ty¬ 
pen deutschen Wesens aufzählen, so 
würden wir den deutschen Bauern 
nennen, und die ansehnliche Rolle, die 
er im deutschen Leben spielt, dann den 
Handwerker und an Hans Sachs dabei 
denken, den Kaufmann und den Gelehr¬ 
ten, lauter Menschen, die arbeiten und 
schaffen und von der Standesgeltung 
mehr oder minder unabhängig sind, 
denen ihr eigenes Reich ihre Welt ist. 
Wo wir aber in Deutschland Typen und 
Lebensverfassungen finden wie in 
Frankreich, da würde es nicht schwer 
sein, die Vorbilder dafür im jetzigen 
oder vergangenen Frankreich nachzu¬ 
weisen, sowohl in dem Zeremoniell un¬ 
seres Hofes und dem Gottesgnadentum 
des Herrschers, wie in den geselligen 
Formen unserer Aristokratie und schlie߬ 
lich im Standesgefühl unserer Offiziere. 

Denn das ist das Merkwürdige: kein 
Vorwurf, der gegen die Deutschen er¬ 
hoben wird, ist stärker als der des Mili¬ 
tarismus. Und dennoch ist nicht nur 
alles, was wir am preußischen Offi- 
zierkorps und Soldaten als positiven 
Wert empfinden, der Geist der Über¬ 
und Unterordnung, die Treue gegen 
den obersten Kriegsherrn, die Sicher¬ 
heit des Auftretens in der Gesellschaft 
und die Galanterie gegen Frauen, das 
Herrschenkönnen und Sichzusammen- 
nehmen, das Gehorchen und Befehlen¬ 
können, das Gefühl für Rang und Stand, 
kurz alles, was sich um den Begriff der 
Ehre gruppiert, direkter Abkömmling 
der ritterlichen Kultur des französi¬ 
schen Geistes, sondern noch heute ist 
Frankreich voll von Idealen, die der 
Schätzung militärischer Macht und Ruh¬ 


mes um ihrer selbst willen entsprin¬ 
gen, und aus seiner Geschichte ist das 
zu verstehen. Sind nicht schon die 
Kreuzzüge, die von Frankreich aus 
ihren Ursprung nahmen, ein Ausfluß 
dieses militärischen Geistes, der zur 
Ehre des Höchsten, um den sich die 
ritterliche Welt scharte, die Welt unter¬ 
werfen will, ein Idealismus militäri¬ 
schen Gemeinschaftsgefühles, wie er 
höher nicht gedacht werden kann? Wo 
könnte eine militaristisch-imperialisti¬ 
sche Politik sich besser ihre Vorbilder 
holen als bei den Raubzügen Ludwigs 
XIV.? Und wann hätte in neuerer Zeit 
je die Welt ein glänzenderes und ver¬ 
hängnisvolleres Beispiel militärischen 
Machtbewußtseins gesehen als bei dem 
Phänomen Napoleon. Dieses Gefühl 
aber für die auf militärischen Erfolgen 
beruhende Gloire der grande nation ist 
noch heute lebendig in Frankreich, und 
wir dürfen wohl glauben, daß es nicht 
der Verlust von Stammesbrüdern ist, 
um den die Franzosen bei Elsaß-Loth¬ 
ringen trauern, denn die Elsaß-Loth¬ 
ringer waren immer die Zielscheibe des 
Spottes für die Franzosen, sondern 
die verletzte militärische Ehre, die für 
eine Niederlage Revanche fordern muß. 
Gleich bewährt sich auch da wieder die 
echt deutsche Eigenschaft des Ver¬ 
stehens, daß wir nun dieses vom Stand¬ 
punkt jener Rang- und Ehrenkultur ed¬ 
len Motives wegen den Franzosen als 
ritterlichsten Gegner am höchsten ein¬ 
schätzen. Das Wesentliche ist, in Frank¬ 
reich ist der militärische Geist wirk¬ 
lich populär, ein Teil der Kultur. Man 
muß einmal die Manöverberichte im 
„Matin“ gelesen haben, diese Jubelhym¬ 
nen auf ihre glorreiche Armee, wahre 
Fanfaren militärischer Begeisterung, vol¬ 
ler Empfindungen, wie sie ein Fürst bei 
einer Parade seiner Truppen haben 
könnte, und muß dann die sachlich 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


204 


trockenen Manöverberichte selbst in un¬ 
seren chauvinistischen Zeitungen damit 
vergleichen, für die sich niemand inter¬ 
essiert als gerade der Fachmann. Ich 
erinnere mich der rhetorischen Schilde¬ 
rung einer glänzenden Kavallerieattacke 
aus dem „Matin", bei der in einem Ne¬ 
bensatz gesagt wurde, daß im Ernstfall 
niemand mit dem Leben davongekom¬ 
men wäre. Aber dieser Heroismus, dieser 
Elan! Und immer wird diesen glühen¬ 
den Schilderungen schon ein imaginärer 
Feind zugrunde gelegt, dessen Mann¬ 
schaften natürlich Maschinen sind, der 
französische Soldat aber ist Held und 
Feldherr zu gleicher Zeit. 

Dagegen schäzten wir gerade am Mili¬ 
tarismus die technische, vom Geist der 
Wissenschaft und Arbeitsorganisation 
geleitete Maschinerie und die Erzie¬ 
hung zur Hingabe an die sachliche 
Leistung durch Unterordnung der Per¬ 
son. Und aus diesem Sachlichkeitstrieb 
heraus versteht sich, daß von jeher der 
Deutsche als Söldner sehr hochge¬ 
schätzt war, weil auch ihm der Krieg 
ein Handwerk war, für das man sich 
verdingen kann. Und wir alle sind 
überzeugt, daß die von offiziöser und 
privater Seite immer wieder behauptete 
Friedensliebe der Deutschen nicht bloß 
eine politische Phrase ist. Wir können 
uns nicht denken, daß vor dem Kriege 
deutsche Zeitungen in Vorstellungen 
schwelgten, wie die französischen es ta¬ 
ten, durch Legionen von Fliegern deut¬ 
sche Städte vernichten zu lassen, nur 
um im Gefühl der Macht und Rache sich 
zu sättigen, da wir doch fast bis zum 
Schaden an der eigenen Sache bemüht 
sind, in Feindesland zu erhalten und zu 
schonen, was zu erhalten ist 

Durch dieses Gefühl für die Größe 
und den Wert der Gemeinschaft der 
man angehört und von der man selbst 
seinen Wert empfängt, einen Nationalis¬ 


mus, der heute noch so lebendig ist wie 
früher, und durch das Bedürfnis nach 
persönlicher Geltung innerhalb der Ge¬ 
sellschaft ist die politische Interessiert¬ 
heit der Franzosen zu verstehen. Der 
Franzose denkt durch und durch poli¬ 
tisch und ist mit einer Leidenschaft an 
den täglich«! Fragen des Parteikamp¬ 
fes und der international«! Mächtever¬ 
schiebung beteiligt, wie wir sie nur aus 
den Erfahrungen des Krieges verstehen 
können. Für den Franzosen aber ist auch 
die Friedenspolitik in erster Linie 
Kampf der Parteien, der im Parlament 
und in der Presse ausgefochten wird. 
Die Gleichgültigkeit gerade des gebilde¬ 
ten Deutschen gegenüber politischen 
Tagesfragen ist ja ein oft eingestande¬ 
ner Mangel und dennoch erklärlich, da 
die sachliche Welt, in der er lebt, um 
so weniger von diesem Kampf um die 
Macht und den Vorrang berührt wird, 
je vergeistigter sie ist Für uns ist die 
Presse in erster Linie Berichterstattung, 
Bringerin von neuesten Nachrichten, für 
den Franzosen Kampforgan, Kritik, die 
mit allen Mitteln der Rhetorik, des Pam¬ 
phlets, der Satire den Gegner zu Fall 
zu bringen sucht und immer Stellung 
nimmt, niemals bloß referiert. Daher 
die Spannung, ob wieder ein Minister 
gestürzt ist ein Redner der eigenen 
oder fremden Partei gut oder schlecht 
abgeschnitten hat. So laufen denn 
abends durch Paris Jungen und schwen¬ 
ken die eben erschienenen Zeitungen in 
den Händen mit wilden Rufen: La 
Presse! La Presse!, daß der Fremde 
meint ein großes Unglück müsse ir¬ 
gendwo passiert sein. Für den Franzo¬ 
sen gibt es eben auch im Frieden Ta¬ 
gesberichte. 

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Das nationale Einheitsbewußtsein hat 
notgedrungen zu jener Zentralisierung 
des Lebens in Frankreich geführt, die 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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die ganze Verwaltung des Landes 
durchdringt und bewirkt hat daß Paris 
das eigentliche Leben Frankreichs be¬ 
deutet, und die Provinz so sehr dahinter 
zurücksteht. Die hierarchische Ordnung, 
die den auf Rang und Ober- und Unter¬ 
ordnung gestellten Gemeinschaften ei¬ 
gen ist, liegt auch dem republikanischen 
Frankreich noch zugrunde, und das Be¬ 
dürfnis nach sichtbarem Erfolg in der 
Gesellschaft hat bewirkt, daß sich alles, 
was eine Rolle spielen möchte, nach 
Paris drängt Diese Stadt ist noch im¬ 
mer eine Art von Hof wie zur Zeit Lud¬ 
wigs XIV., an dem empfangen zu wer¬ 
den die höchste Ehre bedeutet. Paris 
ist tonangebend. Hier wird man kreiert. 
Alle Kenner Frankreichs behaupten, daß 
eine geheime ^Sehnsucht nach dem 
König noch immer in Frankreich lebe. 
Dagegen ist ja grade für Deutschland 
die Dezentralisation so außerordentlich 
bezeichnend, ein Individualismus der 
Kleinstaaten, aber vor allem auch der 
Städte, der die deutschen Städte nicht 
nur so psysiognomienreich gemacht hat 
sondern auch oft kleine Orte zu Zentren 
reichsten kulturellen Lebens hat werden 
lassen. Frankreich aber verdankt dieser 
Zentralisierung wohl die Größe seiner 
politischen Macht und viele Jahrhunderte 
währenden Vorrangstellung, aber auch 
die Einförmigkeit und Reizlosigkeit des 
Lebens in den kleinen Städten der Pro¬ 
vinz. Die streng zentralistische Ver¬ 
waltung, die auch den Maire zum Re¬ 
gierungsbeamten macht, bedingt, daß 
das staatliche und städtische Leben in 
Frankreich uniformiert ist, und der Bu- 
reaukratismus von Verordnungen, die 
aus einem Machtzentrum hervorgegan¬ 
gen sind, sich weit fühlbarer macht als 
bei uns. Die Regulierung des verein¬ 
heitlichten Gemeinschaftswesens bedingt 
den für Frankreich von je charakteristi¬ 
schen Rationalismus auf allen Gebieten. 

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Es vollzieht sich hier im staatlichen 
Leben dasselbe, wie in dem unmittelba¬ 
ren Leben der Gesellschaft, zu dem der 
Franzose sich drängt, daß er auf das, 
was ihn von dem anderen trennt und 
nur ihn angeht, verzichten muß, daß er 
Gesellschaftsmensch werden muß, daß 
sich Formeln für das Gemeinschafts¬ 
leben herausbilden, die den Verkehr 
untereinander regulieren, daß. man ein¬ 
ander gefällig sein muß, und im Ton 
und Aussehen die Zugehörigkeit zu die¬ 
ser Gemeinschaft dokumentiert. Wir 
verstehen nicht, daß sämtliche Frauen 
in Frankreich sich schminken, und emp¬ 
finden das als einen widerlichen Ein¬ 
griff in die Rechte der Natur und als 
Unwahrheit. Für den Franzosen, für den 
das Leben in der Geselligkeit von vorn¬ 
herein Unterwerfung der Person unter 
eine Regel der Gemeinschaft bedeutet, 
ist diese Korrektur des Gegebenen zu¬ 
gunsten der gesellschaftlichen Forde¬ 
rung etwas so Selbstverständliches, wie 
er sich dem Zwang der Mode unter¬ 
wirft, die in Frankreich seit den Zeiten 
des Mittelalters an der Herausarbeitung 
eines gesellschaftlichen Typus in der 
äußeren Erscheinung des Menschen ge¬ 
arbeitet hat. Ganz Europa läßt sich 
ja noch heute von der französischen 
Mode das Gesetz diktieren, soweit es 
ach um gesellschaftliche Erscheinung 
handelt So drängt gegenüber der oft 
gezeigten Formlosigkeit des Deutschen 
in der äußeren Erscheinung beim Fran¬ 
zos«) alles zur Form. Die Grundtendenz 
dieser Form aber entsprechend dem Be¬ 
mühen, unter Menschen eine Rolle zu 
spielen, ist zu gefallen, das, was wir 
ganz allgemein als Liebenswürdigkeit 
bezeichnen können. In der Gestalt ewige 
Jugend, im Ausdruck möglichst Wen¬ 
dungen, die dem andern schmeicheln 
oder huldigen. Es hat das zu den For¬ 
meln gesellschaftlichen Verkehrs ge- 

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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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führt, bei denen wir uns nichts mehr 
denken und die genau so Typisierung 
und Unterwerfung der Natur unter die 
Regel sind wie die Schminke im Ge¬ 
sicht, und die doch den Verkehr der 
Menschen untereinander, solange er 
keine sachlichen Ziele hat, so ange¬ 
nehm und leicht machen. Es ist fran¬ 
zösisches Gut, das wir in diesen For¬ 
meln der Höflichkeit empfangen haben, 
und immer greift der Franzose noch 
einen Ton höher als der Deutsche. Wir 
sagen: Freue mich sehr, Sie zu sehen, 
der Franzose: Je suis enchant6; wir: 
Es tut mir leid. Sie verfehlt zu haben, 
der Franzose: Je regrette infiniment. 
oder: Je suis d6sol6. Wir können 
aber sicher sein, daß der Deutsche ein 
schlechtes Gewissen hat, wenn er es 
zu einem ihm unsympathischen Men¬ 
schen sagt. Für den Franzosen aber 
schafft die Selbstverständlichkeit, mit 
der ihm diese Formen und Formeln aus 
dem französischen Leben heraus zu eigen 
werden, sofort eine gemeinschaftliche 
Basis für eine Unterhaltung mit ande¬ 
ren Menschen. „Quand je suis en 
France", sagt Montesquieu, „je fais ami- 
ti6 avec tout le monde, en Angleterre 
je n’en fais ä personne.“ Das ist 
der tiefste Grund der Sympathie, die 
der Franzose bei allen Fremden fin¬ 
det, die nicht mehr als die Annehm¬ 
lichkeit des Verkehrs von ihm verlan¬ 
gen. Aber es ist klar, daß bei dieser 
Verteilung des Sympathiequantums auf 
„tout le monde", amitiö nicht mehr die 
Freundschaft wie bei uns bedeuten 
kann. Der Franzose ist im Augenblick 
des Kennenlemens sofort liebenswür¬ 
dig, höflich, gesellig und unterhaltend. 
Aber diese Liebenswürdigkeit erschöpft 
sich mit dem Moment des geselligen 
Beisammenseins, und weitergehenden 
Verpflichtungen gegenüber ist er unzu¬ 
verlässig. Der Deutsche muß erst die 


Gemeinschaft der Interessen und Nei¬ 
gungen festgestellt haben, ehe er aus 
sich herausgeht, dann aber wird das 
Verhältnis ein innigeres und festeres. 
Der Franzose hat Bekanntschaften, der 
Deutsche Freundschaften. Was man 
schon in Deutschland vom Westen und 
Osten gesagt hat, daß man im Westen 
mit offenen Armen empfangen werde, 
aber im Osten mache man die Arme 
auch zu, gilt auch von dem Unterschied 
von Frankreich und Deutschland. 

Der Franzose ist deshalb viel mehr 
Allerweltsmensch als der Deutsche, weil 
mehr Typus als Individualität. „Ne pas 
se distinguer“ gilt für ihn in erster Li¬ 
nie. Er hat vor nichts so Furcht als 
vor dem Ridicule, der Lächerlichkeit, 
in die er verfällt, wenn er gegen die 
Regel verstößt wie alles Sonderbare. 
Daher ist auch der Blick für alle Ab¬ 
weichungen von der Konvention so 
sehr geschärft und die Geißelung aller 
Schrullen durch schneidende Satire altes 
französisches Erbgut. Frankreich ist das 
Land der klassischen Satire. Deutsch¬ 
land hat keinen Molifere und keinen 
Daumier, wohl aber einen Jean Paul 
und einen Spitzweg. Denn in Deutsch¬ 
land werden die Schwächen der Men¬ 
schen liebevoll belächelt und das Ori¬ 
ginale geradezu kultiviert. Der deutsche 
Humor läßt die Dinge gelten, der fran¬ 
zösische Witz tötet. 

Wie sich der Franzose dem gesell¬ 
schaftlichen Ideal zuliebe angleicht, so 
hat er auch das Bedürfnis, unter sei¬ 
nesgleichen zu sein und sich gesellig zu 
betätigen. Er hat nicht das Verlangen, 
fremde Völker und fremde Verhält¬ 
nisse kennen zu lernen. Es ist erstaun¬ 
lich, wie wenig der Franzose das Be¬ 
dürfnis hat, zu reisen, es sei denn, 
nach Paris. Und jedem wird aufgefallen 
sein, wie wenig man in Italien, in der 
Schweiz Franzosen findet neben der 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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Fülle der Engländer und Deutschen, 
denn gerade fQr die Deutschen ist ja 
die Wanderlust und die Fähigkeit, sich 
in fremde Verhältnisse hineinzufinden 
und sich anzupassen, so charakteri¬ 
stisch, daß man das, was von sachli¬ 
chem Standpunkt aus eine Tugend ge¬ 
nannt werden muß, vom personalen des 
Gemeinschaftsgefühles oft genug als 
Charakterschwäche getadelt hat. Der 
Deutsche ist kosmopolitisch und inter¬ 
national, nicht weil er vor fremden 
Staaten mehr Achtung hätte als vor 
dem eigenen, und sein Vaterland ver¬ 
riete. oder weil er einer utopistischen 
Gemeinschaft des Weltbürgertums zu¬ 
strebte, sondern weil diese Werte des 
personalen Stolzes und Nationalgefüh- 
les ihm überhaupt nicht soviel bedeuten, 
und er aus einer ganz anderen Bewußt- 
Seinseinstellung heraus die Dinge be¬ 
urteilt, dem sachlichen Interesse am 
Neuen, der Überwindung technischer 
Schwierigkeiten und der Teilnahme an 
fremdem Eigenleben. Denn da der Deut¬ 
sche in fremden Ländern durch seine ge¬ 
sellschaftliche Ungeschicklichkeit über¬ 
eil auffällt, so muß er doch wohl nicht 
imstande sein, sich nur anzupassen. Wo 
er es aber vermag, da eben in Dingen, 
die von den Gemeinschaftsgrenzen und 
der nationalen und gesellschaftlichen 
Zugehörigkeit unabhängig sind, wie 
Wissenschaft, Technik und Kunst, soweit 
diese nicht gerade Formen des Gemein¬ 
schaftslebens gestaltet. Nichts aber 
würde so sehr bedeuten, daß wir das 
Beste deutschen Geistes aufgeben und 
es machen wie die Franzosen, als wenn 
Heißsporne heute verlangen, daß mit 
der wachsenden staatlichen Vereinheitli¬ 
chung und Machtstellung des Deutschen 
Reiches nun auch in sachlichen und 
geistigen Werten Deutschland sich mit 
Schranken der Konvention und des Na- 
tionalstolzes umgebe, und daß wir ein 


Kunstwerk künftighin loben, nicht weil 
es gut sei, sondern weil es deutsch sei, 
einen Gedanken, nicht weil er wahr sei, 
sondern deutsch gedacht. Kein Volk hat 
in strengerem Sinne eine Nationallite¬ 
ratur als die Franzosen, kein Volk ist 
in höherem Sinne im Besitze der Welt¬ 
literatur als die Deutschen. So bleibt 
von dem deutschen Weltbürgertum nur 
die Welt, aber nicht das Bürgertum. 
Die unpolitische, unstaatsbürgerliche 
Gesinnung erschließt ihm diese Welt. 

Derselbe unkonventionelle und un¬ 
zeremonielle Zug des auf Sachkultur ge¬ 
stellten Eigenlebens ist es, der mit dem 
Weltgefühl auch das Naturgefühl des 
deutschen bedingt. Der Deutsche geht 
in die Natur hinaus, schon um allein zu 
sein und aller gesellschaftlichen Kon¬ 
vention zu entfliehen. Draußen in der 
Natur aber setzt ihn sein sachliches In¬ 
teresse sofort in Beziehung mit allen 
Dingen, so daß er sich selbst daneben 
vergißt, und wo dieses sachliche Inter¬ 
esse frei von allen Zwecken und Nutzen 
sich betätigen kann, da befähigt es ihn, 
sich hineinzufühlen selbst in die gleich¬ 
gültigsten Dinge, ein vom Winde be¬ 
wegtes Blatt, einen zitternden Halm 
oder einen verkrüppelten Strauch. Der 
Menschheitstypus, in dem wir diese 
Gabe der Einfühlung in das Unschein¬ 
barste am höchsten verehren, heißt 
Goethe. Wo aber der Deutsche die Ein¬ 
samkeit sucht, schafft sich der Fran¬ 
zose eine neue Konvention und Form 
der Geselligkeit Das französische See¬ 
bad oder der französische Luftkurort 
sind erst recht Stätten des Luxus und 
raffinierter Geselligkeit Es sind Ge¬ 
legenheiten, vor einer nur der Gesellig¬ 
keit hingegebenen und enger als in den 
Städten verbundenen Gesellschaft alle 
Künste der Toilette zu entfalten und zu 
glänzen. Die großen Momente des Le¬ 
bens im Freien, la vie en grand air, sind 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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die Rennen in Longchamps, die große 
Modenschau von Paris. In einer Litho¬ 
graphie macht sich Daumier darüber 
lustig, daß sich inmitten einer heißen 
baumlosen Sandebene ein Bourgeois ein 
Landhaus gebaut hat, in dem er wie 
der Adel auf seinen Schlössern seine 
Freunde empfangen kann. Auch das 
ist ein bezeichnender Zug des Land¬ 
lebens in Frankreich. Oder aber es 
verhilft auch die Natur dazu, eine Rolle 
zu spielen, indem man seine Überlegen¬ 
heit zeigt durch die ritterliche Betä¬ 
tigung an der Jagd. Dieses „edle“ Ver¬ 
gnügen ist in Frankreich Volksbelusti¬ 
gung. Ganze .Züge voll Männer mit 
Flinten und Angelgeräten sieht man 
Sonntags aus den Städten aufs Land 
hinausfahren, während wir in der herr¬ 
lichsten Pyrenäenlandschaft in der Nähe 
großer Städte nicht einen Spaziergän¬ 
ger trafen. Höchstens sieht man die 
Automobile über die Landstraßen sau¬ 
sen, daß man meint, jeder kleine Bür¬ 
ger müßte in Frankreich sein Auto ha¬ 
ben, und sicherlich ist es jedes Fran¬ 
zosen Wunsch, denn hier kann man 
sich wieder hervortun, sowohl in der 
Kühnheit sportlicher Betätigung wie mit 
dem Renommee des Besitzes. 

Das Wesentliche bei dieser ganzen 
Gesellschafts- und Geselligkeitskultur, 
das man verstehen muß, um sie zu wür¬ 
digen, ist, daß ein ungeheurer Idealis¬ 
mus darin steckt, der um so grandioser 
wirkt, je größer die Gemeinschaft ist, 
und je stärker die Gemeinsamkeit der in 
ihr Verbundenen, daß andererseits die 
Gefahr in der Einseitigkeit ruht, die mit 
diesem wie mit jedem Idealismus ver¬ 
bunden ist. Es bedeutet schon etwas, 
daß jemand auf eine Menge von Be¬ 
quemlichkeiten verzichtet und sich be¬ 
ständig Gewalt antun muß, nur der 
Achtung wegen, die er dafür von seinen 
Mitmenschen erfährt, oder der Gunst 


der Mächtigen wegen, deren er sich da¬ 
für zu erfreuen hat. Der französische 
Ehrgeiz hat seinen Idealismus, der 
selbst noch in der Toilette der Frau 
zum Ausdruck kommt, die sich schnürt 
und schminkt und selbst Schmerzen in 
Kauf nimmt, um die gesellschaftliche 
Rolle zu spielen, die ihr diese Mode 
vorschreibt Wir brauchen ja nur an die 
Entsagungen und den Zwang zu denken, 
die die Standesehre und der Hofdienst 
unseren Offizieren auferlegen. Das hat 
aber nun seinerseits dazu geführt, daß 
die Momente, in denen durch geselliges 
Beieinandersein dieses Gefühl der Zu¬ 
gehörigkeit zur Gemeinschaft und die 
Schätzung, die man in ihr erfährt, un¬ 
mittelbar lebendig werden, immer aufs 
neue ausgebildet und verfeinert werden. 
So wird Frankreich das Land der Feste, 
der Kirchenfeste und Prozessionen wie 
der Hoffeste und Ffites champötres. Es 
klingt paradox und ist doch so, daß von 
den religiösen Vereinigungen der mit¬ 
telalterlichen Mönche bis zum moder¬ 
nen Pariser Ballsaal eine einzige Ent¬ 
wicklungslinie führt. Die Kunst des 
Wortes wie der Musik und Bildnerei 
werden ebenso viele Mittel, für diese 
Feste Stätten festlicher Stimmung zu 
schaffen, Zeremonien auszubilden, in 
denen das Gefühl der Unterwerfung 
unter eine herrschende Macht wie der 
Zusammengehörigkeit zum geregelten 
und erhöhten Ausdruck kommt. Auch 
da geht eine einzige Linie von den Pro¬ 
zessionen der Kluniazenser-Mönche über 
das höfische Ballett und die militärische 
Parade zum öffentlichen Tanzsaal. Nun 
aber überwuchern diese Formen und 
Feste und Zeremonien so und werden 
so Selbstzweck, daß darunter schon die 
Pflichten und Funktionen leiden, die 
gerade aus dem besonderen Standesge¬ 
fühl und dem Rang, den der einzelne 
in der Gemeinschaft einnimmt, sich her- 

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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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leiten, wie etwa die Pflichten des Herr¬ 
schers von denen der Repräsentation 
überwuchert werden. Was wir heute, im 
weiten Abstand von jener Zeit, als We¬ 
sen des Rokokos und zugleich feinste 
Blüte französischer Kultur ansehen, die 
ewig Feste feiernde Welt des Rokokos, 
ist in gewissem Sinne bezeichnend für 
Frankreich überhaupt Es rührt daher 
die uns kaum begreifliche Sucht des 
Franzosen, so früh wie möglich sich 
ein Vermögen zu erwerben und als 
Rentner von seinen Zinsen zu leben. Es 
ist im Grunde das alte Ideal des Nur- 
Gesellschaftsmenschen und die damit 
verknüpfte Verachtung der Arbeit und 
der nur sachlich bedingten Leistung, 
das hier in einer lächerlichen Form sich 
verallgemeinert hat Gewiß ist auch 
darin eine gewisse Idealität, daß sich 
der Mensch erst abschindet, um sich 
hinterher zu langweilen, aber die Ge¬ 
fährlichkeit dieses Standpunktes leuch¬ 
tet ohne weiteresein. Denn daß es wirk¬ 
lich Standesrücksichten sind, die diesen 
Zustand bedingen, nicht Aussichten auf 
ein behagliches Dasein, geht daraus her¬ 
vor, daß der Mann so lange nicht mit 
den Rentnern verkehren kann, die er be¬ 
dient solange er hinter dem Ladentisch 
steht aber sofort wenn er selber Rent¬ 
ner geworden ist Aus demselben 
Grunde verzichtet der französische 
Bourgeois noch immer auf Komfort im 
Hause, dessen einziger annehmbarer 
Raum der Empfangssalon, der Gesell- 
schaftsraum ist, dessen Räume aber um 
so schmuckloser und notdürftiger wer¬ 
den, je mehr sie den individuellen Be¬ 
dürfnissen der Familie und ihrer ein¬ 
zelnen Mitglieder reserviert sind. Je¬ 
dem, der in Frankreich gereist ist, ist 
ja bekannt, wie der Ort an dem man 
nur allein sein kann, verwahrlost und 
voller Unbequemlichkeit ist Auch hier¬ 
in ist eine Entwicklungslinie zu erken- 

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nen, die von dem Kontrast zwischen 
der Mönchszelle und den prächtigen 
Gemeinschaftsräumen, den Refektorien, 
Kreuzgängen und Klosterkirchen Frank¬ 
reichs ansetzt 

Obwohl wir mit der französischen 
Kathedrale und dem Salon auch die 
gute Stube übernommen haben, empfin¬ 
det doch jeder, wie gerade die Pflege des 
eigenen Heimes etwas spezifisch Deut¬ 
sches ist, und wie sich in der Sorgfalt, 
die der Mensch den Dingen, mit denen 
er sich umgibt, zuteil werden läßt, ein 
eigentümlich deutscher Idealismus, der 
des Sachverwalters kundgibt. Auch das 
kann zur Lächerlichkeit werden, wie 
das Rentnertum des französischen Bour¬ 
geois, wenn wir an die Hausfrau den¬ 
ken, die den ganzen Tag Staub wischt 
und ihre ganzen persönlichen Bedürf¬ 
nisse hingibt, um Dinge, die ihr dienen 
sollten, in Ordnung zu halten. Sein 
Wert offenbart sich schon, wenn wir 
an die alten norddeutschen Bauernhäu¬ 
ser denken mit ihrem gepflegten Haus¬ 
rat, wo die Dinge der Umgebung selbst 
ein Wohlgefühl auszuatmen scheinen, 
das sich auf uns überträgt, oder an die 
gemütlichen Biedermeierstuben, in de¬ 
nen jedes Stück Möbel die Sorgfalt, 
die ihm geschenkt ist, mit einem Lä¬ 
cheln zurückzugeben scheint. Und es 
wird zu einer Art von sachlichem He¬ 
roismus, wenn nun aus dieser Hingabe 
an die Sache heraus Pflichten des öf¬ 
fentlichen Lebens mit jener Gewissen¬ 
haftigkeit erfüllt werden, die nicht nach 
dem persönlichen Nutzen fragt, son¬ 
dern nur danach, ob man die Sache 
gut gemacht habe. Wie sehr gerade in 
Gewissenhaftigkeit sachlicher Pflichten 
die französischen Beamten hinter den 
deutschen zurückstefaen, ist ja bekannt. 
So halten die Ausländer den Deutschen 
für unfrei, weil er sich ohne Murren 
den polizeilichen Verordnungen fügt, 

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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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die ihm auf Schritt und Tritt in Deutsch¬ 
land begegnen. Der Ausländer sieht 
daran nur den Befehl, die Auslassung 
der Obrigkeit, der Deutsche die sach¬ 
liche Ordnung, der zuliebe er sich 
selbstverständlich der Verordnung fügt. 

III. 

Aus diesem Gegensatz von Gesell¬ 
schaftspflichten und Heimkultur ver¬ 
stehen wir auch die verschiedene Stel¬ 
lung der Frau in Frankreich und 
Deutschland. Aus der* nordischen Hof¬ 
kultur heraus, d. h. aus der Tatsache, 
daß sich das Gesellschaftsleben nicht 
wie in der Antike vorzugsweise in der 
Öffentlichkeit, sondern im Hause, im 
Salon abspielte, hat die Frau als Herrin 
des Hauses bald jene höfische Bedeu¬ 
tung erlangt, daß auch ihre Würde da¬ 
von abhängt, über wie viele sie herrscht, 
von wie vielen sie verehrt wird, wie 
viele ihr huldigen, und ebenso der Wert 
des Mannes in der Gesellschaft, wie 
vieler Frauen Gunst er erringt. Für die 
Pflichten der Galanterie und Koketterie, 
die beides spezifisch französische Worte 
sind und uns etwas Tadelndes be¬ 
deuten, haben wir kein deutsches Wort. 
Sie bedeuten auch hier die Einfügung 
der Beziehungen von Mann und Frau in 
die Regeln eines verfeinerten Gemein¬ 
schaftslebens und damit zugleich eine 
außerordentliche Idealisierung dieses 
Verhältnisses. Denn sie stellen nicht 
nur wieder an Mann und Frau im Be¬ 
nehmen, in der Haltung, in der Klei¬ 
dung, im Ausdruck beständig gestei¬ 
gerte Ansprüche, für deren Kulturbe¬ 
deutung der höchste Beweis die franzö¬ 
sische Minnepoesie ist sondern sie ha¬ 
ben auch zu jener Ethisierung des gu¬ 
ten Tones geführt, daß in der Gesell¬ 
schaft alles vermieden werden muß, 
was anstößig ist, d. h. was dieses all¬ 
gemeine Verhältnis der Galanterie zu 


einem individuellen machen würde. 
Darum haben sich auch hier für diese 
Beziehungen Formeln, Zeremonien her¬ 
ausgebildet, von denen der Handkuß ja 
auch bei uns noch als Zeichen des guten 
Tones seine Bedeutung hat Für Frank¬ 
reich ist bezeichnend, daß Frauendienst 
und Frauenkult das ganze Leben durch¬ 
dringen und überall zuerst das „Cher- 
chez la femme“ ausgesprochen wer¬ 
den muß. Das Gesellschaftliche dieser 
Galanterie gibt sich ja auch darin kund, 
daß, je höher eine Dame in der Gesell¬ 
schaft steht, sie um so mehr die Ver¬ 
pflichtung hat, zu gefallen und sich ent¬ 
sprechend zu schmücken, und anderer¬ 
seits Anspruch auf Verdirung, wie im 
Mittelalter die Schloßfrauen, die sich 
ihre Hofminnepoeten hielten und sie 
bezahlten. Das hat heute so wenig mit 
ehelicher Treue zu tun wie damals. 
Vielmehr bedeutet, ähnlich wie bei der 
französischen Liebenswürdigkeit die 
Freundschaft keinen Platz mehr hat, 
so auch die Liebe, die individuelle und 
heftige Empfindung nichts mehr, und 
auch die Ehe wird, meist von den El¬ 
tern bestimmt, nur nach Standesrück¬ 
sichten geschlossen, ohne deshalb un¬ 
glücklich zu sein, denn das Glück be¬ 
ginnt ja erst beim Eintritt ins gesell¬ 
schaftliche Leben. 

Weder die Vernunftehe noch die Ga¬ 
lanterie sind dem deutschen Leben 
fremd, und gerade im Offiziers- und 
Hofleben, dem größten unserer Residen¬ 
zen wie dem kleinsten auf unseren Rit¬ 
tergütern, sind sie durchaus zu Hause. 
Es beweist das wieder, wie durch 
und durch militärisch gerade die fran¬ 
zösische Kultur ist Aber als bezeich¬ 
nend deutsch empfinden wir doch 
gerade das individuelle und sich des¬ 
halb ganz von der Welt abschließen¬ 
de Verhältnis von Mann und Frau, die 
Alleinigkeit des Besitzes, und ein tie- 

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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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fes Gefühl, womöglich eine den gan¬ 
zen Menschen ergreifende Leidenschaft 
als Grundlage der Ehe. Das kann na¬ 
türlich eine sittliche Vertiefung und 
Innigkeit bedeuten, aber doch auch 
einen Egoismus des Besitzes. Bedeut¬ 
sam wird es erst wieder durch die 
sich daraus ergebenden sachlichen Auf¬ 
gaben gemeinschaftlicher Lebensfüh¬ 
rung, bei denen nach deutschem Her¬ 
kommen die Frau die Verwaltung des 
Hauses und die Aufziehung und Er¬ 
ziehung der Kinder übernommen hat 
Die deutsche Frau ist in erster Linie 
Hausfrau, die französische Dame nicht 
Nicht als ob die französische Frau eine 
schlechte Mutter wäre. Im Gegenteil, 
der persönliche Ehrgeiz erstreckt sich 
auf die Kinder mit und aller Stolz und 
alles Standesgefühl äußern sich in zärt¬ 
lichster Sorge um die Kinder. Deshalb 
überläßt man doch die praktische Ar¬ 
beit bei der Aufziehung der Kinder, 
wenn man es sich leisten kann, anderen. 
Man gibt sie in den ersten Jahren aufs 
Land zur Amme, ihre Gesundheit zu 
kräftigen, französische Witzblätter sind 
voll von Witzen über die komischen 
Situationen, die sich aus dem Besuch 
der natürlichen Mutter bei der Nähr¬ 
mutter ergeben. Dann kommt die 
Schule, möglichst als Internat, und wie¬ 
der in einer Art Fortsetzung des 
Klosterlebens. Durch möglichst viele 
Examina wird dem Zögling Gelegenheit 
geboten, den Sinn für das eine Rolle 
spielen auszubilden. Bei allen mög¬ 
lichen Gelegenheiten gibt es einen con- 
cours und Prämien. Es ist oft genug 
m Frankreich darüber geklagt worden, 
wie durch dieses Bildungssystem die 
sachliche Vertiefung des Wissens zu¬ 
rücktritt hinter dem Glänzen mit Er¬ 
folgen. Das Resultat ist immer die Vor¬ 
bereitung für die Welt, der große Mo¬ 
ment besonders für das junge Mädchen, 


der, wo sie in die Gesellschaft einge- 
führt wird, um ihre Selbständigkeit zu 
genießen, indem sie sich neuen Kon¬ 
ventionen unterwirft Wir denken uns 
dagegen die deutsche Frau gerade in 
der Fürsorge um das leibliche und 
seelische Wohl ihrer Kinder auch da 
noch selbsttätig, wo sie sich Bediente 
genug für alles Häusliche halten kann. 
Und auch bei unseren Landedelfrauen 
spielt doch immer der Begriff einer 
Frau hinein, die das Hauswesen in Ord¬ 
nung hält, die Mägde auszuschelten ver¬ 
steht und mit dem Schlüsselkorb um¬ 
hergeht Erst neulich berichtete ein 
Ausländer von seinen Eindrücken in 
Deutschland und sagte von der deut¬ 
schen Frau, daß sie eine Stellung wie 
ein Dienstmädchen einnehme. Mit dem¬ 
selben Rechte hätte er auch sagen kön¬ 
nen, daß unsere Minister Arbeiter seien. 
Es liegt dieser Einschätzung dieselbe 
Verständnislosigkeit gegenüber den 
sachlichen Werten, mit denen die freie 
Persönlichkeit sich abgibt zugrunde, 
mit der wir oft französische Verhält¬ 
nisse einfach als oberflächlich oder un¬ 
sittlich abtun. Obwohl auch wir das 
Pensionat als letzte Vorbereitung der 
höheren Tochter für die Welt kennen, 
möglichst eins, in dem man Französisch 
lernt, so ist doch die deutsche Erwei¬ 
terung der Stellung der Frau in der 
Frauenfrage gegeben, der Berechtigung 
zur sachlichen Betätigung im Beruf, und 
nichts pflegen sich unsere Frauenrecht¬ 
lerinnen so sehr zu verbitten als Ga¬ 
lanterie. Das Verhältnis der französi¬ 
schen Frau zum Manne ist dagegen 
noch immer das alte ritterliche, Schutz 
des Schwachen durch den Stärkeren 
und deshalb Unterordnung des Schwä¬ 
cheren, — das französische Recht hat 
nicht die gleichberechtigte Stellung der 
Frau innerhalb der Ehe wie das deut¬ 
sche — andererseits Herrschaft der Frau 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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in der Gesellschaft, deren Mittelpunkt 
sie bildet Eine Frauenfrage wie die 
deutsche gibt es in Frankreich kaum. 

Welche Bedeutung die Stellung der 
deutschen Hausfrau und Mutter auch 
für die Welt hat wird erst klar, wenn 
wir daran denken, was an geisti¬ 
gen und sittlichen Kräften gerade im 
Sinne der deutschen sachlichen Kultur 
unsere Größten der Mutter verdanken. 
Welche Bedeutung die deutsche Frauen¬ 
bewegung für die öffentliche Stellung 
der Frau hat wird sich erst heraus- 
steilen, wenn sich die Berufe so diffe¬ 
renziert haben werden, daß die Mit¬ 
arbeit der Frau am öffentlichen Le¬ 
ben nicht nur eine Konkurrenz für den 
Mann, sondern eine so notwendige Er¬ 
gänzung wird, wie früher die Leitung 
des Hauswesens. Welche ideelle Be¬ 
deutung aber und sittliche Erhöhung 
der Stellung der Frau in dem franzö¬ 
sischen Frauenkultus liegt, besonders 
gegenüber der antiken und orientali¬ 
schen Auffassung, das wird einem erst 
deutlich, wenn man daran denkt, daß 
dieser Frauenkult sich im Marienkult 
zur religiösen Bedeutung hat erheben 
können und die ganze Entwicklung des 
Christentums im Katholizismus bedingt 
hat. Man versteht nun, warum der Ka¬ 
tholizismus dem Franzosen näher liegt 
als der Protestantismus. Denn im Ka¬ 
tholizismus des entwickelten Marien- 
kultus, der hohen Zeremonien in den 
festlichen Kathedralkirchen, der Hier¬ 
archie der Heiligen und der strengen 
Bindung und Regelung des Denkens 
und Glaubens haben wir die höchste 
Entfaltung des französischen Geistes 
überhaupt. Deshalb kann der Franzose 
skeptisch sein, Verächter und Bekämp- 
fer der Religion, aber nicht protestan¬ 
tisch. Denn das bedeutet ein indivi¬ 
duelles Verhältnis der Gläubigen zu 
Gott, jeder sein eigener Priester, ein 


unzeremonielles, deshalb auch unkirch¬ 
liches und vor allem eine Rechtferti¬ 
gung des tätigen Lebens im religiösen, 
nicht eine Abkehr von jenem. „Mais le 
protestantisme“, sagt Taine, „est contre 
la nature du Frangais.“ Der Deutsche 
tritt in die Öffentlichkeit defensiv, er 
protestiert gegen den Zwang des Ge¬ 
meinschaftslebens, der Franzose aggres¬ 
siv, um selber den Zwang seiner Person 
der Menge aufzuerlegen. 

IV. 

Daher ist die französische Kultur 
eine durch und durch rhetorische. Der 
Deutsche ist von Haus aus verschlossen. 
Wenn wir daran denken, daß zum 
Kommandieren auch Herrschergesten, 
zum Predigen auch Gewalt der Worte 
gehören, dann werden wir das positiv 
Großartige der französischen Rhetorik, 
und zwar sowohl in der bedeutenden 
Geste französischer Porträts wie in den 
Parlaments- und Volksreden verstehen. 
Die kurzen zündenden Worte Napo¬ 
leons an seine Soldaten sind auch ein 
Teil seiner Feldherrntaten. UndBossuets 
Leichenreden sind künstlerisch nicht 
weniger bedeutend wie die Rhetorik der 
Türme französischer Kathedralkirchen. 
Und eine ganze Kultur hat an den Wor¬ 
ten mitgearbeitet, die Viktor Hugo bei 
seiner Rückkehr nach Paris am 5. Sep¬ 
tember 1870 sprach. (Berichtet von Wil¬ 
helm Cahn.) 

„Die Worte fehlen mir, um auszu¬ 
drücken, wie sehr mich dieser herz¬ 
liche Empfang bewegt. Bürger, ich 
hatte euch gesagt: ,An dem Tage, da 
die Republik wiederkehrt, werde auch 
ich wiederkehren.* Hier bin ich. Zwei 
große Dinge rufen mich: Die Republik 
und die Gefahr. 

Paris retten, ist mehr als Frankreich 
retten, das heißt: Errettung der Welt. 
Paris ist der Mittelpunkt der Mensch- 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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■ 221 

heit Paris ist die geheiligte Stadt I Wer 
Paris angreift, vergreift sich am Men¬ 
schengeschlecht! 

Und wißt ihr, warum Paris die Stadt 
der Zivilisation ist? Weil Paris die 
Stadt der Revolution ist! Daß ein sol¬ 
cher Herd des Lichts, ein solcher Mittel¬ 
punkt der Geister, der Herzen und der 
Seelen, das Hirn des Weltgedankens, 
vergewaltigt, zerschmettert, im Sturm 
genommen werden könnte, durch wen? 
Durch einen Überfall von Wilden? Das 
kann nicht sein, das wird nicht sein. 
Nie, nie, nie! 

Paris wird triumphieren! Durch Ein¬ 
heit werdet ihr siegen! Seid einig, und 
ihr seid unüberwindlich! Laßt uns Brü¬ 
der sein, und wir werden siegen! Nur 
durch die Brüderlichkeit retten wir die 
Freiheit“ 

Wenn wir den französischen Aus¬ 
druck „Paris, c’est le centre du monde“ 
mit dem deutschen „Paris ist der Mittel¬ 
punkt der Welt“ vergleichen, dann will 
uns scheinen, als ob in der französi¬ 
schen Sprache, im Wortschatz, Wort¬ 
klang, Rhythmus und Syntax schon 
diese Rhetorik, das Hervorheben, Poin¬ 
tieren, Akzentuieren — unwillkürlich 
greift man zu französischen Ausdrücken 
—, sich objektiviert hat, als ob schon 
der Klang, das Nasale, Sonore eine tö¬ 
nender« Wucht hineinbrachte, und es 
muß doch einmal gefragt werden, ob 
nicht auch das sich von den kirchlichen 
Zeremonien mit ihren gesungenen Wor¬ 
ten herleitet. Und sicherlich hat die 
Betonung der letzten Silbe etwas außer¬ 
ordentlich Aggressives. „En avant!“ 
Das Französische ist die geborene Kom¬ 
mandosprache. Der deutsche Satz ver¬ 
bindet, hebt nichts Einzelnes hervor, 
sondern laßt die Bedeutung erst aus dem 
sachlichen Sinn des Ganzen hervor- 
gehen. 


. Die deutsche Abneigung gegen diese 
Rhetorik bezeichnet Satze wie die Victor 
Hugos als Phrase. Unsere Unfähigkeit 
aber zum rhetorischen Ausdruck hat 
sich, zum Teil doch auch als wirk¬ 
licher Mangel, in diesem Kriege in den 
Manifesten namhafter Männer gezeigt 
Wie dem Deutschen aber die Gabe ab¬ 
geht, durch Worte und Pathos am rech¬ 
ten Orte Eindruck zu machen, und die 
Eindruckskraft, den Gestus und die 
Mimik der Sprache mitzubenutzen, so 
wird es andererseits dem Franzosen 
schwer, dort darauf zu verzichten, wo 
sachliche Bedingungen die Produktion 
bestimmen sollten, in Kunst und Wissen¬ 
schaft Der Franzose fühlt sich auch im 
Denken und Dichten immer in Gesell¬ 
schaft oder von einer Menge umgeben, 
auf die er Eindruck machen will. 

„Die Franzosen verleugnen ihren all¬ 
gemeinen Charakter auch in ihrem Stil 
nicht. Sie sind geselliger Natur und 
vergessen als solche nie das Publikum, 
zu dem sie reden; sie bemühen sich, 
klar zu sein, um ihren Leser zu über¬ 
zeugen, und anmutig, um ihm zu ge¬ 
fallen.“ (Goethe-Eckermann, 14. April 
1824.) 

Es ist schon bezeichnend, daß nir¬ 
gends wie in Frankreich das Wesen 
wissenschaftlicher Gesellschaften und 
Kongresse ausgebildet ist. Wie Rang 
und Titel setzt man auf seine Visiten¬ 
karte „Membre de la soci6t6 des Anti- 
quaires de l’Ouest“. Audi diese sod6t6 
hat ihr StandesgefühL „Nulle pari“, sagt 
Tarne, „nous ne pensons mieux qu’en 
soci6t6; le jeu des physionomies nous 
exdte; nos id6es si promptes naissent 
en feclair au choc des idöes d’autrui.“ 
Darum macht der Franzose bei Zitaten 
in seinen Büchern immer zugleich eine 
Verbeugung. „Mon savant confröre... 
l’auteur trfes 6rudit de...“ Dieses Den¬ 
ken in der Gesellschaft hat sich auch in 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


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der Sprache ausgedrQckt. Wir sagen: 
Abhandlung, der Franzose: discours; wir 
sagen: Vortrag, der Franzose: Confe¬ 
rence. Wo wir in der Geistesgeschichte 
Namen bedeutsamer Einzelpersönlich¬ 
keiten nennen, können die Franzosen 
mit Stätten der Zusammenkunft auf¬ 
warten, das Hötel de Rambouillet, Port 
Royal. Der französische Salon bedeu¬ 
tender Frauen ist für die französische 
Aufklärung mitverantwortlich. Und aus 
dem Salon hat sich auch die franzö¬ 
sische Akademie entwickelt, die höchste 
und gesetzgebende Instanz des franzö¬ 
sischen Geisteslebens, in die der Aus- 
erwählte mit großen Zeremonien aufge- 
nommen wird, eine Art literarischen 
Hofes, dessen Hauptaufgabe es ist, 
durch Reinigung der Sprache Regeln 
des geistigen Verkehrs einzuführen. 
Auch wir haben Akademien, aber sie 
sind im wesentlichen Vermögensverwal¬ 
terinnen zur Unterstützung von For¬ 
schungen, und wir wüßten nicht, daß 
die Akademie das Ziel höchsten Ehr¬ 
geizes deutscher Gelehrter ist, um das 
man sich bewirbt und um dessen Er¬ 
reichung man wochenlang bei den ge¬ 
rade herrschenden Akademikern anti¬ 
chambriert In Deutschland bedeutet 
akademisch fast immer etwas Tadelndes, 
den Gegensatz zu freier, ungehemmter 
Schöpferkraft. Auch in der französischen 
Kunst haben die Schulen und Konven- 
tikel ihre Rolle gespielt, bei den Pamas- 
siens, den Impressionistes. Verlaine ließ 
sich, als eine Zeitschrift Photographien 
von Dichtern in ihrem Heim haben 
wollte, im Caf6 photographieren. 
Auch das Zusammenarbeiten mehrerer 
Autoren, Scribe und Augier, der Frferes 
Gonoourt, läßt sich auf dieser gesell¬ 
schaftlichen Basis als etwas Französi¬ 
sches verstehen. 

Darum nimmt in der französischen 
Dichtung auch die Konversation einen 


so breiten Raum ein, und das moderne 
Konversationsstück ist die direkte Fort¬ 
setzung der klassischen Tragödie, für 
die Radne verlangte die „action simple, 
soutenue de la violence des passions 
(Pathos I), de la beaut6 des sentiments 
(Noblesse!) et de l’616ganoe de l’expres- 
sion“, und noch wieder des geistlichen 
Schauspiels des Mittelalters. Wer im 
Stück redet, redet gleichzeitig zum Pu¬ 
blikum, wie der französische Schauspie¬ 
ler es tut, und die Gesellschaftsfähig- 
keit seiner Sprache ist Pflicht, da er ja 
nicht etwas Besonderes darstellen will, 
sondern auf seinesgleichen Eindruck 
machen will. Deshalb kann der Hof 
in der klassischen Tragödie auf der 
Bühne Platz nehmen, wie im Kabarett 
das Publikum mitspielt, oder die Ritter 
den Helden der Chanson de geste un¬ 
mittelbar Beifall spenden, und Priester 
und Menge in Wechselrede das kirch¬ 
liche Fest vollziehen. Das Schauspiel 
ist immer eine Art von gesellschaftli¬ 
chem Fest, und die Forderung der Ein¬ 
heit von Zeit und Ort ist nur ein Aus¬ 
drude dafür, daß sich das Schauspiel 
innerhalb der Gesellschaft wie ein Stück 
Wirklichkeit abspielt Deshalb ist es 
auch üblich, wie in einer Gesellschaft, 
sich nicht nach Anfang oder Ende im 
Kommen und Gehen zu richten, son¬ 
dern nur etwa einen Akt des Stückes 
im Theater anzusehen, immer aber in 
großer Toilette zu erscheinen, um im 
Foyer selber die Konversation weiter¬ 
zuspielen. Der deutsche Geschmack 
wird am besten durch Lessings Kampf 
gegen Voltaire und die Regeln von Zeit 
und Raum illustriert. Wir verlangen 
Handlung, Schicksal, Charaktere, und 
für nichts so sehr die vollste Freiheit 
und Einsamkeit als für die künstlerische 
und wissenschaftliche Produktion. Zu¬ 
rücktreten der eigenen Person, Sich- 
selbstvergessen erscheint uns selbstver- 


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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


226 


stündliche Pflicht* gegenüber einem 
künstlerischen Werk. 

Wir wollen uns dessen Inhalt zu 
eigen machen. Der Franzose will kriti¬ 
sieren, so wie der Schauspieler ge¬ 
fallen will und zum Publikum redet. 
Die Deutschen sind deshalb nicht nur 
die großen Übersetzer, Erschließer aller 
Literaturen, auch das Problem der deut¬ 
schen Kritik ist immer wieder das einer 
sicher gehenden Hermeneutik, von der 
philologischen Interpretation bis zur 
einffihlenden Nachdichtung des Impres¬ 
sionismus. Für den Franzosen besteht 
der Genuß darin, Prädikate auszuteilen, 
Schmeicheleien oder Boshaftigkeiten zu 
sagen, wie im Klatsch gesellschaftli¬ 
cher Unterhaltung die Abwesenden 
durchgenommen werden. Diese litera¬ 
rische und gesellschaftliche Kritik ist 
in Frankreich selbst Literatur gewor¬ 
den, und Diderots Salon, Ste-Beuves 
Causeries du Lundi sind den Künst¬ 
lern gegenüber etwas Ähnliches wie 
Bossuets Leichenreden gegenüber den 
Berühmtheiten seiner Zeit. Auch die 
französische Philosophie ist in erster 
Linie Gesellschaftskritik. Montaigne, 
Montesquieu, La Bruyfere, Voltaire, alle 
sind sie echte Vertreter französischen 
Geistes durch diese Kritik von Welt 
und Menschen. Ihr Denken ist politisch 
und moralisierend. Ihre Psychologie ist 
die des Weltmannes, der in der Gesell¬ 
schaft sich ein Urteil über menschliche 
Schwächen gebildet hat, und wenn er 
nun einmal nicht mehr mittut, sondern 
nachdenkt, notgedrungen skeptisch ist. 
Daraus ging in Frankreich eine eigene 
Gesellschaftswissenschaft, die der So¬ 
ziologie eines Comte, Guyau, Tarde 
hervor. Echt deutsch bemüht sich ein 
Kant um die Rechtfertigung der Ob¬ 
jektivität der Welt, der Sachlichkeit, 
und begründet anstatt der Menschen¬ 
rechte die Menschenpflichten, oder be- 

Internationale Monatsschrift 

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müht sich Hegel um die Systematik der 
geschichtlichen Entwicklung des Gei¬ 
stes, und reine unpersönliche Wissen¬ 
schaft und Technik gedeihen auf deut¬ 
schem Boden am besten. 

Ein französischer Naturgelehrter, sel¬ 
ber ein glänzender Stilist, Buffon, hat 
es ausgesprochen: Le style est l’hom- 
me. Das soll nicht heißen, im Stil er¬ 
faßten wir die Eigenart eines Men¬ 
schen, denn Stil heißt Beherrschung 
der Ausdrucksmittel im Sinne des 
Klassizismus, nicht individuelles Sich- 
gehenlassen, und der ganze Satz be¬ 
sagt, im Stil, in der Ausdrucksweise 
wirkt der Mensch, kommt seine Person 
zur Geltung. Auf die Kunstmittel, die 
Form kommt es an, nicht auf die 
Sache. Daher auch in der Wissenschaft 
der Konversationston, die rhetorische 
oder witzig gefällige Wendung, das 
Bemühen, klar zu sein, d. h. aber, sich 
mit Schwierigkeiten, die der Leser nicht 
fassen kann, überhaupt nicht abgeben. 
Auch hier bedingt die gesellschaftliche 
Verfassung leicht ein Umgehen von 
Problemen, ein Sichrichten nach dem 
Eindruck der Worte als Selbstzweck. 
Die deutsche Formlosigkeit sündigt 
demgegenüber gewiß oft in einer 
Gleichgültigkeit gegen Schönheit und 
Eleganz des Ausdrucks. Aber ein Vor¬ 
wurf sollte das nie dort werden, wo 
die Schwierigkeiten eines Werkes auf 
dem Mangel an Voraussetzungen be¬ 
ruht, die der Leser mitbringt. Klarheit 
bedeutet uns nicht Leichtverständlich¬ 
keit, sondern sachliche Präzision, Treff¬ 
sicherheit des Ausdrucks. Kant seinen 
verschnörkelten Stil vorwerfen heißt: 
verkennen, daß hier Probleme einen 
Ausdruck gefunden haben, auf die die 
Sprache noch nie eingestellt wen, und 
daß diesen Problemen gegenüber auch 
Kants Stil eine ungeheure sprachliche 
Leistung bedeutet, aber freilich weit 

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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst 


228 


entfernt ist von gesellschaftlicher Ele¬ 
ganz und Klarheit Den Deutschen führt 
der sachliche Zusammenhang zum Sy¬ 
stem und Lehrbuch, den Franzosen der 
Konversationston zum Aphorismus, Es¬ 
say, zur Aufzeichnung von Erinnerun¬ 
gen, Briefen, Impressions, Causeries, die 
man einem anderen in den Mund legt 
wenn man sie von sich aus nicht äußern 
will. Wieder denken wir an Montaigne. 
La Bruyöre, Voltaire, Montesquieu. 

Und noch einen anderen Sinn könnte 
man diesem le style est l’homme ge¬ 
ben. Der Stil, das ist das groß Mensch¬ 
liche. Der Stil ist Zeichen von Kultur, 
Gegensatz von Natur. Wen würde man 
nennen, wollte man den großen Einzel¬ 
persönlichkeiten eines Kant Shake¬ 
speare, Goethe, Beethoven, Rembrandt 
französische Namen entgegenhalten? Ei¬ 
nen Victor Hugo, einen Watteau, einen 
Corneille oder Racine? Doch nicht. 
Aber die Gotik, der Stil Louis XIV., 
das Empire. Frankreich ist das Land 
der großen Stile. Die Zentralisation 
des Lebens und der gesellschaftliche 
Ausdrude haben bewirkt, daß Frank¬ 
reich in seinen Kulturschöpfungen jene 
Einheitlichkeit aufweist, die wir Stil 
nennen, und daß im Mittelalter, aber 
auch seit den Tagen Ludwigs XIV. 
die französische Kunst tonangebend für 
den Stil Europas wurde. Denn das Be¬ 
deutsame ist immer, daß dieser Stil 


wirklich Form des ganzen Lebens ist 
Darum steht auch die Kunst voran, in 
der sich das Leben abspielt, und die 
auch eine Art der Menschheit ist, sich 
zu kleiden: die Baukunst In der Bau¬ 
kunst haben die Franzosen, wie in der 
Mode, ihren Geschmack, ihr Formbe¬ 
dürfnis offenbart Die Kunst ist eben 
selber ein Hauptmittel, dem Leben der 
Gemeinschaft Regel zu geben, es zu 
steigern und zu erhöhen. Wieder sehr 
im Gegensatz zu Deutschland, wo die 
Kunst in erster Linie Ergänzung des 
Lebens ist und gerade Erfindung, Neu¬ 
heit, das Genialische und Besondere gel¬ 
ten. Hier wird Kunst Befreiung vom 
Zwang. Deshalb ist aber Frankreichs 
Kunst und Kultur nur dort wahrhaft 
groß und imposant wo sie sich auf ei¬ 
ner strengen repräsentativen und gesell¬ 
schaftlichen Ordnung des Lebens auf¬ 
baut, und in der Baukunst hat Frank¬ 
reich den erhabensten Ausdruck seines 
Stiles hinterlassen. Es sind die Zeiten des 
Mönchstums und des romanischen Sti¬ 
les, des Rittertums und der Gotik, des 
Absolutismus und des Stiles Louis qua- 
torze. Darin aber liegt zugleich ein 
geschichtliches Urteil. Die Größe der 
französischen Kultur liegt in der Ver¬ 
gangenheit Frankreich steckt noch 
heute im ancien r6gime seiner klassi¬ 
schen Epoche. 


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[ND1ANA UNfVERSITY 







229 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 230 


Gräfin Elise von Ahlefeldt 
im Leben Lützows und Immermanns.*) 

Von Harry Maync. 


Um psychologisch ganz sicher und 
richtig urteilen zu können, müßten 
wir eine unzweideutige Beantwortung 
der heiklen und unzarten Frage er¬ 
halten, ob die Liebe der beiden pla¬ 
tonisch geblieben sei oder nicht. Das 
ist offenbar auch Gottfried Kellers Mei¬ 
nung: „Ich selbst durchschaue das 
Iirnnermannsche Verhältnis nicht ge¬ 
nug — schreibt er an Elisens Biogra¬ 
phin —, um mir ein bestimmtes Urteil 
zu bilden, und das, was mir zu einem 
kurzen und bündigen Bescheide fehlt, 
ist derart, daß man nicht wohl sich 
darnach erkundigen kann." 28 ) Es ziemt 
auch uns nicht, dem weiter nachzu¬ 
forschen, und so viel glauben wir auch 
ohne das zu erkennen, daß der sehr 
sinnliche Mann bei der entschieden un¬ 
sinnlichen Frau nicht einmal einen mä¬ 
ßigen Ersatz für die ersehnte Ehege¬ 
meinschaft fand und schwer und bitter 
unter dem Aufreibenden und Entner¬ 
venden einer Leidenschaft litt, der das 
natürliche Ziel vollen Sich-Auslebens 
versagt war. Wieviel an Hingabe blieb 
ihm die Geliebte schuldig, wenn sie 
ihm in «ill den Jahren des Zusammen¬ 
lebens nicht einmal dasDuverstattete! 29 ) 
Grillparzers Seufzer über die Natur oder 
vielmehr Unnatur seines Verhältnisses 
zu Kathi Fröhlich, seiner „ewigen“ 
Braut, paßt auch hier: „Wir glühten, 
aber ach, wir schmolzen nicht 1“, nur 
daß hier, anders als dort, die Frau die 
Verantwortung trifft. Mit Lenaus Schick¬ 


•) Siehe H. 1. 

28) Ermatinger-Bächtold 452. 

29) Vgl. das «Sie* bei Assing 144,155 u. ö. 

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sal vergleicht Sophie Schwab 30 ) nach' 
der Lektüre des Assingschen Buches 
bedauernd das Immermannsche. Ge¬ 
wiß hat dieser sein eigenes Liebesieben 
vor Augen, wenn er am Schlüsse seiner 
„Ghismonda“ die Heldin sich des „gro¬ 
ßen Fehltritts" zeihen läßt, Liebe, wie 
es noch keine gab, empfangen, und nur 
Selbstsucht dafür gegeben, um des arm¬ 
seligen Rufes und äußerer Rücksichten 
willen dem Zuge des Herzens Schran¬ 
ken gesetzt zu haben. So trifft auch die 
Gräfin die meiste Verantwortung für 
Immermanns Leiden und ihr eigenes 
tragisches Geschick, das Keller darin 
erkennt, daß „sie es zu vorsichtig, zu 
vorsehungsartig uncLgut machen wollte 
... anstatt wie die anderen Menschen¬ 
kinder das Glück auf dem geraden 
Wege menschlicher Dinge zu wagen". 31 ) 

Aber auch Immermann trägt seinen 
Teil der Schuld und hat das wieder¬ 
holt bekannt Wie klar und richtig 
war die ganz allgemeine Darlegung 
in seinem „Brief über die falschen 
Wanderjahre" vom Jahre 1822: „Die 
Verwirrnisse in der sittlichen Welt 
entstehen aus zwei Quellen. Einmal, aus 
den Stürmen der Leidenschaft und den 
zügellosen Trieben verwilderter Her¬ 
zen; dann aber auch aus der Hart¬ 
näckigkeit, die sich für Charakterstärke 
ausgibt, aus der Anhänglichkeit an einen 
Begriff, wenn die Sache verschwunden 
ist und aus der feigen Scheu, frühere 
Irrtümer einzugestehen und sein Leben 


30) Kerners Briefwechsel mit seinen Freun¬ 
den II 498f. 

31) Ermatinger-Bächtold 452. 

8 * 

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231 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lfltzows und Immermanns 232 


stets wahr und natürlich zu leben.“ 
Nun aber sah er seinen Irrtum ein und 
stellte ihn doch nicht ab, wurde sich 
selbst untreu und ein Opfer seines 
Schweigens, als er unhaltbaren Zustän¬ 
den Dauer gönnte. Nicht, daß er schlie߬ 
lich mit Elise brach, ist seine Schuld, 
sondern daß er es zu spät tat. Auch 
Keller, obwohl durch die schiefe Assing- 
sche Darstellung einseitig gegen Immer¬ 
mann voreingenommen, gibt ihm in 
einem Brief an die Biographin doch 
hinsichtlich der Lösung recht. Launig 
vertritt er seine unmaßgebliche Mei¬ 
nung, das ganze Unglück wäre ver¬ 
hütet worden, wenn der junge Mensch, 
so Immermann hieß, sich nicht in die 
Frau eines anderen verliebt hätte. 
„Denn sosehr ich als Dichterling die 
Leidenschaft zu erheben verbunden bin, 
so sehr brauche ich für dieselbe auch 
eine natürliche Grundlage der Zweck¬ 
mäßigkeit und Möglichkeit. Daß die 
Gräfin nachträglich von Lützow ver¬ 
stoßen [!] und frei wurde, war für 
Immermann bloß ein Zufall. Es gefällt 
mir überhaupt schlecht, wenn junge, 
noch unfertige Menschen ihre Augen 
auf Frauen werfen; es ist eine ver¬ 
kehrte Welt, die sich an Immermann 
dadurch rächte, daß er im Schwaben- 
alter und als verpflichteter Mann erst 
das tat, was er früher hätte tun sollen.“ 32 ) 
Der schwach gefügte Bund bricht nicht 
mit einemmal zusammen. Wir sehen 
ihn langsam allmählich zerbröckeln, 
aber noch der stürzende sucht sich 
krampfhaft zu behaupten. Er ging auch 
nicht sowohl an äußeren Einflüssen, 
als vielmehr letzlich an sich selbst und 
seiner eigenen Unnatur zugrunde. We¬ 
der eine Ehe, noch eine Liebschaft, noch 
eine Freundschaft, sondern ein Ge¬ 
misch von allen, konnte er keiner von 
ihnen Genü ge tun. Es blieb eine halbe, 
32) Ermatinger-Bächtold 455. 


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eine unorganische und ungesunde Le¬ 
bensgemeinschaft. 

In seinem Trauerspiel „Kaiser Fried¬ 
rich II.“ läßt Immermann den Helden 
zu König Enzius sagen: 

„Wo wc^re Liebe ohne Leidenschaft? 

Und Leidenschaft, die man ums Ziel betrügt. 
Ist fressend Feuer und ein ätzend Gift.“ 

Das feste Band der Ehe hätte auch 
Auseinanderstrebendes zu halten ver¬ 
mocht Als Gatte Elisens hätte Im¬ 
mermann es leichter übersehen kön¬ 
nen, daß sie alterte, indes er selbst 
als Mann in den sogenannten besten 
Jahren auf der Höhe des Lebens stand, 
wäre er auch gegen den Eindruck weib¬ 
licher Jugend mehr gefeit gewesen. 
Eine Ehe hätte endlich auch nach außen 
hin das Leben der beiden weniger ge¬ 
teilt verlaufen lassen. So aber bewegten 
sie sich in eigenen Kreisen, die sich 
nur zum Teil schnitten. In Häusern, 
in denen die Gräfin nicht verkehrte, 
fand Immermann Interessen und Be¬ 
ziehungen, die nicht auch die ihren wa¬ 
ren. Vor allem schenkte ihm das Glück 
in der ebenso klugen wie liebenswerten 
jungen Frau des Geheimen Obertribu¬ 
nalrats v. Sybel in Düsseldorf eine 
neue, wahre Freundin, die ihm gemüt¬ 
lich mehr zu geben hatte als die Grä¬ 
fin und dieser damit, ohne es irgend¬ 
wie darauf anzulegen, bei ihm Abbruch 
tun mußte. Mit Amalie v. Sybel ver¬ 
band ihn das unbefangene Verhältnis 
vollen Verständnisses und vollen Ver¬ 
trauens, dessen er so sehr bedurfte; 
diese natürliche Freundschaft wog für 
ihn manches auf, was die unnatürliche 
Liebesfreundschaft mit Elise an Span¬ 
nungen und Trübungen in sein Dasein 
trug. 

Des Prinzen Wort im „Auge der 
Liebe“: „Mir ist nichts verhaßter als 
ein Schwärmer; glaubt, ich bin ein der¬ 
ber Sohn der Erde!“ gilt auch für den 


Original fram 

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233 H. Maync, Gräfin Elise von Ahiefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 234 


Dichter selbst. Aber die sein Leben 
teilte, war eine Schwärmerin, die in 
einer eingebildeten Welt der Phantasie, 
der Phantastik webte. Ihn hungerte 
nach nahrhaftem Brot, und er sah sich 
dauernd nur mit Kuchen abgespeist. 
Als Schiller sich von Charlotte v. Kalb 
Charlotten v. Lengefeldt zuwandte, 
schrieb er: „Alle romantischen Luft¬ 
schlösser fallen ein, und nur, was wahr 
und natürlich ist, bleibt bestehen.“ Das 
mußte auch Immermann erkennen. Nur 
allzubald hatte die Wesensverschieden¬ 
heit zwischen ihm und Elise sich in 
Mißverständnissen und Verstimmungen 
dargetan. Wie vielsagend ist die knappe, 
verhaltene Eintragung des Dichters in 
sein Tagebuch vom 6. Mai 1832: „Es 
geht mir mitunter schlimm, die Launen 
und Befangenheiten im Hause werden 
oft sehr drückend und nötigen mir häu¬ 
fig ein ganz negatives Verhalten auf, 
um die Tage im Elemente des Erträg¬ 
lichen zu halten. Ich bleibe aber doch 
meistens ruhig dabei. Es ist eben die 
Ernte, die aufgeht und weiter nichts.“ 
Dieses negative Verhalten war sein gro¬ 
ßer Fehler. Zu erklären sucht es ein 
nach dem Bruch an Freund Schnaase 
gerichteter Brief vom 12. September 
1839 als eine Folge seiner „großen Ab¬ 
hängigkeit von der Gräfin“: „Sie war 
mehrere Jahre älter als ich, sie stand 
in der Sonnenhöhe einer schönen, klu¬ 
gen, vornehmen Frau, zu deren Erinne¬ 
rungen Könige und Kaiser gehörten, als 
ich noch ein unbekannter junger Mensch 
war. Dieses Unverhältnis blieb immer¬ 
dar, und während sie mich zu be¬ 
friedigen [?] 33 ) schien, behielt sie 
doch eigentlich immer das größte Über¬ 


33) Zwei Briefe an Schnaase sind bei Rieh. 
Fellner, Geschichte einer deutschen Muster¬ 
bahne S. 106ff. (Stuttgart 1888) gedruckt. Das 
bat Kloevekom übersehen, als er sie in 
seiner oben angeführten Schrift (S. 57ff.) 


gewicht über mich. Ich habe mich vor 
niemand je so gefürchtet, wie vor ihr. 
Ich scheute mich daher durch katego¬ 
rische Erklärungen verletzende und wie 
es schien fruchtlose Szenen herbeizu¬ 
führen. Ich schwieg, und dieses Schwei¬ 
gen hat sie über den Abgrund verblen¬ 
den helfen, der lange zu ihren Füßen 
ausgehöhlt war. Wahrscheinlich würde 
sie, wenn sie ganz bestimmt die Über¬ 
zeugung bekommen hätte, mich sonst 
einzubüßen, mich in den letzten Jahren 
auch geheiratet haben. Diese Überzeu¬ 
gung aber in ihr zu schaffen, hätte es 
eines Helden bedurft, denn mit gewöhn¬ 
lichen Mitteln war auf sie nicht zu 
wirken.“ 

Wir haben noch eine Reihe anderer 
Zeugnisse Immermanns über die Zeit 
des Zusammenlebens, bei denen frei¬ 
lich zu beachten ist, daß sie nach der 
erfolgten Lösung niedergeschrieben sind 
und zumeist in Briefen an die neue 
Geliebte. Er spricht von „allen Täu¬ 
schungen, Sonderbarkeiten, zweideuti¬ 
gen Windungen verirrter Gefühle“, die 
er an der Seite der Gräfin durchge¬ 
macht habe, und von der „Dürre und 
Trostlosigkeit“ 34 ), in die er versunken 
gewesen sei. Die „reine, echte, dauernde 
Freude“ habe er nie an dieser Liebe 
haben können: „Entzückungen hatte ich 
wohl, aber keinen stillen Frohmut. 
Immer war es mehr, als sei ein schöner 
leuchtender Komet am Horizonte er¬ 
schienen, als daß man das Gefühl ge¬ 
habt hätte, die liebe warme Gottessonne 
wäre aufgegangen.“ 35 ) Wiederholt 85 *) 
ersetzt er das Wort Liebe durch Leiden¬ 
schaft, „weil der starken und heftigen 
Empfindung von Anfang an viel Irres 


nochinalsveröffentlichte. Beide Wiedergaben 
weichen mehrfach voneinander ab, ich folge 
im allgemeinen der Kloevekornschen. 

34) Putlitz II 276. 35) Putlitz II 290. 

35 a) Putlitz II 254, I 97 f. 


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235 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lützows und Immermanns 236 


und Wirres beigemischt war. Unser 
Verhältnis entwickelte sich meistenteils 
von jeher nur in der Form des Kamp¬ 
fes zwischen zwei entgegengesetzten 
eigenartigen Naturen, denen ganze Re¬ 
gionen des anderen Teiles dunkel und 
unzugänglich blieben.... Ich darf mit 
Wahrheit sagen, daß ich in diesen vier¬ 
zehn Jahren zwar oft angeregt, ent¬ 
zückt und hingerissen, nie aber 
eigentlich glücklich gewesen bin, 
fern sei es aber von mir, das, was mir 
einst teuer war, und, wenn auch in 
anderer Art, ewig teuer bleiben wird, 
zu beschelten. Nein! Wenn ich litt, so 
war es mein böser Stern, nicht die 
Schuld der Armen, die ja oft gar nicht 
wußte, wie tief sie mich verletzte.“ 36 ) 
An einer anderen Stelle gedenkt er der 
„beklagenswerten Sicherheit“ ihres Da¬ 
hinlebens, ihres Wahns, er sei im 
Grunde wohlbefriedigt: „Nun waren 
freilich meine Verstimmungen und Trüb¬ 
sinnigkeiten, meine zunehmende Ent¬ 
fernung von ihr und mein stets genaue¬ 
res Anschließen an andere Menschen zu 
interpretieren, dafür stellten sich denn 
Redensarten von: ,der Männer Wankel¬ 
mut, Zerstreuungssucht, von der Her¬ 
zensleere der Autoren und Dichter 4 als 
bereite Auslegungsmittel ein und bau¬ 
ten ein Schattenreich falscher Vorstel¬ 
lungen zusammen, welche die unglück¬ 
liche Frau in das Leid gebracht haben 
und noch jetzt ihr tiefstes Unglück sind. 
Ich hatte seit Jahren die Überzeugung, 
daß mein Zusammensein mit der Grä¬ 
fin nur noch ein zufälliges sei und jede 
wirkende Ursache den morschen Bau 
zertrümmern könne.“ 37 ) 

5. 

Gerade als die Gräfin ihr fünfzig¬ 
stes Lebensjahr vollendete, lieferte das 
Schicksal dem Dichter den Beweis, daß 

36) Putlitz I 97f. 37) Putlitz I lOOf. 


er, obwohl selbst auch schon zweiund- 
vierzigjährig und ergrauenden Hauptes, 
doch noch Ansprüche an Jugendglück 
machen durfte, denn immer ist ja, nach 
einem Paralipomenon der Goetheschen 
„Nausikaa“, „der Mann ein junger 
Mann, der einem jungen Weibe wohl¬ 
gefällt". 

Dieses junge Weib war nicht weniger 
als vierundzwanzig Jahre jünger als 
der Mann, dem sie bestimmt war, alles 
Entbehren über Hoffen und Erwarten 
hold zu lohnen. Im Bunde mit ihr 
durfte der Dichter in reifen Jahren eine 
zweite Jugend beginnen, deren Dauer 
allerdings ein ungütiges Schicksal nur 
allzukurz bemaß. 

Marianne Niemeyer war gleichfalls in 
Magdeburg aufgewachsen und in der 
Familie Ferdinand Immermanns wie zu 
Hause. So war sie auch dem Dichter 
nicht fremd geblieben: „Marianne hatte 
mir schon einen Eindruck gemacht“ 
sagt er in einem Briefe, „als sie, noch 
halbes Kind, horchend mir gegenüber¬ 
saß mit gespannter Teilnahme, und ich 
glaubte in ihren dunkelen, fragenden 
Augen ein Schicksal zu lesen; aber seit¬ 
dem hatte ich ihren Namen oft gleich¬ 
gültig von den Meinen nennen hö¬ 
ren.“ 38 ) Schon lange mutterlos, lebte 
sie seit dem kürzlich erfolgten Tode 
ihres Vaters, eines angesehenen Arztes 
und bedeutenden Menschen, bei ihrer 
Großmutter in Halle, und diese feinge¬ 
bildete Frau war die Witwe des be¬ 
kannten Kanzlers der dortigen Univer- 
tät und Leiters der berühmten Francke- 
schen Stiftungen, mit dem auch Immer¬ 
mann als Student wiederholt in Berüh¬ 
rung gekommen war. Ferdinand Im¬ 
mermann hatte die Stelle des Vormunds 
bei Marianne übernommen, und in sei¬ 
nem Magdeburger Hause traf der Dich¬ 
ter im September 1838 die damals 

38) Putlitz II 223. 


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237 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 238 


neunzehnjährige wieder. „Nie“, schreibt 
er, „ist ein Eindruck rascher, reiner, 
ruhiger gewesen.“ 39 ) 

Mehr denn zwei Wochen durfte er 
damals neben ihr hergehen, aber schon 
am zweiten Tage wußte er, was ihm 
hier bereitet war, und alsbald ergab 
auch sie sich dem Eindruck des festen, 
fertigen Mannes, dessen starkes Herz 
das ihre suchte. Sie war ihrerseits noch 
rührend unfertig und eckig, nicht ohne 
die Herbigkeit der unentwickelten Na¬ 
tur, aber auch von all dem keuschen 
Zauber unverbildeter Jungfräulichkeit. 
Sie war noch ein Kind an Leib und 
Geist; sie war nicht schön, hatte nichts 
Begeisterndes, Hinreißendes. Aber auch 
das braune Mädchen mit dem gelben 
Teint und der zu kurzen Oberlippe, oft 
knabenhaften Mutwillens voll und un¬ 
behilflich der Außenwelt gegenüber, 
war nach dem Goetheschen Worte, das 
Immermann von ihrem Abbilde, der 
blonden Lisbeth, braucht, eine Natur; 
eine sicher wurzelnde, frei der Sonne 
entgegenwachsende Pflanze, die schon 
in frühen Keimen die gesunde Frucht 
ahnen ließ. Ein starkes und glühen¬ 
des Kind nennt sie der Dichter und 
erkannte sogleich in ihr den klugen 
Sinn, der sich nicht umnebeln, den 
festen, eigenwilligen Charakter, der sich 
nicht gewaltsam umbiegen läßt. Un¬ 
harmonische Jugenderlebnisse hatten 
ihr neben allem Frohsinn einen frühen 
Ernst geliehen, ein heftiges Tempera¬ 
ment machte ihr zu schaffen. Ihrem 
gleichfalls von Widersprüchen nicht 
freien Charakter war dieser Mann dör 
gemäßeste; hier konnte sie lernen, ohne 
sich gemeistert zu fühlen, hier fort¬ 
schreiten, ohne sich zu verlieren. So 
durfte der Dichter der so viel Jünge¬ 
ren die Hand zu bieten, so durfte sie 
dem reifen, auf dem Gipfel des Le- 
39) Putlitz II 224. 


bens stehenden Manne, den ihre Nei¬ 
gung verjüngend ihr näher brachte, die 
Hand zu reichen wagen, und dieselbe 
Liebe, die seinem Leben als verklärende 
Abendsonne leuchtete, war der Morgen¬ 
schein, unter dessen belebendem Glanz 
ihr junges Dasein sich zuerst der Welt 
öffnete. 

Aber nicht rasch und leicht fügte sich 
der Bund. Beide genossen zunächst, 
ohne der Zukunft nachzufragen, das 
Glück der täglichen Gegenwart im ver¬ 
trauten Kreise, bei der Lektüre der 
ersten „Münchhausen“-Bücher und an¬ 
derer Immermannscher Werke, denen 
das junge Mädchen sehr lebhaften und 
freudigen Anteil entgegenbrachte. Es 
freute sie, wenn der kluge Mann sprach, 
daß sie verstehen konnte, wie er es 
meine. Aber die rasch erblühte beider¬ 
seitige Neigung blieb unausgesprochen, 
und gar an eine Ehe wagte, aus ver¬ 
schiedenen Gründen, keins von beiden 
vorerst zu denken. Am Morgen vor 
des Dichters Abreise gab ihm Marianne 
die offen im Beisein der Familie er¬ 
betene Erlaubnis, an sie zu schreiben, 
und er hinterließ dem Bruder noch ein 
in der Nacht entstandenes Gedicht 
für sie als Abschiedsgruß. Jetzt durfte 
sie sich geliebt fühlen und wurde sich 
ihrer Gegenliebe bewußt. Da war es 
Ferdinand, der den Wünschen des teu¬ 
ren Bruders hemmend in den Weg 
trat. Als Vormund Mariannens hielt er 
es für seine Pflicht, von der seiner 
Hut Anvertrauten Entsagung zu for¬ 
dern. Er weihte sie in des Dichters 
häusliche Verhältnisse ein, stellte ihn 
als einen Mann hin, der nicht frei über 
sich verfügen könne, und erhielt dem¬ 
zufolge ihr Versprechen, vorderhand 
von jedem Verkehr mit jenem abzu¬ 
sehen. 

Karl Immermann reiste nach Ham¬ 
burg weiter, um dort verabredeter- 


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239 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 240 


maßen mit der Gräfin, die ihre Fami¬ 
lie in Dänemark besucht hatte, zusam- 
menzutreffen. „Ich ging zu ihr — sagt 
er in seinem geheimen Tagebuche — 
mit tiefem Mitleid und mit einem Schau¬ 
der über die Natur und Gestalt der 
menschlichen Dinge. Aber ich spürte 
keinerlei Reue, keine Beklemmung, 
keine Verlegenheit in mir und würde, 
wenn sie mir in den ersten Augen¬ 
blicken unseres Wiedersehens eine Ge¬ 
wissensfrage vorgelegt hätte, dieselbe 
der Wahrheit gemäß beantwortet ha¬ 
ben. Ich muß also entweder der Ver¬ 
stockteste, Leichtsinnigste der Men¬ 
schen sein, oder es ist in den Vorgän¬ 
gen meines Herzens etwas Erlaubtes 
und Berechtigtes.“ 40 ) Es schien ihm 
indessen, so führt er ebenda weiter aus, 
in diesem Augenblick unmöglich, mit¬ 
telbar oder unmittelbar an dem be¬ 
stehenden Verhältnis zu rütteln; aber 
ebenso fest stand es auch für ihn, daß 
er Marianne fortlieben müsse: „Ich habe 
diese Liebe im Gemüt ergriffen, weil 
ich sie im Gemüt ergreifen mußte. Sie 
ist aus dem tiefsten und richtigsten 
Bedürfnis entsprungen, rein in ihrer 
Gestalt, bescheiden in ihren Ansprü¬ 
chen. Mir soll vorderhand genügen, 
von Mariannen zu hören, hin und wie¬ 
der an sie zu schreiben. Beglücken 
mich dann wieder einige Zeilen von 
ihrer Hand, darf ich hoffen, sie wieder¬ 
zusehen, wie ich sie verließ, so bin ich 
zufrieden.“ Wir sehen, er ist weit ent¬ 
fernt, sich Hals über Kopf dem neuen 
Eindruck zuzuwenden, dem Glück, das 
sich ihm so unerwartet gezeigt, sogleich 
unbedenklich Tür und Tor zu öffnen. 
Im Gegenteil, er sucht sich mit dem Ge¬ 
danken der Entsagung vertraut zu 
machen: „Diese Liebe hat etwas von 
der Dantes zu Beatricen, denn Jugend 
und Natur werden Marianne ihren Weg 

40) Putlitz II 236. 


führen, ihr Bild wird mir vielleicht in 
den Armen eines anderen Mannes aus- 
löschen, ich sehe das vorher. Aber es 
kann doch alles sich milde lösen, wenn 
die Menschen nur nicht grausam an 
dieser Blüte rütteln und zupfen.“ 41 ) 

Mit Elise zusammen reiste er von 
Hamburg nach Düsseldorf zurück, mit 
der Absicht (so schrieb er im nächsten 
Jahre rückblickend an Schnaase), „daß 
alles beim alten bleiben sollte“. 42 ) Und 
als der „Freund“ der „lieben Marianne“ 
den in Aussicht gestellten ersten Brief 
sandte, da sprach er zu ihr zwar innig 
und warm, aber doch nicht, wie sie 
hätte erwarten können, als ein Wer¬ 
bender, sondern mehr im freundschaft¬ 
lichen Ton des Magdeburger Zusam¬ 
menseins. Ihrem Versprechen getreu, 
antwortete Marianne, die wieder nach 
Halle zurückgekehrt war, nicht, aber 
nach ernster Selbstprüfung bat sie den 
Vormund, ihr das verpfändete Wort 
zurückzugeben; sollte der Dichter auch 
nicht ihr Gatte werden, so wollte sie 
doch den Freund behalten. Ehe indessen 
Ferdinand ungern die Erlaubnis erteilte, 
den Brief knapp und gemessen zu er¬ 
widern, hatte Immermann in noch ern¬ 
sterer Selbstprüfung und harten Seelen¬ 
kämpfen seinen Entschluß gefaßt Es 
war stärker als er; nicht bloß ein ver- v 
späteter Johannistrieb, den er hätte aus¬ 
rotten können und müssen, sondern die 
echte, große Mannesliebe, die nur durch 
die ungesunden Bedingungen allzu¬ 
lange im Wachstum zurückgehalten 
war. „Die Leidenschaft hatte sich“ — 
wir können dies Wort seiner dreizehn 
Jahre früher geschriebenen Novelle 
„Der neue Pygmalion“ auf den Dichter 
selbst anwenden — „zu spät bei ihm 
eingestellt, als daß sie wie ein leichtes 
Fieber hätte abgeschüttelt werden kön¬ 
nen.“ Jetzt fand er sich zu dem ange- 
41) Putlitz II 237. 42) FeUner 107. 


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241 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt 


führten guten Grundsatz seines „Brie¬ 
fes über die falschen Wanderjahre“ zu¬ 
rück, jetzt lehnt er es ab (wie er es in 
einem anderen Zusammenhang einmal 
ausdrückt), etwas Falsches durchzu- 
führen, um, wie man zu sagen pflegt, 
konsequent zu bleiben und damit einen 
Irrtum zu verewigen. 43 ) Aber wie in 
seines jugendlichen Oberhof-Helden 
Oswald feurigem Gemüt riß auch 
in seiner unverbrauchten leidenschaft¬ 
lichen Seele diese Liebe, als eine wahre 
und starke, tiefe Risse und Spalten, 
ehe sie sich sicher in sein Leben ein¬ 
senken ließ. Am 16. November 1838 
warb er bei Mariannens Großmutter um 
die Geliebte: „In ruhelosen Tagen und 
schlaflosen Nächten bin ich zur Klar¬ 
heit, zum Entschlüsse gekommen, mein 
Gemüt hat ihn ausgetragen, wie ein 
reifes Kind. Ich habe fest, stark und 
unwiderruflich für mich den Wunsch in 
mir empfangen, Ihre Enkelin die Mei* 
nige zu nennen. Die Lösung der Frage, 
ob meine ferneren Jahre sich in neuer 
Jugend, in frischer Kraft entfalten oder 
in Dumpfheit und Mißmut traurig ver¬ 
welken sollen, hängt von Mariannens 
Ja oder Nein ab. Sie hat, weis mein tief¬ 
stes Bedürfnis fordert, und in ihrer jun¬ 
gen Brust trägt sie meine ganze Zu¬ 
kunft und die Lösung aller Rätsel, an 
denen mein Leben sich bereicherte, aber 
auch — blutete! Meine Liebe zu ihr 
kann ich nur mit meiner ersten Ju¬ 
gendliebe vergleichen, gerade so voll, 
ganz und warm fühl* ich mich ihr er¬ 
geben und gewidmet. Nachher traten 
heftige und große Leidenschaften in 
mein Leben; aber ich weiß, daß ein 
Unterschied ist zwischen diesen und 
dem, was ich jetzt nach einundzwanzig 
Jahren wieder empfinde.“ 44 ) Außer mit 
dieser ganz allgemeinen Anspielung be¬ 
rührte er weder in diesem, noch in 
43) Putlitz II 267. 44) Putlitz II 239f. 


im Leben Lützows und Immermanns 242 


einem an Marianne selbst beigefügten 
Briefe sein Verhältnis zur Gräfin mit 
einem Worte. In ihrem mit Zustim¬ 
mung der Großmutter abgehenden Ant¬ 
wortschreiben verleugnete Marianne 
zwar nicht ihre Neigung, verhehlte dem 
Geliebten aber ebensowenig, daß seine 
ihr bekannt gewordenen Beziehungen 
zu jener anderen ihr die Annahme sei¬ 
nes Antrags nicht erlaubten. Und nun 
gab Immermann der Geliebten rückhalt¬ 
los den vollen Einblick in seine Le¬ 
bensverhältnisse. Da wurden ihr Her- 
zenswirmisse enthüllt, von denen ihre 
Unschuld nichts geahnt hatte. In köst¬ 
lichen Briefen, die Schreiber und Emp¬ 
fängerin in gleichem Maße ehren, legte 
der Dichter dem jungen Mädchen offen 
dar, welche Wolken noch über ihrem 
ersehnten Glück hingen. Da spülte, 
nach dem schönen „Münchhausen“- 
Wort, der Tag seinen Schaum heran, 
das Bildnis des Liebsten zu verunreini¬ 
gen, und das Dumpfe, Sonderbare 
pochte ans Tor, aber Iphigenien-Wahr- 
haftigkeit und reine Menschlichkeit 
sühnten menschliche Gebrechen; die 
Schlacken fielen ab, tiefes Mitleid mit 
dem geliebten Manne machte das Mäd¬ 
chen stark und treu und befreit von 
großer Beklommenheit, durfte die Gläu¬ 
bige doch endlich sagen: „Das ist 
nicht Oswald, das ist der Zufall." 

Zunächst aber und für Monate hieß 
es geduldig warten, denn die Gräfin, 
völlig außer sich über des Dichters 
Eröffnung, war nicht geneigt, einfach 
den Platz zu räumen. Wir begreifen, 
wie furchtbar der Schlag für sie sein 
mußte. Um eines Kindes willen wollte 
der Freund sie gehen heißen, der ihr 
ein halbes Menschenalter in liebender 
Verehrung angehört, dem sie ihr tiefstes 
Seelen- und Geistesleben geweiht, der 
den Inhalt ihres sich abwärts neigen¬ 
den Lebens gebildet hatte! Und Immer- 


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243 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 244 


mann, von ihrem leidenschaftlich aufbe¬ 
gehrenden Seelenschmerz innerlichst be¬ 
troffen, dessen, was er ihr dankte, voll 
bewußt, und vor allem lange Zeit nicht 
fähig, den Gedanken völliger Trennung 
von der doch noch immer geliebten 
Frau auszudenken, wagte nicht die letz¬ 
ten Folgerungen zu ziehen und über 
sie hinwegzuschreiten. Ihr selbst viel¬ 
mehr überließ er die Entscheidung und 
verurteilte damit sich und Marianne zu 
Monaten bangen Harrens. Lange währte 
es, bis sich Elise einigermaßen in die 
neue Sachlage gefunden hatte und sich 
zu klaren Entschlüssen durchzuringen 
vermochte. Das Zusammenleben in 
einem Hause bereitete ihr und dem 
Dichter tiefen Schmerz und bittere Qual. 
Mit unendlichem Mitgefühl war er 
Zeuge ihrer Leiden, selbst leidend mit 
ihr und darob in neuen Zwiespalt ver¬ 
strickt. Und in all diese Wirrnisse sah 
sich die junge Braut mithineingerissen; 
auch sie hatte Schwerstes durchzu¬ 
machen. „Nimm’s nicht übel, daß ich 
Dir so viel vorklage“, schreibt ihr ein¬ 
mal der Verlobte. „Ich habe ja keinen 
sonst, gegen den ich mein Herz er¬ 
gießen könnte. In meiner Seele sieht es 
sonderbar aus. Wenn ich nur weinen 
könnte, da würde mir besser werden. 
Beweinen die verlorenen Jahre, die ver¬ 
dorbene Jugend, das tragische Men¬ 
schengeschick! Diese herrliche Frau, 
dieses königliche Gemüt, und’so inner¬ 
lich elend geworden! In so vielen Din¬ 
gen so klar und vernünftig, nur in 
einem Punkte unvernünftig, und darum 
in das Leid geraten was Du kennst!“ 45 ) 
Ja, der Dichter glaubte zeitweilig wohl 
gar, nur wenn Elise bleibe, dürfe Ma¬ 
rianne zu ihm kommen; teilen müsse 
die Gattin mit den alten Ansprüchen 
der Freundin! „Ich weiß recht wohl, 
was ich an der Gräfin verliere. Mit 
45) Putlitz II 290. 


allen meinen Erinnerungen ist sie ver¬ 
wachsen, überall wird sie mir anfangs 
fehlen. Ihr Schicksal geht mir nahe, 
als sähe ich meine Mutter foltern. Eine 
Wehmut wird mich noch oft ergreifen, 
vielleicht zuweilen ein ungeheurer 
Schmerz, und nicht eher werde ich ganz 
glücklich an Deiner Seite sein, als bis 
sie, versöhnt, gefaßt, mir, Dir und unse¬ 
rem Hause als Freundin angehören 
wird.“ 46 ) Und als Marianne sich diesem 
Gedanken in berechtigter Abwehr wider¬ 
setzte, erwiderte er ihr: „Mehr als mo¬ 
mentane Aufwallungen dürfen diese Re¬ 
gungen der Eifersucht und eines unan¬ 
genehmen Gefühls bei dem Gedanken 
an eine mögliche dereinstige Nähe der 
leidenden Frau nicht werden, denn Du 
fühlst es, mein geliebtes Kind, daß die¬ 
ser Punkt Dir eigentlich als eine sitt¬ 
liche Pflicht gesetzt ist. Immer inniger 
muß Dich die Überzeugung durchdrin¬ 
gen, daß ich Dich nur lieben durfte, 
wenn ich in meiner Seele das unver¬ 
brüchliche Gelübde tat, jene Frau nicht 
kalt und herzlos fallen zu lassen, daß 
es also an Dir ist, Deinem Freunde in 
tugendhafter Liebe die Haltung seines 
Gelübdes zu erleichtern, es selbst mit 
halten zu helfen.“ 4T ) 

Noch eine zweite Vertraute teilte 
seine Leiden und Zweifel, seine Seelen- 
und Gewissenskämpfe: Amalie v. Sybel. 
Diese lebenskluge und herzenswarme 
Frau, die auch der Gräfin freundschaft¬ 
lich nahestand und mit ihr zu fühlen 
wußte, gewährte ihm Erleichterung durch 
rückhaltloseste Aussprache und tropfte 
immer von neuem Mäßigung dem heißen 
Blute. Der Freundin vertraute er man¬ 
ches unverhüllt an, womit er die Braut 
verschont. „Vergeben Sie mir, daß ich 
Sie bekümmere. Ich habe ja aber sonst 
niemand auf der Welt, bei dem ich 
Trost finden kann.“ Er vergleicht seine 
46) Putlitz II 255. 47) Putlitz II 275f. 


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245 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 246 


Leiden mit denen des Laokoon und 
spricht von der „Raserei“ der Gräfin, 
die sie ihm verursacht. Vor allem 
hetzte sie, immer im guten Glauben 
ihres Rechts, den Bruder gegen ihn auf, 
der wiederum Mariannen bedrängte 
und beunruhigte. Seine wohlgemein¬ 
ten, von einer etwas engbrüstigen Mo¬ 
ral getragenen „Predigten“ beantwor¬ 
tete der Dichter mit bogenlangen Nie¬ 
derschriften der Rechtfertigung und der 
Abrechnung. Elise fuhr darin natur¬ 
gemäß nicht gut: „Sie können nicht 
glauben,“ schreibt Immermann am 
24. Januar 1839 an Frau v. Sybel, „wie 
widerlich es mir ist, ein Lebensgebilde, 
welches mir doch manches Gute trug, 
so zu anatomieren. Die Poesie der Er¬ 
innerung geht damit ganz verloren. Ha¬ 
ben sie mich aber nicht Schritt vor 
Schritt endlich dahin getrieben?“ 48 ) In 
Briefen an Freund Schnaase nennt er 
seine Verlobtenzeit wiederholt die 
„wonnevollste und schrecklichste“ sei¬ 
nes Lebens, ein „furchtbares“ Jahr und 
„schreckliche Tage“. 49 ) 

Wie ein von den Furien verfolgter 
Orest erscheint uns der Dichter, doch 
endlich löst sich der Fluch, schwin¬ 
det der Alb. Für ein Graf-von-Gleichen- 
Verhältnis waren beide Frauen zu gut. 
Und freiwillig weicht die über fünfzig¬ 
jährige Gräfin von der Schwelle. Wohl 
fehlte es nicht an Klagen über Undank 
und Verstoßung; aber sie war zu edel 
und vornehm, um ihre Liebe in Haß 
und Rachsucht zu verkehren, zu be¬ 
sonnen, um auf alte Rechte zu pochen, 
die keine sittlichen Rechte waren. Am 
17. August 1839 verließ sie Düsseldorf, 
um in Italien Heilung zu suchen. Doch 
selbst damit ist der Bann noch nicht 
sofort gebrochen. „Ich habe meine 
Freundin", schreibt Immermann an 
Schnaase, „b is Coeln begleitet, unser Ab- 

48) Fellner 104 ff. 49) Fellner 109 ff. 


schied war der wehmütigste, und ich 
habe hier ihrem Andenken die heißesten 
Tränen meines Lebens geweint. Erst 
wenn der Mensch abscheidet, weiß mein 
ganz, was man an ihm besessen, und so 
geschah es denn auch hier.“ So stark 
war ihre Macht auf ihn, nicht nur auf 
sein Pflichtgefühl und seine Dankbar¬ 
keit, sondern auch auf sein Herz! Zwei 
Tage nach ihrer Abreise, einen Tag vor 
der seinigen nach Halle zu Marianne, 
schüttet er Frau v. Sybel sein zerris¬ 
senes Herz aus: „Ich muß es gestehen, 
meine Empfindungen wandern mit der 
Reisenden und nicht nach Halle. Viel 
tun, so hoffe ich zu Gott, die Umgebung 
und die schreckliche Einsamkeit, in der 
ich leben muß. Das ist wenigstens noch 
mein Trost. — Ich schicke Ihnen die 
letzten Briefe Mariannens. Suchen Sie 
aus den herzlichen Worten des lieben 
Kindes und aus sich selbst mir Frieden, 
Klarheit, Wahrheit zu bereiten und den 
entsetzlichen Gedanken von mir zu ent¬ 
fernen, daß ich mich geirrt und den¬ 
noch nur immer die Gräfin geliebt 
habe!... Mitunter will Marianne durch¬ 
brechen, wie die Sonne zwischen Wol¬ 
ken. Aber immer kommen die Wol¬ 
ken wieder vor. Es ist ein Zustand, un¬ 
beschreiblich, und der seltsamste Bräu¬ 
tigam, der je gewesen.“ 60 ) 

Erst die Nähe, der Besitz der Gelieb¬ 
ten verscheuchte für immer die düsteren 
Schatten. Am 2. Oktober trat er mit Ma¬ 
rianne vor den Altar, und seine vita 
nuova, die den Menschen wie den Dich¬ 
ter auf seine Höhe führt, hebt an. 

6 . 

Unsere Hauptquelle für dieses unge¬ 
heure, den ganzen Mann ein- und um¬ 
schmelzende Seelenerlebnis sind seine 
bei Putlitz abgedruckten Briefe an die 
Braut. Da malt kein schwärmender 

50) Fellner 105f. 


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247 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LOtzows und Immermanns 24$ 


Jüngling der Geliebten phantastische 
Bilder von Blütenträumen, da bietet ein 
in harter Lebensmühe und schwerem 
Seelenleid zum Manne Geschmiedeter 
einem neben ihm doppelt rasch heran¬ 
reifenden Mädchen seine späte Mannes¬ 
liebe ; nicht lodernde Glut, sondern dauer¬ 
hafte Wärme, Sein volles, sehnsüchtiges 
Herz, sein tiefes,bisher nie ganz befriedig¬ 
tes Gemüt sind gefesselt,nicht durch den 
geistigen Zauber einer hochstehenden 
Frau, sondern durch echtes Weibtum. 
Mensch will zu Mensch sich finden in 
schrankenloser Hingabe. Kein Winkel 
der Seele soll dem andern unbekannt 
bleiben. Und so zieht hier der Mann 
vor dem Weibe, mit dem er ganz eins 
werden will, die Summe seiner Existenz 
in eingehenden, nichts weniger als schön¬ 
färbenden Selbstschilderungen. Er zeigt 
ihr, wieerzum widerspruchsvollen Cha¬ 
rakter ward, wie sich das Leben ihm 
fügte und, nicht ohne eigene Schuld, 
trübte und wirrte. Die Darstellung 
seines vergangenen Liebeslebens zumal 
wird hier zur Ohrenbeichte. Er legt 
seine Weltanschauung dar, sein religi¬ 
öses Glaubensbekenntnis ab. Er ent¬ 
wirft seine Meinung über das Verhältnis 
der Geschlechter, wonach der Mann der 
positive, das Weib — und da hatte die 
Gräfin ja versagt I — der hinnehmende 
Teil sein und bleiben müsse. Dasselbe 
Hohelied von Art und Wert und Hei¬ 
ligkeit der wahren Ehe erklingt hier, 
das gleichzeitig in die Oberhof-Ab¬ 
schnitte des „Münchhausen“ eingeht. 
Nur daß, was dort in reine Poesie um¬ 
gesetzt erscheint, hier stellenweis etwas 
lehrhaft und maßgeblich zum Ausdruck 
gelangt, entsprechend dem väterlichen 
Gefühl, das Immermanns Liebe zu der 
Braut beigemischt erscheint. Er führt 
auch aus, was er von ihr erhofft, die er 
mehrfach seinen guten Engel nennt, in 
deren Armen er Heilung für die schwer 


verwundete Brust ersehnt. Wir sehen, 
wie aus dem Anschauen der Geliebten 
des Dichters Weibesideal, die blonde 
Lisbeth, sich gestaltet. Auch geistige 
Lebensgemeinschaft erwartet er von der 
Gattin, aber auf der natürlichen Grund¬ 
lage der rein menschlich-geschlechtli¬ 
chen. Und daß er nicht zuviel erwartet, 
beweisen ihm ihre Gegenbriefe, in de¬ 
nen sie wissensdurstig und gelehrig, 
dabei aber selbständig und nicht kritik¬ 
los auf alles eingeht, was er zur Spra¬ 
che bringt Wann und verständig ur¬ 
teilt sie auch über seine Schriften, die 
sie sämtlich liest, um den Mann ihres 
Herzens und ihrer Zukunft darin wie¬ 
derzufinden, und wo sie nicht folgen 
kann oder anderer Meinung ist da 
spricht sie es offen aus. Es ist kein hal¬ 
bes Kind mehr von ungetrübter Unbe¬ 
fangenheit das freudig sich anschickt, 
die Schwelle der Ehe zu überschreiten; 
ein junges Weib, reif und ernst über 
seine Jahre, ist sich der ganzen Trag¬ 
weite seines Entschlusses bewußt. Von 
dem tiefdunklen Hintergründe dieser 
Briefe heben sich doppelt leuchtend die 
Persönlichkeiten der Schreiber ab. Es 
bedürfte nicht der ausdrücklichen Ver¬ 
sicherung Immermanns: „In den Brie¬ 
fen an dich, da bin ich ganz wie ich bin, 
auf diese Briefe kann der ewige Richter 
über mich das Urteil sprechen.“ 51 ) Diese 
vertrauensvolle Offenheit wirkt an sich 
schlechthin überzeugend und gibt die¬ 
sen menschlichen Zeugnissen einen ho¬ 
hen Quellenwert 

Ebenso deutlich trägt die Darstellung 
Ludmilla-Assings 5S ) den Stempel der 
Voreingenommenheit und übelwollenden 
Parteilichkeit an der Stirn. Die eifrige 
Advokatin Elisens sieht in Marianne 
nur den Störenfried und unberufenen 
Eindringling. Sie sudit überall den Ein¬ 
druck zu erwecken, als sei Immermann 

51) Putlitz II 242. 52) Assing 153ff. 


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249 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 250 


der fast wider seinen Willen und je¬ 
denfalls zu seinem dauernden Unheil 
von Marianne Verführte, der Gräfin 
abspenstig Gemachte. Marianne soll ihn 
in Magdeburg durch auffallendes Ent¬ 
gegenkommen erst auf sich aufmerk¬ 
sam gemacht haben. Der Verkehr mit 
einem so jungen Mädchen sei dem 
Dichter „pikant und neu" gewesen, und 
durch die kurze Bekanntschaft, die Ent¬ 
fernung, die Hast und Überstürzung 
habe sein Verhältnis zu ihr „einen An¬ 
flug von Leidenschaftlichkeit“ erhalten. 
Seinen ersten Brief habe sie „auf der 
Stelle“ erwidert. Die Kanzlerin Nie¬ 
meyer wird als bekannte Heiratstifterin 
hingestellt; sie habe Immermanns Wer¬ 
bung bei ihr veranlaßt und Marianne 
„sogleich“ ihr Jawort gegeben. Bald 
hätten mehrere Personen des Düssel¬ 
dorfer Kreises um die Verlobung ge¬ 
wußt, nur Elise nicht: „Immermann 
wagte nicht Elisen zu gestehen, was 
er getan; sein böses Gewissen nahm 
ihm den Mut dazu.“ Von andern habe 
sie es erfahren müssen; der Dichter 
habe ihr schließlich nur scheu und feig 
auf seinen Schreibtisch, den sie allein 
zu ordnen pflegte, und dessen Papiere sie 
sämtlich lesen durfte, einen Brief gelegt, 
der ihr alles entdeckte. Über die Zeit 
nach den ersten Stürmen, als der Dich¬ 
ter und Elise wieder scheinbar ruhig 
wie früher nebeneinander lebten, schreibt 
L Assing: „Immermann vertraute einem 
Freund, wenn er sich das alles so vor¬ 
her vorgestellt hätte, er würde sich nie 
zu der Heirat entschlossen haben! Nun 
war es zu spät; er glaubte [1] sich ge¬ 
bunden.“ Schon auf der Hochzeitsreise 
habe ihn die Enttäuschung überkom¬ 
men und die Reue gepackt. Er habe 
Augenblicke der Verzweiflung empfun¬ 
den, in denen er mit Leidenschaft nach 
Elisen verlangte; er habe auch Mari¬ 
annen veranlaßt, ihr zu schreiben und 

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sie flehentlich zu bitten, zu ihnen nach 
Düsseldorf zurückzukehren. Das sei 
aber jetzt zu spät gewesen. 

Davon ist so viel richtig, daß Immer¬ 
mann die Hoffnung nährte, Elise werde 
nach der geplanten größeren Reise nach 
Düsseldorf zurückkehren. „Nur auf dem 
Boden der Erinnerung“, schreibt er 
am 12. September 1839 an Schnaase 53 ), 
„kann sich die Erinnerung ausheilen, 
vom Herzen aus muß das Herz herge¬ 
stellt werden, die sittliche Tat, welche 
von ihr verlangt wird, ist, daß sie ihr 
Geschick als Geschick und nicht als 
Verbrechen einesanderen begreifen lernt, 
daß sie mich mit gutem Herzen als 
besten Freund annimmt, das kann wie¬ 
der nur geschehen, wenn der Freund 
ihr nahe ist.“ Und in demselben Briefe 
lesen wir: „Habe ich die Katastrophe 
nicht von ihrem Haupte abgewendet, 
so stand es doch bei mir, gut zu ma¬ 
chen, inwieweit ich gut machen kann. 
Damit ist zunächst das Gelübde ge¬ 
meint, welches meine seit vorigen No¬ 
vember erschütterte Seele getan hat — 
Das Gelübde, immerdar ihr treuester 
und innigster Freund zu bleiben und 
kein Mittel unversucht zu lassen, wel¬ 
ches sie zu mir in diese heilige und 
fromme Sphäre, versöhnt und beruhigt, 
bringen mag. Nur unter dem Schirm 
dieses Gelübdes habe ich mir Marianne 
verstauet, und die Haltung desselben 
gehört so notwendig und wesentlich 
zu meiner Zukunft, wie meine Liebe 
und Treue gegen Marianne. — Ob mir 
mein Vorhaben (nämlich sie mir zu 
versöhnen) gelingt, wer kann es wis¬ 
sen? Verletztes weibliches Gefühl ist 
durchaus etwas Inkommensurables — 
was wir aus unserm Gesichtspunkte 
heraus uns in diesen Regionen zusam¬ 
menstellen, reicht nicht aus gegen die 
nagende Empfindung einer Frau.“ 

53) Kloevekorn 69!. u. Fellner 1101. 

Original frn-m 

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251 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lfitzows und Immermanns 252 


Er hat der Gräfin Dank und Freund¬ 
schaft bewahrt, sie nie mehr ein har¬ 
tes Wort über ihn geäußert, aber wie¬ 
dergesehen haben sie sich nicht 54 ) Mit 
ihrer Freundin Johanna Dieffenbach 
und deren jungem Freunde Philipp 
Kaufmann bereiste die Gräfin Ober¬ 
italien bis Florenz hinunter und Tirol. 
Anfang 1840 nahm sie ihren festen 
Wohnsitz in Berlin. Alte und neue Be¬ 
kanntschaften mit wertvollen Menschen 
wie Cornelius, Rauch, Wilhelm v. Hum¬ 
boldt Tieck, Steffens, Beuth, Raumer, 
Krummacher, Gustav zu Putlitz, Fedor 
Wehl, beseelten und vergeistigten ihr Le¬ 
ben mit edler; kunstgeweihter Gesellig¬ 
keit Der Zauber ihres Wesens blieb ihr 
treu; auch soll ein dänischer Graf noch 
um ihre Hand angehalten haben. So 
verbrachte sie, wenn auch mehr be¬ 
glückend als beglückt, einen friedlichen 
Lebensabend. Tief erschütterte es sie, 
als schon im August 1840 ein jäher 
Tod den ehemals geliebten Freund hin¬ 
wegriß. Über seiner Bahre reichten sich 
Elise und Marianne aus der Ferne die 
Hand und traten in einen fortgesetzten 
brieflichen Verkehr. Und wie die Gräfin 
des Dichters Mutter und Geschwistern 
treu verbunden blieb, so erwies sie 
dauernde warme Teilnahme auch sei¬ 
ner Waise, die Marianne selbst ihr zu¬ 
führte. Der versöhnende Ausklang fehlt 
also nicht Elisens letzte Jahre waren 
durch Leiden getrübt die doch ihren 
Sinn und Geist nicht mitzutrüben ver¬ 
mochten. Am 20. März 1855 ging sie 
hinüber. 


54) Am 21. Mai 1840 schreibt der gemein¬ 
same Freund Konsistorialrat Möller an Elise: 
„Ich komme nach einiger Zeit nach ... Düs¬ 
seldorf. Dort werde ich Immermann von 
Ihnen erzählen und auch, was Sie ihm ge¬ 
sagt wünschen, in zarter Weise mitteilen.“ 
(Assing 284.) Den Inhalt dieser Mitteilung 
können wir nur mutmaßen. 

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7. 

Es ist ungerecht, wenn nach Elisens 
Tode Marianne als Biographin ihres 
Gatten in ihr den bösen Genius des 
Dichters erblicken wollte. Hatte doch 
Immermann selbst seiner Frau gegen¬ 
über betont, daß die Gräfin neben dem 
Widersinnigen und Zweideutigen, das 
sie in sein Leben gebracht, ihm doch 
auch in unendlich vielen Beziehungen 
die reichste Fördemis gegeben, ihn 
überhaupt erst zum Manne gemacht 
habe. 55 ) Marianne war gereizt durch Lud¬ 
milla Assings voraufgegangene öffent¬ 
liche Beurteilung, die noch weit unge¬ 
rechter ist: mit Elisen sei sein guter 
Genius von dem Dichter gewichen, die 
begeisternde Muse von ihm ent¬ 
flohen! 56 ) 

Die Sache liegt doch vielmehr so. 
Wenn der Dichter in letzter Stunde 
noch die höchsten Stufen erklomm, 
seinem letzten großen Werk, dem 
„Münchhausen", eine Seele einzuhau¬ 
chen vermochte, die so gut wie alle 
seine früheren Werke vermissen ließen, 
so dankt er das ohne jede Frage Ma¬ 
riannen und ihrem Eintritt in sein Le¬ 
ben. In den „Epigonen“ war es ihm 
noch nicht gelungen, den schönsten 
dichterischen Stoff zu meistern, in vol¬ 
ler beglückender Wesenheit das Weib 


55) Putlitz I 101. 

56) Assing 163. 167. Schon auf S. 2 ver¬ 
sichert sie, Immermanns Lorbeer wäre ohne 
den Sonnenschein von Elisens Nähe nie so 
schön erblüht. — Hebbel berichtet am 16. Sep¬ 
tember 1843 (Briefe II286) an Elise Lensing: 
Heine behauptete von Immermann, „er habe 
sich dadurch getötet, daß er das jahrelang 
bestandet^ Verhältnis mit derFrau v.Lützow 
aufgehoben und ein neues mit einer jungen 
Person angeknüpft habe. Der Tod, sagte er, 
ist nicht so zufällig, als man denkt, er ist 
das Resultat des Lebens, und man bedenke 
sich wohl, wenn man in späteren Jahren 
noch eine Haupt-Veränderung machen will. 
Das finde ich außerordentlich wahr.“ 


Original frum 

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253 


Nachrichten und Mitteilungen 


254 


darzustellen. Cornelie hatte — von dem 
mignonhaften Literaturwesen Flämm- 
chen sehen wir ganz ab — zu viel vom 
blumenhaften Engel, Johanna zu viel 
von der hohen Königin. Die schlichte 
Natur, von wahrer Liebe umgoldet, war 
in sein Dichten noch nicht eingegan¬ 
gen, weil sie das Lebfen ihm noch nicht 
gesellt hatte. Nun wurde auch ihm 
noch die Erfüllung, erblühte auch ihm 
noch die schönste Blume des Daseins, 
die den Künstler ja stets mit zwiefacher 
Frucht begnadet: das Weib, das sein 
Herz erfüllt und sein Leben beglückt, 
weist als Muse zugleich dem dunklen 
Künstlerdrange den rechten Weg, es 


verkörpert sich selbst durch geheimnis¬ 
voll-mystische Transsubstanliation in 
seinem Werke. Der Schritt von Cor- 
nelie und Johanna zur blonden Lis- 
beth, der zugleich der Schritt von dem 
vielfach noch schemenhaften Zeitbilde 
der „Epigonen“ zu dem selbgewachse- 
nen, naturwahren und lebenswarmen 
Oberhofidyll des „Münchhausen“ ist, 
dieser Schritt konnte nicht getan wer¬ 
den, ohne daß eine reine, erlaubte 
Liebe, der die natürliche Erfüllung 
ward, dem Dichter die Hand reichte, 
ihn aus Schlinggewächs und Moder¬ 
grund zu heben. 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Becker, C. H., Das türkische Bildungs¬ 
problem. Bonn 1916, F. Cohen. 

Hunderttausende treiben jetzt praktisch 
Völkerkunde; man denkt in Kontinenten. 
In Fürst Bismarcks „Gedanken und Er¬ 
innerungen“ ist davon noch weniger die 
Rede; mehr bereits in Graf York v. Warten- 
burgs „weltpolitischen Umrissen“, welche 
knapp ein Jahrzehnt später als jene er¬ 
schienen. — Wertvolle Einzelschritten zur 
Seelenkunde derjenigen Völker, welche 
zur Zeit unsere Freunde oder Feinde bil¬ 
den, gibt es trotz der großen Nachfrage 
danach wenige; so konnte ich bei einem 
dienstlichen Aufenthalt in Sofia in der 
Bibliothek der „deutschen Kolonie* kein aus¬ 
giebiges Werk über Bulgarien auftreiben. 
Ähnlich stand es mit der Türkei; im Laufe 
des Krieges sind aber die so erwünschten 
Bücher entstanden, so durch Reinh. 
Junge, C. F. Endres, Ewald Banse, 
P. Krause u. a. Eine bedeutsame Ergän¬ 
zung dieser Werke bildet, weil in die tief¬ 
sten Gegensätze zwischen Abend- und Mor¬ 
genland einführend, die Bonner Kaiserge- 
burtstags-Rede des Islamisten C. H. Becker. 

Der Orient hat eine alte selbständige 
Kultur scholastisch-mittelalterlicher Art; der 
Obergang derselben zur Neuzeit vollzieht 
sich vor unseren Augen. Was haben wir 
Deutsche als Helfer in dieser Krisis zu tun? 
Die Türkei ist kein Nationalstaat etwa 


wie Japan, sondern ein Nationalitätenstaat. 
% des Osmanischen Reiches haben aber 
dieselbe Religion, den Islam, und damit 
dieselbe Grundlage ihrer geistigen Ver¬ 
fassung; letztere ist besonders wirtschaft¬ 
lich der abendländischen unterlegen; es 
fehlt die Beweglichkeit. 

Können überhaupt oder sollen die 15 
Millionen Islambekenner in der Türkei oder 
gar die 200 Millionen Muhammedaner ins¬ 
gesamt moderne Menschen werden und 
wenn, auf welchen Wegen? 

Spätes Griechentum, iranisch-persische 
und jüdisch-christliche Gegenströmungen, 
allenfalls buddhistische Einflüsse waren bei 
der Bildung des alten Islams tätig; das zu¬ 
erst genannte Element am stärksten, ins¬ 
besondere dessen Intellektualismus. Das- 
griechische Gelehrtentum in alexandrini- 
scher Einseitigkeit und Bindung und das 
religiöse Gebot, im Koran verankert, bilden 
die Mittelpunkte; hierbei ist die Wissen¬ 
schaft die Magd der Theologie wie in un¬ 
serem deutschen Mittelalter. Die islami¬ 
sche Pflichtenlehre (Scheria—das religiöse 
Gesetz) und die Mystik, ihnen untergeord¬ 
net Dogmatik und Philosophie, beherrschen 
aber noch heute die Welt des Ostens etwa 
wie bei uns in den vorlutherischen Zeiten. 

Die religiöse Reglementierung des Lebens 
+ Mystik führten, weil in der modernen Zeit 
unausführbar, zu einer Kluft zwischen Ge- 


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255 


Nachrichten und Mitteilungen 


256 


setz und Wirklichkeit, d. h. zu laxer, indo¬ 
lenter Lebensauffassung, zur Unterhöhlung 
der Pflicht selbst. Das Arbeitsbedürfnis 
machte der Beschaulichkeit und Träumerei 
Platz. Der bei uns ja auch noch nicht ganz 
überwundene Kurialstil, ein entsetzlicher 
Formalismus treten hinzu; der türkische 
Beamte »spiegelt sich in der Tinte“, wie 
Bismarck von seinem Gegner Gortschakoff 
zu sagen pflegte. 

Aus diesen immanenten Widerständen 
kann man die Langsamkeit des Eindringens 
abendländischer Einflüsse in den Osten in 
alter und neuerer Zeit erklären, aus ihnen 
auch die Prognose stellen und die Schwie¬ 
rigkeiten der Zukunftswege ermessen. 1869 
wurde schon eine Bildungsreform (Univer¬ 
sität und Volksschule) in großem Stil ver¬ 
sucht. Vieles steht heute noch auf dem 
Papier; Geldmangel, Passivität der nachge- 
ordneten Beamten! Französische Überset¬ 
zungen, französische Zeitungen wirkten 
bisher noch am stärksten. In den Schulen, 
in der katholischen Kongregation und der 
mission lalque, etwa unserem deutschen 
Schulverein vergleichbar, wurde die fran¬ 
zösische Sprache gefördert, in ihr kann sich 
der gebildete Orientale üben, gewisse 
Dinge, z. B. der Technik oder Politik, leich¬ 
ter ausdrücken als in seiner Muttersprache; 
letztere ist noch nicht beweglich genug. 
Damit kam der französische Firnis in den 
Osten (Moden,Leichtfertigkeit, „Aufkläricht“), 
kurz das, was man auch Levantinertum 
nennen kann. 

In neuerer Zeit tritt der türkische Natio¬ 
nalismus als Gegensatz auf (Turanismus): 
Zurück zur völkischen Literatur! geht der 
Ruf. Die Wissenschaft des Abendlandes 
klärte den Osten über seine eigene große 
Vergangenheit auf; als Bagdad und Cor¬ 
doba in Blüte und Kultur standen, herrschte 
bei uns noch Inquisition und Scheiterhaufen. 
Daß die Selbständigkeit und Arbeit des 
Einzelmenschen den Europäer aufwärts 
getrieben, daß wir uns staatlich und religiös 
ungeheuer differenzierten und entwickelten, 
übersieht der Orientale dabei. Er neigt 
auch dazu die augenblicklichen großen mili¬ 
tärischen und politischen Erfolge seines 
Volkes zu überschätzen in ihrer Bedeutung 
für die geistige Hebung der Massen, wel¬ 
che nur durch jahrzehntelange phantasie- 
freie, stetige Binnenarbeit zu schaffen ist. 


Aber diese Geistesverfassung muß der 
für deutsche Kultur im Orient Kämpfende 
fest im Auge behalten; er muß selbst erst 
den Orient zu ergründen und Hand in 
Hand mit den Orientalen zu wirken suchen, 
nicht ihn erdrücken wollen. Stetige Ent¬ 
wicklung in gemeinsamer Arbeit auf natio¬ 
nal-türkischer Basis — das ist das schwere 
deutsche Zukunftsprogramm im Osten; 
bitter not ist ein türkischer Volksschul¬ 
lehrerstand; 24000 syrische Kinder sind 
durch den Krieg schulfrei geworden. Boden¬ 
ständige Reform der türkischen Bildung, 
welche aus der Buchgelehrsamkeit heraus¬ 
zubringen ist und zur Freiheit, zu eigener 
Anschauung zu erziehen ist. Historisch- 
kritische Methoden müssen an türkischer 
Überlieferung mit Vorsicht geübt werden 
und langsam zu der noch völlig fehlenden 
Selbstzucht des Denkens führen. 

Noch schwieriger ist der Schlußstein des 
türkischen Bildungsproblems, d. h. der mo¬ 
derne Arbeitsgedanke, welchem Überlie¬ 
ferung, Klima, Bedürfnislosigkeit, Steuer¬ 
system, Frauenfrage. Beamtentum u. a. ent¬ 
gegenstehen. Vielleicht wälzt diesen Stein 
des Sisyphus, aber mit anderem Erfolg als 
in der Sage, das osmanische Genie, das 
irgendwo sich schon entwickelt Vielleicht 
die harte Not. 

Der Alt-Türke hatte keine „Zivilkourage“ 
(Bismarcks Lieblingsausdruck); auf die Des¬ 
potie als Folge des Trockenklimas, weil 
Wasserversorgung nur durch Zentrokratie 
möglich ist, weist B. nach Reinh. Junges 
(Das Problem der Europäisierung tür¬ 
kischer Wirtschaft, Weimar 1916) Vor¬ 
gang hin. 

Und noch eine Bemerkung zum Schluß: 
Zwischen Konstantinopel und den Provin¬ 
zen ist ein himmelweiter Unterschied; Dr. 
Lamec Saads Buch (16 Jahre als Quaran- 
tänearzt in der Türkei bei Dietr. Reimer 
1913) erhärtet das. 

Victor Hehn betitelt in seinem klassi¬ 
schen »Italien* eines der Kapitel: »Rat¬ 
schläge, die nicht im Baedeker stehen; für 
denjenigen, der in den Orient als Pionier 
deutschen Wesens in höherem Sinne zieht, 
wüßte ich keine kürzere und keine bessere, 
vor Enttäuschungen und Entgleisungen 
schützende Vorbereitung als die Beckersche 
Rede. B. Laquer-Wiesbaden. 


FOr die Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlceltus, Berlin W30, Luitpoldstraße 4. 

Drude von B. O.Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


11. JAHRGANG 


HEFT 3 1. DEZEMBER 1916 


Miguel de Cervantes. 

Von Heinrich Morf. 


Von Miguel de Cervantes ist im letz¬ 
ten Frühjahr auch bei uns viel die Rede 
gewesen. Man hat aus Anlaß der drei- 
hundertesten Wiederkehr seines Todes¬ 
tages, zu Ende April, in Feuilletons und 
Sonntagsblattern seiner gedacht und 
auch Gedenkfeiern abgehalten. Doch 
galt diese Erinnerung fast ausschlie߬ 
lich seinen Büchern. Cervantes selbst 
verschwand hinter seinen Helden, der 
Künstler hinter seiner Schöpfung. Von 
seinen Lebensschicksalen wurde wenig 
mehr berichtet, als daß er bei Lepanto 
verwundet, nachher in algerische Ge¬ 
fangenschaft geraten sei, auch später in 
mißlichen Verhältnissen gelebt und so¬ 
gar mit dem Gefängnis Bekanntschaft 
gemacht habe. Cervantes verdient es 
aber wohl, daß die, die sich an seinen 
Geschichten ergötzen, ihn auch als Men¬ 
schen näher kennen lernen. Und so 
soll hier post festum von seinem Leben 
die Rede sein. 

In der kastilischen Universitätsstadt 
Alcalä, in grüner Talebene am Henares, 
einige Wegstunden östlich von Madrid, 
ist am 9. Oktober 1547 Miguel de Cer¬ 
vantes getauft worden. Seinen Geburts¬ 
tag kennen wir nicht Für die Anschau¬ 
ungen jener Zeit bedeutet der Eintritt 
in die kirchliche Gemeinschaft die 
wiikliche Geburt des Menschen. 

Über Spanien gebot zur Zeit Kaiser 
KarlV., in dessen Reich die Sonne nicht 
unterging. Was bedeutete damals in 
diesem Weltreich der kleine Junge eines 


obskuren Wundarztes.... aber das Reich 
Karls V. ist längst in Trümmer gegan¬ 
gen, während in dem Weltreich des 
Geistes, das jener bescheidene Sohn 
kastilischer Erde sich gründen sollte, 
die Sonne heute noch nicht untergeht 

Die Familie läßt sich nur wenig weit 
zurückverfolgen. Man begegnet in einer 
Urkunde von 1533 einem Juristen Juan 
de Cervantes, der mit einiger Wahr¬ 
scheinlichkeit als Miguels Großvater an- 
gesprochen wird. Sein Vater Rodrigo 
war, wie gesagt, ein bescheidener Wund¬ 
arzt unbemittelt, aber kinderreich, des¬ 
sen berufliche Tätigkeit durch Taubheit 
behindert war. 

Miguel war das vierte von sieben 
Kindern; er hat drei Brüder und drei 
Schwestern. Der Bruder Rodrigo und 
die beiden Schwestern Andrea und 
Magdalena spielen in seinem Leben 
eine besondere Rolle. 

Ist Miguel in Alcalä herangewachsen 
und gebildet worden? Wir wissen es 
nicht Wir wissen nichts über die er¬ 
sten einundzwanzig Jahre seines Le¬ 
bens — nichts. Wir finden in diesen 
zwei Jahrzehnten einige urkundliche 
Spuren des Vaters Rodrigo oder einzel¬ 
ner Familienglieder in Alcalä, Vallado¬ 
lid, Sevilla, Madrid. Diese letztere Stadt 
scheint in den sechziger Jahren der ei¬ 
gentliche Wohnort der Familie gewesen 
zu sein. Aber über den jungen Miguel 
berichtet während 21 Jahren kein Do¬ 
kument Solch urkundliches Dunkel 

9 


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259 


Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


260 


liegt auch noch über manchem späte¬ 
ren Jahre seines Mannesalters, und es 
ist kaum zu hoffen, daß die Archive 
Spaniens noch viel Neues hergeben 
werden, nachdem C. P6rez Pastor 
die große Ernte seiner Documentos Cer- 
vantinos hasta ahora inöditos (1897 bis 
1902), 161 Stücke, eingebracht hat. 1 ) 
Diese Dokumente lehren uns freilich 
kaum neue literarische Tatsachen. Sie 
sind Zeugnisse der Wechselfalle einer 
soldatischen und bürgerlichen Existenz 
und zeugen mehr von Not und Drang¬ 
sal als von Freuden des Lebens. Es 
sind Schuldverschreibungen, Gerichts¬ 
akten usw. — die papierenen Trümmer 
einer Tragödie des Geldes. 

Die erste Spur Miguels birgt ein ver¬ 
gilbtes Blatt der Pariser Nationalbi¬ 
bliothek: da steht ein banales Huldi¬ 
gungsgedicht an die spanische Köni¬ 
gin Isabel von Valois (1560—1568): 
„Soneto de Mig. de Ceruantes“, das 
nicht naher datiert ist. Daß er in 
früher Jugend schon sich in der Dich- 
kunst übte, versichert uns der Greis. 

Zu Madrid scheint Miguel die Schule 
besucht zu haben, wenigstens stellte ihn 
ein Madrider Schulvorsteher dem Pu¬ 
blikum als nuestro caro y amado disci- 
pulo vor, und zwar aus folgendem An¬ 
laß: 

Isabel von Valois war im Oktober 
1568 gestorben. Der loyale Direktor der 
städtischen Lateinschule, J. Löpez de 
Hoyos, gab im folgenden Jahre (1569) 


1) Unser Wissen vom Leben des Cer¬ 
vantes hat Fitzmaurice Kelly mit treff¬ 
licher Kennerschaft zusammengestellt und 
damit die beste kritische Biographie des 
Dichters geliefert ( Cervantes , a Memoir, 
Oxford 1913). Was die jüngsten spanischen 
Jubiläumspublikationen nun an neuen Er¬ 
gebnissen gebracht haben mögen, ist hier¬ 
zulande nur den Titeln nach bekannt Der 
Krieg hat auch unsere literarische Zufuhr 
aus Spanien fast gänzlich unterbunden. 


einen Bericht über das Ende und Be¬ 
gräbnis der Königin heraus, der von 
lateinischen und spanischen Gedichten 
begleitet war. Unter den spanischen be¬ 
finden sich sechs Stücke von Miguel 
de Cervantes; darunter eine Elegie, von 
der ausdrücklich gesagt ist, daß Cer¬ 
vantes sie en nombre de todo el Estu- 
dto, also im Namen der ganzen Schule, 
verfaßt hat 

War Miguel mit 22 Jahren noch 
Schüler dieser Anstalt und ergänzte er, 
als alter Junge, eine bisher allzu lük- 
kenhaft gebliebene Schulbildung? Oder 
war er Lehrer der Anstalt da er bei 
solcher Gelegenheit das gereimte Wort 
für sie ergreift? Jedenfalls war der 
Madrider Schuldirektor stolz auf die¬ 
sen Angehörigen, den er so nachdrück¬ 
lich für seinEstudio in Anspruch nimmt 
und im Namen der Schule die tote 
Königin feiern laßt 

Daß Miguel Universitatsstudien ge¬ 
macht habe, ist unerwiesen und nicht 
wahrscheinlich. Er ist kein studierter 
Mann. Das soll die Universitäten nicht 
verdrießen. 

Das nämliche Jahr 1568 führt ihn 
von der Madrider Schule weg in die 
weite Welt hinaus, die seine eigentliche 
Schule werden sollte. Gegen Ende des 
Jahres 1568 scheint er in Spanien Hand¬ 
geld genommen zu haben und Soldat 
geworden zu sein. So kommt er nach 
Italien. Zu Weihnachten 1569 finden 
wir ihn in Rom. Ein charakteristisches 
Dokument bezeugt uns diesen Aufent¬ 
halt. Vater Rodrigo läßt nämlich zu 
Madrid für seinen in Rom weilenden 
Sohn Miguel das Zeugnis ausstellen, 
daß dieser Miguel legitimer Abkunft 
sei, daß die Familie väterlicher- und 
mütterlicherseits keine Mischung jüdi¬ 
schen oder ketzerischen Blutes erfah¬ 
ren habe, daß sie nicht etwa Konver¬ 
titen, sondern Altchristen reinster Wur- 


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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


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zel seien: somos muy buenos cristianos 
oiejos, limpios de toda rate. Im alten 
Spaniöi war die Frage altchristlicher 
Herkunft wichtig genug. Oft ist davon 
auch im Don Quijote die Rede, und 
auch Sancho Pansa betont die Reinheit 
seiner Abstammung: „Ich bin ein Christ 
von altem Blut, und das ist genug, um 
ein Graf zu werden“, meint er. 

Im Herbst 1570 sticht Cervantes mit 
der Flotte Don Juans d’Austria gegen 
die Türken in See und nimmt am 7. Ok¬ 
tober an Bord des Flaggschiffes La 
Marquesa teil an der Seeschlacht von 
Lepanto, in welcher die türkische See¬ 
macht gebrochen wurde. 

Es ist bezeugt, daB an diesem welt¬ 
geschichtlichen Tage der dreiundzwan- 
zigjährige Marinesoldat sich durch Tap¬ 
ferkeit auszeichnete. Zwei Büchsen¬ 
schüsse trafen seine Brust, und ein drit¬ 
ter verstümmelte seine linke Hand... 
nun größeren Ruhme der Rechten (pa- 
ra gloria della diestra), wie er einmal 
mit einem prächtigen Soldatenwort 
sagt 

Trotz der Verletzung blieb er Soldat. 
Sein jüngerer Bruder Rodrigo gesellte 
sich zu ihm, und über ihrer beider Waf¬ 
fendienst hat Miguel später (1590) in 
einer Denkschrift an den König berich¬ 
tet Aus den Erlebnissen seiner Solda¬ 
tenjahre schöpft er häufig genug in 
seinen Wethen. Die Freude und die Not 
des Waffenhandweihs spricht aus Emst 
<md Scherz mancher Stelle des Don 
Quijote. 

Die Brüder machten 1572 die Kriegs- 
iahrten gegen Korfu und Messenien 
(Navarino) und im folgenden Jahre die 
Eroberung von Tunis mit Lange Mo- 
n ®te des Gamisondienstes verlebt Mi- 
8®el in Neapel, gelegentlich auch in 
Palermo. Zwischenhinein sehen wir 
d® als Kämmerer im Dienste des Kar¬ 
dinals Acquaviva zu Rom. Diese ita- 

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lienischen Lehrjahre mag er wohl ge¬ 
nutzt haben. Seine späteren Werke zei¬ 
gen ihn italienischer Bildung volL 

Rasche Beförderung war ihm in Ita¬ 
lien nicht beschieden. 1574 ist er erst 
Offiziersaspirant Da reift der Plan in 
ihm, nach Spanien zurückzukehren und 
sich dort um ein Kommando zu bewer¬ 
ben. Er erhält Urlaub, verläßt Neapel, 
in Begleitung seines Bruders, mit Emp¬ 
fehlungen seiner höchsten Vorgesetz¬ 
ten versehen: des Vizekönigs und Don 
Juans d’Austria. Gerade diese Empfeh¬ 
lungen sollten ihm zum Unheil aus- 
schlagen. 

Das Schiff, das die' beiden den 
heimatlichen Gestaden entgegentrug, 
wurde nach tapferer Gegenwehr von 
berberischen Seeräubern überwältigt 
am 26. September 1575. Miguel und Ro¬ 
drigo wurden gefangen und nach Algier 
in die Sklaverei gebracht 

Auf die sechs bis sieben Jahre ruhm¬ 
reichen Kriegsdienstes folgten fünf volle 
Jahre Sklavendienst Sein 28. bis 32. Le¬ 
bensjahr, Jahre der Vollkraft, hat Cer¬ 
vantes in dieser demütigenden Stellung 
verbracht, unter schweren Leiden und 
Gefahren, „wodurch ich“, wie er später 
einmal sagt, „Geduld in den Widerwär¬ 
tigkeiten lernte“. 

Sein Bruder Rodrigo war glücklicher; 
schon im Sommer 1577 war es der Fa¬ 
milie gelungen, ihn loszukaufen. Auf 
Miguel aber, bei dem man die Briefe 
hochgestellter Gönner gefunden, wurde 
ein viel höheres, für die Familie uner¬ 
schwingliches Lösegeld gesetzt, da die 
maurischen Herren sich von seiner offi¬ 
ziellen Bedeutung eine übertriebene 
Vorstellung machten. 

Cervantes hat später, 1580, als er, frei 
geworden, den Boden Afrikas verließ, 
einen summarischen Bericht über die 
Zeit seiner Gefangenschaft aufgesetzt 
der von den notariell beglaubigten 

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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


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Zeugnissen von zwölf seiner Leidens¬ 
genossen begleitet ist und somit ein Do¬ 
kument von zweifelloser Echtheit dar¬ 
stellt Dieser Bericht lehrt uns nicht wie 
das tägliche Leben des Sklaven sich ge¬ 
staltete. Wir hören von strenger Ketten¬ 
haft und grausamer Behandlung. Cer¬ 
vantes schleppte sich in Algier mit einer 
Kette am Fuße. Aber es gab auch Zeiten 
ansehnlicher Bewegungsfreiheit für ihn. 
Beinen Lebensunterhalt mußte er sich 
selbst verdienen. Die maurischen Her¬ 
ren scheinen ihre Sklaven, wenigstens 
die wertvolleren, wesentlich als Wertob¬ 
jekte fflr den künftigen Loskauf behan¬ 
delt und deren tägliche Arbeit nicht wei¬ 
ter wirtschaftlich ausgebeutet zu haben. 

Literarisch fruchtbar ist diese Zeit, 
wie leicht begreiflich, für ihn nicht ge¬ 
worden. Dieser berberische Raubstaat 
bot ihm während fünf Jahren nichts, was 
sich mit den geistigen Gaben Italiens 
vergleichen läßt Anregungen durch ara¬ 
bische Literatur scheint gänzlich zu feh¬ 
len. Doch blieb Muße zu allerlei Reime¬ 
reien, von denen indessen nur wenig auf 
uns gekommen ist 

1577 richtet er an den einflußreichen 
Sekretär Philipps II. Mateo Väzquez 
eine poetische Epistel, in der er sein Un¬ 
glück erzählt und um Hilfe bittet. „Füh¬ 
len lernte ich des fremden Joches 
schwere Last: 

Sentf de ajeno yugo la gran carga“ 

heißt es da in Danteschem StiL Die Epi¬ 
stel hatte keinen Erfolg. Die Nachwelt 
hat dieses autobiographische Dokument, 
das sie seit 1863 kennt, mit mehr Mit¬ 
gefühl gelesen als der Adressat, wenn 
es anders bis zu ihm gelangt ist. 

Viermal unternahm Cervantes den 
Versuch, aus Algier zu entkommen. 
Jedesmal vereitelte ein unglücklicher 
Zufall oder der Verrat eines treulosen 
Genossen den Anschlag und brachte 


dem Gefangenen schwere Fesselung, 
Mißhandlung, Lebensgefahr. 

Der erste, etwas naive Versuch war 
kläglich mißlungen, als im Sommer 1577 
ein zweiter, fast abenteuerlicher mit dem 
Bruder Rodrigo verabredet wurde, der 
in jenen Tagen, losgekauft, nach Spa¬ 
nien heimkehren durfte. Rodrigo sollte 
einige Wochen später mit einem spa¬ 
nischen Schiff sich heimlich einer be¬ 
stimmten Stelle der algerischen Küste 
nähern, wo ein Dutzend christliche Skla¬ 
ven, die sich zum Versteck seit Mona¬ 
ten eine Höhle gegraben hatten, seiner 
warteten. Der Plan wurde verraten, das 
Versteck ausgenommen (Ende Septem¬ 
ber 1577). Cervantes, vor den türki¬ 
schen Vizekönig von Algier, Hassan 
Pascha, geführt, nahm die ganze Ver¬ 
antwortung auf sich: er sei der Anstif¬ 
ter des ganzen Fluchtversuchs; er habe 
die andern. Schuldlosen, verführt Und 
er blieb bei dieser Erklärung angesichts 
von Folter und Tod. 

Dieses ritterliche Benehmen scheint 
dem Vizekönig imponiert zu haben. Er 
kaufte den Sklaven Cervantes seinem 
bisherigen Herrn ab und versetzte ihn 
in seinen Kerker, wo derselbe cargado 
de cadenas y hierros mit Hilfe eines 
maurischen Boten einen neuen Flucht¬ 
plan schmiedete, der wieder entdeckt 
wurde und damit endete, daß dieser 
Bote gepfählt und Cervantes zu schwe¬ 
rer Prügelstrafe verurteilt wurde (März 
1578). 

Bei der Entdeckung eines neuen, vier«! 
ten Fluchtplans, anderthalb Jahre spä< 
ter, nahm Cervantes wieder die ganz^ 
Verantwortung von seinen Leidens* 
genossen weg, auf sich. Den Strick unQ 
den Hals und die Hände auf den Rücke^ 
gebunden, wie ein Delinquent, der zuna 
Galgen geführt wird, bleibt er vor den 
Vizekönig bei dieser Erklärung und antj 
wortet mit solch unerschrockener Sicher 



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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


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heit auf die Fragen seines argwöhni¬ 
schen Herrn, daß dieser ihm auch dies¬ 
mal das Leben schenkt und sich be¬ 
gnügt, ihn von neuem für fünf Monate 
gefesselt einzukerkern — donde pasö 
muchos trabajos. 

Die Geschichte weiß von manchem 
Helden zu berichten, der für andere, 
Schwächere, sich zu opfern bereit war 
und dabei Schmach und Tod ruhig ins 
Antlitz sah — aber sie hat uns kein sub¬ 
limeres Bild aufbewahrt als das dieses 
spanischen Hidalgo Miguel de Cervan¬ 
tes, der, die Hände auf den Rücken ge¬ 
bunden, den Strick um den Hals, vor 
dem türkischen Machthaber steht, sich 
weigert, seine Mitschuldigen preiszu¬ 
geben, alle verfänglichen Fragen schlag¬ 
fertig pariert und mit dem Schilde sei¬ 
ner Geistesgegenwart das gemeinsame 
Geheimnis des Fluchtplanes deckt — 
der, gefesselt, mit den überlegenen Waf¬ 
fen des Geistes ficht und siegt. Das ist 
ein wahrer Ritter des Geistes, der über 
seiner Not steht Dieses Geistes Kind 
ist das Buch, das ihn unsterblich ge¬ 
macht hat Das Bild dieser Szene, von 
der Hand eines Künstlers gestaltet, 
müßte eigentlich sein Buch schmücken, 
auf daß der Leser über Don Quijote, 
dem Ritter von der traurigen Gestalt 
die herrliche Gestalt seines Schöpfers 
nicht vergesse. Tausende lesen bei uns 
den Don Quijote, ohne dem Autor einen 
Blick zu schenken. Neben den Hunder¬ 
ten von Bildern, die Don Quijote und 
Sancho Pansa darstellen, wünschte man 
ein Bild aus dem Leben des Meisters, 
eben jenes, das ihn in der tiefsten Not 
seines Lebens als Sieger zeigt 

In all den Jahren hatte sich Miguels 
Familie eifrig bemüht, die Mittel für den 
Loskauf des unglücklichen Sohnes und 
Bruders zu beschaffen. Die Familie hat 
Schuldner, gegen welche sie gerichtliche 
Schritte unternimmt Die Höhe ihrer 


Forderung, über 1000 Dukaten, erfüllt 
uns mit einiger Verwunderung. Die Ver¬ 
hältnisse sind wenig durchsichtig; er¬ 
folgreich scheinen die Schritte der Jahre 
1576 und 78 nicht gewesen zu sein. Da¬ 
neben wendet man sich an die könig¬ 
lichen Behörden, freilich mit sehr mäßi¬ 
gem Ergebnis: da 30 Dukaten, dort ein 
Geschenk an Waren zum Weiterverkauf. 
Schließlich werden 250 Dukaten zusam¬ 
mengebracht Aber Hassan Pascha ver¬ 
langt für seinen Sklaven 500 Goldduka¬ 
ten: 500 escudos de oro en oro. 

Der natürliche Vermittler eines sol¬ 
chen Loskaufs war der Trinitarierorden, 
der ja ad redemptionem captiuorum ge¬ 
gründet worden war und dessen wei߬ 
gekleidete Mönche unzählige Male die 
Fahrt nach den Korsarenstaaten mach¬ 
ten. Den Trinitariern übergab die Fa¬ 
milie die Angelegenheit Sie kam in die 
Hand des braven Paters Juan GiL An 
die fehlende Hälfte der Kaufsumme 
steuerte der Orden selbst sowie ein spa¬ 
nischer Unterstützungsfonds einiges bei. 
Den Hauptteil (220 Dukaten) schossen 
die christlichen Kauflgute in der Stadt 
Algier vor, um, wie es im Dokument 
vom 19. September 1580 heißt „den Mi¬ 
guel de Cervantes aus Madrid, mittlerer 
Statur, bärtig, mit verstümmeltem lin¬ 
ken Arm, davor zu bewahren, daß er im 
Maurenland untergehe". 

Und das war keine Phrase. Die Ge¬ 
fahr dieses Untergangs drohte. Hassans 
Amtsperiode war abgelaufen. Er war im 
Begriff, nach Konstantinopel zurückzu¬ 
kehren. Der Tag der Abreise war da. 
Schon waren Hassans Christensklaven 
an Bord seines Schiffes in Eisen gelegt 
Cervantes unter ihnen. In wenigen Stun¬ 
den sollte das Schiff in See gehen — wie 
mag dem Ärmsten da zumute gewesen 
seinl Im letzten Augenblick wurde mit 
Hilfe der Kaufmannschaft die Kauf¬ 
summe zusammengebracht Cervantes, 


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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


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seiner Fesseln ledig, von Bord des Schif¬ 
fes geholt, befreit und Spanien und der 
•Welt erhalten. Wie wenig fehlte, daß 
er mit 33 Jahren auf dem Sklavenmarkt 
Konstantinopels namenlos verschwun¬ 
den wßre. 

So war er frei; aber bis er bei den 
Seinen in Madrid eintraf, sollten noch 
drei Monate vergehen. 

Ihm drohte Anfechtung von seiten 
eines Übelwollenden. Dagegen rief er 
die Hilfe des Paters Juan Gil an und 
setzte jenen Bericht über sein Leben in 
der Sklaverei auf, den die Aussagen von 
zwölf Zeugen beglaubigten. 7 Diese Zeu¬ 
gen rühmen, jeder in seiner Weise, Cer¬ 
vantes’ Charakter und Lebensführung, 
der als guter Christ und ritterlicher 
Mann sich der armen Mitgefangenen 
mitleidvoll angenommen, sie vor schlech¬ 
ter Behandlung geschützt und ihren Un¬ 
terhalt bestritten habe — er, der selbst 
nichts besaß. Sie bezeugen seine her¬ 
vorragende Stellung in dem Kreise, nen¬ 
nen ihn einen klugen und feinen Men¬ 
schen, der in allem besondere Anmut be¬ 
sitze: tiene especlal gracia en todo. Der 
Pater fügt eigenes hohes Lob hinzu und 
erklärt, daß Cervantes in den fünf Jah¬ 
ren sich so bewährt habe, daß er be¬ 
sonderer königlicher Gnade würdig er¬ 
scheine. Erwägt man dabei auch das 
große Opfer, das die christliche Kauf¬ 
mannschaft in der elften Stunde für ihn 
bringt, so mögen wir wohl heute diese 
fünfjährige Gefangenschaft dafür prei¬ 
sen, daß sie uns solche Gewißheit über 
die sittliche Persönlichkeit des Cervan¬ 
tes, einen solchen Einblick in sein vor¬ 
nehmes, starkes, reizvolles Wesen ge¬ 
schenkt hat. 

Die Heimbeförderung der losgekauf¬ 
ten Sklaven pflegte truppweise über Va¬ 
lencia zu geschehen. Dort wurde Cer¬ 
vantes im November 1580 gesehen. Dem 
Zeremoniell, das die Heimkehrenden 


empfing und auf das er in der Espanola 
tnglesa hinweist, wurde gewiß auch er 
unterworfen. Am 18. Dezember ist er zu 
Hause in Madrid, nach reichlich elfjäh¬ 
riger Abwesenheit Die Freude des Wie¬ 
dersehens mochte groß sein. Aber es 
mußte den Sohn und Bruder bedrücken, 
daß die Familie an seiner Befreiung sich 
finanziell verblutet hatte. Auch die Mit¬ 
gift der beiden unverheirateten Schwe¬ 
stern soll daraufgegangen sein. 

Was uns die Loskaufakten über die 
äußere Gestalt unseres Helden lehrten, 
das wird durch seine eigenen späteren 
Angaben ergänzt: er hat kastanienblon¬ 
des Haar, lebhafte, helle Farbe, freie 
Stirn, muntere Augen, gebogene, doch 
wohlgebildete Nase; er trug vollen Bart, 
einen großen Schnurrbart über dem klei¬ 
nen Mund. Es ist leider kein Porträt 
von unanfechtbarer Echtheit von ihm be¬ 
kannt Nimmt man eine Bemerkung 
jener Selbstschilderung wörtlich, so stot¬ 
terte Cervantes. 

Es waren bewegte Zeiten in Spanien. 
Eben hatte Philipp II. von Portugal Be¬ 
sitz ergriffen, und eine Expedition gegen 
die Azoren stand bevor. Daß Miguel 
unter diesen Umständen in den Heeres¬ 
dienst zurückkehrte, erscheint natürlich. 
Er erklärt auch ausdrücklich, mit Bru¬ 
der Rodrigo in Portugal und auf den 
Azoren in des Königs Dienst gestanden 
zu haben. Die Urkunden, die für den 
Sommer 1581 seine Anwesenheit in Por¬ 
tugal und im Kriegshafen von Carta¬ 
gena bezeugen, widersprechen dem kei¬ 
neswegs. Bei all dem spann er keine 
Seide, denn wir sehen ihn nach der 
Rückkehr von den Azoren im Herbst 
1583 für seine Schwester Magdalena 
einige Rollen Tuch für 30 Dukaten ver¬ 
pfänden. 

So kam er denn arm zurück. „Im 
Reiche der Armut gibt es keinen Ärme¬ 
ren als den Soldaten“, sagt er einmal im 


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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


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Don Quijote, „denn der Soldat muß sich 
lediglich an seinen elenden Sold halten, 
der spät oder niemals eintrifft“ Davon 
wußten die Cervantes ein Lied zu sin¬ 
gen. Als nämlich Bruder Rodrigo im 
Jahre 1600 bei Nieuport in Flandern ge¬ 
fallen war, da gelang es den armen Ge¬ 
schwistern nur nach jahrelangen Be¬ 
mühungen, einen kleinen Teil des 
rückständigen Soldes sich zu erstreiten. 

Mitte der achtziger Jahre ging Cer¬ 
vantes als königlicher Kurier einmal 
nach Oran, eine Mission, die er offen¬ 
bar seiner guten Kenntnis afrikanischer 
Verhältnisse verdankte. In diesen Jah¬ 
ren ist ihm eine natürliche Tochter ge¬ 
boren worden, die in der Taufe den Na¬ 
men Isabel de Saavedraerhielt und 
die er später legitimierte, ohne viel 
Freude an ihr zu erleben. 

Daß er nun auch als Literat seinen 
Weg sucht wird immer deutlicher. Er 
pflegt literarische Beziehungen, gibt den 
Büchern seiner Kollegen Lobgedichte 
mit auf den Weg, wie das damals Sitte 
war. Er selbst schreibt an einem großen 
Schäferroman vom treuen Elicio und 
der schönen, spröden Galatea, dessen 
ersten Teil er im Sommer 1584 einem 
Madrider Verleger für 100 Dukaten ver¬ 
kauft, und der im Frühjahr 1585 erscheint 

Die Gcdatea ist ein Buch ohne Ur¬ 
sprünglichkeit, ganz nach berühmten 
Mustern, besonders italienischen, ge¬ 
bildet, zusammengesetzt aus Liebes- 
reden in Prosa und modischen Ver- 
*o. in denen petrarkistische Spielerei 
benscht Den „geistvollen Schäfern und 
sdiönen Schäferinnen“ erscheint die 
Nymphe Kalliope und trägt in endlosen 
^ven einen adulatorischen Katalog 
der zeitgenössischen Dichter vor, in wel- 
<d>em neben Cervantes’ Freunden auch 
die berühmten Namen der Herrera, 
UisdeLeön, Göngoraund des jun- 
geoLope de Vegaerscheinen. 


Audi mit der Bühne versucht er es, 
doch sind von den 20 bis 30 Stücken, 
die er in diesen achtziger Jahren ge¬ 
schrieben haben will, nur zwei erhalten. 
Von sieben anderen kennen wir wenig¬ 
stens die Titel, und eines davon, La Con- 
fusa, sei auf der Bühne sehr bewundert 
worden: Pareciö en los teatros adrrd- 
rable. Erhalten sind die Numancia, ein 
dramatisiertes Epos voll patriotischer 
Eloquenz, die einst Fichte ergriffen hat, 
das mit allegorischen Figuren arbeitet 
und eine pathetische Schilderung vom 
freiwilligen Untergang der belagerten 
Numantiner gibt, und El trato del Argei , 
die Dramatisierung einer Liebesge¬ 
schichte auf dem Hintergrund algeri¬ 
schen Sklavenlebens, doch ohne jedes 
Kolorit des Selbsterlebten, Selbstge¬ 
schauten, das wir hier erwarten wür¬ 
den. Er ist kein Dramatiker. 

Ein solches Stück scheint ihm etwa 
20 Dukaten eingetragen zu haben. 

Als er 25 Jahre später auf diese Zeit 
seiner Bühnenarbeit zurückblickt, tut er 
es nicht ohne Stolz. Er habe, was Lope 
de Rueda und Naharro so glück¬ 
lich begonnen, weiter gefördert mit 
Stücken, wie der Numancia, und er habe 
den Mut gehabt, die Comedias von fünf 
auf drei Akte zu reduzieren und sei der 
erste gewesen, der, unter allgemeinem 
Beifall, den inneren Menschen mit sei¬ 
nen Gedanken auf die Bühne gebracht und 
moralische Figuren dargestellt habe. Hier 
mag er doch wohl die Bedeutung seiner 
Stücke und den Beifall, den sie gefunden, 
aus der Feme der Erinnerung übertreiben. 

Auf solche Einnahmen aus Büchern 
und Dramen baute er wohl seine Exi¬ 
stenz, als er mit 38 Jahren, im Dezem¬ 
ber 1585, ein neunzehnjähriges Mädchen 
aus dem weinberühmten Esquivias, Ca¬ 
talina de Salazar, heiratete. Es war 
eine Liebesheirat, denn die Mitgift war 
sehr bescheiden. 


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Wieviel er von seiner Brautwerbung 
in seinen Roman Galatea hineingeheim- 
nist haben mag, wie viele der kunstvol¬ 
len Lieder des Elido seiner eigenen 
Liebe Ausdruck geben, können wir nicht 
wissen. 

Die Ehe blieb kinderlos, und so trat 
später die heranwachsende Isabel in die 
Lücke. 

Aber Bücher und Dramen scheinen 
ihren Mann nicht zu nähren. Wirklichen 
Bühnenerfolg kann er eben doch kaum 
gehabt haben. „Ich fand andere Beschäf¬ 
tigung", sagt er später, „und ließ Feder 
und BühnenspieL" „Die Arbeit der Büh¬ 
nendichter ist unglaublich, ihre Sorgen 
außerordentlich, und sie müssen viel ver¬ 
dienen, wenn sie nicht am Schlüsse des 
Jahres schwer verschuldet sein wollen“, 
heißt es im „Gläsernen Assessor". 

Wir sehen Cervantes schon 1585 mit 
Handel beschäftigt. Urkunden zeigen 
ihn in dieser Zeit zu Esquivias (1584/86), 
Madrid (1585), Sevilla (1585). Dann wird 
er (1587) mit vierzig Jahren Verwal¬ 
tungsbeamter — zu seinem Unheil. Denn 
der Mann, der in literarischen Träumen 
lebte, fand sich in der Ziffern- und Para¬ 
graphenwelt der Verwaltungsgeschäfte 
nicht zurecht, und am Ende all der Nöte 
und Wirren dieser unerfreulichen Tätig¬ 
keit wartete seiner — das Gefängnis. 

Ein Stoß von Protokollen, Rechnun¬ 
gen, Buchhaltungsnotizen, die uns er¬ 
halten geblieben sind, führt den Biogra¬ 
phen heute in das Labyrinth dieser 
Schwierigkeiten hinein, das ihn nicht so 
leicht entläßt Hier erübrigen sich die 
vielen Einzelheiten dieser geschäftlichen 
Tätigkeit, die den Dichter im Süden, 
besonders in Andalusien festhielt Zu 
schriftstellerischer Arbeit fand er dabei 
wenig Gelegenheit 

Cervantes, der hier nun zum ersten 
Male mit dem Beinamen Saavedra er¬ 
scheint war zuerst bei der Verprovian¬ 


tierung der großen Flotte, der Armada, 
beschäftigt, mit welcher Philipp II. Eng¬ 
land zu erobern beabsichtigte. Er hat 
die Hoffnung und nachher die Trauer, 
die sich an dieses gigantische Unter¬ 
nehmen knüpften, in Verse gebracht Er 
ging in seinen Requisitionen mit sol¬ 
chem Eifer ans Werk, daß er mit den 
kirchlichen Behörden in Konflikt ge¬ 
riet und ihm sein Vorgesetzter Mäßigung 
empfahl 

Die Besoldung war kärglich; sie 
schwankte zwischen 10 und 12 Realen 
für den Tag, Reisekosten inbegriffen, 
und die Staatskasse blieb mit den Aus¬ 
zahlungen im Rückstände. Wie hätte da 
ein vermögensloser Beamter nicht in 
Schwierigkeiten geraten sollen? In sei¬ 
ner Bedrängnis bewarb er sich (Mai 
1590) bei Philipp um eine Beamtung in 
Amerika, in Guatemala, Columbia, Boli- 
via oder Neu-Granada. Er beruft sich 
dabei auf seine 20 Dienstjahre seit Le- 
panto, auf seine Wunden, auf die Ver¬ 
armung der Familie durch sein algeri¬ 
sches Sklaventum, auf seine Dienste in 
Portugal und den Azoren, in Oran und 
Andalusien — y en todo esto tiempo 
no se le ha hecho merced ninguna .*) 
Wie ein Kehrreim zieht sich durch den 
Schriftsatz die Bitte um eine königliche 
Gnade, das „se le haga merced“! Diese 
schlichte Zusammenfassung zwanzig¬ 
jähriger treuer unbelohnter Dienste 
greift ans Herz. Sie hatte keinen Erfolg 
bei der spanischen Bürokratie. Der Re¬ 
ferent fügte am Rande der Bittschrift 
erledigend hinzu: busque por acä! „Er 
soll sich hierzulande etwas suchen I“ 

So geht denn die Mühsal weiter. Daß 
er im Herbst 1592 einen Ausweg nach 
dem Gebiete der Bühnendichtung ver¬ 
sucht, scheint keine Erleichterung ge¬ 
bracht zu haben. Die sechs comedias, 

2) 'Und in all der Zeit ist ihm keinerlei 
Gnade zuteil geworden.’ 

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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


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die er einem Sevillaner Theaterunter- 
nehmer zu liefern versprach, das Stück 
zu 50 Dukaten, sind wohl ungeschrieben 
geblieben. 

In der zweiten Hälfte 1594 wird er 
mit einem Tagesgehalt von 16 Realen 
ab Steuereinnehmer in der Provinz Gra¬ 
nada beschäftigt Was dann in den 
nächsten zehn Jahren (1595—1604) seine 
Tätigkeit war, wissen wir nicht. Ein Amt 
scheint er nicht mehr gehabt zu haben. 
Amtliche Beschäftigung würde urkund¬ 
liche Spuren zurückgelassen haben. Ein 
paar zerstreute Sonette sind spärliche 
Zeugen literarischer Tätigkeit. Was an 
archivalischen Dokumenten über seine 
Person aus diesen Jahren erhalten ist, 
spricht fast nur von Armut und Not. Es 
fehlt das Geld für Nahrung und Klei¬ 
dung. Er wohnt wohl in Sevilla, wenn 
er nicht zeitwebe geradezu verschollen 
ist. Ist er mit seiner Frau vereinigt? Lebt 
seine Frau bei den Schwestern? Magda¬ 
lena und Andrea wohnen in den neun¬ 
ziger Jahren zu Madrid. Magdalena 
nimmt 1599 des Bruders natürliche 
Tochter Isabel als Haus- und Nähmäd¬ 
chen zu sich. 

Es ist kaum anzunehmen, daß Cer¬ 
vantes im Mai 1595 persönlich nach Za¬ 
ragoza gegangen sei, um dort den be¬ 
scheidenen Silberpreis in Empfang zu 
nehmen, der ihm für ein Gedicht auf den 
h eiligen Jacinto zugesprochen worden war. 

Mit der Abrechnung über die von ihm 
eingezogenen Steuern blieb er im Rüde¬ 
stand. Der Zusammenbruch eines Sevil- 
laner Bankhauses, dem er von diesen 
Staatsgeldem anvertraut hatte, war da¬ 
bei auch im SpieL Cervantes wurde 
nach Madrid befohlen, um über eine feh¬ 
lende Summe von rund 200 Dukaten Re¬ 
chenschaft abzulegen. Er schob die Rebe 
auf und wurde daraufhin in Sevilla auf 
königlichen Befehl im September 1597 
verhaftet. 

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Drei Monate saß er im Gefängnis. 
Zeitgenössische Berichte sagen uns, 
welch ein Ort des Jammers und der Ver¬ 
kommenheit dieses Sevillaner Gefäng¬ 
nis damals war. Die realistische Schil¬ 
derung des Gaunertums, die Cervantes 
in seinen Novellen gibt, mag hier ihre 
Wurzeln haben. 

Seinem Antrag auf Freilassung wurde 
schon am 1. Dezember stattgegeben. 
Doch scheint er nicht zur Rechnungs¬ 
ablegung nach Madrid gegangen zu sein, 
denn er wird 1599 von neuem dazu auf¬ 
gefordert. 

Im Mai 1600 bezeugt zum letzten Male 
eine Urkunde seine Anwesenheit in Se¬ 
villa. Sie bleibt überhaupt für mehrere 
Jahre die letzte Urkunde, die von ihm 
Nachricht gibt. Wahrscheinlich ist, daß 
er 1602 wiederum gefangen gesetzt wor¬ 
den ist Die ganze Angelegenheit ist für 
uns wenig durchsichtig, und wir können 
nicht mehr erkennen, welche Schuld an 
den beklagenswerten Vorgängen der be¬ 
drängte Poet gehabt haben mag. Daß er 
nicht gegen Treue und Gewissen gehan¬ 
delt, dafür zeugt sein übriges Leben. 

In der Vorrede zum Don Quijote sagt 
Cervantes bekanntlich, daß die dürre 
Gestalt seines Helden von ihm im Ge¬ 
fängnis erzeugt worden sei, „wo jede 
Unbequemlichkeit ihren Sitz hat, wo 
jedes widerwärtige Gelärm zu Hause 
ist“. Man darf diese Erklärung wohl auf 
die neue Haft im Gefängnis zu Sevilla 
beziehen. Denn 1602 ist er sicher schon 
mit der Gestalt seines Hidalgo beschäf¬ 
tigt, wenn er auch zunächst nur eine 
kurze Novelle damit bildete, welche die 
sechs ersten Kapitel des späteren Ro¬ 
mans, die erste Ausfahrt des Helden, be¬ 
handelte. Über dieser Skizze muß ihm 
dann die Lust gekommen sein, von dem 
närrischen Rittertum seines Helden wei¬ 
ter zu fabulieren. Im Sommer 1604 
kennt Lope de Vega das Manuskript und 

Original fro-m 

INDIANA UNIVERSITY 





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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


276 


urteilt in einem Privatbrief mit gering¬ 
schätzigem Spott Ober Werk und Autor. 

Das Werk erschien im Druck zu Ma¬ 
drid um Neujahr 1605. Zur ersten kur¬ 
zen Ausfahrt des Ritters ist eine zweite 
gefügt, auf der ihn der Knappe Sancho 
begleitet, und der Autor stellt am Schluß 
eine weitere Fortsetzung mit einer drit¬ 
ten Ausreise in Aussicht. 

Aus den fünf Jahren, die dieser Ver¬ 
öffentlichung vorangehen (1599—1604), 
tritt keine Spur literarischer Tätigkeit 
von ihm hervor. Was mag da sein Le¬ 
ben gewesen sein, als er die heitere Ge¬ 
schichte seines Narren zusammenfabu¬ 
lierte, dessen Gestalt er im Elend des 
Gefängnisses ersonnen! 

In Spanien hatten inzwischen große 
Veränderungen stattgefunden. Phi¬ 
lipp III. hatte 1598 den Thron bestie¬ 
gen, und seit 1601 war von ihm Vallado¬ 
lid zur Hauptstadt an Stelle von Madrid 
gemacht worden (bis 1606). 

Im April 1605 finden wir Cervantes 
in diesem Valladolid, doch mag er 
schon im Jahre zuvor in der neuen Kapi¬ 
tale gewohnt haben. Hier also erlebte 
er den großen Erfolg seines Weites, 
dessen sich auch gleich der portugie¬ 
sische Nachdrude bemächtigte. Freilich, 
der ganze Gewinn dieses Erfolges floß 
dem Verleger zu, dem er sein Manu¬ 
skript verkauft hatte. Der Dichter hatte 
längst gelernt, sich zu bescheiden: Zwar 
habe ich große Wünsche, doch begnüge 
ich mich mit wenig.*) 

Cervantes widmete seine Bücher nach 
der damaligen Sitte einer hochgestellten 
zahlungsfähigen Persönlichkeit mit 
schwungvollen Worten. Was ihm der 
Herzog von B6jar, ein bekannter Mä¬ 
zen, für den Don Quijote / zukommen 
ließ, wissen wir nicht. Jedenfalls hielt 
das doppelte Honorar des Verlegers und 

3) Con poco mi contento, aunque deseo 
Mucho. (Vlage cap. IV.) 

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des Gönners nicht lange vor. Kurz nach 
Erscheinen des Buches mußte Cervan¬ 
tes von jenem drei Dutzend Dukaten 
borgen. 

In Valladolid schrieb er auch einen 
Teil seiner Novellen, so den „Gläsernen 
Assessor“, ein Bild partieller Narrheit, 
wie der Don Quijote und die „Eng¬ 
lische Spanierin“, die aber erst nach 
Jahren erschienen. 

Auch für das Theater begann er wie¬ 
der zu arbeiten, vielleicht schon in Val¬ 
ladolid. Aber der erfolgreiche Bühnen¬ 
dichter von ehedem fand jetzt keine 
Bühne mehr, die seine Stücke annahm. 
Er konnte sie, wie er melancholisch sagt, 
wegschließen und zu ewigem Still¬ 
schweigen verdammen. 

Als sein Don Quijote / erschien, stand 
Cervantes im 58. Jahr. Er hatte bisher 
weder Schatze gesammelt noch litera¬ 
rischen Ruhm erworben. Was bis jetzt 
von ihm gedruckt worden war, in 35 
Jahren vielfach gehemmter literarischer 
Tätigkeit beläuft sich auf zwei Dutzend 
Sonette und Lieder und den ersten Teil 
eines Schäferromans. Seit fünf Jahren 
hatte er überhaupt ganz geschwiegen. 
Wäre er Mitte der Fünfzig gestorben, 
wer spräche heute von ihm? Was wü߬ 
ten wir von ihm, wenn er im Alter 
Shakespeares, 52 jährig, dahingegangen 
wäre? Weder sein Don Quijote noch 
seine Novellen wären vorhanden. Es ist 
eine eigentümlich späte Produktion, die 
ihm Ruhm gebracht hat: die Frucht des 
sechsten und siebenten Jahrzehnts sei¬ 
nes armen Lebens. 

Seines armen Lebens! Grell wird 
diese armselige Existenz durch ein ba¬ 
nales Vorkommnis beleuchtet. 

In einer Sommernacht des Jahres 1605 
wurden die Insassen des Hauses, in wel¬ 
chem Cervantes zu Valladolid wohnte, 
durch Hilferufe aufgeschreckt. Sie fan¬ 
den vor der Haustür in seinem Blute lie- 

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INDIANA UNtVERSITY 






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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


278 


gend einen Mann, der im Zweikampf 
schwer verwundet worden war. Es war 
«in liederlicher Gesell, den, wie es 
scheint, der rächende Degen eines Ehe¬ 
mannes durchbohrt hatte. Nach zwei 
Tagen starb er, ohne seinen Gegner zu 
nennen. Es folgte eine gerichtliche Un¬ 
tersuchung des Falles. Die Akten zei¬ 
gen uns, daß die Wohnung des Cervan¬ 
tes in einer ärmlichen Vorstadt an der 
Calle del rastro lag, wo ihn und die Sei¬ 
nen ein übervölkertes Miethaus beher¬ 
bergte. Er war mit seiner Frau vereinigt, 
und auch die beiden Schwestern lebten 
bei ihm, die ältere, Andrea, mit einer 
Tochter und Magdalena mit Isabel: fünf 
Frauen um den alternden Mann in 
drangvoller Enge. 

Es lag die gerichtliche Untersuchung 
des Falles in den Händen eines Alkal- 
den, der auf den Hintertreppenklatsch 
des Miethauses hörte und seinen Ver¬ 
dacht auf die Familie Cervantes lenkte. 
Der Alkalde machte kurzen Prozeß mit 
diesem Armeleutehaus und verhaftete 
neun der Insassen: den Miguel de Cer¬ 
vantes mit seiner Tochter Isabel sowie 
Schwester Andrea samt deren Tochter 
und vier weitere Frauen. 

Nach dreitägiger Untersuchungshaft 
mußten sie alle wieder entlassen wer¬ 
den, freilich nicht ohne daß auf die Le¬ 
bensführung der jungen Isabel ein 
Schatten fällt 

Nun verlieren wir Cervantes und seine 
Familie wieder für drei Jahre aus den 
Augen, bis zum Sommer 1608. 

Man vergegenwärtige sich hier den 
Stand der urkundlichen Überlieferung 
noch einmal: Im Mai 1600 zeigt uns ein 
Zeugnis den Cervantes in Sevilla. Dann 
wissen wir bis Herbst 1604 nichts Au¬ 
thentisches mehr von ihm. Vom Sep¬ 
tember 1604 bis Sommer 1605 läßt die 
Publikation des Don Quijote 1 ihn von 
neuem aus dem Dunkel auftauchen: er 


ist in Valladolid, und der blutige Rauf¬ 
handel eines Abenteurers zeigt uns seine 
armselige Häuslichkeit Dann ver¬ 
schwinden er und die Seinen wieder für 
drei Jahre in der Nacht der Zeit. So 
ziehen acht dunkle Jahre seines Lebens 
an uns vorüber, aus deren Mitte plötz¬ 
lich Don Quijote auftaucht, das Zeug¬ 
nis seiner Genialität und die demüti¬ 
gende Verhaftung, das Zeugnis seiner 
Misere. Vor- und nachher schweigt die 
Geschichte jahrelang über ihn. 

Im „Gläsernen Assessor“ verabschie¬ 
det sich der unglückliche Held von Val¬ 
ladolid mit den Worten: „O Hauptstadt! 
Du sättigst mit Überfluß die schamlo¬ 
sen Gaukler und lässest die anständigen 
Menschen Hungers sterben.“ Das mochte 
die Empfindung des Cervantes sein, als 
er, wir wissen nicht wann, Valladolid 
den Rücken kehrte. 

1608 taucht er zu Madrid auf, wohin 
der Hof zurückgekehrt war und wo der 
Dichter nun die letzten acht Jahre sei¬ 
nes Lebens in verschiedenen Quartieren 
verbringt. 

Nochmals ziehen ihn die Finanzbe¬ 
hörden zur Rechenschaft (Nov. 1608) we¬ 
gen der alten Schuld von 1594. Jetzt 
endlich scheint die vierzehnjährige 
Schwierigkeit ihre Lösung zu finden, 
vielleicht durch Freundeshilfe. 

Tochter Isabel ist Witwe geworden 
und plant eine zweite Heirat Die finan¬ 
ziellen Machenschaften, die dieser zwei¬ 
ten Eheschließung vorangehen, machen 
einen sehr unerfreulichen Eindruck. Sie 
sehen Schiebungen verzweifelt ähnlich. 
Isabel erscheint als der böse Geist ihres 
schwachen Vaters. Während sie und ihr 
ebenso undelikater Mann, LuisdeMo- 
lina, zu Geld kommen, kommt der 
arme Vater in die peinlichste Lage. End¬ 
lose Rechtshändel sind die Folge. Die 
Tochter entfremdet sich dem Vater und 
den Verwandten. 


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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


1609 tritt Cervantes einer neugegrün¬ 
deten frommen Bruderschaft bei, die 
sich die Confratemitas „der unwürdigen 
Sklaven des heiligsten Sakramentes" 
nannte und der Bekämpfung der prote¬ 
stantischen Ketzerei diente. Am 17. April 
unterzeichnet er seine Beitrittserklärung 
als esclavo del santlsimo sacramento 
Miguel de Cervantes. Er war einer der 
emsigsten unter den 400 Brüdern — so 
wenig haben wir Grund, in dem Verfas- 
des Don Quijote eine Art Freidenker zu 
suchen. Er ist ein frommer Sohn seiner 
rechtgläubigen Heimat. 

Auch seine Frau und seine Schwestern 
schlossen sich enger dem kirchlichen Le¬ 
ben an und traten als Tertianer dem 
Franziskanerorden bei, worin er selbst 
ihnen später (1613) folgte. Kurz darauf 
starben die beiden Schwestern. Die Be¬ 
stattung der Andrea (1609) bezahlte der 
Bruder Miguel mit zwei Dukaten. Die 
Bestattung der Magdalena (1611) bestritt 
der Orden, dessen Register unter Mag¬ 
dalena, hermana de Cervantes, den la¬ 
konischen Vermerk trägt: era pobre, 
sie war eben arm. 

So wurde es stiller um den nun Sech¬ 
zigjährigen. 

Jetzt bemüht er sich (1611) erfolglos 
um ein Amt beim Grafen Le mos, dem 
Vizekönig von Neapel. Er erschien wohl 
zu alt — zu alt für ein Amt, aber nicht 
zu alt, um in all dem Elend literari¬ 
sche Meisterwerke vorzubereiten. „Man 
schreibt ja nicht mit den grauen Haa¬ 
ren, sondern mit dem Geiste, der mit 
den Jahren zu reifen pflegt“, sagt er 
1615. Doch fällt es auf, wie wenig die¬ 
ser Mann, der seit zwei Jahrzehnten für 
seinen Unterhalt wesentlich auf den Er¬ 
trag seiner Feder angewiesen war, in 
der Öffentlichkeit von sich hören läßt 
und zum Druck befördert. Die Not des 
Daseinskampfes hat eben doch lähmend 
auf seine Produktion gewirkt 


Mit dem Jahre 1612 läßt sich ein Um¬ 
schwung erkennen, und die letzten vier 
Jahre bringen eine reiche Ernte. Cervan¬ 
tes nimmt teil am literarischen Leben 
der Hauptstadt Aus einem Briefe Lope’s 
de Vega lernen wir, daß Cervantes im 
Frühjahr 1612 der Sitzung einer der mo¬ 
dischen Akademien beiwohnte. Lope las 
dort einige Verse vor und lieh sich dazu 
Cervantes’ Brille, über deren schlechte 
Beschaffenheit er sich spöttisch äußerte. 
Ihre Gläser glichen schlecht gemachten 
Spiegeleiern, meinte er. 

Im Sommer des nämlichen Jahres legt 
Cervantes dem Zensor seine zwölf No- 
velas ejemplares vor, und im September 
verkaufte er die Sammlung um etwa. 
130 Dukaten an seinen Madrider Ver¬ 
leger. Er widmete ihren Druck (1613) 
dem Vizekönig von Neapel, den er sei¬ 
nen wahren Gebieter und Gönner nennt,, 
und der ihm nun wirklich zu Hilfe 
kommt, denn Cervantes wird ihm auch, 
seine letzten drei Werke zueignen. Die¬ 
ser Graf Lemos und dessen Vetter, der 
Kardinal-Erzbischof von Toledo, sind 
die Stützen seiner letzten Jahre gewor¬ 
den. Cervantes hat, was sie ihm erwie¬ 
sen, in Worten tiefster Dankbarkeit ge¬ 
priesen. Zweifellos verdankt er die¬ 
sem späten werktätigen Gönnertum die 
Schaffensfreudigkeit, die wir plötzlich 
in den letzten Jahren bei ihm beobachten 
und die so zuversichtlich und erquickend 
aus den Vorreden seiner vier letzten Bü¬ 
cher spricht. Das sei jenen beiden Gran¬ 
den nicht vergessen. Ihnen ist es zu ver¬ 
danken, daß Spanien seinen großen Sohn 
nicht elend hat zugrunde gehen lassen. 

Die Novelas ejemplares enthalten eine 
autobiographische Vorrede, aus deren 
stolz-bescheidenen Worten das Gefühl 
eigenen Wertes, etwas wie ein Glücks¬ 
gefühl, spricht In kurzem, so erklärt er 
auch, werde der Leser die Fortsetzung 
des Don Quijote nebst anderem erhal- 


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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


ten. Er traut sich noch viel zu, obschon 
er nun schon 64 Jahre zahle, seine 
Schultern sich runden und sein Schritt 
nicht mehr leicht sei. 

An der Feier der Seligsprechung der 
Teresa de Jesus (Sept 1614) betei¬ 
ligt er sich mit einem Lied, und gegen 
Ende des Jahres erscheint seine in Ter¬ 
zinen gereimte literarische Heerschau 
nach italienischem Muster, die er Viage 
del Parnaso nennt, im Drude. Diese 
„Pamaßreise" enthalt mancherlei Auto¬ 
biographisches. Er spricht in wehmü¬ 
tigen Scherzen von der Ungunst des 
Schicksals, das ihn verfolgt. Im Kreise 
der Poeten, die Apoll auf dem Parnaß 
versammelt, wird Cervantes denn auch 
kein Platz angewiesen. Er muß stehen 
bleiben. Diese Unbilligkeit veranlaßt ihn, 
dem Gott zu sagen, was er alles schon 
in seinem Dienste geleistet, wie er von 
Jugend auf gedichtet und dabei seine 
Feder nie zur Satire erniedrigt habe. So¬ 
nette, Romanzen habe er verfaßt und in 
mannigfachen Liedern seine Hoffnun¬ 
gen in den Wind gesät Den Don Qui¬ 
jote habe er zur Vertreibung der Melan¬ 
cholie geschrieben, omnium horarum 
Uber; in den Novelas habe er der kastili- 
sehen Sprache neue Wege gewiesen, als 
ein überlegener Erfinder, und einen wei¬ 
teren Roman sei er zu drucken im Be¬ 
griff... Ja, sagt da Apoll, es geht nicht 
allen gleich gut und du hast das Glück 
nicht festzuhalten verstanden — „leg’ du 
deinen Mantel zusammen und setz’ dich 
drauf r „Ich habe ja keinen Mantel“, 
wendet Cervantes ein. „Nun,“ erwidert 
der Gott, „auch so freue ich mich, dich 
zu sehen. Die Tugend ist der Mantel, 
mit dem die Armut ihre Blöße deckt“ 
Ich neigte mich, erzählt der Dichter, 
dem wahren Spruch und blieb stehen — 
denn es gibt keinen guten Platz ohne 
Gunst oder Reichtum. Und während er 
so stand, zog in strahlendem Gewände 


282 


eine Lichtgestalt herauf. Er fragte einen 
Begleiter nach der herrlichen Erschei¬ 
nung. „Kennst du denn die Göttin der 
Poesie nicht?“ gibt dieser zurück. Und 
Cervantes: „Ich habe sie immer nur in 
armseligem Gewände gesehen.“ 

Jetzt trifft ihn ein schwerer Schlag. 

Er war in der Niederschrift der ver¬ 
sprochenen Fortsetzung des Don Qui¬ 
jote bis zum 59. Kapitel gelangt, als er 
Kunde davon erhielt, daß ein Unbekann¬ 
ter ihm zuvorgekommen war und an sei¬ 
nem Eigentum sich vergriffen hatte. Der 
nannte sich Alonso Fernändez de 
Avellaneda aus Tordesillas und 
hatte im November 1614 zu Tarra- 
gona einen zweiten Teil (segundo 
tomo) des Don Quijote drucken lassen. 

Das war ein literarischer Gauner¬ 
streich, und das Übelste daran ist die 
Vorrede, in welcher dieser Avellaneda, 
der sich als der Beleidigte aufspielt, mit 
den autobiographischen Worten des ihm 
persönlich unbekannten Cervantes sei¬ 
nen Spott treibt, ihn wegen seiner ver¬ 
stümmelten Linken und wegen seines 
Alters verhöhnt, ihn einen alten Gecken 
nennt, dessen zänkische, neidische Art 
ihn einsam und freudlos gemacht habe. 
Er gibt weiter der Freude Ausdruck, ihm 
den Gewinn der Fortsetzung seiner Ge¬ 
schichte hiemit abzuknöpfen. Sie ist wohl 
ein hundsgemeines Stüde, diese Vorrede. 
Sie hat Cervantes schwer getroffen, wie 
man an der aus Emst und Scherz ge¬ 
mischten Abwehr erkennt, die er seiner 
eigenen Fortsetzung des Don Quijote 
1615 voranstellt 

Über den Inhalt des Avellanedaschen 
Buches hat er sich in den letzten Kapi¬ 
teln des Don Quijote bei einem halben 
Dutzend Gelegenheiten humorvoll ge¬ 
äußert und dabei auch seinen beiden 
Helden, dem Ritter und dem Knappen, 
amüsante Urteile über jene erlogenen 
Geschichten in den Mund gelegt 


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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


284 


Wer war dieser Avellaneda? Das 
Dunkel dieses Namens ist bis jetzt nicht 
aufgehellt. Cervantes selbst hat ihn für 
ein Pseudonym gehalten. Geschäftlichen 
Erfolg hat das mittelmäßige Buch nicht 
gehabt 

Kurz bevor indessen Cervantes die¬ 
sen zweiten Teil seines Don Quijote 
herausbrachte (gegen Ende 1615) er¬ 
schien seine Sammlung von sechzehn 
neuen Theaterstücken: acht Schauspie¬ 
len und acht Schwänken (Ocho come- 
dias y ocho entremesses nuevos). Er 
nennt, sie neu, weil das Publikum sie 
noch nicht kennt denn sie sind nicht 
aufgeführt worden, wie auf dem Titel 
der Zusatz: nunca representados besagt. 
Es ist ein melancholischer Zusatz, denn 
Theaterstücke werden geschrieben, um 
auf geführt zu werden, besonders wenn 
man von der Feder leben soll. Wieviel 
Hoffnungen eines kämpfenden Dichters 
liegen unter dieser Inschrift begraben: 
nunca representados! Die Stücke pa߬ 
ten eben nicht mehr in eine Zeit in wel¬ 
cher Lope de Vega die Bühne be¬ 
herrschte. Cervantes gibt seiner Aner¬ 
kennung für Lope’s Kunst in der Vorrede 
Ausdruck. Doch, meint er, sollte man 
im Reiche des Lope die Arbeiten anderer 
Dramatiker — er nennt etwa zehn Na¬ 
men — nicht vergessen. Cervantes ur¬ 
teilt über Lope gerecht aber kühl. Er 
hatte keinen Grund, Lope zu lieben. 
Wenn er dann, von der unerhörten 
Fülle der Lopeschen Schöpfungen re¬ 
dend, deren Reihe mehr als 10000 Bogen 
umfasse, hinzufügt: und all diese seine 
Stücke hat Lope auch wirklich auffüh¬ 
ren sehen: todas las ha visto represen- 
tar, so klingt sein resigniertes nunca re¬ 
presentados doppelt traurig. 

Als am 27. Februar 1615 der Zensor 
Torr es sein anerkennendes Urteil über 
das Manuskript des Don Quijote 11 nie¬ 
derschrieb, konnte er sich nicht enthal¬ 


ten, ein Vorkommnis der letzten Tage zu 
erwähnen, obschon dies in einer amt¬ 
lichen Beurteilung ungewöhnlich war. 
Nämlich: Französische Edelleute, die er, 
Torres, neulich bei einem Besuche auf 
der Botschaft getroffen, hätten sich mit 
höchsten Lobpreisungen nach Cervan¬ 
tes erkundigt, dessen Werke sie genau 
kannten. Er habe ihnen mitteilen 
müssen, dieser Cervantes, den aufzu¬ 
suchen sie so große Lust hatten, sei alt, 
von Stande Soldat, aus adeligem Hause 
und arm. Worauf einer der Franzosen 
ihm erwiderte: Also einen solchen Mann 
hat Spanien nicht mit großem Reichtum 
und mit Unterhalt aus dem Staatsschatz 
bedacht? Ein anderer aber habe lebhaft 
bemerkt: Wenn die Armut ihn zum 
Schreiben nötigt, so wolle Gott, daß er 
niemals Überfluß habe, damit er mit 
seinen Werken, während er selber arm 
ist, die ganze Welt bereichert. 

So war nun sein Ruhm auch ins Aus¬ 
land gedrungen. 1614 war sein Don Qui¬ 
jote / ins Französische übersetzt worden. 

Während diese Werke 1615 zur Aus¬ 
gabe gelangten, vollendete Cervantes 
einen Abenteuerroman in vier Büchern, 
den er schon wiederholt angekündigt 
hatte, und der, wie er sagte, mit Heli- 
dor wetteifern sollte: Die Drangsale des 
Persiles, des Königssohnes aus der 
ultima Thule. Die beiden ersten Bücher 
bringen das übliche Wirrsal romanti¬ 
scher Geschehnisse zu Wasser und zu 
Lande. Die beiden letzten Bücher führen 
den Helden als Pilger durch Spanien 
nach Rom. Manches Abenteuer dieser 
Pilgerfahrt könnte im Don Quijote 
stehen. Die Figur des Maultiertreibers 
Bartolome aus der Mancha ist vom 
Stamme Sancho. Hier hat Cervantes 
offenbar Schnitzel seines größeren Wer¬ 
kes verwendet 

Er hatte noch mancherlei vor. Er 
wollte seine Galatea von 1585 vollenden. 


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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes 


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trug sich mit einem Werke El famoso 
Bernardo und mit einem anderen, dessen 
Titel lauten sollte: „Die Gartenwochen“. 
Nichts davon ist auf uns gekommen. 
Es ist Oberhaupt keine literarische Zeile 
von seiner Hand erhalten geblieben, son¬ 
dern nur Aktenstücke und ein Privat¬ 
brief. 

Er war, als er den Persiles abge¬ 
schlossen hatte, schon schwer krank. 
Der quälende Durst, über den er 
klagt, laßt ihn als Diabetiker erschei¬ 
nen. In der Vorrede des Romans kleidet 
er das Bekenntnis dieser Krankheit in 
die humorvolle Erzählung eines Erleb¬ 
nisses, das ihm auf einem Ritt von Es- 
quivias nach Toledo mit einem Studen¬ 
ten begegnet sei Scherzend erhebt er 
sich, wie Moliöre, über sein Verhängnis 
und schließt: „Lebt wohl, Scherze, 
lustige Einfalle, fröhliche Freunde; ich 
bin am Sterben und wünsche, euch bald 
und froh im andern Leben wiederzu¬ 
sehen.“ 

Zu Anfang April 1616 kann er das 
Haus nicht mehr verlassen, und am 18. 
empfing er die letzte Ölung von dem 
nümlidien Franziskaner, der seine bei¬ 
den Schwestern absolviert hatte. In 
einer Stunde der Erleichterung, folgen¬ 
den Tages, bringt er seine letzten Zei¬ 
len zu Papier: es ist die Widmung des 
Persiles an den Grafen Lemos. Es fällt 
ihm ein alter Vers ein, der leider nur zu 
gut zu seiner Lage passe: 

„Schon im Bügel mit dem Fuße, 

Schon des Todes Schauder fühlend 
Schreib’ ich, Herr, Dir dies zum Gruße ... 

Gestern gab man mir die letzte Ölung, 
und heute schreibe ich dies. Die Zeit 
ist kurz, die Schauder nehmen zu, und 
die Hoffnung nimmt ab...“ Und wenn 
er hinzufügt: Sollte ein Wunder ge¬ 
schehen und ich am Leben bleiben, dann 
würde der Graf die versprochenen „Gar¬ 
tenwochen“, den Bernardo und das Ende 


der Galatea zu Gesicht bekommen, so 
klingt dieser nachdrückliche, wenn auch 
hoffnungslose Hinweis auf Unvollende¬ 
tes wie eine Bitte, der opera interrupta 
sich anzunehmen. 

Sie sind spurlos verschwunden. 

Cervantes starb vier Tage später, am 
Abend des 23. April, in seiner Wohnung 
an der Calle delLeön zu Madrid. Er 
ruht, im Franziskanerrock bestattet, 
irgendwo unter den Steinen des Kloster¬ 
friedhofs der Trinitarierinnen der Calle 
de Lope de Vega. Das Sterbehaus steht 
nicht mehr. An seiner Stelle, an der Ecke 
der Calle del Leön und der Calle de Cer¬ 
vantes, ist längst ein Neubau errichtet. 

Der Persiles erschien zu Anfang 1617 
und brachte einen posthumen Erfolg. 

Die Gattin, die bei Miguels Tode 
50 Jahre alt war, überlebte ihn noch um 
10 Jahre. Das Wenige, was wir von ihr 
wissen, spricht für sie. In schwierigen 
Lagen hat sie sich taktvoll und klug be¬ 
nommen. In dem Testament, das sie 
1610 aufsetzte, hatte sie ihm nicht viel 
zu vennachen. Das aber sollte ihm zu 
freier Verfügung bleiben wegen der 
großen Liebe und der guten Kamerad¬ 
schaft, die sie beide verbunden habei 
por el mucho amor y buena oompania 
que ambos hemos tenldo. Die Worte 
sind ein schönes Motto zu einem Leben 
zu zweit, und man möchte in ihnen gerne 
mehr sehen als eine bloß notarielle 
Formel — 

So lebte und starb der Dichter des 
Don Quijote. Er lebte, als ein Idealist, 
Sinn und Geist seines Buches — ein 
tapferer Streiter, den die Not des Lebens 
nicht zu bezwingen vermocht hat. 

Es gibt wenige Künstlerleben, von 
deren Betrachtung man mit dem Gefühle 
solcher Dankesschuld scheidet, wie das 
Leben des Cervantes. Dabei gilt unser 
Dank einem Manne, der selbst dank¬ 
baren Herzens war und von der Dankbar- 


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Hanns Heiss, Der viamische Anteil an der französischen Literatur 


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keit so sdhön wie kein zweiter ge¬ 
sprochen hat „Unter den schwersten 
Sünden, die die Menschen begehen," 
läßt er Don Quijote in einem Trink¬ 
spruch sagen, „bezeichnen etliche den 
Hochmut als die ärgste. Ich aber sage, 
es ist die Undankbarkeit, und ich halte 
mich dabei an den üblichen Spruch, daß 
der Undankbaren die Hölle voll ist. 
Diese Sünde habe ich, soviel an mir lag, 
immer zu vermeiden gestrebt von dem 
Augenblick an, wo mir der Gebrauch der 
Vernunft geworden, und wenn ich die 
guten Werke, so man mir erweist, nicht 
auch mit guten Werken vergelten kann, 
so setze ich an deren Stelle den innigen 
Wunsch, sie zu vollbringen. Und wenn 
der nicht genügt so mache ich sie öffent¬ 
lich bekannt Denn wer die Wohltaten, 
die er empfängt öffentlich erzählt und 
verkündet der würde sie auch mit sei¬ 
nen Wohltaten vergelten, wenn er es 
vermöchte. Denn großenteils stehen die, 
welche empfangen, weit unter denen, 
welche geben; und so ist Gott über allen, 
weil er allen der Geber ist und die Ga¬ 


ben der Menschen können denen Got¬ 
tes nimmer gleichkommen, da ein un¬ 
endlicher Abstand dazwischen ist Aber 
dieses Unvermögen, diese Armut wird 
gewissermaßen durch die Dankbarkeit 
ersetzt“ 4 ) 

So soll auch die Nachwelt ihr Unver¬ 
mögen, dem großen Dichter mit guten 
Werken zu vergelten, durch die Dank¬ 
barkeit ersetzen. 

Bu&gue por acä: Such’ dir etwas in 
der Heimat! hatte ihm die Bureaukratie 
geantwortet als er 1590 um ein über¬ 
seeisches Amt bat So suchte er denn 
in der Heimat und die schlechte Brille, 
über die andere spotteten, hinderte sein 
Auge nicht hier einen Schatz zu finden, 
der ihn reicher machte und für die 
Menschheit-mehr bedeutete als all die 
Schätze, die er drüben hätte sammeln 
können. 


4) Don Quijote übersetzt eingeleitet und 
mit Erläuterungen versehen von Ludwig 
Braunfels, Straßburg, K. J. Trübner 1605, 
IV p. 219. 


Der vlämische Anteil an der französischen Literatur. 

Von Hanns Heiss. 


I. 

Vlamen, vlämisch — wenn man das 
Wort ausspricht, steigen zunächst Gale¬ 
rie-Erinnerungen auf, Erinnerungen an 
Maler, die man überall in Europa ge¬ 
sehen hat, da sie kaum in einer noch so 
kleinen und kümmerlichen Sammlung 
fehlen. Man denkt an Jordaens, der ein 
Antwerpener war, an den Antwerpener 
Van Dyck und den anderen, zufällig in 
Deutschland geborenen Antwerpener 
Rubens, an Snyders, Jan Fyt Comelis 
de Vos, Brouwer, an die de Heem, an 
die Teniers, an die Familie der Brueghel, 
an die Brüder Hubert und Jan van Eyck, 


die aus dem Limburgischen stammen, 
aus der Gegend, wo deutsches, wallo¬ 
nisches und vlämisches Gebiet aufein- 
anderstoßen. Man erinnert sich an Dar¬ 
stellungen biblischer Vorwürfe, an Kreu¬ 
zigungen, Anbetungen, Marterszenen, an 
Engel, Heilige und Madonnen, auf deren 
feinen, süßen oder leidenden Gesichtern 
der Abglanz erdentrückter Verklärung 
liegt, die noch erfüllt sind von der inni¬ 
gen Frömmigkeit des Mittelalters, von 
seiner liebevollen Versenkung in die 
unbegreiflichen Geheimnisse der Reli¬ 
gion. Man erinnert sich an Darstellun¬ 
gen aus dem bäuerischen und bürger- 


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Hanns Heiss, Der vlämiscbe Anteil an der französischen Literatur 


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liehen Leben Flanderns, an Schmause' 
reien und Zechgelage, an Frauenhäuser, 
wo runde, fette Dirnen sich räkeln, an 
verräucherte Schenken, wo Männer bei 
Karten und Würfeln hocken, an Kirch- 
weihszenen, wo ein ganzes Dorf sich 
in Rausch austobt, Männer, Weiber, 
Kinder, alles runde, fette Menschen, die 
Männer den Wanst angeschwemmt, die 
Weiber mit dicken Waden, breiten Hüf¬ 
ten und hochwogenden Brüsten, alle 
betrunken, das Gesicht von Lachen ver¬ 
zerrt und alle in ihrer Lustigkeit ani¬ 
malisch und viehisch, genau so unbe¬ 
fangen und schamlos wie ihre Hunde. 
Man erinnert sich an Stilleben, wo zwi¬ 
schen kupfernen Kesseln, Bechern aus 
getriebenem Gold, Gläsern und Blumen- 
krügen verlockend Speisen aufgehäuft 
sind: rosige Fleischviertel, Hasen und 
Wildschweine im Fell, Geflügel, Fi¬ 
sche, Hummern, Äpfel, Pfirsiche, Me¬ 
lonen, Trauben, Käse in solcher Menge, 
daß die Tische sich zu biegen scheinen, 
und daß man sich fragt für was für ein 
Volk von gefräßigen Riesen, für was 
für pantagruelische Gastmähler diese 
Berge von Nahrung zusammengetragen 
sind. Und dann erinnert man sich an 
die großen Tafeln eines Jordaens und 
eines Rubens, an dies Gewühl von 
nackten, halbbekleideten, bekleideten 
Leibern, die alle vollsaftige, wohlgefüt¬ 
terte, fleischstrotzende Vlamen undVla- 
minnen sind, gleichviel ob sie sich im 
Olymp oder im Alten und Neuen Te¬ 
stament bewegen, gleichviel ob sie 
Faun, Faunin, antiker Genius, Held, 
Gott und Göttin heißen oder Susanna 
im Bad und Bathseba, und die alle über¬ 
schäumen von unbändigem Lebens¬ 
drang, sauberer, schöner und pathetischer 
als die Kirmesbauern eines Teniers oder 
Brouwer, aber nicht minder lebensdurstig 
und animalisch, voll naiver Freude nach je¬ 
dem Genuß langend, den die Sinne bieten. 

Internationale Monatsschrift 

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Neben der italienischen und der nie¬ 
derländischen Malerei, mit der sie eng 
verwandt ist, bedeutet die vlämische 
Malerei eine der ganz großen Leistun¬ 
gen europäischer Kunst Und was sie 
besonders auszeichnet ist die mystische 
Vertiefung in religiöse Jenseitsstim¬ 
mungen, die aus den Werken der Pri¬ 
mitiven leuchtet, daneben aber, und 
weit mehr noch die entschieden dies¬ 
seitige Lebensbejahung, wie sie am 
wuchtigsten, am jubelndsten Rubens 
verkörpert Weitabgewandter Mystizis¬ 
mus, ekstatische Inbrunst und ein unbe¬ 
kümmertes, vorbehaltloses, heidnisches 
Schwelgen in irdischer Wollust: das 
scheinen die zwei Pole und die beiden 
wichtigsten Merkmale der vlämischen 
Rasse zu sein, die so unüberbrückbare 
Gegensätze hervorgebracht hat wie den 
doctor extaücus Ruysbroek im 14. 
Jahrhundert und die Maler des 17. Jahr¬ 
hunderts — der vlämischen Rasse, de¬ 
ren Leben sich manchmal ausnimmt, 
als wäre es nichts als ein ausgelasse¬ 
nes, tierisches Schlemmen ohne ande¬ 
res Ziel als die Befriedigung der derb¬ 
sten und rohesten Instinkte, und die 
sich doch mit einer im tiefsten See¬ 
lischen wurzelnden Kraft erhoben und 
unter unsagbaren Qualen gegen die spa¬ 
nische Knechtung gekämpft hat, nicht 
bloß um die Freiheit, sich am Leben zu 
freuen, gegen den Zwang mönchischer 
Askese zu verteidigen, sondern für Frei¬ 
heit im edelsten Sinn, für nationale Un¬ 
abhängigkeit, Freiheit des Glaubens und 
eines religiösen Ideals. 

n. 

Vlamen, so nannte man ursprüng¬ 
lich nur die Bewohner der ehemaligen 
Grafschaft Flandern. 1 ) Mit der Aus- 

1) Ober die Vlamen, vläm. Frage usw. 
gibt es besonders seit Ausbruch des Kriegs 
eine reiche Literatur. Alles Wissenswerte 

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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


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dehnung ihrer Marken dehnte sich auch 
der Name aus, und jetzt nennt man 
seit langem Vlamen alle Niederdeutsch 
redenden Bewohner von Belgien, auch 
die von Brabant und Limburg. Das Kö¬ 
nigreich Belgien zerfallt ja der Volks¬ 
sprache nach wie nach der Stammes¬ 
zugehörigkeit der Belgier in zwei große 
Teile, deren Grenze seit Jahrhunderten 
ziemlich unverändert geblieben ist. Im 
südlichen Teil, der die Provinzen Lüt¬ 
tich, Luxemburg, Namur, Hennegau 
und den südlichen Zipfel von Brabant 
umfaßt wohnen Romanen, die fran¬ 
zösische Dialekte, vor allem das Wal¬ 
lonische sprechen. Im nördlichen Teil, 
in den Provinzen Ost- und Westflan¬ 
dern, Antwerpen, Limburg fast ganz 
und Brabant wohnen die Vlamen, in 
denen sich fränkisches mit sächsischem 
und friesischem Blut dann auch mit 
spanischem Blut und einem starken 
Einschlag gallo-romanischen Bluts ver¬ 
mischt hat, der ihre letzte Eigenart be¬ 
dingt Volkssprache der Vlamen sind 
niederfränkische Mundarten, denen auch 
eine vlämische Schriftsprache zur Seite 
steht, die im wesentlichen die Schrift¬ 
sprache des Königreichs der Nieder¬ 
lande ist Nur machen sie, und zwar 
seit langem, weder von ihren Mund¬ 
arten noch von ihrer Schriftsprache eif¬ 
rigen Gebrauch. Vom frühen Mittel- 
alter an erliegen sie der Anziehung 
französischer Kultur; französische Ein¬ 
flüsse sind seit dem frühen Mittelalter 
übermächtig in ihrem staatlichen, gei¬ 
stigen und religiösen Leben und mit 
diesen französischen Einflüssen ver¬ 
drängt auch die französische Sprache 


findet man bei Franz Jostes, Die Vlamen 
im Kampf um ihre Sprache und ihr Volks¬ 
tum (siehe Internat Monatsschrift, Aug. 
1916, Sp. 1406ff.) und bei Paul Oßwald, Bel¬ 
gien (Teubner 1915, Aus Natur und Geistes¬ 
welt Bd. 501). 


mehr und mehr die heimischen Mund¬ 
arten, auf die verächtlich herabzusehen 
zum guten Ton gehört 

Es hat eine Zeit gegeben, wo der 
Name Vlaeminc gleichbedeutend war 
mit: feingebildeter Mann. Als aber wäh¬ 
rend und nach der Blütezeit Belgiens 
unter burgundischer Herrschaft der 
Adel und das Patriziertum französisch 
geworden waren, begann das Wort in 
Flandern selbst Bauer, Tölpel zu bedeu¬ 
ten. An der fortschreitenden Verwel- 
schung änderte die spanische Herrschaft 
sowenig als die österreichisch-habs- 
burgische, die sie im 18. Jahrhundert 
ablöste. Und als die Gebiete von der 
französischen Republik erobert und 
nachher dem Kaiserreich Napoleons ein¬ 
gefügt wurden, schien das Schicksal 
des Vlämischen überhaupt für immer 
besiegelt Die Revolution ging daran, 
das Vlämische gewaltsam auszurotten 
wie alles, was nicht französische Schrift¬ 
sprache war. Die napoleonische Regie¬ 
rung setzte die Unterdrückung fort. Sie 
war freilich von zu kurzer Dauer, um 
auf die Massen zu wirken; aber die 
oberen Schichten widerstanden ihr um 
so weniger, als sie im völligen Auf¬ 
gehen in Frankreich bei ihrer nationa¬ 
len Gleichgültigkeit und Wurzellosig¬ 
keit nur eine Erfüllung alter Sehnsucht, 
jedenfalls kein Unglück erblickten. 

Der Sturz Napoleons brachte einen 
scharfen Gegenstoß. Als Belgien an die 
Niederlande fiel, wurde das Franzö¬ 
sische unterdrückt, doch ohne daß das 
Vlämische daraus Vorteile gezogen 
hätte;. Denn die Holländer versuchten, 
Vlamen wie Wallonen in Holländer um¬ 
zuwandeln. Die fünfzehn Jahre, die die 
Herrschaft der Oranier währte, reichten 
hin, um sie als unerträgliche Fremd¬ 
herrschaft empfinden zu lassen. Die 
Erbitterung, die noch durch konfessio¬ 
nelle Feindseligkeiten geschürt wurde. 


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machte sich Luft in der Revolution von 
1830, aus der schließlich das König¬ 
reich Belgien in seiner modernen Ge¬ 
staltung entstand. Die Verfassung des 
neuen Königreichs räumte dem Vlämi- 
schen dieselben Rechte als staatlich an¬ 
erkannte Sprache wie dem Französi¬ 
schen ein. Aber die Gleichberechtigung 
blieb auf dem Papier stehen. Wie vor 
der holländischen Herrschaft war 
Kenntnis des Französischen notwendig, 
am ein staatliches Amt zu bekleiden, 
französisch war die Sprache der Ver¬ 
waltung und vor Gericht; das Franzö¬ 
sische beherrschte durchaus den Schul¬ 
unterricht, eroberte das kirchliche Le¬ 
ben und auf dem Umweg über die Kir¬ 
che wieder das Alltagsleben. 

III. 

Bald nach 1830 geschah es zwar, 
daß Vlamen sich zusammenschlossen, 
um für ihre Sprache und ihr Volkstum 
einzutreten. Gelehrte und Dichter rie¬ 
fen die vlämische Bewegung ins Leben, 
der Hendrik Conscience das Gewicht 
seines großen, auch außerbelgischen 
Rufes lieh, die in der zweiten Hälfte 
des vorigen Jahrhunderts langsam er¬ 
starkte und bis zum Ausbruch des 
Weltkriegs manchen kleinen Erfolg zu 
verzeichnen hatte. Aber wer ihre Ge¬ 
schichte näher betrachtet, hat den Ein¬ 
druck, daß hier unendlich viel müh¬ 
same, aufopfernde Arbeit geleistet wor¬ 
den ist zu der die Errungenschaften 
in keinem rechten Verhältnis stehen, 
eine Arbeit, die denen, die sie geleistet 
haben, nirgends, auch beim eigenen 
Volk nicht. Dank und Lohn eingebracht 
hat Die Schwierigkeiten, die es zu 
überwinden galt waren zu groß, wenn 
nicht unüberwindlich. Denn die Haupt- 
Schwierigkeit ist nicht etwa politischer 
Art liegt nicht in der Eifersucht der 
Wallonen, in den Gegensätzen zwischen 

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Liberalismus und Klerikalismus, in un¬ 
terirdischen Machenschaften Frank¬ 
reichs oder in den tausenderlei Neben¬ 
interessen, die mit der Frage verquickt 
sind — sondern sie liegt bei den Vla¬ 
men selbst in der Trägheit und dem 
offenen Widerwillen, auf die die vlä¬ 
mische Bewegung gerade in der vlä- 
mischen Bevölkerung trifft Das Volk 
freilich im engeren Sinn ist heute wie 
im Mittelalter der Sprache und dem 
Wesen nach vlämisch, unberührt von 
französischem Geist und französischer 
Kultur, aber eben zu unberührt von 
Geist und Kultur überhaupt, als daß es 
der vlämischen Bewegung Rückhalt bie¬ 
ten könnte. In allen anderen Kreisen 
aber, von den Halbgebildeten bis zu 
den geistig Hochstehenden hinauf, sind 
die flamtngants, wie man die selbst¬ 
bewußten, für Vlamentum kämpfenden 
Vlamen heißt, nur weiße Raben, die sich 
in der Unzahl ihrer französisch gesinn¬ 
ten Stammesbrüder, der franskiljons, 
verlieren. Die Vorurteile gegen alles, 
was aus der Heimat kommt, die Sympa¬ 
thien für alles, was aus Frankreich 
kommt, die Ehrerbietung vor der Über¬ 
legenheit Frankreichs sind zu stark, sind 
das Ergebnis einer so alten und durch¬ 
greifenden Entwicklung, daß Änderun¬ 
gen erst in einer fernen Zukunft mög¬ 
lich sein werden, wenn sie überhaupt 
möglich sein sollen. Es handelt sich ja 
um weit mehr als eine Sprachenfrage, 
nicht bloß darum, daß die gebildeten 
Vlamen lieber Französisch als Vlämisch 
sprechen, lesen und schreiben, sondern 
darum, daß sie französisch denken und 
fühlen, daß sie französisches Denken 
und Fühlen im Elterhaus lernen und es 
nie mehr verlernen, weder auf der 
Schule, noch auf der Hochschule, noch 
sonst im Leben. Ganz Belgien, das vlä¬ 
mische so gut wie das wallonische Bel¬ 
gien, ist geistig lind kulturell nur ein 

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Hanns Heiss, Der viamische Anteil an der französischen Literatur 


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Anhängsel von Frankreich, eine fran¬ 
zösische Provinz, und die geistigen und 
kulturellen Mittelpunkte Belgiens mit 
der Hauptstadt Brüssel an der Spitze 
sind nur Vorstädte der wahren belgi¬ 
schen Hauptstadt, und die ist Paris. 

Wir können es bedauern, aber wir 
dürfen die Tatsache nicht wegleugnen: 
gerade die tüchtigsten und wertvoll¬ 
sten Vlamen haben für das Vlamen- 
tum nichts getan oder ihm sogar ent¬ 
gegengewirkt, weil sie alles Heil vom 
Anschluß an das Franzosentum er¬ 
warteten. Das zeigt sich recht deut¬ 
lich in der Literatur. Denn als das 
vlämische Volk nach jahrhunderte¬ 
langer Dürre und Armut endlich Dich¬ 
ter und Werke hervorbrachte, eben¬ 
bürtig den Dichtem und Werken der 
anderen europäischen Nationen, darun¬ 
ter einen Dichter, der zu den Großen 
unserer Zeit und wohl aller Zeiten ge¬ 
rechnet werden muß, da wurden diese 
Werke in französischer Sprache ge¬ 
schrieben und gingen in die Weltlitera¬ 
tur ein als Bestandteil der französischen 
Literatur. 

IV. 

Die Literatur der Vlamen — das ist 
ein seltsames Problem. Taine spricht in 
seiner „Philosophie de l’art“, in den Ab¬ 
schnitten, wo er die Blüte der vlämi- 
schen und holländischen Malerei als 
Erzeugnis von Rasse, Boden, Klima und 
Zeitverhältnissen zu erklären versucht, 
den Vlamen wie den Niederländern 
überhaupt die literarische Begabung 
ab*), da sie nur eine Reihe kleiner 
Schriftsteller, aber kein einziges europä¬ 
isches Buch aufzuweisen haben. Taine 
ist seitdem gründlich widerlegt worden. 
Aber vor rund fünfzig Jahren, als er 
seine Behauptung niederschrieb, durfte 


2) Paris, Hachette, 11* 6d. 1904. Bd. I 
S. 253. 


er so schreiben. Was die Vlamen bis 
dahin in der Literatur geleistet hatten, 
war kaum der Rede wert, und das, was 
der Rede wert war, war so herzlich 
wenig, daß es sich im Nu aufzählen ließ. 
Dieses Volk, das von genialer Bega¬ 
bung für die bildenden Künste strotzte, 
das der Welt die unvergleichliche Fülle 
seiner Maler von den van Eycks bis zu 
Rubens und van Dyck schenkte, das 
vom Mittelalter an seine fleißigen, auf¬ 
blühenden, immer reicheren Handels¬ 
städte mit der vielbewunderten Archi¬ 
tektur seiner Bürgerhäuser, seiner Hal¬ 
lenbauten, seiner Rathäuser, Türme, 
dann auch seiner Kirchen und Klö¬ 
ster schmückte, dessen Kunsthandwerk 
in den Arbeiten seiner Gold- und Sil¬ 
berschmiede, seiner Elfenbeinschnitzer, 
seiner Teppichweber und Spitzenklöpp¬ 
lerinnen überall geschätzt und bestaunt 
wurde — dieses Volk war und blieb 
in seiner Literatur von einer Unfrucht¬ 
barkeit, die Rätsel zu raten aufgibt. 
Woran liegt die Schuld? Ist es die poli¬ 
tische Unselbständgikeit des Landes, 
das so oft seine Herren wechseln 
mußte und immer wieder nur fremde 
Herren eintauschte, das nacheinander 
burgundisch, spanisch, österreichisch, 
französisch und holländisch werden 
mußte, ehe es belgisch sein konnte? Ist 
es die unglückliche Lage, die Belgien 
von jeher zum Zankapfel zwischen Eng¬ 
land, Frankreich, Deutschland und da¬ 
mit zum Schlachtfeld und Leichen¬ 
acker Europas gemacht hat? All das 
Elend, die Vernichtung und Verwü¬ 
stung, die das Land mehr als einmal 
heimgesucht haben, am schrecklichsten 
im 16. Jahrhundert während der Kämpfe 
gegen Philipp II. und Alba, an deren 
Wunden es sich beinahe verblutet 
hätte? Oder ist es einfach eine Schwie¬ 
rigkeit, die für die bildenden Künste 
wegfällt, die aber auf die Entfaltung 


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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


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des Schrifttums lahmend wirken kann, 
die Schwierigkeit, eine Sprache zu 
wählen, sich für das Französische zu 
entscheiden oder das Viamische oder 
(nach der Entstehung der deutschen 
Schriftsprache) fflr das Hochdeutsche? 

Man mag sich den Kopf zerbrechen 
Ober den wahren Grund, vielleicht ha¬ 
ben alle zusammengearbeitet — jeden¬ 
falls erschöpft sich bis in die jüngste 
Vergangenheit herauf die künstlerische 
Leistung des Vlamenvolkes ganz in 
Malerei, Architektur und Kunstgewerbe. 
Nur durch das, was die Vlamen in 
Malerei, Architektur und Kunstgewerbe 
hervorbrachten, hatten sie teil an der 
künstlerischen Leistung Europas. Was 
sie literarisch hervorbrachten, nahm 
sich daneben kümmerlich aus, und der 
Name fast keines ihrer Dichter hatte 
nur annähernd den Klang, den die Na¬ 
men ihrer Maler, auch nur der klei¬ 
neren, haben, gleichviel ob es ein Dich¬ 
ter war, der seinem Stamm treu in 
einer deutschen Mundart oder Sprache 
schrieb, oder einer, der verwelscht eine 
französische Mundart oder das Schrift- 
französisch vorzog. 

Ein berühmter Dichter der deutschen 
Literatur des Mittelalters ist ein Vlame 
von Geburt, Heinrich von Veldecke, 
den ein dankbarer Nachfahr lobt, daß 
er das erste Reis in deutscher Zunge 
impfte. 3 ) Rund hundert Jahre nach sei¬ 
ner Aeneis und seinen viel nachgeahm- 
ten Minneliedem, im 13. Jahrhundert, 
schuf ein Vlame in Anlehnung an den 
französischen Roman de Renart ein 
Epos von Reinecke Fuchs, das als das 
beste Werk des mittelalterlichen Tier- 


3) Zur vläm. Literatur nichtfranz. Sprache 
vgL Jan te Winckel, Die niederländische 
Literatur in Pauls Grundriß der germani¬ 
schen Philologie (Straßburg, TrQbner) Bd. II, 
<md Stecher, Hist de la litt nöerlandaise 
® Belgique (1887). 


epos gilt und das im 14. Jahrhundert 
ein anderer Vlame erweiterte und fort¬ 
setzte. Vom 14. Jahrhundert ab ent¬ 
standen in den Rhetorikerkammem eine 
Art von literarischen Zünften, die sich 
die Pflege vlämischer Dichtung, vor 
allem die Abfassung und Aufführung 
geistlicher Schauspiele angelegen sein 
ließen. Aber die tote Zeit hatte schon 
begonnen. Jahrhunderte muß man über¬ 
springen, ehe man nach Heinrich von 
Veld ecke wieder einen berühmten vlä« 
mischen Dichter anführen kann: Hen- 
drick Consdence, den Romandichter, 
der im 19. Jahrhundert aus einer Gruppe 
von vlämischen Schriftstellern hervor¬ 
ragt. Er wurde bei uns immer gelesen; 
sein „Löwe von Flandern“ prangt heute 
in den Schaufenstern der Buchhändler. 
Die meisten unter uns werden sich aus 
der Kindheit an ihn erinnern, werden 
mit Vergnügen an ihn zurückdenken 
wie an andere Bücher, die man einmal 
gern gelesen hat und nach denen man 
doch nie mehr greifen würde. Denn 
Consdence hat alles mögliche, was ihn 
liebenswert macht und weswegen man 
ihn der Jugend empfehlen kann; aber 
um ein Dichter der Weltliteratur zu 
sein und neben die großen Europäer 
gestellt zu werden, dazu fehlen ihm zu 
wichtige Eigenschaften. 

Ganz ähnlich ist das Bild, das die 
vlämische Literatur französischer Spra¬ 
che bietet *) Nur daß sie auch im Mittel- 


4) Das Hauptwerk darüber ist die unvol¬ 
lendet gebliebene Histoire des lettres beiges 
d’expression frangaise von Francis Nautet, 
zwei Bände (Brüssel, Rozez, Bibi, beige des 
connaissances modernes, Nr. 7 und 25/26). 
Eine sehr flüchtige Obersicht, die sich auf 
Zusammenstellung der wichtigsten Namen 
und Tatsachen beschränkt, gibt Hubert 
Effer, Beiträge zur Geschichte der französi¬ 
schen Literatur in Belgien. Wiss. Beil. z. 
JB. der städt Oberrealsch. zu Düsseldorf. 
Ostern 1909. 


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Hanns Heiss, Der viamische Anteil an der französischen Literatur 


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alter keinen berühmten Dichter nennen 
kann, obwohl in Flandern, in Brabant 
und im Hennegau ein reges literarisches 
Leber aufblühte, das seinen Höhepunkt 
in Mecheln, am Hof der kunstsinnigen 
Margarete von Österreich, der Regen¬ 
tin der Niederlande, erreichte. Aber die 
Dichter sind Romanen, Pikarden, Wal¬ 
lonen, mit Ausnahme eines einzigen, 
des Viainen Georges Chastelain, der im 
15. Jahrhundert am Eingang der soge¬ 
nannten burgundischen Schule der Rhe¬ 
toriker steht Dann beginnt auch hier 
die Zeit der Erstarrung. Unter der fran¬ 
zösischen Herrschaft rührt sich wieder 
etwas literarisches Leben, d. h. von 1800 
ab gibt es eine Menge von Belgiern, 
die schriftstellerisch arbeiten. 5 ) Aber 
was sind das für unbedeutende Dich¬ 
terlinge, Epigonen, die in den ausge¬ 
fallenen Gleisen französischer Moden 
einhertrotten, und die sich von den 
Franzosen nur dadurch unterscheiden, 
daß der Geschmack, in dem sie schrei¬ 
ben, in Frankreich schon ein paar Jahr¬ 
zehnte früher in Mode war! 1830 sagt 
der Belgier Claes mit vollem Recht 6 ): 
„Wozu es verheimlichen ? Es gibt keine 
belgische Literatur, wir haben keine na¬ 
tionale Literatur. Der Patriotismus darf 
uns nicht hindern, offen zu sein. Wenn 
uns jemand etwas zeigen kann, was 
man eine belgische Literatur nennen 
könnte, so hatte er eine große Ent¬ 
deckung gemacht.“ Nur ein Mann aus 
jener Zeit ist einigermaßen bekannt und 
verdient nicht ganz vergessen zu wer¬ 
den: Andrö van Hasselt, dem die Bel¬ 
gier für die Erforschung ihrer Ver- 

5) Eine sehr eingehende Abhandlung 
darüber von Fritz Masoin, Histoire de la lit- 
törature frangaise en Belgique de 1815 ä 1830 
in M&noires couronn£s et autres möm. p. 
p. I’acad6mie royale des Sciences, des lettres 
et des beaux-arts de Belgique (Bd. 62, 
November 1002). 

6) Angeführt bei Masoin S. 9. 

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gangenheit Dank schulden, der aber 
als Lyriker nichts darstellt als einen 
unselbständigen, von den Musen ver¬ 
lassenen Nachbeter der französischen 
Romantik und Victor Hugos. 

V. 

Ein paar Jahre, ehe Claes seine mut¬ 
losen Worte aussprach, war in Deutsch' 
land, in München, ein Vlame geboren 
worden, der als erster die kommende 
Blüte belgischen Schrifttums ankündi- 
gen sollte: Charles de Coster. 7 ) 1858 
veröffentlichte de Coster einen Band 
„Legendes flamandes“, der zwar von 
dem Pariser Modeprofessor Emil De¬ 
schanel in einer Vorrede warm empfoh¬ 
len wurde, der aber trotzdem fast keine 
Beachtung fand, zum Teil wohl des¬ 
halb schon, weil das altertümelnde, 
Balzac abgelauschte Französisch des 
Buches vielen Lesern den Zugang ver¬ 
wehrte. 1867 gab de Coster seine „Le¬ 
gende d’Ulenspiegel et de Lamme Goed- 
zak“. Mit nicht besserem Erfolg. Ein¬ 
sam, unverstanden, nach einem Dasein 
voll von Not, Entbehrungen und Bitter¬ 
keiten starb er 1879. In den meisten 
französischen Literaturgeschichten fehlt 
sein Name. 

Man hat den Eulenspiegelroman eine 
belgische oder vlämische Bibel genannt: 
er ist in der Tat ein Nationalepos. An 
Eulenspiegels Wiege prophezeit die 
Hebamme Katheline: „Zwei Kindlein 
sind geboren, das eine in Spanien, der 
Infant Philipp, das andere in flandri¬ 
schem Land, der Sohn von Claes, der 
später Eulenspiegel geheißen werden 
wird- Philipp wird Henker werden, da 
er von Karl V., dem Mörder unseres 
Landes, gezeugt ist; Eulenspiegel wird 
ein großer Gelahrter in lustigen Reden 


7) Zu de Coster vgl. besonders Nautet, 
Bd. I S. 99 ff. 


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und Jugendschnurren sein, aber sein 
Herz wird gut sein, da er Claes zum 
Vater hat, den wackeren Arbeitsmann, 
der es versteht, in aller Rechtschaffen¬ 
heit. Ehrlichkeit und Gutmütigkeit sein 
Brot zu verdienen. Karl, der Kaiser, und 
Philipp, der König, werden durch das 
leben sprengen. Schlimmes tuend in 
Schlachten, Erpressungen und anderen 
Verbrechen- Claes, der die ganze Woche 
arbeitet nach Recht und Gesetz lebt 
und der lacht anstatt über seine harten 
Plagen zu weinen, wird das Vorbild der 
guten Arbeiter Flanderns sein. Eulen- 
Spiegel, immer jung, der niemals ster¬ 
ben wird, wird durch die Welt streifen, 
ohne sich je an einem Ort ansässig zu 
machen- Bauer wird er sein, Edelmann, 
Maler, Bildhauer, alles zusammen. Und 
wird so durch die Welt wandern, 
lobend, was schön und gut ist, und über 
die Dummheit spottend mit vollem 
Maul. Claes ist dein Mut du edles Volk 
von Flandern, Soetkin deine wackere 
Mutter, Eulenspiegel dein Witz, ein zier¬ 
liches, liebliches Mädchen, Eulenspie- 
gels Gefährtin und unsterblich wie er, 
wird dein Herz sein, und ein- dicker 
Fettwanst, Lamme Goedzak, wird dein 
Magen sein.“ 

Der Schelm der alten deutschen 
Volkssage und die um ihn sind, werden 
bei de Coster Verkörperungen des Vla- 
mentums. Gutherzig und zugleich ver¬ 
schlagen, unerschöpflich an Listen, ge¬ 
fräßig, einem tüchtigen Trunk nie ab¬ 
hold, gern karessierend, was ihm über 
den Weg läuft, Bürgersfrau, Schenkin 
oder Dirne, und doch in der Seele 
seiner Jugendliebsten treu, von derb¬ 
fröhlichem Humor, immer bereit, Scha¬ 
bernack zu spielen, zu lachen und die 
anderen zum Lachen zu bringen — so 
tobt er sich zunächst aus in traditionel¬ 
len Eulenspiegeleien, die häufig mehr 
unflätig als geistreich sind. Wächst 


aber dann über sie hinaus, reift zum 
Mann und sogar zum Helden empor, 
da er sein Vaterland unter den Spaniern 
bluten sieht Die alte Katheline wird 
gefoltert und verliert den Verstand; 
sein Vater stirbt den Ketzertod auf dem 
Scheiterhaufen; er selbst wird gefol¬ 
tert; seine Mutter wird gefoltert und 
siecht hin, bis sie stirbt. Die Asche 
seines Vaters schlägt ihm an die Brust; 
die Erinnerung an eigenes Leid und das 
Leid seiner Nächsten, all das Wehkla¬ 
gen, das ringsum in flandrischen Lan¬ 
den seufzt mahnt ihn, Rache zu neh¬ 
men, nicht zu erlahmen in dem Krieg, 
den er gegen die Unterdrücker führt 
und aus dem er hervorgeht, nicht als 
Sieger, aber unbesiegt, wie die Heimat 
Grausamkeit und Qualen unverwüst¬ 
lich überdauernd. Sein Körper liegt auf 
dem Rasen, wo er zusammengebrochen 
ist. Nele, seine Liebste, kniet weinend 
bei ihm. Ein Bauer hebt das Grab aus 
und bettet ihn in den Sand. Der Bürger¬ 
meister und die Schöffen gucken zu. Der 
Pfarrer pustet vor Vergnügen, ehe er 
sein Gebet spricht Plötzlich arbeitet sich 
Eulenspiegel niesend aus dem Grab, 
springt dem Pfarrer an die Gurgel, der 
davonläuft, und beutelt den Bürgermei¬ 
ster und die Schöffen: „Begräbt man 
Eulenspiegel, den Witz der Mutter Flan¬ 
dern, Nele, ihr Herz? Auch Flandern 
kann schlafen, aber sterben, nein! Komm, 
Nele!“ 

Der Roman wurde vor mehreren 
Jahren in Deutschland ausgegraben 
und mit der Bereitwilligkeit, mit der 
wir Deutsche ausländische Literatur 
lobpreisen, wurde er sofort von Über¬ 
setzern und Kritikern zu einem der 
ragenden Werke der Weltliteratur ge¬ 
stempelt. Die Franzosen waren vor¬ 
sichtiger als wir in unserer beifall¬ 
freudigen Allerweltsneugierde, obwohl 
das Buch der Sprache nach ihnen ge- 


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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


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hört Ob sie wirklich sehr viel versäumt 
haben? Die Schwänke Eulenspiegels 
und seine Kämpfe sind in einer losen 
Reihe von Bildern gestaltet, und gewiß 
sind einige davon recht eindringlich, 
manche durch den treuen, farbigen Rea¬ 
lismus, der das Leben in flandrischen 
Häusern, Wirtsstuben und auf flandri¬ 
schen Gassen etwa in der Art des Brou- 
wer oder von Teniers d. J. malt, andere 
durch das seherische *Pathos, zu dem 
de Coster sich steigert Daß die Vlamen 
den Roman lieb haben, weil sie in ihm 
Geruch ihrer Scholle spüren, Heimatluft, 
und zwar Luft aus der großen, traurigen 
und stolzen Zeit ihrer Geschichte, das 
läßt sich wohl begreifen. Aber um über 
die Grenzen vlämischer Bezirke hinaus 
zu fesseln, dazu ist er doch weder naiv 
und ungekünstelt volkstümlich genug, 
noch auch Kunstwerk genug. 

VI. 

De Coster starb, als es gerade überall 
in Europa in der Literatur gärte, als sich 
überall, in Frankreich voran, der Natu¬ 
ralismus durchsetzte, als sich aber auch 
mitten im Naturalismus schon die ersten 
Anzeichen eines nahenden Rückschlags, 
die ersten Anzeichen einer vorläufig noch 
unsicher tastenden, neuromantischen, ins 
Mystische und Symbolistische schillern¬ 
den Kunst verrieten. Um diese Zeit er¬ 
wacht mit einemmal Belgien aus seinem 
totenähnlichen Schlaf. 8 ) Moderne Lite- 


8) Es gibt außer den Kapiteln von Nautet 
mehrere Darstellungen der modernen bel¬ 
gischen Literatur, darunter das für den 
reichsfranzösischen Standpunkt und Ge¬ 
schmack häufig sehr bezeichnende und da¬ 
her interessante Buch von Albert Heumann, 
Le mouvement littöraire beige d’expression 
frangaise depuis 1880 (pröface p. M. Camille 
Jullian de l'Institut. Paris, Mercure de France. 
2* 6d. 1913). Ober die nachher einzeln er¬ 
wähnten Vlamen, van Lerberghe, Demolder, 

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ratur -und Kunstzeitschriften werden be¬ 
gründet : „La jeune Belgique“, „La sodfetö 
nouvelle“, „L’art moderne“, „La Wallo¬ 
nie“; andere Zeitschriften folgen. Per¬ 
sönlichkeiten mit Führereigenschaften 
erstehen, denen es gelingt, die zerstreu¬ 
ten Kräfte zu sammeln und das Publi¬ 
kum aus seiner Gleichgültigkeit aufzu¬ 
rütteln. Junge Vlamen und Wallonen, 
unter den letzteren Albert Giraud, Iwan 
Gilkin, scharen sich um die zwei Män¬ 
ner, die das größte Verdienst um die bel¬ 
gische Renaissance haben, um Max Wal¬ 
ler und den viel älteren Romandichter 
Lemonnier, den sie den Vater der moder¬ 
nen Literatur Belgiens nennen. Wo so 
lange alles dürr schien, offenbart sich 
plötzlich eine Fülle dichterischer Bega¬ 
bungen, in beiden Teilen des Landes zu¬ 
gleich, aber bei den Vlamen entschieden 
mehr und eigenartigere als bei den Wal¬ 
lonen. Und was bisher noch nie geschah, 
geschieht nun: sogar Paris interessiert 
sich für sie, tut sie nicht mehr mit dem 
spöttischen Lächeln ab, das der Haupt¬ 
städter für den schwerfälligen, unele¬ 
ganten Verwandten aus der Provinz hat. 
Der „Mercure de France“, der damals in 
Frankreich dasselbe bedeutete wie bei 
uns Michael Georg Conrads „Gesell¬ 
schaft“ und die „Freie Bühne“, nimmt sie 
gastlich auf. Pariser Verleger drucken 
Bücher von ihnen; Pariser Theater spie¬ 
len Stücke von ihnen. Auf dem Umweg 
über Paris und Frankreich werden sie 
endlich auch in der Heimat bekannt, wo 
man immer gewohnt war, nur das zu 


Eekhoud, Rodenbach, Lemonnier und Ver- 
haeren gibt es eine Unmenge von Auf¬ 
sätzen in französischen und deutschen Zeit¬ 
schriften, zum Teil auch Monographien, die 
man in allen bibliographischen Hilfsmitteln 
aufgezählt findet. Bibliographische Listen 
bieten auch Nautet und Heumann. — Vgl. 
jetzt auch Kösters Aufsatz im Juliheft der 
Internat Monatsschrift. Dieser Aufsatz hier 
war schon eingesandt, als jener erschien. 


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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


300 


bewundern, was vorher Paris approbiert 
hatte. Die Aufmerksamkeit schlägt über 
Belgien und Frankreich hinaus, schlägt 
immer weitere Wellen. Belgien hält 
seinen Einzug in die europäische Lite¬ 
ratur. 

Seitdem ist die belgische Literatur 
reich an Namen von gutem Klang. Frei¬ 
lich sind manche, die man im ersten Eifer 
der Mode überschätzte, bereits wieder 
vergessen. Manche sind nur anständiger 
Durchschnitt Manche sind um kein Haar 
anders und nicht besser als die Pariser 
Boulevardschreiberei, in der sie aufgin¬ 
gen. Manche versprachen Ernstes, sind 
aber nicht zur vollen Reife gelangt. Man 
könnte eine Anzahl Vlamen hervorheben, 
lebende und heute schon tote, die sich 
damals neben den nationalfranzösischen 
Schriftstellern ihren Platz schufen. Da 
ist von Albert Samain abgesehen, der 
geborener Franzose war, Charles van 
Lerberghe zum Beispiel, der unstet in 
der Welt herumwanderte, in Frankreich, 
England, Deutschland, Italien, in dessen 
Lyrik sich alle möglichen Einflüsse kreu¬ 
zen, Einflüsse von Dichtern, wie Dante 
Gabriele Rossetti, und Einflüsse von Ma¬ 
lern wie Botticelli und Leonardo da Vinci, 
denen er nach eigenem Bekenntnis wich¬ 
tige Anregungen für sein Hauptwerk „La 
chanson d’Eve“ verdankt, und der in 
einem kleinen Drama „Les flaireurs“ als 
erster die Wirkungen erprobt hat, die in 
Maeterlincks Dramen bald nachher so 
neu und unerhört schienen. Oder Eugene 
Demolder, der in seinen Romanen und 
Erzählungen am liebsten in der Ver¬ 
gangenheit Flanderns untertaucht, um 
vlämisches Schwelgen in irdischem Froh¬ 
sinn, dann auch (aber schüchterner) vlä- 
mische fromm-einfältige Gläubigkeit zu 
gestalten. Oder George Eekhoud, der 
als unerbittlicher, vor keiner Roheit 
and Scheußlichkeit zurückschreckender 
Wirklichkeitsschilderer von dem harten. 


rauhen, armen Leben der Bauern seines 
Kemperlandes oder von dem Abschaum 
einer Hafenstadt wie Antwerpen erzählt. 
Oder Eekhouds Widerspiel, der früh 
verstorbene George Rodenbach mit der 
etwas langweiligen Trostlosigkeit seiner 
müden, bleichsüchtigen, ewig klagenden 
Lyrik und seinem auch bei uns seinerzeit 
viel gelesenen Roman „Bruges-la-morte“, 
wo er die über Brügge ausgegossene, 
verschleierte Trauer im Spiegel eines 
sehr unwahrscheinlichen, sehr sentimen¬ 
talen Neurastheniker-Erlebnisses einzu¬ 
fangen versucht 

Aber drei ragen heraus von auffallen¬ 
derem Wuchs: Camille Lemonnier, Mau¬ 
rice Maeterlinck und als letzter und 
größter: Emile Verhaeren. 

VH. 

Lemonnier, in dem, wie der Name ver¬ 
muten läßt vom Vater her romanisches 
Blut floß, wird vor allem als der wohl¬ 
wollende, begeisterte Förderer der Jun¬ 
gen und Jüngsten fortleben. Sein Werk 
war schon leis angestaubt als er vor 
mehreren Jahren starb. Er ist alt gewor¬ 
den und hat in seinem langen Dasein 
eine echt vlämische, unheimliche Frucht¬ 
barkeit entfaltet hat außer kunstkriti¬ 
schen Studien und dem Denkmal das er 
seinem Vaterland in „La Belgique“ 
setzte, Romane und Novellen dutzend¬ 
weise in die Welt geschickt Er hat nicht 
immer mit der gleichen Strenge gegen 
sich selbst gearbeitet hat, als er einmal 
berühmt weit, viel leichte Marktware für 
die Pariser Zeitungen geliefert und die 
Mühelosigkeit mit der er schrieb, hat 
ihm oft geschadet Daß man ihn den 
belgischen Zola heißt deutet in einem 
Atem Lob und Vorwurf an. Ohne Zwei¬ 
fel hat ihn der französische Naturalis¬ 
mus, besonders Zola, beeinflußt Wer 
sich davon überzeugen will braucht nur 
einen Band aus seinen Anfängen in die 


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Hanns Heiss, Der vl&mische Anteil an der französischen Literatur 


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Hand zu nehmen, zum Beispiel die „Con- 
tes flamands et wallons (seines de la 
vie nationale)“ von 1873, die scharf ge¬ 
gen seine spätere Art abstechen: gemüt¬ 
liche, durchaus zimmerreine Geschich¬ 
ten, die in ihrer anspruchslosen Bieder¬ 
keit an Consdence und von ferne an 
Dickens gemahnen. Und doch trennt 
ihn auch später Entscheidendes von den 
Franzosen um Zola. Wer fühlen will, wie 
eigenpersönlich, bodenständig Lemon- 
nier bei aller Beeinflussung geblieben 
ist, kann zu irgendeinem seiner nach 1880 
entstandenen Romane greifen, zum Bei¬ 
spiel zu dem frühen „Un mäle“ (1881). 

Der Held dieses Romans, dessen 
Handlung sich in wallonischem Land 
unter wallonischen Bauern abwickelt, 
ist der Wilderer Cachaprfes. Halbwild 
im Forst bei armen Holzhauern auf- 
gewachsen, hat er von Kindheit auf 
nichts anderes gelernt und getrieben als 
die Jagd, die alle Instinkte des Natur¬ 
menschen in ihm ausbildet und vervoll¬ 
kommnet; verführt eines Tages die Stief¬ 
tochter eines wohlhabenden Bauern; 
sucht dann Vergessen, als sie, seiner 
überdrüssig, ihm den Abschied gibt; jagt 
wieder nächtelang im Wald, vertrinkt 
und verjubelt in den Dörfern den Erlös 
seiner Beute, gefürchtet und beneidet, 
bis ihn durch Verrat sein Schicksal er¬ 
eilt Förster lauem ihm auf, im Hand¬ 
gemenge tötet er einen, lebt kurze Zeit 
vogelfrei noch wilder als vorher, erliegt 
schließlich der Übermacht und verkriecht 
sich, angeschossen, mit einer tödlichen 
Wunde, um im Wald zu sterben, wie er 
einst im Wald geboren wurde. 

Cachapr&s ist der Held des Romans, 
aber ebenso wie Cachaprös ist Held der 
Wald selber, der undurchdringliche, aus¬ 
gedehnte, unendliche Wald mit den we¬ 
nigen Menschen, die unberührt von je¬ 
der Kultur im Schweiß ihres Angesichts 
darin fronen, mit dem Getier, das ihn 


erfüllt und mit dem Leben seiner Bäu¬ 
me und Pflanzen. Und Held ist in wei¬ 
terem Sinn das belgische Land und das 
belgische Volk, dessen Sinnesfreude sich 
in einer breit und prächtig ausgemalten 
Kirchweihszene in einem riesenhaften 
Rausch von Alkohol, Streit Tanz und 
Paarung austollt Daß Lemonnier aus 
der Liebesgeschichte eines Wilddiebes 
weder ein Salontiroleridyll noch eine 
Ganghoferiade gemacht hat überrascht 
nicht Das hätte auch ein naturalisti¬ 
scher Franzose nicht getan. Aber wenn 
man sich nach Vergleichsmöglichkeiten 
umguckt, um sich über seine Eindrücke 
klar zu werden, fällt einem überhaupt 
kein Franzose ein. An Süddeutsche muß 
man denken, an Schönherr, Ludwig Tho- 
ma, Queri; nur daß dem Belgier die Be¬ 
wältigung seines Stoffes freskenhafter 
gelungen ist daß er nicht im amüsanten 
Schnörkel einer Simplizissimus - Anek¬ 
dote stecken bleibt Ein Franzose, ein 
Pariser hätte kaum so frisch und üppig, 
mit solcher Unmittelbarkeit diese bun¬ 
ten Schilderungen aus der Dorfwelt ge¬ 
ben können; zwischen ihn und seine 
Bauern hätte sich störend das Bewußt¬ 
sein seiner Überlegenheit über das Vieh 
gedrängt; er hätte kaum diese Wald¬ 
schilderungen geben können, die das 
Schönste an Lemonniers Roman sind, 
und hätte sicher nicht diesen Cachaprös 
zeichnen können, der so ganz Natur¬ 
wesen ist, eins mit den Tieren, denen er 
nachstellt eins mit den Bäumen, unter 
denen er schläft auf die er klettert — 
ein zottelhaariger, heidnischer, faunisch- 
lüstemer, roher, grausamer und dabei 
doch zarter Regungen fähiger Waldgott 
mitten im katholischen und industriellen 
Belgien des 19. Jahrhunderts. 

VIIL 

Wenn man Maeterlinck da sucht wo 
er am echtesten und reinsten ist wo er 


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Hanns Heiss, Der vläraische Anteil an der französischen Literatur 


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ohne Rücksicht auf Erfolg und Mode nur 
sich selbst lauscht, in den kleinen Dra¬ 
men seiner Frühzeit, in„Pell6as etMCli- 
sande“ zum Beispiel oder in „L’intruse“ 
oder „La mort de Tintagile“ oder in den 
Meditationen des „Tresor des Humbles", 
nodi ehe er mit „Monna Vanna“ zum 
einträglichen Kassenstück abschwenkt 
und sein Grübeln zur Erbauung mondä¬ 
ner Leser und Leserinnen in dünne phi¬ 
losophische Plaudereien verwässert — 
so wird man keinen schärferen Gegen¬ 
satz zu Lemonnier finden als ihn. 

Müdigkeit, die auf allen Gliedern la¬ 
stet, Weltflucht, Angst vor dem Leben 
und der Wirklichkeit, aber auch Angst 
vor dem Tod, Angst und wieder Angst 
nach allen Seiten hin, ein Befangensein 
in dumpfer, lähmender Trauer, ein ver¬ 
zweifeltes Sichfügen, das jede Anstren¬ 
gung fast von vornherein als unnütz, 
zwecklos ablehnt und das sich willenlos 
einem dunklen Schicksal entgegentrei- 
ben läßt: das sind die Stimmungen, die 
Maeterlink in seinen symbolischen Spie¬ 
len zum Ausdruck bringt. Und gewiß 
spiegelt sich in diesen Stimmungen die 
Erschöpfung, Mutlosigkeit und Ratlosig¬ 
keit eines dekadenten Geschlechts; ge¬ 
wiß ist Maeterlinck am Ende des Jahr¬ 
hunderts nicht der einzige in Europa, der 
solche Stimmungen gestaltet; aber er ge¬ 
staltet sie besonders suggestiv, mit einer 
entnervenden Eindringlichkeit, die durch 
Mark und Bein geht Deshalb schien er 
überall so eigenartig und ungleich be¬ 
deutender, als er ist; deshalb übersah 
man, wie enge Grenzen seiner Einge¬ 
bung und seiner Kunst gezogen sind. 
In Frankreich haben wie bei uns viele 
über ihn und die kindische Einfalt Steif¬ 
heit und Unbeholfenheit seiner Puppen 
gelacht Aber viele haben wie bei uns 
die seltsamen Schauer auf sich überrie¬ 
seln lassen, die von ihren hilflosen Ge¬ 
bärden, von ihren naiven, rührenden 


Worten auagehen. Maeterlincks Dramen 
sind alle erfüllt von der bangen Er¬ 
wartung irgendeines Unglücks: etwas 
Schreckliches, Drohendes steht draußen 
vor der Tür und wird gleich hereintap- 
pen, auf plumpen Gespensterfüßen, wird 
blind um sich schlagen und Menschen 
töten. Und das Gefühl, das sich dem 
Leser oder Zuschauer aufzwingt ist viel¬ 
leicht kein tragisches im hergebrachten 
Sinn, aber jedenfalls eine merkwürdig 
starke, herzbeklemmende, die Kehle zu¬ 
schnürende Erschütterung. 

Man liest zum Beispiel „La mort de 
Tintagile“. Wir bewegen uns wie im¬ 
mer bei Maeterlinck in einem Traum¬ 
land, inmitten von traumhaften Schatten 
ohne Fleisch und Blut. Eine Drohung, 
die wir nicht begreifen, schwebt un¬ 
heimlich über dem kleinen Tintagile. 
Seine Schwestern, der greise Aglovale 
wachen neben ihm in dem uralten Turme. 
Umsonst Tintagile wird ihnen entführt 
Seine Schwester Ygraine, eine Lampe in 
der Hand, eilt seinen Spuren nach, 
in atemloser Jagd durch Gänge und über 
Treppen, bis ihr ein ungeheures eisernes 
Tor den Weg versperrt Hinter dem Tor 
hört man ganz schwach die Stimme des 
kleinen Tintagile: mach auf, Schwester, 
bitte mach schnell auf, oder ich muß ster¬ 
ben! Und Ygraine sucht nach einem 
Spalt zerschürft sich Finger und Nägel, 
schlägt mit der Lampe auf das Tor ein 
und zerbricht sie. Aber drinnen fleht 
Tintagile weiter: mach doch aut Schwe¬ 
ster, schnell, schnell, bitte mach auf, bitte 
nur ein ganz klein wenig, ich bin ja so 
klein, ich kann schon durch die Öffnung 
schlüpfen, um Gottes willen, bitte mach 
auf! Und Ygraine quält sich, und Tinta¬ 
gile bettelt, bis man hinter dem Tor Tin- 
tagiles Körper fallen hört. Und es ist 
nicht bloß Angst vor dem Tod, vor Nacht 
und Vernichtung, was hier auf den Leser 
überspringt, sondern ein unendliches, ge- 


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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


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steigertes Angstgefühl, in* dem alle 
Ängste vor allem unbegreiflichen Ge¬ 
schehen der Welt in eins Zusammenflü¬ 
ßen, ein Angstgefühl, wie man es manch¬ 
mal in bösen Träumen erlebt und das 
schon den Wahnsinn streift — Angst des 
Sterbenden, der sich sträubt, Angst des 
Nächsten, der trauernd zurückbleibt, 
Angst ohnmächtiger Menschen, die den 
Menschen neben ihnen von einem Un¬ 
sichtbaren zu Boden geworfen schauen 
und die denken müssen, wie nah die 
Stunde ist, wo dieses Unsichtbare, Un¬ 
bekannte die Tatze nach ihnen selbst 
ausstreckt. 

Das Unbekannte ist der Held von Mae¬ 
terlincks Dramen, und es nimmt darin, 
wie der Dichter in der Vorrede zu seinem 
gesammelten Theater betont 9 ), am häu¬ 
figsten die Form des Todes an, des 
gleichgültigen, blindtastenden und blind- 
treffenden Todes. Ein Dämmerraum, in 
dem verträumte, verschüchterte, zittern¬ 
de Wesen sich aneinanderschmiegen, die 
keine heftige Bewegung, kein lautes 
Wort, kaum zu atmen wagen, um ja nicht 
die geheimnisvolle Gefahr aufzuwek- 
ken, die in der Finsternis lauert — so 
sah Maeterlincks Welt ursprünglich aus. 
Und das Unbekannte, Unsichtbare, Über¬ 
sinnliche ist ihm die große Frage ge¬ 
blieben, auch als er sich in späteren Me¬ 
ditationen von lähmender Lebensvemei- 
nung befreite, als er ein anderes Ziel und 
einen anderen Inhalt des Lebens als den 
Tod, das schwarze Nichts am Ende zu 
ergründen trachtete und schließlich auf 
mancherlei Umwegen zu einem lauen, 
zaghaften, reichlich seichten Optimismus 
gelangte, der aus Vergangenheit und Ge¬ 
genwart leise, aber ganz leise und ge¬ 
dämpfte Hoffnungen auf eine bessere 
Zukunft der Menschheit abliest. „Alles, 
was nicht über unsere Erfahrungs- und 

9) Thöätre, 3 Bände. (Brüssel, P. Lacom- 
blez, Paris, Per Lamm, 2* 4d. 1901). 


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Alltagsweisheit hinausgeht, gehört uns 
nicht und ist unserer Seele nicht würdig. 
Alles, was man ohne Angst lernen kann, 
verkleinert uns“, heißt es einmal in sei¬ 
nem Aufsatz über Novalis. 10 ) Die Tat¬ 
sache, daß Maeterlinck Ruysbroek und 
Novalis liebt und beide übersetzt hat, 
daß er mit Plotin, Porphyrius und Swe¬ 
denborg vertraut ist, weist auf seine 
inneren Verwandtschaften hin. Er ist ein 
ferner Erbe der Mystik. 

IX. 

An Lemonnier, den naturalistischen 
Epiker, an Maeterlinck, den mystischen 
Grübler, reiht sich Verhaeren, der Lyri¬ 
ker. Verhaeren hat mehrere Dramen ge¬ 
schrieben, zwei Bücher über Rembrandt 
und Rubens, von denen das letztere ein 
prachtvoller Hymnus auf den ihm blut&- 
und geistesverwandten Maler ist Aber 
er ist seinem Wesen nach Lyriker, einer, 
in dem alles singt und musiziert, nur daß 
sein Singen und seine Musik beträchtlich ' 
anders klingt als das, was man sich ge¬ 
meinhin unter Lyrik vorstellt, ein stür¬ 
misches Gewoge von Tönen, Rhythmen 
und Melodien, wie man sie vor Verhae¬ 
ren noch nicht in der Literatur gehört 
hatte. 

Verhaeren begann in den achtziger 
Jahren mit zwei Versbänden, in denen 
die polaren Merkmale vlämischer Natur 
und vlämischen Lebens nacheinander 
zum Ausdruck kommen. In „Les Fla- 
mandes“ das Animalisch-Sinnliche, das 
gefräßige, trunkene, geile Schlemmen 
der Kneipen, Frauenhäuser und Kirmes¬ 
sen, wie es die flandrischen Meister in 
ihren Tafeln festgehalten haben, mit Bil¬ 
dern aus dem Tagwerk und der Umge¬ 
bung der flandrischen Bauern, mit Land¬ 
schaften, Stilleben, Tierstücken, alles lei¬ 
denschaftlich beobachtet, leidenschaft- 

10) In Le trösor des Humbles (Paris, 
Mercure de France, 9* öd. 1896) S. 164. 


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Hanns Heiss, Der vl&mische Anteil an der französischen Literatur 


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lieh, bunt und bewegt hingeworfen, mit 
der malerischen Begabung, die Verhae- 
ren wie jeder Vlame besitzt, aber noch 
ohne hervorstechende Eigenart. In „Les 
Moines“ dagegen der von spanischer 
Flamme durchglflhte Katholizismus, 
die große katholische Vergangenheit des 
Landes, die noch fortdauert in der As¬ 
kese und Glaubensinbrunst seiner Kir¬ 
chen und Klöster. Dann brach eine 
Krankheit Aber Verhaeren herein, die ihn 
jahrelang körperlich und seelisch folterte. 
Und die Schmerzen, die gedrückten, 
trostlosen, bangen, verzweifelten Stim¬ 
mungen dieser Marterzeit spiegeln sich 
mit einer wehtuenden Schärfe und Of¬ 
fenheit in ein paar Versbänden, die im¬ 
mer mehr eigenen Klang gewinnen, die 
mehr und mehr seinen schöpferischen 
Reichtum, seine unbändige Kraft, vor 
allem aber in ihrer grausamen, fast sadi¬ 
stischen Selbstzerfleischung, in der Wut 
ihres Aufbäumens und Hinausschreiens 
die ungeheure, feurige, vulkanische Hef¬ 
tigkeit und Wildheit seines Tempera¬ 
ments ahnen lassen. 

Die Genesung stellt sich ein. Die Ge¬ 
sundheit kehrt zurück, robust, aber ver¬ 
feinert um das viele, was Leiden dem 
Menschen schenkt Langsam findet Ver¬ 
haeren, der die Gegenwart floh, der sich 
scheu vor der Welt absperrte, um sich 
in seine qualvolle Einsamkeit zu vergra¬ 
ben, den Weg in die Welt und in die Ge¬ 
genwart zurück, entdeckt sie, bestaunt, 
wie groß und schön sie sind, und gibt 
sich, hingerissen und überwältigt, der 
Welt und der Gegenwart hin. Verhaeren 
ist nicht der erste, der es versucht hat, 
modernes Leben künstlerisch zu erfassen 
und für die Literatur zu erobern, es nicht 
mehr durch die Dichterbrillen verflosse¬ 
ner Jahrhunderte anzuschauen, es nicht 
mehr als häßlich, unwürdig, unedel ab- 
zulehnen, weil es überlieferten Schön¬ 
heitsvorurteilen nicht entspricht und un- 

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angenehm aus idyllischen Träumereien 
aufscheucht Aber nach dem Amerika¬ 
ner Walt Whitman, den er ganz spät 
kennen lernte und der bei aller Ähnlich¬ 
keit doch in ganz anderem Sinn modern 
und Sänger des modernen Lebens ist 
nach Whitman und neben und vor dem 
Skandinavier Johannes V. Jensen ist Ver¬ 
haeren der erste, dem es vollauf gelun¬ 
gen ist modernes Leben in dichterische 
Werte umzusetzen und dem neuen In¬ 
halt die neuen notwendigen Formen, 
Ausdruck und Rhythmus zu schaffen. 
Und das Geheimnis des Gelingens? Jl 
laut cdmer pour däoouurir auec genieß, 
sagt er einmaL Verhaeren hat sich als 
erster vollauf und ohne Einschränkung 
als Kind seiner Zeit gefühlt hat seine 
Zeit und ihr Leben leidenschaftlich ge¬ 
liebt das Zeitalter der Technik und der 
exakten Wissenschaften in seinen ent¬ 
scheidenden Ausprägungen, das Zeit¬ 
alter der Maschinen, Fabriken, Hochöfen, 
Lokomotiven, Dampfer, Banken, Bör¬ 
sen, die harte, lärmende, tösende, aufge¬ 
peitschte, staubige, rußige, hastige, atem¬ 
lose, nervöse Wirklichkeit der Bahnhöfe 
und Handelshäfen, der Millionenstädte 
und Industriezentren in Belgien, Eng¬ 
land, Frankreich, Deutschland mit dem 
dumpfen Wimmeln der namenlosen 
Massen, in denen der einzelne nur das 
winzige Rad eines riesenhaften Räder¬ 
werks ist 

Die engen Rahmen alter Poeten¬ 
ästhetik sind gesprengt. Jede, gleichviel 
welche Äußerung modernen Lebens ist 
begriffen, sympathisch erfühlt, ist per¬ 
sönliches Erlebnis und Dichtung gewor¬ 
den: der Donner von Zügen, die über 
Brücken rasseln, ebenso wie das licht¬ 
scheue Treiben in den Bordellstraßen 
eines Matrosenviertels oder der Kampf 
um Macht in einer stürmischen 
Parlamentssitzung oder das nüchterne 
Zimmer, von wo aus am Telephon irgend- 

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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


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ein Großindustrieller, Handelsherr oder 
Bankherr den Gang seiner vielfältigen, 
über den Erdball verzweigten Unterneh¬ 
mungen leitet Verhaeren darf sich an 
Themen wagen, an denen jeder andere 
scheitern müßte, die höchstens zur Öde 
gereimter Leitartikel zu taugen scheinen. 
Forscherarbeit in Laboratorien, Wissen¬ 
schaft und Zweifel, Verfall der Religio¬ 
nen, Ringen nach Wahrheit, Kreisen des 
Goldes, Rede eines Volkstribunen (es 
kann auch ein Minister oder Diktator 
sein): man schämt sich beinahe, derar¬ 
tige Inhalte anzudeuten, und wer Ver¬ 
haeren nie gelesen hat wird sich schau- 
demd, im voraus gähnend abwenden. 
Aber fast immer (nicht immer, aber mei¬ 
stens, besonders in den letzten Bänden) 
glückt ihm das, was Stefan Zweig 11 ) 
sehr treffend „die dichterische Verbren¬ 
nung der Welt in Visionen ohne den 
Rückstand von Philosophie und Erkennt¬ 
nis“ nennt Die Wirklichkeit unserer 
Tage ersteht in Verhaerens Strophen, be¬ 
wältigt verklärt, vergeistigt, idealisiert; 
aber beileibe nicht verklärt vergeistigt, 
idealisiert im verrufenen Sinn, sondern 
dadurch groß und schön gemacht daß 
herausgeholt ist, was in ihr Großes 
und Schönes steckt, das Märchenhafte, 
Lyrische, 

le travail fou et ses ftevres lyriques, 

et sa lueur enorme ä travers les esprits, '*) 

Anspannung der Kraft Wucht der Tat 
und die Beziehung auf ein fernes erhabe¬ 
nes Ziel, dem die Menschheit entgegen¬ 
schreitet — kurzum das Pathos der Ge¬ 
genwart 

Verhaerens Dichtung ist ein berausch¬ 
ter Lobgesang auf Menschenverstand 
und Menschenarbeit Arbeit des Gehirns 
und schwieliger Fäuste, auf den Kampf 

11) £m. Verhaeren. (Leipzig, Insel vertag, 
2. durchges. Auflage 1913) S. 153. 

12) Les Forces tumultueuses (Paris, Mer- 
cure de France, 0° 6d. 1912) S. 19. 

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ums tägliche Brot und um Höheres in 
jeder Form. Hoffnungsseliger Glaube 
an eine herrliche Zukunft der Mensch¬ 
heit trägt diesen Lobgesang, wanne 
Nächstenliebe, die zu einem ganz un¬ 
doktrinären, mitleidenden Sozialismus 
wird. Und eine inbrünstige, unbedingte, 
vorbehaltlose Lebensbejahung durch¬ 
leuchtet ihn, eine so gesteigerte, über das 
Ich hinausflutende Liebe und Lebensbe¬ 
jahung, daß sie dem Dichter sein Ich, 
seinen eigenen Körper teuer werden läßt 
und Gegenstand der Selbstvergötterung 
als Stück des Weltalls und daß sie ihn 
sich eins fühlen läßt mit allem, was ihn 
umgibt, mit Mensch und Tier und 
Pflanze, mit Welle und Wind. In einem 
seiner Bücher 13 ) — es führt den viel¬ 
sagenden Titel „Les forces tumultueu¬ 
ses“, die ungestümen, tobenden Kräfte — 
findet sich ein Gedicht „Un soir“, ein 
Bekenntnis, das diese ekstatische Durch¬ 
dringung des Lebens und der Welt, 
Verhaerens brennend optimistische Le¬ 
bensbejahung, ihre Zuversicht, ihre Be¬ 
geisterung und Trunkenheit in ein paar 
wundervoll gehämmerten Strophen aus- 
drückt 

Celui qui me lira dans les stecles, un soir, 
Troublant mes vers, sous leur sommeil ou 

sous leur cendre. 

Et ranimant leur sens lointain pour mieux 

comprendre 

Comment ceux d’aujourd'hui s'gtafent ar¬ 
mes d’espoir, 

Qu’ il sache, avec quel violent glan ma joie 
S'est ä travers les cris, les rävoltes, les pleurs, 
Ru£e au combat fier et mäle des douleurs, 
Pour en tirer l'amour comme on conquiert 

sa proie. 

J’aime mes yeux figvreux, ma cervelle, mes 

nerfs, 

Le sang dont vit mon cceur, le coeur dont 

vit mon torse; 

J’aime l’homme et le monde et j’adore la 

force 

Que donne et prend ma force ä l’univers. 


13) S. 165 f. 


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Hanns Heiss, Der vlfimische Anteil an der französischen Literatur 


318 


Car vivre c’est prendre et donner avec Hesse. 
Mes pairs, ce sont ceux-lä qui s’exaltent 

autant 

Que je me sens moi-möme avide et haletant 
Devant la vie intense et sa rouge sagesse. 

Heures de chute et de grandeur! — tout se 

confond 

Et se transforme en ce brasier qu’est l’exi- 

stence; 

Seul importe que le dösir reste en partance, 
Jusqu’ä la mort, devant l'öveil des horizons. 

Celui qui trouve est un cerveau qui com- 

munie 

Avec la founnillante et large humanitö. 
L'esprit plonge et s’enivre en pleine immen- 

sit6; 

11 faut aimer pour döcouvrir avec gönie. 

Une tendresse enorme eraplit l’äpre savoir, 

Q exalte la force et la beaute des mondes, 
II devine les liens et les causes profondes. 
0 vous qui me lirez, dans les siöcles, un soir, 

Comprenez-vous pourquoi mon vers vous 

interpelle? 

C’est qu’en vos temps quelqu’un d’ardent 

aura tirö 

Du coeur de la nöcessitö möme, le vrai, 

Bloc clair, pour y dresser l’entente univer¬ 
selle. 

X. 

Als Verhaeren in Frankreich bekannt 
wurde, kam ihm wie seinen Landsleuten 
die Gunst der Mode des Naturalismus 
und dann des Symbolismus zugute, ka¬ 
men ihm die vielen und nicht bloß ober¬ 
flächlichen Ähnlichkeiten zugute, die ihn 
mit der Kunst der Naturalisten und der 
Symbolisten verbinden. Aber er hat doch 
immer mehr verwirrt und erschreckt als 
angezogen, und wenn man ihn als Bar¬ 
baren empfand, so geschah es weniger, 
weil sein Naturalismus ebenso wie der 
der Franzosen keiner noch so abstoßen¬ 
den Brutalit&t auswich, auch weniger 
wegen der KOhnheiten, die er sich mit 
dem französischen Vers, gelegentlich so¬ 
gar mit der Sprache erlaubte, sondern 
aus dem richtigen Instinkt heraus, daß 
hier einer zwar glanzend, wenn auch | 

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sehr herrisch, die französische Sprache 
meisterte, aber doch seiner ganzen Na¬ 
tur nach nicht Franzose war, nicht La¬ 
teiner, der Sohn einer anderen Rasse, die 
durch ihre überschaumende Heftigkeit 
und Ungebardigkeit auf die Lateiner 
immer barbarisch gewirkt hat. Ge¬ 
rade das, was Verhaeren groß macht, 
muß einen reinen Franzosen, einen rei¬ 
nen Lateiner beunruhigen, muß ihm mi߬ 
fallen: das Ungeheure, Maßlose, die 
rohe, ungebrochene Kraft, die sich in 
ihm entladt und die überlieferten For¬ 
men zerbricht, das Ekstatische, Visio¬ 
näre, Unheimliche, die Hingebung an 
alles, die Lebensbejahung, die so weit 
geht, daß sie ihn überall, auch im 
Schmerz und im Häßlichen, noch Wol¬ 
lust und Freude entdecken laßt, wie sein 
Ahnherr Rubens, an den Verhaeren über-, 
haupt mehr als an irgendeinen anderen 
Künstler gemahnt, auch noch aus einer 
Kreuzigung oder Grablegung Christi 
oder aus einem Höllensturz der Ver¬ 
dammten wahre Orgien der Farbenfreu¬ 
digkeit und der Lebensfreudigkeit zu 
zaubern weiß. 

Zwei Gedichtsammlungen heben sich 
seltsam ab von Verhaerens übrigem 
Werk, „Les heures claires" und „Les 
heures d’aprfes-midi“, Liebeslieder von 
unvergleichlicher Zartheit und Innig¬ 
keit an die eine geliebte, junge und dann 
alternde Frau, Glut des Sommers und 
letzter milder Glanz des Herbstes. Aber 
die Liebe ist für Verhaeren wie ein Gar¬ 
ten, den er sich abseits vom Leben ge¬ 
pflanzt hätte, um in müden Feierabend¬ 
stunden den Kopf in einen treuen Schoß 
zu betten.. Sich verliegen oder auch nur 
der Liebe leben ist einem solchen Tem¬ 
perament fremd. Das Leben ist zu reich, 
zu mannigfaltig, zu verlockend, als daß 
es ihn im geborgenen Frieden von vier 
Pfählen litte. Er gehört der Welt, und 
die Welt gehört ihm. Gehört ihm als 

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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


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Raub und Beute, als etwas, was immerzu 
von neuem erobert, bezwungen, verge¬ 
waltigt werden muß. „Toute la vie est 
dans l’essor“ ist einer seiner Leitsprüche. 
Bewegung ist alles, jähe, ungeduldige 
Bewegung, die vorwärts stürmt und an 
sich reißt, Schwung, Drang, fieberndes 
Begehren, nie Rasten, nie Beschaulich¬ 
keit, nie Sichbescheiden mit engem 
Glück. Der Menschenschlag, der Ver- 
haeren als der adeligste und vollkom¬ 
menste erscheint, ist der des Konquista¬ 
dors, des maltre, den er wieder und 
wieder in den verschiedensten Verkör¬ 
perungen gefeiert hat: im Mönch, im 
Feldherrn, im Bankherm, im Kaufherrn, 
im Gründer, im Volksführer, im For¬ 
scher — immer der Herr, der Eroberer, 
gleichviel, worauf sein Wille gerichtet 
ist, wenn er nur herrscht und seinen Wil¬ 
len durchsetzt Und so einer ist er selber, 
kein Sänger schöner Frauen, schöner 
Interieurs, blauer Stunden, goldener 
Landschaften, egoistischer Wehmut, ego¬ 
istischen Genießens, der Süßigkeit oder 
Bitterkeit verträumten Menschenseins, 
sondern einer, dem es am wohlsten 
mitten im plebejischen Alltag ist, um¬ 
braust vom Lärm und vom Hasten der 
Arbeit einer, der das Dröhnen von Ma¬ 
schinen liebt und Amkenbrand aus 
nächtlichen Essen, der mit allem, was 
seine Sinne erraffen, auch mit dem Sprö¬ 
desten, trotzig und leidenschaftlich ringt, 
es zu gestalten. Nicht Eros ist sein 
Schutzgott, sondern Hephaistos, und das 
Werk, das er schafft, steigt auf: riesig, 
Zierliches um Ungeschlachtes sich ran¬ 
kend, ungefüg, kyklopisch. 

Die späteren Bände Verh^erens, be¬ 
sonders „La multiple splendeur“ und 
„Les rythmes souverains“, sind geklär¬ 
ter, ebenmäßiger in der Form, ruhiger 
in der Sprache, beschwichtigter, weni¬ 
ger wild und ungestüm im Rhythmus, 
klassischer, wenn man so sagen will. 


Aber Verhaeren bleibt der Nichtfran¬ 
zose, er ist Vlame, und nicht bloß als 
menschliche und dichterische Persönlich¬ 
keit stärker als Lemonnier oder Maeter¬ 
linck, sondern auch als Rasseerschei¬ 
nung. Wenn die Franzosen je dazu ge¬ 
langen sollten, ihn ganz zu verstehen 
und zu lieben, wenn er jemals ernsten 
Einfluß (nicht bloß durch Äußerlichkei¬ 
ten) auf ihre Literatur ausüben sollte, 
dann wäre es nur möglich dadurch, daß 
die Franzosen nicht mehr dieselben 
wären, die in einem Racine oder einem 
Flaubert die vollendetsten Verwirkli¬ 
chungen ihres wählerischen, exklusiven 
lateinischen Schönheitsideals sahen, son¬ 
dern Franzosen, deren lateinische Seele 
einen Hauch fremden, germanischen, 
barbarischen Wesens verspürt hätte. 

Es ist kein Zufall, daß Verhaeren vor 
allem in germanischen Ländern aufge¬ 
nommen worden ist, so namentlich bei 
uns in Deutschland, wo er in Stefan 
Zweig einen sich schmiegsam und liebe¬ 
voll einfühlenden Nachdichter und Deu¬ 
ter fand 14 ) und in vielen unserer jüng¬ 
sten und allerjüngsten Lyriker eifrige 
Schüler, die es sich meist angelegen sein 
lassen, ihm seine Genierüpeleien (mit 
mehr Rüpelhaftigkeit als Genie) abzu- 
gucken. Auf unser Verhältnis zu Ver¬ 
haeren hat der Krieg einen häßlichen 
Schatten geworfen, seit Verhaeren sich 
zu den lautesten und zornigsten Schrei¬ 
ern gegen Deutschland gesellte. Wir 
wollen seine Gedichte über die Hunnen¬ 
greuel in Belgien, sein giftiges Pamphlet 
„La Belgique sanglante“ l6 ) nicht beschö¬ 
nigen; wir legen sie zu den vielen an de- 
ren Liebensw ürdigkeiten, die uns augen- 

14) Zwei Bände des Inselverlags, der 
eine ausgewählte Gedichte, der andere die 
Dramen Helenas Heimkehr, Das Kloster, 
Philipp II. enthaltend. Verhaeren ist auch 
sonst vielfach ins Deutsche übertragen 
worden. 

15) Paris, Nouvelle revue frangaise 1915. 


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Hanns Heiss, Der vlfimiscfae Anteil an der französischen Literatur 


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blicklich erwiesen werden. Aber wir 
brau dien uns doch wenigstens, wenn wir 
an die Zeit vor dem Kriege zurQckdenken, 
bei Verhaeren unserer früheren Bewun¬ 
derung nicht zu schämen. Verhaeren ist 
keiner von den Dutzendausländem, de¬ 
nen wir in törichter Überschätzung nach¬ 
gelaufen sind. Er ist auch kein Fremd¬ 
ling, dessen Erfolg sich nur durch be- 
dientenhafte Verehrung für alles Aus¬ 
ländische erklären würde. Diesmal sind 
wir ausnahmsweise nicht irre gegangen, 
sondern haben einen Großen auf den 
Schild gehoben, der verwandten Blutes 
ist, mag er noch so sehr Oberflächenfran- 
zose sein und sich hn Bann der Kriegs¬ 
hypnose noch so deutschenifeindlich und 
deutschenfresserisch gebärden. 

XL 

„Verhaeren, Maeterlinck, es läßt sich 
nicht leugnen, das ist etwas anderes, als 
was es bei uns gibt, und auf manchen Sei¬ 
ten etwas, was uns überlegen ist,“ schreibt 
Camille Jullian im Vorwort 16 ) zu Heu- 
manns Buch. „Überlegen": das ist eine 
Artigkeit, die wir im Mund eines Fran¬ 
zosen kaum zu ernst nehmen dürfen. 
„Anders“: das ist gewiß; aber worin und 
wodurch anders? Heikle Frage, mit der 
man sich auf unsicheren Boden wagt 
Man fühlt wohl dunkel, daß den vlämi- 
schen Dichtem vieles gemeinsam ist was 
sie von den Franzosen, auch von den 
wallonischen Belgiern trennt und was 
daher wahrscheinlich Besonderheit des 
Volksschlags sein wird. Sobald man 
aber versucht bestimmte Behauptungen 
aufzustellen, klingen sie schief, gefähr¬ 
lich und angreifbar. Immerhin und bei 
aller Vorsicht wird man (glaube ich) 
auf zweierlei hinweisen können, was 
an den Vlamen ins Auge springt: auf 
den Sinn für das Malerische und die 


16) S. 34. 

Internationale Monatsschrift 


Neigung zum Pantheismus. Nur darf 
man nicht meinen, daß diese Eigen¬ 
schaften einen unbedingten Gegensatz 
zu den Franzosen ausmachen. Panthe- 
istisches Empfinden ist auch der fran¬ 
zösischen Literatur nicht durchaus 
fremd; es äußert sich stark während 
der Renaissance und nicht bloß bei ei¬ 
nem Rabelais, dann wieder im 19. Jahr¬ 
hundert bei Victor Hugo, um nur einen 
Namen zu nennen, und in der ganzen 
literarischen Bewegung vom Jahrhun¬ 
dertende, freilich überall womöglich 
unter dem Druck ausländischer Ein¬ 
flüsse, dort des griechischen Heiden¬ 
tums, hier der modernen Naturwissen¬ 
schaft und germanischen Weltgefühls. 
Und die Kunst des Malens, die übt 
doch seit den Tagen der Romantik und 
des Realismus, zum mindesten seit Bal¬ 
zac, Flaubert und Zola mit mehr oder 
weniger Erfolg jeder Schriftsteller in 
Europa, der auf sich hält! 

Aber die Vlamen sind offenbar ihrem 
Temperament nach Maler, unabhängig 
von einer herrschenden Mode. Ihre ein¬ 
geborene Sinnenfreudigkeit setzt sich 
um in Freude an der Außenwelt Freude 
an Farben und Formen, am Spiel von 
Licht und Schatten, in Lust zu beschrei¬ 
ben, und die Wirklichkeit die auf sie 
eindringt und sie entzückt in Bildern 
festzuhalten. Sie reden nicht umsonst 
so gern von Malerei, berufen sich nicht 
umsonst so gern auf große Maler, vor 
allem auf die ihrer Heimat als deren 
Erben sie sich fühlen. Von de Coster 
an stehen sie immer, in engster Fühlung 
mit Landsleuten, die Radiernadel, Pinsel 
und Palette handhaben, mit Rops, mit 
Khnopf, mit Rysselberghe und ande¬ 
ren. Lemonnier und Verhaeren sind 
fleißige Kunstkritiker, und die Liebe, 
mit der sie sich in Gemälde ver¬ 
senken und ihren Eindrücken davor 
nachspüren, kommt ihrer Dichtung zu¬ 
ll 


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Hanns Heiss, Der vlämlsche Anteil an der französischen Literatur 


324 


gute- Van Lerberghe 17 ) tritt um sich 
anzuregen, “in Florenz vor die Tafeln 
des Botticelli und Leonardo; er will 
in Versen sagen, was sie mit Farben 
und Linien gesagt haben. Verhaeren 18 ) 
bekennt in einem Brief: „Meine gei- 
stigen Ahnen sind Maler; es ist, als 
dächten sie in mir, wenn ich beschreibe 
und arbeite... Ich fühle in mir Brue- 
ghel und Jordaens“ (er hätte hinzu- 
fügen sollen: Rubens). Von Lemonnier 
haben wir ähnliche Bekenntnisse. 

In Vethaerens Lyrik wirbeln Gedan¬ 
ken, Meinungen, Hoffnungen: der ganze 
Komplex modernen Lebens wird besun¬ 
gen, und nichts ist vergessen, nicht ein¬ 
mal die Nüchternheit wirtschaftlicher 
Fragen. Wenn aus solchen Stoffen Ge¬ 
dichte werden, wenn ihre künstlerische 
„Verbrennung“ in Visionen meistens 
glückt so geschieht es, weil Verhae¬ 
ren die Macht hat alles, auch rein Be¬ 
griffliches und Unanschaulichstes in an¬ 
schaulichen, farbigen, bewegten Bildern 
zu sehen. Ein Wort zum Beispiel wie 
Weltverkehr weckt ihm das Gesicht von 
Schiffen^ die durch die Unendlichkeit 
der Meere qualmen, von Häfen mit auf- 
gestapellen Waren und Menschenge¬ 
tümmel, von' Landschaften an fernen 
Küsten. Ein 1 Wort wie Arbeit weckt ihm 
das Gesicht der Orte, wo Arbeit ver¬ 
richtet wird, der Gestalten, die sie ver¬ 
richten; Maler und Radierer muß man 
nennen, wenn man vergleichen will: 
Menzels Eisenwalzwerk, Theodor Hum¬ 
mel mit seinen Ansichten aus Braue¬ 
reien, Glasbläsereien, Maschinenfabri¬ 
ken, Josef Pennel, Frank Brangwyn und 
andere. Sogar eine soziale Tatsache 
wie die der Landflucht von der es ihn 
in seinem Lied auf die Städte zu spre¬ 
chen drängt wird bei Verhaeren sinn- 

17) Bei Heumann S. 138 f. 

18) Aus einem Briet zitiert von H. Potez 
in Revue de Paris, 15. Nov. 1910 S. 357. 


lieh greifbar und körperhaft 19 ): der An¬ 
blick einer abendlichen Landstraße tut 
sich aut wo zwischen Wäldern und 
Feldern, 'durch Dörfer, an Wirtshäu¬ 
sern und Kapellen vorbei, ohne aufzu¬ 
hören, der müde Troß hungriger Men¬ 
schen zieht die ihrem Heim den Rük- 
ken gekehrt haben, Weiber mit Kindern 
um ihre Röcke, andere mit Hund 
und Katze und Vogelkäfig, Fußgänger, 
ihre Habseligkeiten in ein kariertes 
Schnupftuch gebunden, Wagen und 
Karren mit ausgemergelten Gäulen da¬ 
vor, alles der Stadt entgegen, die rot- 
dampfend, unter rußigem, fettigem Him¬ 
mel ihre Saugarme ausstreckt; es ent¬ 
steht etwas, was annähernd wie man¬ 
che Tafeln des Pieter Brueghel wirkt, 
wie seine tanzenden Bauern vor dem 
Galgen zum Beispiel oder sein Gleich¬ 
nis von den Blinden. In den frühesten 
Bänden Verhaerens, besonders in „Les 
Flamandes“ scheint manches Gedicht 
geradezu aus Galerie-Erinnerungen ent¬ 
sprungen zu sein; später hat er solche 
Erinnerungen nicht mehr nötig. Wie er 
sehen kann und wiedergeben kann, was 
er sieht, zeigt jeder Band. Jeder Band 
strotzt von Bildern, und wer sich über¬ 
zeugen will, wie reich Verhaeren als 
Maler ist, wie er Verschiedenstes trifft, 
immer mit derselben glücklichen Kunst, 
nicht bloß Schilderungen aus der Mo¬ 
derne, aus der Industriewelt, der 
braucht nur in ihrem frischen Schmelz 
und ihrem getragenen Pathos die ideale 
Paradieslandschaft zu bewundern, die 
den Reigen der „Rythmes souverains“ 
eröffnet, oder irgendwo die „Heures 
claires“ mit ihren unvergeßlich zarten, 
duftigen Blumenstöcken und Garten¬ 
stimmungen aufzuschlagen. 

Vielleicht erklärt sich aus dieser Ver- 

19) Les villes tentaculaires pröcödöes des 
Campagnes hallucinöes (Paris, Mercure de 
France, T 6d. 1911) S. 87«. 


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Hanns Heiss, Der vlämiscfae Anteil an der französischen Literatur 


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anlagung der Vlanjen zugleich, warum 
ihre dramatische Literatur so arm ist. 
Sie sind mehr Maler als Psychologen. 
Der einzige unter ihnen, den man als 
Dramatiker ernst nehmen darf, Mae- 
terlinck, fesselt ja auch nicht durch 
Psychologie, sondern dadurch, daß er 
Puppen auf die BQhne stellt und sie 
Grausiges erleben läßt, dadurch, daß er 
in außerordentlich vereinfachten, men- 
schenähnlichen Wesen gewisse elemen¬ 
tare Seelenzustände, Todesschrecken, 
Angst und Schauer aller Art eindring¬ 
lich gestaltet Mehr als das Theater 
liegt den Vlamen der Roman, und zwar 
der unpsychologische Roman nach na¬ 
turalistischem Rezept in dem die Um¬ 
gebung, die Dinge ebenso wichtig oder 
wichtiger sind als die Menschen, in 
dem die Menschen eigentlich erst durch 
die Dinge, zwischen denen sie hausen, 
durch die Luft die sie atmen, durch 
ihr Milieu lebendig gemacht werden. 
De Costers Eulenspiegel-Epos zerflat- 
fert in eine Anzahl aneinandergereihter 
Bilder, und was einem vom Lesen im 
Gedächtnis haften bleibt, ist nicht etwa 
die innere Entwicklung des Helden, 
sondern der oder jener Bildausschnitt 
eine Schankstube zum Beispiel mit rau¬ 
fenden Kerlen. Lemonniers „Un mäle“ 
hebt an mit der Schilderung einer Mor- 
genlandschaft; andere Bilder folgen, 
Landschaften, prachtvolle darunter, In¬ 
nenansichten, Genreszenen; sie sind 
nicht alle im Umfang einer Riesenfreske 
wie die Schilderung der Kirmes; aber 
sie nehmen im Vergleich zur Handlung 
unverhältnismäßig viel Raum ein; sie 
sind um ihrer selbst willen da, die 
Handlung bedeutet hier wie in anderen 
Romanen Lemonniers nur den Rahmen, 
der sie umschließt und der oft genug 
in den Fugen zu krachen droht; und 
endlich und vor allem: sie sind das Interes¬ 
santeste und Wertvollste am ganzen Buch. 

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XII. 

Der Anfang von Lemonniers „Un 
mäle“ hat symbolische Bedeutung. Im 
Wald erwacht der Tag. Der Morgen 
graut es wird heller. Laub und Gras 
regen sich. Vögel rufen, der Wald wird 
lauter. Die Luft wird wärmer. Die 
Sonne steigt höher und weckt zuletzt 
den Menschen, der in der Mailandschaft 
verloren schlief — verloren zwischen 
Pflanzen und Getier, eins mit ihnen, 
Stoff vom selben Stoff, wie die ganze 
Menschheit verschwistert mit der Erde 
und dem A1L 

Die malerische Kunst der Vlamen 
wurzelt in einem Gefühl des Verwach¬ 
senseins mit der umgebenden Natur, in 
einem Pantheismus von triebhafter und 
ungewöhnlicher Stärke. Pantheistisches 
Weltempfinden liegt den Vlamen im 
Blut Ihre Maler sind erfüllt davon, 
und ebenso die vlämischen Dichter, die 
nicht in französischer Sprache schrei¬ 
ben, der Lyriker Guido Gezelle, dem es 
gelang, seinen Pantheismus mit seinem 
Christentum zu versöhnen, oder in un¬ 
seren Tagen ein Stijn Streuvels*: Das 
pantheistische Weltempfinden erscheint 
bei den einzelnen Vlamen verschieden 
abschattiert es ist aber bei/jällen vor¬ 
handen. Bei Lemonnier isti.es betont 
materialistisch, obwohl auch er (wohl 
ätherischen Leserinnen zu heb) Aus¬ 
flüge ins Spiritualistische gewagt hat 
die ihm aber recht übel bekommen sind. 
Bei Maeterlinck dagegen ist es betont 
spiritualistisch. Das heißt: Maeterlinck, 
der nicht mehr gläubiger- Katholik ist 
und doch nicht trotziger, stolzer Dies¬ 
seitsmensch wie Verhaeren, schaut die 
Welt ungefähr als eine Höhle, ringsum 
von Felsen ummauert; er tastet die 
Mauern ab, sucht ob nicht irgendein 
Loch, irgendeine Spalte ihm einen Blick 
ins Draußen, in eine andere Welt er¬ 
möglicht die er nicht sieht, die er aber 

11 * 

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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


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hartnäckig vermutet; er forscht nach 
einem Drüben, das in das sinnlose und 
trostlose Leben hier herüben Sinn und 
Trost tragen solL Und wenn er müde 
ist nach diesem Loch ins Blaue zu 
suchen, ein wenig zweifelnd geworden, 
bückt er sich, neigt sich über Pflan¬ 
zen und Tiere, um sie zu befragen. So 
sind sein Buch „La vie des abeilles“ 20 ), 
sein großer Aufsatz „L’intelligence des 
fleurs“ 21 ) und seine Grabrede auf einen 
kleinen Hund 22 ) entstanden. Er ver¬ 
sucht zu zeigen (nicht, ohne daß ihm 
dabei gewaltsame Vermenschlichungen 
und teleologische Willkürlichkeiten un¬ 
terlaufen), daß überall dieselben Ge¬ 
danken, dieselben Hoffnungen, die¬ 
selben Prüfungen und beinahe diesel¬ 
ben Gefühle 28 ) anzutreffen sind, ver¬ 
sucht Menschenleben und Menschen- 
seele in ihrer Einheit mit dem Leben 
und der Seele der Welt zu erfassen, 
den Menschen einzureihen, Tiere und 
Pflanzen zu lieben und zu begreifen wie 
Brüder, in deren Mitte der Mensch 
steht, nicht mehr abgesondert für sich 
als Wuriderwesen und Krone der Erde. 
Und worauf es ihm vor allem ankommt, 
ist dies: Hoffnung einzuflößen, auf ver¬ 
schiedenen Wegen und Umwegen (da 
ihm der selbstverständliche gesunde ju¬ 
belnde Optimismus Verhaerens fehlt) 
aus dem Einklang zwischen dem Geist, 
der unseren Körper bewegt, und dem 
Geist, der^ alles bewegt, aus dem ver¬ 
schleierten Walten desselben Willens, 
den er überall ahnt die Zuversicht zu 
schöpfen, daß unsere Sehnsucht nach 
einem besseren Zustand, naiver Men- 
schenglaube an einen Endzweck des 
Glücks und der Vollkommenheit sich 
einmal erfüllen werde. 

20) Paris, Bibi. Charpentier 1001. 

21) Paris, Bibi. Charpentier 1907. 

22) Le double jardin. Ebenda 1904. 

23) L’inteUigence des fleurs S. 103. 


Verhaerens stürmisches Draufgänger- 
temperament braucht keine solchen Um¬ 
wege. Ihm ist — seitdem er genesen ist 
genesen von Krankheit und dem Pessi¬ 
mismus, den (wohl unter dem Einfluß 
der Krankheit und französischer Strö¬ 
mungen) seine ersten Bände verraten 
— die Hoffnung auf eine strahlende Zu¬ 
kunft der Menschheit inbrünstige Gewi߬ 
heit Er hat vom Positivismus und von der 
modernen Wissenschaft her den Glauben 
an die Allmacht menschlicher Vernunft 
und menschlicher Arbeit an die unbe¬ 
grenzte Fruchtbarkeit menschlichen For- 
schens. Er sieht den Menschen von 
morgen als Herrn seines Schicksals, von 
letzten Dunkelheiten und Ratlosigkei¬ 
ten befreit als Eroberer der Erde, die 
er nach seinem Willen umschafft und 
der er sein Gesetz aufzwingt So sehr 
Diesseitsmensch ist Verhaeren, daß er 
sich gern, aber ohne Bedauern und 
Heimweh in die frommen Stimmungen 
seiner Knabengebete zurückversenkt 
damit ähnliche Ekstase ihm den neuen 
Glauben beschwinge. Und so sehr Dies¬ 
seitsmensch, daß er, losgelöst von jeder 
Jenseitsreligion, alle Religionen bewun¬ 
dern kann — bewundern als erhabene 
Werke von Menschenhand, die von 
Menschengröße zeugen, am meisten den 
Katholizismus wegen der ungeheuren 
Anstrengung menschlicher Energie, die 
ihn in der Vergangenheit zu einem so 
gewaltigen, weltüberwölbenden Bau 
auftürmte und die im Grunde nichts 
anderes ist als die Energie, die sich in 
der Organisation des Sozialismus oder* 
in der Unterwerfung und Kolonisierung 
des Erdballs durch Europa entlädt 
Verhaeren fühlt sich an der Schwelle 
eines goldenen Zeitalters, das er trun¬ 
kener, seherischer, überschäumender, 
verzückter als die Männer des 18 . Jahr¬ 
hunderts ankündigt verzückter sogar 
als Victor Hugo: im Jahrhundert das 


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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


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anhebt, wird der traurig« Aufschrei 
Faustens verstummen, jeder Zweifel 
wird tot sein, der Kampf mit den Rät* 
sein und Geheimnissen der Welt wird 
siegreich zu Ende gekämpft sein, und 
wenn der Mensch auf der Erde, wo er 
allein atmet und schreitet, dann noch 
Götter braucht, soll er selbst sie sein 24 ): 

Et s’il lni laut des dieux encore — qu’il 

les soit! 

Aber dieser Stolz auf das Menschen- 
tum, der bei aller lyrischen Trunken¬ 
heit nichts Frech-prahlerisches an sich 
hat, sowenig Frech-prahlerisches wie der 
Goethesche Prometheus oder der Kain 
Leconte de Lisles, richtet sich nur ge¬ 
gen oben, gegen den Himmel der My¬ 
then und Evangelien. Dieses zuversicht¬ 
liche Diesseitsbewußtsein speist eine 
Liebe, die feurig die Erde und alles Le¬ 
ben auf ihr umarmt, und wird von ihr 
gespeist Liebe zu jeder Kreatur, Mit¬ 
leid mit jeder Kreatur, Hingebung an 
jede Erscheinung und jede Kraft, Sehn¬ 
sucht, alles in sich zu saugen und sich 
einzuverleiben, um durch das Leben 
ringsum, das Alleben, das eigene flüch¬ 
tige Menschenleben zu schwellen und zu 
beflügeln, es reicher, heißer, stärker, 
wilder werden zu lassen — Weltver- 
herrlichung und Verherrlichung des Le¬ 
bens, das ist das große, einzige, immer 
wieder unerschöpflich in neuen Hym¬ 
nen abgewandelte Thema von Verhae- 
rens Dichtung, die tausendstimmig in 
hingerissener, schwärmerischer Dank- 
* baifceit den Ruhm des Lebens singt Ein 
Lob- und Preisgesang auf das Leben, 
' gleichviel wie die Stunde es schenkt 
gut oder schlecht schön oder häßlich, 
zärtlich oder zornig, auf das Leben um 
seiner selbst willen, weil es das Leben 
ist auf das Leben, das ganze und un¬ 
zerlegbare, das vielfältige und doch 

24) La science und Les cultes in Les 
Forces tumultueuses. 


eine, ohne Unterschied zwischen Tier¬ 
heit und Gottheit zwischen Sinnlichkeit 
und Geistigkeit zwischen Fleisch und 
Seele. Und da Verhaerens Tempera¬ 
ment alles, was er empfindet, in Par- 
oxysmus, Fieber, Rausch, Verzückung 
steigert so ist auch sein Weltgefühl 
maßlos, ein fieberndes Berauschtsein, 
und maßlos seine Hingebung an die Na¬ 
tur, seine Begierde, in ihr unterzutau¬ 
chen, sich in ihr aufzulösen. Mag er 
dankbar seinen Körper preisen, seine 
Hände, sein Herz, seine Lungen, seine 
Augen, seine Nerven, sein Gehirn, oder 
den Körper der Frauen preisen als herr¬ 
liches Teilstück der Welt die in ihnen 
sich spiegelt mag er das Summen, 
Brausen, Raunen, Schwirren, Zittern 
von Asten, Blättern und Insekten um 
sein Haus herum so tief in sich fühlen, 
als wär er selbst Ast Laub, Gras und 
Wehen von Flügeln, mag er zuzweit 
mit der geliebten Frau im Garten ihrer 
Liebe seine und ihre Liebe als Blühen 
wie das Blühen der Bäume und Blumen, 
als Leuchten wie das Leuchten von 
Sonne und Luft erleben, mag er so mit 
einem Baum verwachsen,, daß,, Säfte¬ 
trieb und Rhythmus des Baumes in 
sein Blut Überströmen, od^ mag er im 
Wind die weite Welt in seine Lungen 
schlürfen, all das verstreiche Leben, das 
der Wind über die Erd£ jagend in 
Norden, Süden, Westen, Osten in sich 
geschlürft hat — Rausch glüht immer 
aus seinen Versen. 

Mit diesem Weltgefühl betrachtet ge¬ 
winnt auch der Tod neue Bedeutung, 
oder vielmehr: er verliert die alte. Er 
verliert seine Schrecken, ohne zur Lok- 
kung zu werden. Er bedeutet für Ver- 
haeren nicht wie für Maeterlinck den 
Anfang von etwas anderem, Vollkomm- 
nerem, sondern einfach die Rückkehr ins 
All, die Vollendung des Aufgehens und 
Einswerdens. Ein Gedicht in „Les rytfr 


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331 


Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur 


332 


mes souverains“ offenbart in mytholo¬ 
gischem Symbol, wie er vom Sterben 
denkt. Nachdem er alle Taten getan, 
alles erobert hat, nichts mehr erobern 
kann, nicht mehr größer werden kann, 
als er sich gemacht hat, erobert sich 
Herkules singend den Tod in den Flam¬ 
men. Singend harrt er auf dem bren¬ 
nenden Scheiterhaufen aus, er, der 
so angespannt und heftig gelebt hat, 
daß er alles ist, was ist, Gewitter der 
Berge, Wind der Wälder und Gebrüll 
der Tiere, er, durch dessen Herz wie 
Sturzbäche alle Menschenleidenschaften, 
Freude und Trauer, rasten. Singend 
und im Leiden selig gibt er seinen Kör¬ 
per wieder den Wäldern, Fluren, Wo¬ 
gen, Bergen und Meeren zurück: 

ce corps en qui s’öcroule un morceau 

d’univers. 

XIII. 

In die französische Literatur brachen 
die Vlamen in einem entscheidenden 
Augenblick ein. Der Naturalismus hatte 
den Gipfel seiner Entfaltung schon 
überstiegen und war eben daran, sich 
zu erstiKÖpfen. Blutauffrischung war 
überall dringend notwendig, aber kaum 
nirgends notwendiger als in der Lyrik, 
wo das”pä¥hassische Ideal einer un¬ 
persönlichen* unbewegten, in makello¬ 
ser Glätte iftWf Strenge kühl schimmern¬ 
den Kunst %fch überlebt hatte, wo man 
sich nach mehr Lyrik im Sinn von Un¬ 
rast Fieber, seelischer Aufwühlung, 
nach mehr Musik, nach Zertrümme¬ 
rung jeder Förmensteifheit sehnte, nach 
einem neuen, biegsameren, beschwing¬ 
teren, von Ketten und Hemmschuhen 
befreiten Vers. In den Jahren zwischen 
1880 und 1900, die eine ausgesprochene 
Zeit des Herumtastens und Experimen- 
tierens bedeuteten, wurde kecker als je 
vorher in Frankreich an der Tabulatur 
des Versbaues gerüttelt. Von den Grup¬ 
pen und Grüppchen, die sich in Pariser 


Kaffeehäusern über das Programm der 
einzig wahren Dichtung der Zukunft 
stritten, hatte jede ihre eigene, mehr 
oder weniger großzügige und ver¬ 
schwommene Ästhetik, aber gemein¬ 
sam war ihnen allen die Sehnsucht 
nach dem vers llbre, nach Erlösung 
des Verses von den Kniffen, Verzwickt¬ 
heiten und Beckmessereien, von denen 
er seit dem Mittelalter und der Renais¬ 
sance, besonders seit Malherbe, noch 
am Ende des 19. Jahrhunderts starrte. 
Romantiker wie Pamassier waren auf 
halbem Weg stehen geblieben; was sie 
nicht gewagt hatten, wollte die vers- 
libristische Bewegung durchführen. ES 
ist bezeichnend, daß damals eine Reihe 
von Ausländem den Franzosen halfen: 
Stuart Merill, ein Landsmann Walt 
Whitmans, ein zweiter Amerikaner 
Francis Vi616-Griffin und einer der wich¬ 
tigsten Führer der Symbolisten und De¬ 
kadenten, der Grieche Papadiamanto- 
poulos, der sich Jean Moröas nannte. 

Und dazu nun die Vlamen. Sie kom¬ 
men aus einem Land mit einer ganz 
frischen Literatur, mit einer Literatur, 
die überhaupt erst mit ihnen erwachsen 
ist Sie fühlen sich zwar der Kultur 
und der Bildung nach als Franzosen, 
betrachten zwar das Französische als 
ihre Muttersprache und die französische 
Literatur als ihre geistige Heimat, ihre 
künstlerische Vergangenheit Aber die 
Überlieferungen, die Autorität der Aka¬ 
demie, der Kritiker, Metriker, Gram¬ 
matiker, die Summe ererbter Schulweis¬ 
heiten, die in Frankreich (zum Segen 
und Unsegen der Literatur) immer von * 
stärkstem Einfluß waren, halten sie 
weit weniger in Bann. In ihnen ist 
die freche Unbekümmertheit von jun¬ 
gen Barbaren ohne Glauben und Aber¬ 
glauben. Und wie ihr Französisch sich 
nicht durchaus mit der reichsfranzö¬ 
sischen Sprache deckt da ihnen die 


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•333 


Hanns Heiss, Der vl&mische Anteil an der französischen Literatur 


334 


Ehrerbietung vor heiligen Vorschriften 
und Verboten nicht von Kind auf an¬ 
erzogen wurde, da ihr germanischer In¬ 
dividualismus sich schlecht mit allge¬ 
mein verpflichtenden Normen abfindet, 
so wagen sie es auch eher, mit dem 
Vers nach ihrem Gutdünken umzusprin¬ 
gen. Ihr Beispiel gibt den Franzosen 
Mut und Ansporn, und wenn es wirk¬ 
lich glückte, mehr als einen lächerlichen 
Zopf abzuschneiden, so gebührt ihnen 
ein großer, vielleicht der größte Teil 
des Verdienstes daran. Das Ringen mit 
der Form, das einen Verhaeren von 
den Strophen der „Flamandes“ durch 
den Formenwirrwarr und die Form¬ 
losigkeit seiner wildesten Bünde zu dem 
gezügelteren und doch geschmeidigen, 
innerlich freien Vers deT letzten Bünde 
gelangen ließ, hat auch in Frankreich 
Früchte getragen. 

Was die Eigenart der Vlamen in der 
französischen Literatur kennzeichnet 
und zugleich die Rolle, die sie in der 
europäischen Literatur um 1900 spielen, 
laßt sich, glaube ich, in einem einzigen 
Wort zusammenfassen: sie sind mo¬ 
dern. Die Vlamen, besonders ein Ver¬ 
haeren, sind durchaus moderne Men¬ 
schen, durchaus Kinder der Gegenwart, 
von allen zeitgenössischen Künstlern 
Europas am geringsten mit Tradition, 
mit lähmenden Erinnerungen an Ver¬ 
gangenes belastet Sie sind groß ge¬ 
worden in einem Land, das eng um¬ 
grenzt ist dessen nationale Begrenztheit 
aber durch die vielfältigen Beziehungen 
und Interessen verwischt wird, die es 
mit Nachbarländern verbinden, mit Eng¬ 
land fast ebenso wie mit Frankreich 
und weit loser mit Deutschland. In¬ 
mitten eines ausgesprochen demokra¬ 
tisch empfindenden Volkes, in einem 
Industriestaat, wo innige Fühlung mit 
modernem Leben, Leben der Technik, 
überseeischen Handels und weltum¬ 


spannenden Verkehrs sich beinahe not¬ 
wendig einstellen mußte; wo sie aus 
nächster Nähe mit allen sozialpoliti¬ 
schen Fragen vertraut werden konnten, 
die das moderne Leben aufwirft, wo 
sie aus nächster Nähe und mit hinein- 
gerissen das Aufeinanderprallen schärf¬ 
ster Klassengegensätze beobachten 
konnten und den mühsamen, außeror¬ 
dentlich erbitterten Kampf um die wirt¬ 
schaftliche und kulturelle Hebung einer 
dichten, selbstbewußten, aber in sehr 
drückender Lage niedergehaltenen Ar- 
beiterbevölkerung, die noch entschie¬ 
dener als anderswo ihr Heil allein vom 
Sozialismus erwartet 
Die riesige Welle sozialen Mitleids 
und sozialer Propaganda, die, mit den 
Anfängen der sozialistischen Bewegung 
einsetzend, von Frankreich, von Victor 
Hugo und Kleineren, wie Sue, aus¬ 
gehend, als die bezeichnendste Strö¬ 
mung des verflossenen Jahrhunderts 
durch die europäischen Literaturen läuft 
die durch das Werk von Dickens, das 
Werk von Zola, von Tolstoi, von Björn- 
stjerne und Ibsen, von Happpp^pn und 
Dehmel flutet r— sie scheint bei den Vla¬ 
men (und immer wieder ipi^ man Ver¬ 
haeren als den größten und,,repräsenta¬ 
tivsten Vlamen hervorhebep) ihren Gip¬ 
fel zu erreichen. Bei Verheeren findet 
man zusammengepreßt und mit der 
wuchtigsten Energie gestaltet was über¬ 
all in Europa verstreut anklingt: düste¬ 
rer Gegenwartspessimismus, wie wir 
ihn seit der Armeleutdichtung der 
Naturalisten kennen, ein Hinunterstei' 
gen ohne Scheu und Scham in die 
dunkelsten und grauenvollsten Ab¬ 
gründe der Gesellschaft ein Hinein- 
leuchten ohne Schonung in soziale 
Schäden, in jedes menschliche Elend, 
körperliches wie sittliches Elend — aber 
dieser trostlose Gegenwartspessimismus 
beglünzt und überglänzt von Mensch- 


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% 

Hanns Heiss, Der vlfimische Anteil an der.französischen Literatur 


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heitsliebe, von einem schimmernden Zu¬ 
kunftsoptimismus, der der geplagten 
Menschheit Erlösung und ein herrlidies 
Morgen verheißt, Befreiung durch so¬ 
ziale Reformen oder Revolution, Fort¬ 
schritt hinauf zu Glück und Wahrheit 
durch menschliche Wissenschaft, durch 
menschliche Arbeit im allgemeinen, die 
den Menschen vergöttlicht und ihm die 
entgötterte Welt dienstbar machen»wird, 
durch den Helden und Eroberer von 
heute, der nicht mehr, den Sabel in der 
Faust hoch zu Roß einhersprengt, son¬ 
dern im Kontor oder in der Fabrik oder 
im Laboratorium zu suchen ist 

Man kann Dichter von stillerer Art 
von intimerer Kunst die wählerischer 
sind, weniger larmen, nie abstoßen, sel¬ 
ten auf (die Nerven fallen, einen Stefan 
George, einen Anatole France, einen 
Henri de Rögnier, lieber haben als Ver¬ 
heeren. Aber es wird sich einem vor 
Verhaeren, vor seinen Hymnen auf Le¬ 
ben und Erde, auf Heute und Morgen 
immer zwingend das Gefühl aufdran¬ 
gen: hier steht der Dichter einer neuen 
Zeit deren Umwälzungen wir alle 
ahnen, die aber vorläufig noch keiner 
so messianisch zu deuten und zu 
singen weiß wie er, deren Inhalt und 
Sehnsucht deren Ethos und Religion, 
deren Tragik und Vertrauen keiner so 
lyrisch beredt wie er in neue künst¬ 
lerische Werte umzuprägen weiß, ein 
Dichter, in dessen Werk das ganze, ver¬ 
worren kreisende Dasein unserer Tage 
nach Ausdrude ringt und der darum von 
allen, die augenblicklich in Europa 
schreiben, die meisten Aussichten hat zu 
dauern und fernen Geschlechtern etwas 
von uns zu sagen. 

XIV. 

Jahrhundertelang lebt vlämisches Volk 
in Flandern, Brabant und Limbuig, ohne 
eine Literatur hervorzubringen. Endlich 


blüht in diesem Volke eine Literatur auf. 
Dichter erstehen ihm, die der Rede wert 
sind, darunter einer sogar von über¬ 
ragender Größe. Aber diese Literatur ist 
dem Ausdruck nach französisch und be¬ 
reichert zunächst den romanischen An¬ 
teil an der Weltliteratur. Das ist be¬ 
dauerlich, aber es laßt sich begreifen als 
das notwendige Ergebnis geschichtlicher 
Entwicklung. Was hatten die vlämi- 
schen Dichter tun sollen? Sich abson¬ 
dern und eine viamische Mundart oder 
Niederländisch schreiben, wie es manche 
Vlamen versucht haben und heute noch 
versuchen, zum Beispiel ein Mann von 
der Begabung Stijn Streuvels’? Das war 
zu undankbar und hätte ihnen von vorn¬ 
herein den Weg zu europäischem breiten 
Erfolg und zu europäischer breiter Wirk¬ 
samkeit erschwert, wenn nicht ganz 
versperrt Hochdeutsch schreiben, das 
ihnen allen eine fremde Sprache ist die 
sie erst erlernen müssen, in der sie nicht 
aufgewachsen sind und; von Kindheit an 
gelebt haben? 

Belgien liegt an der Peripherie von 
zwei Kulturkreisen, dem deutschen einer¬ 
seits, dem französischen anderseits. Daß 
der französische Teil Belgiens nach 
Frankreich neigt ist nur natürlich. Aber 
auch der deutsche Teil muß sich einem 
dieser Kulturkreise anschließen, da er zn 
klein und schwach ist um für sich 
zu gedeihen. Nach dem deutschen 
Kreis könnte die Stammesverwandt¬ 
schaft ziehen. Aber Deutschland, von 
dem wie von Frankreich nur ein paar 
Stunden Eisenbahnfahrt trennen, scheint 
so weit und fern, unvertraut und au» 
manchen Gründen wenig einladend. 
Hinter der deutschen Kultur und Sprache 
stand nie geschlossen wie hinter der 
französischen ein politisch mächtiger 
Staat, wie er allein einer Kultur und 
Sprache Ausdehnungskraft und Werbe¬ 
kraft verleihen kann. Und als endlich 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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nach (ton siebziger Krieg ein solcher 
Staat sich bildete, da war es langst zu 
spat, da war das viamische Belgien 
längst erobert Eingewurzelte Oberliefe' 
rangen, seit langem ererbte Sympathien 
wiesen die -Vlamen nach Frankreich. 
Und vielleicht war es noch etwas Tie¬ 


feres, was sie dorthin zog: die geheime 
Sehnsucht nach romanischem Wesen 
Klarheit und Schönheit die in jedem 
Germanen schlummert und die seit dem 
Mittelalter so viele unwiderstehlich nach' 
Italien, dem ältesten Herd lateinischen 
Ideals, hinuntergelockt hat 


Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur. 

Von Ph. Aronstein. 


Das Problem des Engländertums ist 
durch den Krieg, in dem wir uns mit 
dem englischen Volke befinden, in den 
Vordergrund des Interesses gerückt 
worden. Und es hat nicht an Versuchen 
gefehlt sich mit demselben auseinander- 
zusetzen. Daß diese Versuche meist ein¬ 
seitig ausgefallen sind, ist nur zu er¬ 
klärlich. Indignatio facit versum, die Ent¬ 
rüstung macht zwar den Dichter, aber 
nicht den objektiven Beurteiler. Ein¬ 
zelne geschichtliche Tatsachen bieten 
ebensowenig wie einzelne Aussprüche 
bedeutender Männer des eigenen oder 
eines fremden Volkstums eine genü¬ 
gende Grundlage, um ein Volk zu cha¬ 
rakterisieren. Eine solche wird uns aber 
geboten in seiner Literatur, wenn wir 
sie in diesem Sinne zu lesen verstehen. 
Das Schrifttum eines Volkes ist nichts 
für sich Bestehendes. Es geht nicht an, 
dasselbe in der Weise von seiner Politik, 
den äußeren Formen seines Lebens 
scheiden zu wollen, wie es etwa fran¬ 
zösische und englische Gelehrte mit Be¬ 
zug auf Deutschland zu tun pflegen. Das 
ist törichte Selbsttäuschung. Es ist viel¬ 
mehr das Produkt und zugleich der 
Spiegel dieses Landes. Zweck und Ziel 
der Literatur ist, wie Hamlet das vom 
Schauspiel sagt, „der Natur den Spie¬ 
gel vorzuhalten, der Tugend ihre eige¬ 
nen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild 
and dem Jahrhundert und Körper der 


Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu 
zeigen“. 

Von keiner Literatur gilt dies aber in 
höherem Maße wie von der englischen. 
Kann man die deutsche, wenn man sie 
kurz kennzeichnen will, als eine Schule 
der Ideen bezeichnen, erscheinen die der 
Franzosen und Italiener als Reiche der 
Form und der Schönheit, so ist die eng¬ 
lische von Chaucer bis auf Meredith in 
erster Linie eine Schule des Lebens. Des¬ 
halb bezeichnet auch der bedeutendste 
englische Kritiker des 19. Jahrhunderts, 
Matthew Arnold, die Poesie einseitig als 
Kritik des Lebens, eine Definition, die 
eben auf dem Wesen und Charakter der 
englischen Poesie aufgebaut ist und in 
ihr ihre Begründung findet Indem sie 
aber Kritik des Lebens ist, ist sie natür¬ 
lich vorzugsweise Selbstkritik, Kritik des 
eigenen Volkstums. Dieses ist es vor 
allem, das sich in der Literatur in allen 
seinen sozialen Schichten spiegelt, in ihr 
und durch sie in seinen Vorzügen und 
Fehlem, seiner Stärke und seiner 
Schwäche dargestellt verherrlicht und 
getadelt idealisiert und karikiert er¬ 
scheint Dies geschieht in erster Linie 
unbewußt naiv« Wenn Shakespeare, wie 
Goethe rühmend hervorhebt, seine Rö¬ 
mer zu Engländern macht so tut er da¬ 
mit nichts anderes als Goethe selbst 
dessen Iphigenie keine Griechin, son¬ 
dern eine Deutsche ist oder als Radne, 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


340 


•dessen Römer und Griechen französi¬ 
sche Adlige vom Hofe Ludwigs XIV. sind. 
‘Nicht mit dieser unbewußten Selbstkri¬ 
tik, die so groß ist wie die Literatur 
selbst, haben Wir es hier zu tun. Wir 
beschränken uns vielmehr auf die be¬ 
wußte, absichtliche Beschäftigung der 
englischen Literatur mit dem eigenen 
Volkstum, die jedenfalls in ihrer Ge¬ 
samtheit ein bedeutendes Zeugnis für 
die Erkenntnis dieses Volkstums bietet. 
Wir werden kurz zu skizzieren versu¬ 
chen, wie die h&vorragendsten Geister 
unter den Engländern im Laufe der Jahr¬ 
hunderte ihr eigenes Volkstum aufge¬ 
faßt haben, namentlich auch im Ver¬ 
gleiche und im Gegensätze zu anderen 
Nationen; wie sie ihr nationales Ideal, 
d.h. den Inbegriff der Eigenschaften, die 
sie hochschätzten und auf die sie stolz 
'waren, auf gebaut haben, und welcher Art 
die Kritik ist, die sie an den Erscheinun¬ 
gen ihres nationalen Daseins geübt 
haben. 

I. 

Das nationale Selbstbewußtsein nimmt 
in England seinen ersten gewaltigen 
Aufschwung im Zeitalter der Königin 
Elisabeth, das den Sieg über die spani¬ 
sche Weltmacht im Jahre 1588 und die 
Anfänge der englischen Kolonisation 
und Seeherrschaft sah. Und dieses Er¬ 
wachen des nationalen Geistes findet 
naturgemäß seinen Ausdruck in der 
herrschenden Literaturgattung der Zeit, 
dem Drama, welches damals die Funk¬ 
tionen von Buch und Zeitung und — kön¬ 
nen wir heute hinzufügen — des Kine- 
matographen mit denen der Bühne ver¬ 
einigte, alle Regungen der Volksseele 
treu spiegelnd. Daher zeigt sich in einem 
großen Teile der dramatischen Literatur, 
namentlich der neunziger Jahre des 16. 
und des Anfangs des 17. Jahrhunderts, 
ein kampfesfroher Patriotismus, ein ge¬ 
steigertes Bewußtsein der eigenen Größe 

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und ein glühender Haß gegen die 
Feinde, besonders eine antikatholische 
und meist antispanische, oft auch anti¬ 
französische Tendenz. Diese tritt in man¬ 
chen Stücken der Dramatiker der Zeit 
von Marlowe und Peele bis zu sol¬ 
chen flinken und schnellfertigen „Dra¬ 
menbauern“, wie Dekker und Tho¬ 
mas Heywood, die für den Tag im 
Aufträge einer Schauspielergesellschaft 
„abendfüllende“ Dramen allein oder zu 
mehreren zusammenzimmerten, oft sehr 
aggressiv und unkünstlerisch hervor. 
Diesem poetischen Aufschwung ver¬ 
dankt auch die Gattung der „Historien* 4 
oder vaterländischen Dramen ihre Ent¬ 
stehung und kurze Blüte, jene in ihrer 
Art in der Neuzeit einzige Litera¬ 
turgattung, aus deren großer Masse — 
man zählt innerhalb eines Zeitraumes 
von 15 Jahren mehr als 220 Stücke die¬ 
ser Art von denen etwa die Hälfte er¬ 
halten ist — Shakespeares neun Histo- 
'rien als Gipfelpunkt hervorragen. Sha¬ 
kespeare selbst hat sich von dieser 
patriotischen Woge tragen lassen, und 
wenn er auch in seiner breiten Mensch¬ 
lichkeit die Extreme des Hasses, der sich 
in manchen Dramen seiner Zeitgenossen 
ausspricht vermeidet, so ist er doch ein¬ 
seitig patriotisch, steht keineswegs den 
Ereignissen objektiv gegenüber wie etwa 
Schiller, verherrlicht die Engländer und 
verkleinert ihre Feinde, die Franzosen, 
die Gegner seines Helden Heinrichs V. 
sowohl wie die Jungfrau Von Orleans, 
die er als Hexe und Buhlerin darstellt. 
Und in seinem Richard II. findet sich 
die schönste Verherrlichung Englands in 
der Literatur; es sind jene Worte, die 
der sterbende Gaunt an seinen leicht¬ 
sinnigen königlichen Neffen richtet Da 
heißt England „dies Bollwerk, das Natur 
für sich erbaut, dies Kleinod in die Sil¬ 
bersee gefaßt, die ihre Dienste ihm als 
Mauer leistet, als Festungsgraben, der 

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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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das Haus beschützt vor weniger be¬ 
glückter Lander Neid"; so und in ähn¬ 
lichen Wendungen wird vor allem Eng¬ 
lands insulare Lage als sein größter Vor¬ 
zug und Schutz gepriesen. 

Das hochgespannte Nationalgefühl 
der Renaissanoezeit unterscheidet sich 
seinem Wesen nach nicht von dem an¬ 
derer Völker. Es enthalt als Elemente 
den Stolz auf die Taten der Väter und 
die alte glorreiche Geschichte des Lan¬ 
des, die durch die Sage verklärt und 
ähnlich, wie die der Franzosen, durch 
keltische Einbildungskraft und eine 
phantastische Gelehrsamkeit nach rück¬ 
wärts erweitert wird über die Idealge- 
statt des Königs Artus bis auf Brutus, 
den Enkel des Äneas, und die Freude 
Ober die Vorzüge des Landes, seiner 
Lage, „rings umfaßt vom stolzen Meere", 
seinen Reichtum und seine Fruchtbar¬ 
keit Ein neues Element kommt hinzu 
durch die große puritanische Revolu¬ 
tion des 17. Jahrhunderts, die das Kö¬ 
nigtum der Stuarts stürzte, und deren 
Gipfelpunkt die kurze ruhmreiche Herr¬ 
schaft Cromwells bildet Es ist der Stolz 
auf die Freiheit Englands im Gegensätze 
zu der Knechtschaft, unter der andere 
Völker seufzen, und vor allem der 
Glaube, daß die Engländer „das auser¬ 
wählte Volk" seien im Sinne des bibli¬ 
schen Judentums. Nirgends erschallen 
diese neuen Töne so kraftvoll als in den 
Schriften, besonders den Sonetten und 
den polemischen Poesieschriften des 
größten Schriftstellers der englischen 
Revolution, Miltons. Da wird England 
gepriesen als das Land „des freien Ge¬ 
wissens, der Freiheit des Denkens", als 
»die vollkommenste freie Nation der 
Welt“. „Wir haben Grund zu glauben," 
»gt Milton in der berühmten Streit¬ 
schrift für die Freiheit der Presse, Areo- 
Pagitica, „daß die Gunst und die Liebe 
des Himmels uns besonders gnädig und 


zugeneigt ist Warum sonst wurde diese 
Nation vor jeder anderen auserwählt, 
daß aus ihr wie aus Zion die erste Kunde 
der Reformation in ganz Europa er¬ 
schalle? Hatten die Bischöfe nicht Wick- 
liff als einen Ketzer und Neuerer unter¬ 
drückt, so hätte man vielleicht nie von 
Huß, Luther und Calvin gehört. Aber 
jetzt, wo Gott eine neue und große Zeit 
in seiner Kirche beginnt, die Reform der 
Reformation selbst, wem anders offen¬ 
bart er sich als seinem Diener und, wie 
seine Art ist, seinen Engländern?“ Also 
selbst den Ruhm der Reformation will 
Milton Deutschland und der Schweiz 
nicht lassen, sondern nimmt ihn für sein 
Volk in Anspruch. Diese Oberhebung, 
dies Besserseinwollen als andere Völker, 
dieser Glaube, zu Gott in einem bevor¬ 
zugten Verhältnis zu stehen, auserwählt 
zu sein, ist von jener Zeit an charakteri¬ 
stisch für das englische Volksbewußt- 
sein und findet in seiner Literatur von 
Milton bis zu Kipling, dem wilden Sän¬ 
ger der englischen Weltmission, man¬ 
nigfachen Ausdruck. 

Die Zeit vor der sogenannten „glor¬ 
reichen Revolution" von 1688, d. h. dem 
Siege der Aristokratie über das nach 
Absolutismus strebende Königtum der 
Stuarts bis zum Ende des 18. Jahrhun¬ 
derts, sah die innere Konsolidierung des 
englischen Staatsgebäudes als einer par¬ 
lamentarischen Aristokratie mit dekora¬ 
tiver monarchischer Spitze und den Auf¬ 
bau des englischen Weltreiches infolge 
der Siege über die Franzosen in Canada 
und Indien, nicht zu geringem Teile mit 
Hilfe deutscher Söldnertruppen und 
durch das Bündnis mit Friedrich dem 
Großen. Das ist auch die Zeit, in der das 
englische Nationalbewußtsein seinen 
spezifischen, es von dem aller anderen 
modernen Völker unterscheidenden Cha¬ 
rakter und seine bleibenden Ausdrucks¬ 
formen gefunden hat Unter den Scbrif- 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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ten, die hierzu beigetragen haben, ist die 
erste Daniel Defoes, des Verfas¬ 
sers von Robinson Crusoe, Gedicht 
The True-Born Englishman, „der 
echte Engländer“. Diese Satire, die im 
Jahre 1709 unter der Regierung Wil¬ 
helms III. erschien, richtet sich gegen 
diejenigen, welche den aus den Nieder¬ 
landen gekommenen König und seine 
holländischen Freunde als „Fremde“ an- 
griffen und sich etwas darauf zugute 
taten, „echte Engländer“ zu sein. Da¬ 
gegen weist Defoe darauf hin, daß die 
Engländer ein Mischvolk aus zahlreichen 
Rassen seien, und daß namentlich ihr 
Adel, der so stolz auf seine „Echtheit“ 
poche, fremdgeboren sei, ein Sammelsu¬ 
rium von Normannen, Holländern, Schot¬ 
ten, Iren und den Nachkommen der zahl¬ 
reichen ausländischen Maitressen König 
Karls II. Er sieht in diesem Mischcha¬ 
rakter eher einen Vorzug als einen Man¬ 
gel und rät seinen Landsleuten, gegen¬ 
einander Toleranz zu üben. Man kann 
im allgemeinen sagen, daß sie diesen 
Rat befolgt haben. Wenn das englische 
Volk die Kinderkrankheit des National¬ 
bewußtseins: die Verketzerung der eige¬ 
nen Volksgenossen aus Gründen der Ab¬ 
stammung, so früh überstanden hat, so 
ist das nicht zum geringsten Grade die¬ 
ser Satire zu verdanken. 

Defoe entwirft in demselben Gedicht 
eine humoristische Skizze „jenes hetero¬ 
genen Dinges, eines Engländers“, auf die 
wir nicht näher einzugehen brauchen, 
da sie sich im wesentlichen deckt mit 
der berühmteren, die wir dem aus 
Schottland stammenden Arzt John Ar- 
buthnot verdanken. Er ist der Schöp¬ 
fer des Typus des Engländers gewor¬ 
den durch seine „Geschichte John 
Bulls“ (zuerst erschienen 1712). Das 
Ganze ist eine politische Allegorie, die 
den spanischen Erbfolgekrieg zum Ge¬ 
genstand hat, den sie darstellt als einen 


Rechtsstreit zwischen Lord Stolz (Spa¬ 
nien), Ludwig Pavian (Ludwig XIV.), Ni- 
oolaus Frosch (Holland) und John Bull 
oder Stier (England). Diese Allegorie 
interessiert uns heute kaum noch in ih¬ 
ren Einzelheiten. Was besonders von 
Interesse ist, ist seine Charakteristik des 
Engländers, zu der die damals herr¬ 
schende Klasse der Grundbesitzer Mo¬ 
dell gestanden hat. John erscheint da 
als ein ehrlicher, aufrichtiger, choleri¬ 
scher, kühner Bursche, leicht zum Streit 
geneigt, besonders wenn jemand ihn 
meistern will, für Schmeichelei sehr 
empfänglich, launisch, geschäftstüchtig, 
aber doch nachlässig in seinen Rechnun¬ 
gen und daher leicht zu betrügen, dabei 
ein fröhlicher Zecher, der seine Flasche 
und ein gutes Essen liebt. Dieser Typus, 
bei dem die äußere Behäbigkeit nicht 
fehlen darf, ist seitdem unzählige Male 
in Bild und Wort nachgezeichnet wor¬ 
den, mit liebevollem Humor in den Skiz¬ 
zen des Amerikaners Washington Irving 
und mit scharfer Kritik zuletzt in einem 
nachgelassenen Werke von George Me- 
redith, von dem noch die Rede sein 
wird. 

Gleichzeitig mit dieser ihrem Wesen 
nach sympathischen, positiv-konstruk¬ 
tiven Kritik beginnt aber auch die an¬ 
greifende und negativ zersetzende, die 
sich gegen die Auswüchse des politi¬ 
schen Lebens richtet Von jenem selben 
Arbuthnot stammt die Satire „die 
Kunst der politischen Lüge". Die 
Schrift definiert die politische Lüge als 
„die Kunst, die Leute zu einem guten 
Zwecke von heilsamen Falschheiten zu 
überzeugen“, und erörtert weiter die 
Rechtmäßigkeit der politischen Lüge, wer 
sie ausüben solle, ob bloß die Regie¬ 
rung oder auch das Volk, die verschie¬ 
denen Arten derselben, wie sie beschaf¬ 
fen sein müsse, um Glauben zu finden, 
welche von den beiden Parteien es am 


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•*b45 


Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


346 


weitesten darin gebracht habe, die Or¬ 
ganisation derselben, wie man einer 
Lüge widersprechen solle, ob durch die 
Wahrheit oder eine andere LQge, und so 
manches andere. Die kleine Schrift ist 
außerordentlich witzig und mutet uns 
heute, wo die Kunst der politischen Lüge 
so virtuos, unter einer so glanzenden Or¬ 
ganisation und mit so unendlich durch 
die Technik vervollkommnten Hilfsmit¬ 
teln in England geübt wird, geradezu 
aktuell an. Sie ist mit ihrer anscheinen¬ 
den Ernsthaftigkeit und trockenen Sach¬ 
lichkeit ganz im Stile der Schriften des 
größten englischen Satirikers, des Freun¬ 
des und Zeitgenossen Arbuthnots, Jo¬ 
nathan Swift, gehalten. Auch dieser, 
der schärfste und bitterste unter den 
Geistern, die verneinen, hat manchen Bei¬ 
trag zur Kritik des Englündertums gelie¬ 
fert Da sind vor allem seine blutigen 
Satiren auf die Beraubung, Verarmung 
und planmäßige Ausbeutung seines Hei¬ 
matlandes Irland durch die Engländer, 
die „Tuchmacher-Briefe“ und an¬ 
dere Flugschriften, mit ihnen der Vor¬ 
schlag, die kleinen Kinder der Armen in 
Irland zu schlachten und an den Ta¬ 
feln der Reichen zu verzehren, damit sie 
nicht ihren Eltern zur Last fallen und 
dem Gemeinwohl nützlich seien — ein 
grausiger Hohn auf die Unterdrückung 
und Aussaugung Irlands—; dazu gehört 
auch jenes wunderbare Buch, das heute 
noch neben Robinson Crusoe die Freude 
der Kinder ist ohne daß diese ahnen, 
daß es im Grunde eine Satire auf die 
Menschheit und besonders auf eng- 
lischeVerhältnisse darstellt „Gullivers 
Reisen“. Ein Beispiel möge das erläu¬ 
tern. Im sechsten Kapitel des zweiten 
Buches, das die Reise Gullivers zu den 
Riesen von Brobdingpag behandelt gibt 
Gulliver dem König einen Bericht über 
die Verfassung und die Einrichtungen 
Englands; dieser aber kommt nach den 


Lobreden Gullivers auf die beste aller 
Verfassungen usw. und den Antworten, 
die der englische Patriot auf seine Frage 
gibt, zu dem Schlüsse, daß die Englän¬ 
der „die verderblichste Rasse häßlichen 
kleinen Gewürms seien, die die Natur je 
auf der Oberfläche der Erde habe her¬ 
umkriechen lassen“. Es ist die Kehrseite 
des parlamentarisch-aristokratischen Sy¬ 
stems, die Bestechlichkeit, die Selbst¬ 
sucht der Parteien und ihre Intrigen, 
die Verkehrung des Rechtes zugun¬ 
sten der Mächtigen und Reichen, die in 
Swifts Meisterwerk — es erschien im 
Jahre 1726, also in den Anfängen jenes 
Systems — mit unerbittlicher Schärfe 
dargestellt wird. 

Es ist bezeichnend und kein Zufall, 
daß die beiden zuletzt genannten Kriti¬ 
ker des Engländertums, Arbuthnot und 
Swift, keine Engländer im engeren Sinne 
waren, sondern der Herkunft nach der 
eine ein Schotte, der andere ein Irländer. 
Wir können im allgemeinen die Beob¬ 
achtung machen, daß die kritische Be¬ 
schäftigung mit Fragen des englischen 
Volkstums vielfach von Schotten und Ir¬ 
ländern ausgegangen ist Das ist psy¬ 
chologisch ganz natürlich. Um über ein 
Volk, dem man angehört, einigermaßen 
unbefangen urteilen zu können, ist es si¬ 
cherlich von Nutzen, gleichzeitig, sei es 
durch Geburt oder durch besondere gei¬ 
stige Bildung einen Standpunkt außer¬ 
halb einzunehmen, von dem aus die 
Dinge in ihrer Idealität sich darbieten. 
Es ist das eine Beobachtung, die auch 
durch die Literaturen anderer Völker, 
z. B. der deutschen; bestätigt wird. 

Auch das Kampflied des englischen 
Imperialismus, der kraftvolle, wenn auch 
reichlich schwülstige Ausdruck von Eng¬ 
lands Wille zur Seeherrschaft stammt 
von einem Nicht-Engländer, dem Schot¬ 
ten'James Thomson, dem sentimen¬ 
talen Dichter der „Jahreszeiten“. Das 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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„Rule Britannia“ wurde zuerst im 
Jahre 1740 als Sdiluß des patriotischen 
Maskenspiels Alfred gesungen. Hier 
wird prophetisch, als göttliche Bestim¬ 
mung, verkündet, daß Britannien die 
Wogen beherrschen werde, daß Briten 
nie Sklaven sein werden; es wird die 
Freiheit der Briten der Knechtschaft 
anderer, „nicht so gesegneter“ Nationen 
gegenübergestellt und nicht weniger als 
die Unterwerfung des Ozeans und jedes 
Gestades, das er bespült, verheißen. 
Keine Nation besitzt ein anerkanntes 
Nationallied, das den Willen zur Macht 
sowie das Gefühl der Überlegenheit 
über alles Fremde so deutlich und so 
kraftvoll, so unbedingt zum Ausdruck 
bringt Wie zahm, wie sentimental er¬ 
scheint dagegen unser von Feinden und 
Übelwollenden so verlästertes „Deutsch¬ 
land, Deutschland über alles“ mit sei¬ 
nem Preise deutscher Frauen, deutscher 
Treue, deutschen Weins und deutschen 
Sanges! Um dieselbe Zeit wie das „Rule 
Britannia“ entstand übrigens auch die 
offizielle englische Nationalhymne „G o d 
save the King“, über deren Verfas¬ 
ser und Komponisten nur Vermutungen 
bestehen, die aber in ihrem kriegeri¬ 
schen Tone durchaus der Stimmung 
jener Zeit entspricht. 

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts 
waren die Verhältnisse in England zu 
einer gewissen Stetigkeit gelangt. Der 
Sieg des aristokratischen Parlamentaris¬ 
mus war entschieden, das Königtum, 
vertreten durch die hannoverschen Ge¬ 
orge, die erst in der dritten Generation 
sich als Engländer fühlten, hatte nur 
noch die Bedeutung einer dekorativen 
Spitze und der Aufrechterhaltung der 
Verbindung mit der Vergangenheit Da¬ 
mit setzt auch gleich die Kritik des Be¬ 
stehenden in der Literatur ein, und zwar 
vom Standpunkt des Humanismus 
des 18. Jahrhunderts. Diese Kritik 


ist aber nicht direkt, sei es offen oder 
verhüllt wie im Zeitalter von Defoe und 
Swift, durch Pamphlet und Satire, son- 
dem, da die Literatur sich jetzt von der 
Politik gelöst hat und ein eigenes Da¬ 
sein führt, indirekt, gelegentlich, beiläu¬ 
fig durch den realistischen Roman, 
der die Rolle des Dramas in der Renais¬ 
sance übernimmt und in noch höherem 
Grade wie dieses ein treuer Spiegel de» 
Lebens ist. Die Romane von F i e 1 d i n g, 
Smollett und Goldsmith sind voll 
von scharfer Satire auf die Schäden und 
Mängel, die mit dem herrschenden Sy¬ 
stem eng verbunden waren. Wir sehen 
hier deutlich die Kehrseite jener Frei¬ 
heit, die Montesquieu und Voltaire 
ihren Landsleuten und der Welt als Mu¬ 
ster vorhielten, die Bestechlichkeit des 
Parlaments und der Minister, den hefti¬ 
gen, alles unterwühlenden Parteigeist, 
die Mißbräuche und die Käuflichkeit der 
Ämter in Kirche, Heer und Verwaltung, 
die Klassenjustiz, die den gentleman 
milde behandelte und sein Eigentum 
durch harte Gesetze schützte, aber blu¬ 
tige Strafbestimmungen für die klein¬ 
sten Vergehen des Volkes zur Hand 
hatte, vor allem die Schuldhaft mit ihren 
geradezu grotesken Auswüchsen: alles 
das wird in Romanen und Zeitschriften 
schonungslos gegeißelt Es ist wieder¬ 
um bezeichnend, daß die schärfste Kri¬ 
tik von zwei Schriftstellern ausgeht die 
der Peripherie des Reiches angehören, 
dem Irländer Oliver Goldsmith und 
dem Schotten Smollett 1 ) Auch bei 
ihnen aber verdrängt die Kritik nicht 
das stolze Bewußtsein der Überlegen¬ 
heit über andere Völker, speziell über 
die damals allein in Betracht kommen¬ 
den Franzosen. Und dieser Stolz stützt 
sich in erster Linie auf den vermeint- 

1) Vgl. dazu Aronstein, England um die 
Mitte des 18. Jahrhunderts, in den „Neueren 
Sprachen“ Bd. III 1895. 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


350 


lieben Vorzug der Freiheit. Mit fei¬ 
nem Humor verspottet der liebenswür¬ 
dige Verfasser des „Landpredigers von 
Wakefield“ diesen Stolz in einem Essay 
in seinem „Weltbürger“. Da wird ge¬ 
schildert, wie ein Schuldner, der durch 
die Gitter seines Gefängnisses spricht, 
ein Lastträger, der stehen geblieben ist, 
um sich etwas auszuruhen, und ein Sol¬ 
dat sich über die Folgen des französi¬ 
schen Einfalls in das Land unterhalten. 
.Mir ist besonders um unsere Freiheit 
bange,“ ruft der Gefangene aus, „wenn 
die Franzosen siegen sollten, was würde 
aus der englischen Freiheit werden? 
Liebe Freunde, die Freiheit ist das Vor¬ 
recht des Engländers, wir müssen sie 
mit Lebensgefahr verteidigen. Die Fran¬ 
zosen sollen sie uns nicht rauben; es 
ist nicht zu erwarten, daß Menschen, die 
selbst Sklaven sind, unsere Freiheit 
brechen würden, wenn sie siegten.“ Der 
Lastträger nennt sie alle Sklaven, die 
nur dazu gut seien, Lasten zu tragen, 
und der Soldat bekräftigt mit einem 
Fluche seine Befürchtung für die Reli¬ 
gion, wenn die Franzosen kommen soll¬ 
ten. Die köstliche Szene dürfte auch 
beute noch Parallelen in England fin¬ 
den, wenn wir für französische Knecht¬ 
schaft und Papismus den „preußischen 
Militarismus“ und die deutsche Ungläu¬ 
bigkeit setzen. 

Die ganze Kritik der Schriftsteller des 
1& Jahrhunderts berührt aber doch nicht 
die Grundlagen des nationalen Glau¬ 
bens, die Überlegenheit der Engländer 
über alle anderen Völker der Welt, ihren 
weltgeschichtlichen Beruf zur Seeherr¬ 
schaft und den Individualismus als Fun¬ 
dament und Eckstein des nationalen 
Lebens. Sie entnimmt vielmehr diesem 
nationalen Ideale die Maßstäbe, cm der 
äe die Wirklichkeit mißt, und be¬ 
schränkt sich auf die Aufdeckung von 
Mißbräuchen und Widersprüchen in der 


Anwendung und Durchführung dieser 
als unumstößlich geltenden Theorien. 
Und dieser nationale Glaube wird ge¬ 
stärkt durch das Gefühl der sittlichen 
Überlegenheit, das, wie schon vorher 
dargelegt, in der Zeit des Puritanismus¬ 
entstanden, durch die religiöse Renais¬ 
sance des 18. Jahrhunderts, den Metho¬ 
dismus der Wesley und Whitfield, neue 
Nahrung erhält Diese Bewegung, die die 
breiten Schichten der englischen Mittel¬ 
klasse tief und nachhaltig ergriffen hat v 
hat zweifellos segensreich auf das pri¬ 
vate sittliche Leben gewirkt aber sie hat 
anderseits ebenso unzweifelhaft die gei¬ 
stige Entwicklung gehemmt und ein mo¬ 
ralisches Pharisäertum großgezogen,, 
das die geistige Freiheit einengte und 
unterdrückte. Wenn auch die sog. „Auf¬ 
klärung“ mit dem Deismus der Collins, 
Toland und Tindal in England begonnen 
hat so ist sie doch dort in den Ansätzen 
stecken geblieben und hat ihre weitere 
Entwicklung und ihr Emporblühen zu 
einem neuen Humanismus erst in 
Deutschland gefunden. 

So erscheint das 18. Jahrhundert in. 
der Entwicklung des englischen Natio¬ 
nalbewußtseins als die Blütezeit der 
Höhepunkt eines naiven, unbewu߬ 
ten Dogmatismus, eines festen 
Glaubens der Nation an sich selbst der 
wohl Kritik im einzelnen verträgt und 
selbst für notwendig hält, aber im übri¬ 
gen fest aufgebaut ist auf der wenig¬ 
stens theoretischen Freiheit des einzel¬ 
nen, und der die Bestimmung des engli¬ 
schen Volkes zur Weltherrschaft zur See 
und seine Überlegenheit über andere. 
Völker, besonders auch in sittlicher Hin¬ 
sicht als seine beiden Hauptglaubens¬ 
sätze umfaßt 

II. 

Die Französische Revolution,, 
die das politische Denken auf dem euro¬ 
päischem Festlande, so nachhaltig beein- 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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flußt und umgestaltet hat, hat die starke 
nationale Selbstbejahung in England 
kaum irgendwie beeinträchtigt. Sie 
wurde in England von liberalen Politi¬ 
kern und Dichtern, wie Wordworth und 
Coleridge, zuerst freudig begrüßt, sie 
hat auch ihre Enthusiasten gehabt, wie 
Thomas Paine, den Verfasser der 
„Rights of Man“, ferner den vielseiti¬ 
gen Joseph Priestley, der als Frei¬ 
denker, Chemiker, Physiker, Philosoph 
und politischer Schriftsteller gewirkt 
hat, aber diese unbedingten Anhänger 
der französischen Revolutionsgrund' 
Sätze sind in England immer eine abseits 
stehende Sekte, eine einflußlose Minder¬ 
heit geblieben, und weder Byrons bei¬ 
ßende Satire und Auflehnung gegen das 
Bestehende noch Shelleys prachtvoller 
revolutionärer Idealismus haben daran 
viel geändert Die Wirkung der Franzö¬ 
sischen Revolution ist eine ganz andere 
gewesen. Sie hat das nationale Lebens- 
gefühl des Engländertums nicht umge¬ 
staltet oder beeinträchtigt sondern es 
vielmehr gestärkt indem sie es aus 
einem unbewußten zu einem be¬ 
wußten, sich auch in der Idee 
setzenden machte. Das plötzliche 
Phänomen des großen Nachbarvolkes, 
das seine Geschicke nach Ideen der Ver¬ 
nunft regeln, das kartesianische „Ich 
denke, also bin ich“ aus dem Gehirn, 
wo die Gedanken leicht beieinander 
wohnen, in die Wirklichkeit das Reich 
der Interessen, der Macht, der Leiden¬ 
schaften übertragen wollte, erregte zu¬ 
erst staunende Begeisterung in England, 
dann aber, besonders als der revolutio¬ 
näre Geist immer wilder, immer hefti¬ 
ger gegen das Bestehende und alle ge¬ 
schichtlichen Mächte und Einrichtungen 
wütete, die Gefühle des Gegensatzes, 
des Widerwillens und Abscheus. Es ist 
das große Verdienst des Irländers 
Edmund Burke, diesen grundsätzli¬ 


chen Gegensatz begründet ihm glänzen¬ 
den Ausdruck gegeben, das unbestimmte 
Gefühl der Abneigung gleichsam artiku¬ 
liert zu haben. Seine „Betrachtungen 
über die französische Revolution“, die 
1790 erschienen und eine ungeheure 
Wirkung ausübten, stellen zum ersten 
Male mit genialem Scharfblick der ab¬ 
strakten Anschauung die historische ge¬ 
genüber, dem idealen Staate die Berech¬ 
tigung des geschichtlich Gewordenen, 
dem Rechte, das mit uns geboren ist 
die Rechte des Staatsbürgers, im beson¬ 
deren Falle des Engländers, der nadb 
Verwirklichung strebenden Idee die Vor¬ 
züge der geschichtlichen Kontinuität des 
Aufbaues auf und Anschlusses an die 
Vergangenheit kurz der französischen 
Freiheit die englische. Burkes große Be¬ 
deutung für die Entwicklung des natio¬ 
nalen Lebensgefühls in England ist daß 
er dem starken konservativen Zuge im 
englischen Volke, dem Festhalten am 
Alten, Worte und Gründe geliehen und 
so die instinktive Abneigung eines prak¬ 
tischen Volkes gegen Ideen als solche 
verstärkt hat So entstand als Reaktion 
gegen die Revolution und ihre von Burke 
schon 1790 vorausgesagten Folgen, den 
Militärdespotismus und die langen 
Kriege, eine Verehrung des Alten, Be¬ 
stehenden, ja alter Vorurteile und Mi߬ 
bräuche, die in ihrer hartnäckigen Ab¬ 
lehnung aller Vemunftgründe an das 
Credo quia absurdum des Tertui- 
lian erinnert Die Französische Revolu¬ 
tion hat in England das nationale Le¬ 
bensgefühl nicht untergraben, sondern 
im Gegenteil fester begründet Der na¬ 
ive, unbewußte nationale Dog- 
matismus des 18. Jahrhunderts 
ist zu einem bewußten gewor¬ 
den. 

Das 19. Jahrhundert ist was die eng¬ 
lische Verfassung, angeht die Zeit des 
Obergangs von der Aristokratie zu einer 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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sich immer erweiternden Demokratie. 
Auf die Katholikenemanzipation im 
Jahre 1829 folgt im Jahre 1832 die erste 
große Parlamentsreform, dann in län¬ 
geren Abständen weitere Reformen und 
Abschaffungen von Beschränkungen der 
politischen Rechte bis auf die letzte Par- 
lamentsreform von 1884/8& und ihren 
Ausbau bis in die Grafschaften und 
Kirchspiele in den Jahren 1888 und 1894, 
ja wir können sagen, bis auf die Ab¬ 
schaffung des unbedingten Vetos des 
Oberhauses im Jahre 1910. Diese Ent¬ 
wicklung vollzieht sich nicht planvoll, 
einer Idee nach, sondern von Fall zu 
Fall unter dem Drängen der nach Gleich¬ 
berechtigung verlangenden Volksschich¬ 
ten, immer nach hartnäckigem Wider¬ 
streben der bisherigen Machthaber, das 
oft nur durch die wildeste Agitation, ja 
durch drohende Revolution gebrochen 
werden kann. Aber sie erfolgt doch 
schließlich, im Gegensatz zu Frank¬ 
reich und den anderen Staaten des euro¬ 
päischen Festlandes, ohne offene Re¬ 
volution, Aufstände und Barrikaden¬ 
kämpfe auf dem Wege ordnungsmäßi¬ 
ger Gesetzgebung. Und so erschien sie 
denn dem sich selbst bespiegelnden Eng- 
ländertum und seinen festländischen li¬ 
beralen Bewunderern als, wenn auch äu¬ 
ßerlich ohne Methode, sich doch nach 
inneren Gesetzen abspielend, ein natur¬ 
gemäßes, notwendiges Geschehen, ein 
allmähliches Wachsen, wie das der 
Pflanzen. Und England galt wieder ein¬ 
mal, wie zur Zeit der Voltaire und Mon¬ 
tesquieu, als das Idealland geordneter 
Freiheit, wurde als das gelobte Land 
freier Selbstbestimmung, das Muster 
nnd Vorbild politischen Lebens in hohen 
Tönen gepriesen. Seine Geschichte er¬ 
schien als der naturgemäße Fortschritt, 
der anderswo durch widrige Verhält¬ 
nisse nur gehemmt und gehindert wor¬ 
den sei. 

Internationale Monatsschrift 

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Die bedeutendsten englischen Vertre¬ 
ter dieses Glaubens an die Überlegenheit 
englischer Einrichtungen und Methoden, 
die einflußreichsten Lobredner alles Eng¬ 
lischen waren Macaulay und Tenny- 
son. Macaulay, der Schotte, hat die 
Ideen Burkes weiter ausgebaut und im 
einzelnen mit der Fülle seines Wissens 
und der Kunst seiner Beredsamkeit be¬ 
gründet und erläutert Sein Hauptwerk, 
die„GeschichteEnglands“, ist ihrer 
Tendenz nach nichts anderes als ein Lob¬ 
lied auf die englische Verfassung und 
die englische Freiheit als deren Grund¬ 
lage und größten Triumph er die Revo¬ 
lution von 1688, die Freiheitsurkunde 
(„Bill of Rights“) und die Thronbe¬ 
steigung Wilhelms von Oranien ansah. 
Er wird nicht müde, den Gedanken Bur¬ 
kes folgend und sie weiter denkend, 
Parallelen zwischen der englischen und 
der französischen Revolution zu ziehen. 
Die französische Revolution bricht voll¬ 
ständig mit der Vergangenheit die eng¬ 
lische knüpft ängstlich an diese an, für 
jeden Schritt nach Präzedenzfällen su¬ 
chend und die überlieferten Formen bis 
aufs kleinste treu bewahrend; jene sucht 
abstrakte Ideen zu verwirklichen und 
findet ihre Vorbilder der Freiheit in der 
Geschichte der unter ganz anderen Ver¬ 
hältnissen lebenden Griechen und Rö¬ 
mer, diese entnimmt ihre Ideale allein 
der Geschichte und den Bedürfnissen 
des eigenen Volkes; jene spricht von 
allgemeinen Menschenrechten, diese 
kennt nur Rechte des Engländers; jene 
führt zu wildem Aufruhr und allgemei¬ 
ner Anarchie, die in einem Militärdespo¬ 
tismus endet und hat weitere heftige 
Erschütterungen des Staates im Laufe 
des 19. Jahrhunderts, die Revolutionen 
von 1830 und 1848, zur Folge gehabt, 
diese vereinigt „Umwälzung mit ver¬ 
jährtem Recht Fortschritt mit Stetig¬ 
keit, die Energie der Jugend mit der Ma¬ 
tt 

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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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jestät unvordenklichen Alters“ und hat 
in England den inneren Frieden bewahrt, 
während alle Throne Europas wankten 
— Macaulay denkt an die Revolution von 
1848 —und die Bürger in den Hauptstäd¬ 
ten auf Barrikaden kämpften. 2 ) So ist 
Macaulay der begeistertste und beredte 
Advokat des politischen Engländertums, 
der selbstzufriedene und optimistische 
Bewunderer des eigenen Volkstums, des¬ 
sen Methoden und Lebensformen ihm 
als der Gipfel menschlicher Weisheit, 
ja als natumotwendig erschienen. Und 
den Grund dieser Überlegenheit sieht er 
in dem praktischen Charakter des eng¬ 
lischen Volkes, seiner angeborenen Ab¬ 
neigung gegen abstrakte Ideen. Sogar 
auf die Philosophie, die doch das Reich 
der Ideen ist, überträgt er diese selbst¬ 
gefällige Ansicht von der Überlegenheit 
des englischen Geistes. Nirgends tritt 
die Einseitigkeit Macaulays so grell her¬ 
vor wie in seinem Essay über Bacon. 
Da schwelgt er förmlich in seiner Feind¬ 
schaft gegen allen Idealismus, seiner Be¬ 
geisterung für den bloßen und unmittel¬ 
baren Nutzen. „Wenn wir eine Wahl 
treffen müßten“, heißt es da mit Bezug 
auf den Philosophen Seneca, „zwischen 
dem ersten Schuster und dem Verfasser 
der Bücher über den Zorn, so würden 
wir uns für den Schuster aussprechen. 
Es mag schlimmer sein, zornig als naß 
zu sein. Aber Schuhe haben Millionen 
vor Nässe geschützt, und man kann 
zweifeln, ob Seneca je jemanden vor dem 
Zorn geschützt hat“ Was heißt das im 

2) Vgl History of England Tauchn. Ed. 
Ch. I. Bd. I. 85, ferner Ch. X, Bd. III, 446 ff., 
außerdem den Essay „History“, wo von dem 
Einflüsse der Alten auf die politischen Ideen 
der Franzosen die Rede ist, den Essay Ober 
Mirabeau und besonders auch den Ober Hal- 
lam’s Constitutional History. 


Grunde anders, als daß die Bildung der 
Seele, der sittliche Idealismus, die Er¬ 
hebung der Menschen über das Alltäg¬ 
liche ein unfruchtbares Beginnen, eine 
Torheit und Nichtigkeit sei, von gerin¬ 
gerem Werte als Schusterarbeit? In 
demselben Essay findet sich der be¬ 
kannte Ausspruch: „Ein Morgen in 
Middlesex ist besser als ein Königreich 
in Utopia“. Also besaß auch Macaulay der 
erste beste Krautjunker mit seinem Hau¬ 
fen von „feinem Dreck“ mehr als Shake¬ 
speare mit seinem weltumfassenden 
Reich des Geistes. Es ist der Standpunkt 
des echten Philisters, den Macaulay hier, 
wo er über Bacon schreibt, „das Haupt 
aller Philister und darum ihnen auch 
so zu Recht“, wie Goethe einmal sagt 
(Gespräch mit Riemer am 13. 10. 1807), 
mit Leidenschaft, ja, man könnte sagen, 
mit einer Art von trockenem Fanatismus, 
dem Fanatismus des Unglaubens, in sei¬ 
ner gewöhnlichen antithetisch-dialekti¬ 
schen Methode verficht. In der Tat be¬ 
saß er gar kein Organ für die Philoso¬ 
phie. Kant versucht er einmal zu lesen 
und fand ihn „vollständig unverständ¬ 
lich, als ob er in Sanskrit geschrieben 
wäre“.*) Und Plato schätzt er, der ein 
Kenner der griechischen Literatur war, 
nicht wegen seiner Philosophie, son¬ 
dern wegen seiner Kunst der Erzählung 
und Beschreibung, seines Humors und 
seines ausgezeichneten Griechisch, kurz 
als Schriftsteller. Sokrates nennt er „bei 
all seiner Geschicklichkeit einen seltsa¬ 
men, phantastischen, abergläubischen al¬ 
ten Burschen“. Kurz, er urteilt auch hier 
als der Philister, der er war, allerdings 
ein Philister von gewaltiger geistiger 
Energie, ein Genie. (Schluß folgt) 


3) Trevelyan, Life and Letters of Lord Ma¬ 
caulay p. 515. 


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Richard Bürger, Germanistenwünsche 


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Germanisten wünsche. 

Von Richard Bürger. 


Als im Jahre 1816 die eben erst preu¬ 
ßisch gewordene Schulpforte — sie war 
damals mehr als heute die „alte“ — von 
der ihr gewiß wohlwollenden Regie¬ 
rung mit einem Sprungpferde zu eifri¬ 
gem Gebrauch bedacht wurde, flammte 
in ihrem «engen Kreise ob dieses neumo¬ 
dischen Angebindes helle Entrüstung 
auf: Wie man einer „literarischen“ An¬ 
stalt so etwas zumuten könne, meinte 
der Rektor Ilgen, und das Ungetüm 
wanderte auf jahrelanges Verschwinden 
in eine entlegene Ecke. 

Man würe versucht, anzunehmen, daß 
diese Geschichte als typisch sich dem¬ 
nächst wiederholen könnte, wenn die 
vielberufene Neuorientierung unseres 
höheren Schulwesens nach dem Kriege 
— und wer träumte nicht gern einmal 
von diesen Zeiten? — ernsthaft ein¬ 
geleitet würde. Auch da wird alt und 
jung aneinander geraten, und das Alter 
wird sich seines reicheren älteren Be¬ 
sitzes allen Stürmern und Drängern ge¬ 
genüber mehr als einmal rühmen und 
an ihm zähe festhalten. — 

Nachdem der Geschichtsunterricht 
erst jüngst, getragen von der be¬ 
deutsam angeregten Gegenwart, in 
neue Bahnen hinübergeleitet wor¬ 
den ist, treten nun die Germanisten 
in dem von ihnen geschaffenen Ver¬ 
bände mit umfassenden Wünschen 
an die deutschen Regierungen heran. 1 ) 
Leichter und schwerer zugleich scheint 
die Durchführung dessen zu sein, was 
da in kurzen und doch so inhaltreichen 

1) Eingabe des Deutschen Germanisten- 
verbandes an die deutschen Regierungen 
behufs Neuordnung des deutschen Unter¬ 
richts auf den höheren Schulen. 

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Sätzen gefordert wird. Leichter: das 
Schlagwort von der nun endlich zu bil¬ 
denden deutschen Schule hat die Stunde 
seiner Entstehung überdauert und ver¬ 
langt ernsthafte Beachtung. Andrer¬ 
seits scheint diese zweite Reform, die 
— nach der Geschichte — unserem ge¬ 
samten höheren Schulwesen zuteil wer¬ 
den soll, größere Schwierigkeiten in 
sich zu bergen: Wenn im Geschichts¬ 
unterricht sich die Interessen mehr den 
neueren und neuesten Zeitläuften zu¬ 
wenden sollen, so ist dies mit einer in¬ 
haltlichen Pensenverschiebung leicht zu 
bewerkstelligen. Was die Germanisten- 
eingabe fordert, ist zwar auch getragen 
von der Gegenwartsbegeisterung, ist 
aber mehr ein Bemühen, die Pflege un¬ 
serer Muttersprache nach rückwärts zu 
verankern. Führt die Neuregelung des 
Geschichtsunterrichts etwas aus dem 
Betrieb der Geschichtswissenschaft her¬ 
aus und greift einer von ihr erst noch 
zu leistenden Arbeit vor, so fühlt man 
bei den Germanisten auf Schritt und 
Tritt den Hauch der ihnen geläufigen 
Fachinteressen. Die Empfänger der Ein¬ 
gabe mögen an der enzyklopädischen 
Breite der Forderungen, die ihnen die 
Entscheidung erschwert, Anstoß neh¬ 
men. Für uns soll dies kein Anlaß zu 
Tadel sein. 

I. 

Die Germanistik ist — woran sie in 
diesem Zusammenhänge und in dieser 
Zeit erinnern kann — das Kind einer 
Epoche voll ungeheurer Umwälzungen, 
einer Zeit, die in der Pflege des deut¬ 
schen Altertums den besten Ausdruck 
des neuen Zeitgeistes zu finden glaubte. 

12 * 

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359 


Richard Borger, Germanistenwünsche 


360 


Sie hat aber auch weiterhin ihre Exi¬ 
stenzberechtigung als Wissenschaft über 
die erste Geburtsstunde hinaus nach- 
weisen müssen. Sie hat so neben dem 
nationalen Zwecke ihrer Gründungszeit 
eine allgemeine und dauernde Bedeu¬ 
tung im Rahmen der Geisteswissen¬ 
schaften gewonnen. Dieses doppelte Ge¬ 
sicht der germanistischen Wissenschaft 
kommt in den Wünschen der Germani¬ 
sten gut zum Ausdruck. So sind z. B. 
die Forderung nach vertiefter Betrach¬ 
tung des Mittelalters (S. 11), nach stär¬ 
kerer Pflege der Volkskunde (S. 12) ro¬ 
mantisches Erbgut aus der Zeit vor 
100 Jahren. Fragen wir zunächst, mit 
welchem Recht diese Wünsche hier zum 
Ausdruck gelangen. 

Man wird bei der Absicht inhaltlicher 
Bereicherung für den Deutschunterricht 
sich auf die Interessenspannweite be¬ 
rufen können, die unser geistig litera¬ 
risches Leben vor dem Kriege erreicht 
hatte. Zugegeben, daß da manche Wege 
über die Romantik zu einer tieferen 
Betrachtung des Mittelalters hinführten. 
Unser ganzes Denken war beherrscht 
von der Sehnsucht, über eine bloß tech¬ 
nisch-rationalistische Anschauung der 
Wirklichkeit zu einer gefühlsmäßig tie¬ 
feren Lebensdeutung zu gelangen. Es 
ist wohl möglich und sogar wahr¬ 
scheinlich, daß sich diese Denkrichtung 
auch noch nach dem Kriege weiter 
festigt, und es ehrt den Germanisten, 
wenn er für sein Fach das Recht, etwas 
am Aufbau einer Lebensanschauung 
mitzuarbeiten, in Anspruch nimmt Es 
sind das jedoch Dinge, die bei einer 
Neuordnung des Unterrichts nicht in 
Betracht kommen; sie sind zu zarter, 
persönlicher Natur und widerstreben 
daher einer behördlichen Regelung. 
Auch müßte sich die Wissenschaft erst 
auf die mit der Erfüllung dieser Forde¬ 
rung sich ergebenden Verhältnisse ein- 

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richten, und ich sehe daselbst zunächst 
nur Ansätze zur tieferen Erfassung des 
klassischen Mittelalters, wie sie z. B. in 
Schönbachs und besonders in Burdachs 
Arbeiten vorhanden sind. Schließlich 
bietet unsere klassische Literatur der 
Zeit um 1800 selbst Anlaß genug zu 
einer auf Lebensanschauung ausgehen¬ 
den, vertiefenden Behandlung. 

Wir sind aber vielleicht überhaupt 
nicht in der Lage, diesem eben ange¬ 
deuteten Zeitgeist zu stark die Zügel 
schießen zu lassen. Der Krieg steht 
uns allen und besonders der Jugend in 
unzähligen konkreten Einzelheiten vor 
der Seele; wir erleben ihn — Gott sei 
Dank —mehr als Anlaß zu praktischem 
Vergegenwärtigen und Miterleben, der¬ 
art, daß wir — zunächst — jede grü¬ 
belnde Selbstbesinnung meiden müs¬ 
sen. Es war anders, als nach 1800 die 
romantische Denkweise in Deutschland 
und anderwärts Platz griff. Man unter¬ 
lag mehr einer als hart und drückend 
empfundenen Gegenwart und fühlte 
den Riß zwischen der Realität und der 
Möglichkeit seelischer Befreiung; für 
diese zwiespältige Lebenserfassung 
suchte man nach Bildern in der Ver¬ 
gangenheit Nichts von alledem heute 1 
Die Fülle der praktischen Aufgaben, die 
uns bevorstehen, nötigt uns eher, aus 
unsrer Literatur der Jugend eine Reihe 
biegsamer Denkformen zu vermitteln; 
wir müssen uns hüten vor der Gefahr 
der geistigen Systematisierung; sie 
würde leicht die Folge einer besonderen 
Behandlung der ersten Glanzzeit der 
deutschen Literatur sein, zumal wir die 
so gewonnenen neuen Gedanken auf 
die Ideen unsrer Klassiker sozusagen 
projizieren müßten, um sie zum Ver¬ 
ständnis zu bringen und ihnen Bedeu¬ 
tung zu geben. 

Auch eine besondere Behandlung der 
Volkskunde glauben wir, als zu roman- 

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Richard Borger, GermanistenwQnsche 


362 


tisch gedacht, ablehnen zu müssen. 
Nach 1800 suchte und fand man im 
„Volke" die letzten Helfer zur Über¬ 
windung des politisch verbildeten Staats¬ 
bürgers, der in der „grande armöe“ 
den Geist der Revolution der Welt auf¬ 
dringlich zuzuschieben schien. Man sah, 
daß die politischen Zustande das, was 
man bisher Volk nannte, aufgesaugt 
hatten. Heute ist uns eine derartig das 
Volk isolierende Betrachtung vollkom¬ 
men unverständlich; unser ganzesVolk 
ist bis in die tiefsten Schichten hinein 
zur Teilnahme am Schicksal des Vaterlan¬ 
des herangezogen worden. Wir Gebilde¬ 
ten selbst alle sind „Volk“, wir fühlen 
das „Volk“ nicht so leicht im Gegensatz 
zu anderen Gemeinschaftsbildungen. Es 
ist der Sieg des Allgemeinen über den 
Sondergeist, den wir erlebt haben und 
weiter erleben. Zugegeben, daß hiermit 
manche malerische 'Nuance, manches 
Schöne, vielleicht für immer, verloren 
worden ist- Aber die Tatsache ist nicht 
zu bestreiten, und die Zeit verlangt statt 
des Konservierens mehr Erfassen des 
gegenwärtig Gegebenen. Die Volks¬ 
kunde — ein sehr umfassendes Gebiet 
— war bisher eine Art Museum, zu be¬ 
häbig breiter Betrachtung einladend; 
sie wird, wenn sie den Änderungen des 
Tages sich anpaßt, sehr viel einfachere 
Formen annehmen müssen, und statt 
des weitausgreifenden Sammelns mehr 
an die Nötigung zu geistiger Gesam- 
meltheit (wenn das Wort erlaubt ist) 
denken müssen. 

II. 

Sind so die Grundstimmungen, 
welche die Anfänge der Germanistik 
beherrschten, nur mit Einschränkung 
für die Neuordnung des deutschen Un¬ 
terrichts zu verwerten, so bleibt nur 
die Möglichkeit übrig, zwischen den 
letzthin die germanistische Wissen¬ 


schaft kennzeichnenden Interessen und 
den Bedürfnissen der Gegenwart eine 
Verbindung herzustellen. Die Eingabe 
unterscheidet Forderungen für den 
Sprachunterricht und zur Behandlung 
des deutschen Schrifttums; sie greift 
hiermit auf die innerhalb der Germani¬ 
stik bestehende Gliederung und Arbeits¬ 
teilung, die ja durch die Sache selbst 
gegeben ist, zurück. Sie fordert für die 
Sprache, auch im fremdsprachlichen 
Unterricht, durchweg Ausgehen von der 
Muttersprache, wissenschaftliche Ver¬ 
tiefung im Sinne einer zu psychologi¬ 
scher und logischer Einsicht führenden 
Behandlung, Beachtung der Dialekte 
und der Wortkunde und besondere 
Pflege der älteren Sprachstufe. Die¬ 
sen Wünschen entspricht für das 
Schrifttum die Forderung einer breiten 
Materialdarbietung für alle Stufen und 
das Verlangen nach tieferer, weitaus- 
greifender Erfassung der literarischen 
Inhalte bis zur Einführung in philoso¬ 
phische Denkweise. Es ist kein Zwei¬ 
fel, daß jeder dieser Wünsche auf be¬ 
stimmte Arbeitsgepflogenheiten der Ger¬ 
manistik zurückgeht. Gleichwohl scheint 
es mir geboten, Unterricht und Wissen¬ 
schaft einmal in ihrer gegenwärtigen 
Form nebeneinanderzuhalten, um sich 
von der Möglichkeit der gewibischten 
Änderung zu überzeugen. Der Un¬ 
terricht im Deutschen steht in der 
Mitte zwischen dem altsprachlichen, 
der heute das Hauptgewicht auf die 
Inhalte der Schriftwerke legt, und dem 
neusprachlichen, dem wichtige Aufga¬ 
ben der Spracherlemung obliegen. Er 
ist vor jeder Einseitigkeit somit be¬ 
wahrt. Allerdings ist zu beachten, daß 
die jeweiligen Wissenschaften nicht 
ganz diesem oben gezeichneten Zu¬ 
stande entsprechen. Die klassische Phi¬ 
lologie, als älteste und am reichsten 
ausgestattete, pflegt die Spradifor- 


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Richard Bürger, Germanistenwünsche 


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schung neben den literarischen Verhält' 
nissen; sie hat Sogar — durch die be¬ 
sondere Betonung des Griechischen, 
dessen Geschichte der allgemeinen 
Sprachwissenschaft immer noch die 
wertvollsten Aufschlüsse zu geben 
scheint — in der Indogermanistik ge¬ 
wichtigen Einfluß. Die Germanistik 
neigt mehr zur Vertiefung in das 
Schrifttum; die Mehrzahl ihrer Ver¬ 
treter sind Literaturhistoriker; die Zeit 
der Universalität Jacob Grimms, der 
in Sprache und Literatur zu Hause war, 
ist längst vorbei. In der Romanistik 
steht augenblicklich das sprachliche 
Interesse durchaus im Vordergründe. 
Wenn demnach selbst in der Germani¬ 
stik nicht alle sprachwissenschaftli¬ 
chen Probleme bis zu ihrer neusten Be¬ 
arbeitung gebracht sein sollten, der Zu¬ 
stand der gesamten Sprachwissenschaft 
ist eine Basis, auf der ein besser als bis¬ 
her gegründeter deutscher Sprachunter¬ 
richt in Zukunft gedeihen könnte. Ist 
doch auf den Gebieten, welche die Ein¬ 
gabe nennt, in der Bedeutungslehre und 
in der Dialektkunde, reichlich Vorarbeit 
vorhanden, um dem Unterricht neues 
Leben angedeihen zu lassen. Nur be¬ 
dürfte es einer wirklich eingehenden 
Beschäftigung mit der sprachwissen¬ 
schaftlichen Seite ihrer Wissenschaft 
für die Germanisten, deren Neigungen 
sehr oft ausschließlich der literarischen 
Kunstschöpfung gelten. Ich muß es mir 
versagen, hier auf die hiermit in der 
Eingabe — allerdings sehr vorsichtig 
— verknüpfte Frage der Erlernung der 
fremden Sprachen einzugehen. 2 ) War- 
ten wir die Zeit ab, wo, statt der au- 

2) Eingabe S. 14: 2. Der fremdsprachliche 
Unterricht sollte daher erst beginnen, so¬ 
bald die in die höhere Schule eintretenden 
Schaler sich in gemeinsamer Arbeit eine 
einigermaßen breite, gleichmäßige Grund¬ 
lage an deutschen Spradikenntnissen er¬ 
worben haben. 


genblicklichen — immerhin berechtig¬ 
ten — Erregung über die angeblich zu 
weit gehende Erlernung der Sprachen 
unsrer Gegner, eine ruhigere Überle¬ 
gung Platz greift; denn gerade hier 
stehen große geistige und — was für 
manche noch wichtiger ist — praktische 
Werte auf dem Spiel. 

Eher wäre schon die von unsrer Ju¬ 
gend so kräftig mitempfundene Freude 
an einem reinen deutschen Ausdruck 
als Ausgangspunkt für sprachliche Be¬ 
lehrung mit in Rechnung zu setzen. 
Aber Vorsicht ist geboten. Nirgends 
könnte, besonders bei einem Lehrer, der 
erst neuerdings und gelegentlich die 
sprachliche Seite des Deutschunterrichts 
ins Auge zu fassen genötigt wird, die 
Unterweisung leichter in trockner Be¬ 
lehrung enden als bei der Forderung 
einer größeren Berücksichtigung der 
hierher gehörenden Vorgänge und Tat¬ 
sachen. 

Etwas weniger günstig scheint es 
mit der Aussicht der Forderungen zu 
stehen, die in literaturgeschichtlicher 
Hinsicht von der Eingabe erhoben 
werden. 3 ) Die germanistische Wissen¬ 
schaft ist hier zum Teil recht abseitige 
Wege gegangen. Abgesehen von den 

3) Die fQnf Thesen auf S. 12 verlangen 
Behandlung der Dichtung im Zusammen¬ 
hang mit dem Dichterleben und dem Zeit¬ 
geist, von UII an die Erreichung der Fer¬ 
tigkeit, unter geeigneter Anleitung größere 
Schriftwerke selbständig zu lesen, ferner 
einen vierjährigen Lehrgang (fQrUII—Ol) 
mit Behandlung der deutschen Literatur bis 
zur Gegenwart und beständige Betonung des 
gegenwärtig Lebendigen. In den oberen 
Klassen sei es Aufgabe des Unterrichts einen 
Einblick in die Grundtatsachen des Seelen¬ 
lebens zu vermitteln und den Sinn fflr Welt¬ 
anschauungsfragen anzuregen; die dem deut¬ 
schen Unterricht fremden Stoffgebiete seien 
aufzugeben, und Erscheinungen volksfrem¬ 
den Ursprungs nur einzubeziehen, wenn sie 
fördernd oder hemmend auf unser Geistes¬ 
leben eingewirkt hätten., 


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Richard Borger, GermanistenwQnsche 


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geschichtlichen und biographischen Ge¬ 
samtdarstellungen, abgesehen von den 
ästhetischen Kommentaren zu den klas¬ 
sischen Dichtungen, hat ihre Arbeit der 
Schule nicht unmittelbare Dienste ge¬ 
leistet Die Lachmannsche Textkritik, 
von formwissenschaftlichen Idealen be¬ 
seelt hat mit der Feststellung eines 
letzterreichbaren Tatbestandes eine rein 
wissenschaftliche Höhe erklommen, die 
unendlich erziehlich wirken könnte, 
wenn sie dem Verständnis der Schüler 
erreichbar wäre. Sie hat überdies einen 
förmlichen Kult der literarisch entle¬ 
gensten Schriftwerke gezeitigt, so daß 
mitunter die Frage: Wozu diese Arbeit? 
nicht von der Hand zu weisen ist. 
Demgegenüber hat die neuere Litera¬ 
turwissenschaft den Wert selbständiger 
Eigenart gewonnen, besonders wenn 
sie, von der Dichtung ausgehend, die 
philosophischen und kunsthistorischen 
Zusammenhänge aufsuchte. Nur an 
diese Arbeiten denkt wohl auch die 
Eingabe, wenn sie im Deutschunter¬ 
richt den Weg bis zur Einführung in 
Philosophie und Kunst offen gehalten 
wissen will. Es wäre wohl aber besser, 
einfach beim Schriftwerk als Ausgangs- 
und Endpunkt des deutschen Unter¬ 
richts zu bleiben und höchstens eine 
Änderung der Interpretation zu ver¬ 
langen. Stand früher die Deutung zu 
oft unter dem Kunstwerk und gefiel 
sich im Zerfasern, so müßte nun vom 
Lehrer eine mehr beherrschende Stel¬ 
lungnahme gefordert werden. Leicht 
ist allerdings diese Arbeit nicht. Für 
<tie älteren unter uns hieße dies sich 
eingehend mit der wissenschaftlichen Li¬ 
teratur der letzten zwanzig Jahre befas¬ 
sen; da würde sich herausstellen, wie sehr 
wir jetzt schon über die Literaturge¬ 
schichte Scherers, über E. Schmidts Les¬ 
ring u. a. m. hinausgekommen sind. Zu 
einer wirklichen Reform scheinen mir 


alle diese Anregungen jedenfalls nicht 
auszureichen; der Unterricht im Deut¬ 
schen kann inhaltliche Bereicherung 
statt bloß formalmethodisdier Weiter¬ 
bildung verlängern Es genügt nicht, 
die Pforten der Wissenschaft einmal 
recht breit aufzutun und ihrem umfas¬ 
senden Einflüsse die Schule zu unter¬ 
werfen. Alle Germanistik bleibt in der 
Enge und ist begrenzt gegenüber dem, 
was heute die Besten dem deutschen 
Volke aus seinem eigenen Geistesbesitz 
bieten wollen. 

III. 

Gegenüber diesem enzyklopädischen 
Programm der Eingabe tut es gut, sich 
der einfachen Formen des Geschichts¬ 
erlasses zu erinnern. Da wird nicht erst 
nach wissenschaftlichen Anregungen 
ängstlich Ausschau gehalten; es heißt 
einfach: „Was verlangt die vaterländisch 
bewegte Gegenwart?” Man möchte 
wünschen, daß die Eingabe sich diese 
Frage auch einmal gestellt hätte. Mit 
andern Worten: Wenn wir im Unter¬ 
richt an der Hand von Schriftwerken 
unsem Schülern sagen sollen, was 
deutsch ist, dann gilt es zunächst ein¬ 
mal, ihnen eine Reihe unsrer besten 
Schriftsteller, die bewußt vaterländi¬ 
sches Denken pflegten und verbreite¬ 
ten, unter diesem Gesichtspunkte vor¬ 
zuführen. Das ergibt eine Charakteristik 
deutschen Wesens, die zwar nicht die 
Fülle einer aus der Geschichte geschöpf¬ 
ten Darstellung aufweisen würde, die 
aber zu den tiefsten Fragen psychischen 
Erkennens Anlaß bieten könnte. Von 
Lessing (wenn nicht schon von Luther) 
wäre auszugehen. Seine Art der Kunst¬ 
betrachtung mit ihrer — so oft getadel¬ 
ten — begrenzten Beobachtungsfähig¬ 
keit hat etwas echt Deutsches, und trotz 
aller Wandlungen, die wir erlebt ha¬ 
ben, bleibt sie den meisten unter uns 


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Richard Bürger, Germanistenwünsche 


36S 


vertrauter, als man gemeinhin annimmt; 
sie ist auch innerlicher, als die Beto¬ 
nung rein empirischer Beobachtung 
zugeben mag. Sein dramaturgischer 
Standpunkt wftre mehr aus den Fes¬ 
seln einer bloß dialektisch die Dinge 
gegeneinander ausspielenden Auffas¬ 
sung zu lösen und grundsätzlich auf 
nationales Kunstverlangen zurückzufüh¬ 
ren. Weiterhin würden Fichtes Reden 
an die deutsche Nation Anlaß geben 
zur Behandlung der Frage nach dem 
Maßverhältnis zwischen deutscher Na¬ 
tion und Nation an sich. Sind wir heute 
nicht ständig dieser Fragestellung un¬ 
terworfen? Bewußtes Deutschtum bie¬ 
ten dann noch E. M. Arndt und L. Jahn 
— die beide noch zu wenig gelesen 
werden —, die großen Bahnbrecher 
historischen Denkens, Savigny und 
Ranke. Gerade sie sind die Repräsen¬ 
tanten des klassischen Zeitalters des be¬ 
wußt empfundenen deutschen Patrio¬ 
tismus. Keine spätere Zeit hat uns der¬ 
artig den Sinn für unsre Eigenart ge¬ 
schärft, keine hat wie sie unsre Art 
zu denken in der Welt verbreitet 
und ihr Anerkennung erzwungen. Im 
Kampfe gegen die Revolution und ihre 
Epigonen erwuchs die Denkart eines 
Savigny und eines Ranke. Ausgewählte 
Abschnitte aus Savignys Beruf unsrer 
Zeit, aus Rankes Geschichte der Päpste 
und Deutscher Geschichte müßten un¬ 
bedingt der Schule geboten werden. 
Vielleicht wäre auch noch etwas von 
der Sonderart Schlossers, Dahlmanns, 
ja selbst Leos nicht von der Hand zu 
weisen. Eine Hochflut patriotischer Ge¬ 
fühle sahen erst wieder die sechziger 
Jahre. Wieder war es wie 1810—30 der 
Gegensatz zu Frankreich, an dem sich 
unser Nationalgefühl stärkte. Hier 
könnten Bismarcks „Gedanken und Er¬ 
innerungen“, dann aber auch besonders 
seine Reden als Grundlage für die 


Entwicklung unsres neudeutschenPatri >- 
tismus dienen. Treitschkes hinreißen¬ 
des Pathos müßte sich hieran anschlie¬ 
ßen, er beherrscht ja bis in den 
Sprachgebrauch hinein die unmittel¬ 
bare politische Gegenwart unsres Vol¬ 
kes, und Historiker, welche die Reichs¬ 
gründung behandelt haben, wie Sybel, 
Lenz, Mareks, Fester usw., würden ein¬ 
zeln auch die Eikenntnis einer beson¬ 
deren Geschichtsauffassung und litera¬ 
rischen Eigenart vermitteln helfen. Daß 
die Historiker in dieser Reihe im Mittel¬ 
punkte stehen, ist bei der Art wie sich 
unser Patriotismus geschichtlich ge¬ 
gründet hat und weitererhält, nicht 
zu verwundern. Die Besorgnis, daß man 
so aus dem Rahmen eines reinen 
Deutschunterrichts heraustreten könnte, 
ist unbegründet Literatur, die nichts 
weiter als Literatur sein will, bleibt un¬ 
fruchtbar. Eine um ein bestimmtes Pro¬ 
blem gruppierte Schriftstellerreihe je¬ 
doch, wie sie hier — sicher noch zu 
ergänzen und zu verbessern — vorge¬ 
schlagen wird, bietet einen förmlichen * 
Lehrkursus angewandter Philosophie, 
und das ist es, was die Schule braucht, 
nicht aber eine Einführung in die reine 
Philosophie. Philosophische Fragen im 
Leben auf suchen und erkennen ist wich¬ 
tiger als der Besitz fertiger philosophi¬ 
scher Weisheit wie ihn die Systeme 
übermitteln. Gerade das Unfertig-Frag¬ 
mentarische, das die Behandlung eines 
besonderen Falles nach dem hier ge¬ 
gebenen Vorschläge festzustellen ver¬ 
sucht hält den Blick offen für weitere 
Fragestellung, wie sie Studium, Beruf 
und Lebenserfahrung mit sich bringen. 

IV. 

Es ist gewiß, daß der Versuch einer 
Vereinfachung der Wünsche der Ger¬ 
manisten, wie er hier unternommen 
worden ist noch nicht an das Ziel 


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Richard Bürger, Germanistenwünsche 


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aller dem Deutschunterricht jetzt gel¬ 
tenden Bestrebungen führt. Da ist noch 
viel Arbeit zu tun, und von den ver¬ 
schiedensten Berufen her werden Rat¬ 
schlage erwünscht Das Wort von der 
„deutschen Schule“, die kommen soll, 
ist in diesem Zusammenhänge kaum 
gestreift worden. Die Fülle der Pro¬ 
bleme, die es enthalt, ginge über den 
Rahmen einer Erörterung unter Ger¬ 
manisten hinaus. Sollte der Wunsch 
nach der Einheitsschule, die eine aus¬ 
gesprochen deutsche Schule sein müßte, 
nicht in Erfüllung gehen, dann wäre 
vielleicht noch Gelegenheit und Zeit, 
wenigstens für die Behandlung von 
Muttersprache und deutscher Dichtung 
für alle Schulgattungen > ein festeres 
Band gleichmäßiger Pflege zu knüpfen, 
damit wenigstens das Gefühl der Zu¬ 
sammengehörigkeit an einem Punkte 
unsres vielgespaltenen Schulsystems in 
die Erscheinung träte. Ich glaube nicht, 
daß dieser Gewinn für unser vaterlän¬ 
disches Denken und für weiter zu er¬ 
haltendes Zusammengehörigkeitsgefühl 
zu verachten wäre. Vielleicht, daß auch 
eine Art Austausch und gelegentliche 
gemeinsame feierliche Pflege unseres 
besten literarischen Besitzes denkbar 
würe in Form von Deklamationsakten 
und dramatischen Aufführungen. Hier 
darf nicht eingewendet werden, es gäbe 
nichts Gemeinsames, das die Schulgat- 
tungen auf diesem Gebiete verbände. 
Man sollte nicht vergessen, daß der 
Versuch, im Erlebnisaufsatz den schrift¬ 


lichen Arbeiten des deutschen Unter¬ 
richts auch an den höheren Schulen 
neue Bahnen zu weisen, letzthin von 
der Volkschule ausging. Auch die in 
der Eingabe vorgeschlagene Folge von 
Märchen, Sage, Geschichte als Einfüh¬ 
rung in die höhere Kunstdichtung ist 
an der Volkschule typischer und sau¬ 
berer durchzuführen. Für die Dialekte, 
die Berufs- und Sondersprachen wird 
der Volkschüler mehr Selbstbeobach¬ 
tetes mitbringen als der schriftsprach¬ 
lich erzogene Sohn der höheren Klas¬ 
sen. Sollte nicht, wenn nicht ein Aus¬ 
tausch, so doch ein Ausgleich inner¬ 
halb des deutschen Unterrichts, wenig¬ 
stens für die Jahre des schulpflichti¬ 
gen Alters, möglich sein? Die Sprach- 
meister, von denen die Geschichte be¬ 
richtet, hatten, bis auf L. Jahn, eine 
feste Hand, die durchgriff da, wo sie 
bessern wollte. Auch die Übermittlung 
einer tieferen Erkenntnis der Mutter¬ 
sprache verträgt ein gewisses Maß ord¬ 
nender Regelung; dies sollten wir Phi¬ 
lologen bei der weitgreifenden Kennt¬ 
nis, deren wir uns auf diesem Gebiete 
rühmen, nicht vergessen und nicht über¬ 
mäßig behutsam zu Weihe gehen wol¬ 
len. Was die Jungwehr, als echte Nach¬ 
folgerin des Geistes L. Jahns, geleistet 
hat, eine Überbrückung der Klassenge¬ 
gensätze auf eigenem Gebiete, dies 
sollte dem Deutschen bei der schul¬ 
mäßigen Pflege seiner Sprache und sei¬ 
ner Dichtung in bescheidenerem Maße 
auch erreichbar sein. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


372 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Nahrungsmlttel&mter Im alten Ägypten. Die 
Volksemährung war bei uns bis zum Aus- 
brache des jetzigen Weltkrieges der pri¬ 
vaten Tätigkeit überlassen, sie regelte sich 
nach dem Gesetze von Angebot und Nach¬ 
frage. Erst die Absperrung von den großen 
Märkten des Auslandes gab unseren Staats¬ 
und Gemeindebehörden sowie dem Reiche 
Veranlassung, die Versorgung der Bewoh¬ 
ner mit ausreichenden Lebensmitteln plan¬ 
mäßig in die Hand zu nehmen. Im klassi¬ 
schen Altertume gab es wohl Stadtbelage- 
rangen, aber keine so umfassenden Absper¬ 
rungen eines ganzen Landstriches. Gleich¬ 
wohl bestanden überall Nahrungsmittel- 
ämter, die nicht der Kriegsnot entsprangen, 
sondern zu den ständigen Verwaltungsein' 
richtungen des Staates gehörten, Jahrhun¬ 
derte hindurch. So in Rom und in den 
griechischen Stadtstaaten. Anlaß gab der 
Umstand, daß die Zufuhr aus überseeischen 
Gebieten infolge von Mißwadis und anderen 
Ursachen starken Schwankungen ausgesetzt 
war; das Nahrungsmittelamt hatte ständig 
für Ausgleich zu sorgen, unterstützt durch 
gesetzliche Maßnahmen des Staates. Eine 
solche Maßnahme war z. B. das römische 
Korn-Ausfuhrverbot für Sizilien in re¬ 
publikanischer Zeit, um den gesamten Korn- 
ertrag dieser Insel für Rom zu sichern, oder 
das Verbot der Ringbildung und der 
Preistreibung in der römischen Kaiser¬ 
zeit Nicht immer genügten die Vorkeh¬ 
rungen zur Abwehr von Hungersnot; als¬ 
dann wurde Korn aus Staatsmitteln aufge- 
kauft und zu mäßigen Preisen, später auch 
umsonst an die Bürger Roms verausgabt 
Die Unzulänglichkeit der römischen Korn- 
Versorgung veranlaßte den Kaiser Augustus, 
einen besonderen Nahrungsmitteldik- 
tator (Praefectus Annonae) einzusetzen, der 
für ausreichende Zufuhr des Korns in guter 
Beschaffenheit zu sorgen, Maß und Gewicht 
nachzuprflfen sowie die sachgemäße Lage¬ 
rung in den Staatsspeichern und die rich¬ 
tige Verausgabung zu leiten hatte; später 
fiel ihm auch die Beaufsichtigung der Bäcker- 
innung zu. Neben den genannten Ma߬ 
nahmen treffen wir allenthalben auch die 
Einrichtung der Zwangsverkäufe: die 
Grundbesitzer waren verpflichtet, alljährlich 
einen bestimmten Bruchteil ihrer Ernte zu 
mäßigem Preise an das Nahrangsmittelamt 


ihrer Stadtgemeinde abzuliefern. Die Stadt- 
gemeinde zu Athen war berechtigt, jährlich 
den dritten bzw. achten Teil des gesamten 
in der Landschaft Attika erzeugten Speise¬ 
öles — im Altertum kannte man keine 
Butter, man verwendete dafür das Speiseöl— 
zwangsweise zum Marktpreise anzukaufen. 

Weit besser als über die anderen Län¬ 
der des klassischen Altertums sind wir über 
Ägypten der griechisch-römischen 
Zeit wie in Hinsicht aller Einzelheiten des 
Verwaltungsdienstes*) soj auch in Hinsicht 
der Nahrungsmittelversorgung unterrichtet, 
und zwar dank den Papyrusurkunden, die 
in den letzten zwanzig Jahren zu vielen 
Tausenden dem ägyptischen Wüstenboden 
entstiegen sind. Ägypten war das erste 
Komland der alten Welt, der gesamte Ver¬ 
waltungsdienst drehte sich dortselbst fast 
nur um Ackerbau und Kornsteuern. Da 
lehren uns die Papyri mancherlei bewun¬ 
dernswerte Einrichtungen. Der ganze Acker¬ 
boden des Landes war entweder Staats¬ 
eigentum, oder — und zwar zu geringerem 
Teile — in verschiedenartigen Formen als 
Lehen an Einzelbesitzer vergeben. Das 
Staatsland wurde durchweg verpachtet Die 
Pächter und Lehenbesitzer zahlten ihre 
Steuern nicht in Geld, sondern in Korn, 
weil der Staat auf diese Weise das Korn, 
das er zur Verschiffung über See benötigte, 
unmittelbar in die Hand bekam. Zwischen¬ 
handel war in verständiger Weise ausge¬ 
schaltet Außerdem geschah die Zahlweise 
im Girowege. In jedem Dorfe lagen näm¬ 
lich Staatsspeicher, dorthin brachte jeder 
Bauer ohne Ausnahme seine gesamte Ernte, 
dort wurden alle Bestände zusammenge¬ 
worfen und nur buchmäßig geschieden. Die 
Abgaben zahlte man durch Wegschrift von 
seinem Guthaben und durch Gutschrift auf 
das Guthaben des Staates. Auch private 
Zahlungen leistete man in Form von Korn 
und im Girowege. Daneben waren aber 
Bankwesen und Girogeldverkehr in Stadt 
und Dorf reich entwickelt, weit mehr als 
bei uns heute. 


1) Siehe die soeben erschienene Schrift 
des Verfassers „Antikes Leben nach den 
ägyptischen Papyri“. Aus de* Sammlung 
„Aus Natur und Geisteswelt“. Bd.565. Leipzig 
1916, B. G. Teubner. 


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373 


Nachrichten und Mitteilungen 


374 


Man sollte glauben, daß ein Land mit 
solchem Kornreich turne niemals in Hungers* 
not geraten könnte. Dennoch geschah es 
im Laufe der Jahrhunderte wiederholt, aber 
nur deshalb, weil die Kornsteuern alle Jahre 
in derselben Höhe unerbittlich beigetrieben 
wurden, ohne Rücksicht auf fette und magere 
Jahre, die durch starkes oder schwaches 
Steigen des Nilstromes bedingt wurden. 
Das römische Volk, welches ein Drittel des 
Jahres mit Ägyptischem Getreide ernährt 
wurde, ging voran. Für gewöhnlich aber 
konnte ein Mangel in den Dörfern, wo 
.jedermann Ackerbau und Viehzucht trieb, 
nicht eintreten; anders in den ägyptischen 
Städten mit ihrer starken, nicht dem Land* 
bau zugewendeten Bevölkerung. Hier sorgte 
'die Behörde für angemessene Zufuhr von 
Lebensmitteln, und es gab in jeder Stadt — 
sicher nachweisbar für die römische Zeit 
— ein Nahrungsmittelamt. Diese Be* 
hörde war von besonderer Wichtigkeit und 
Ausdehnung in der Landeshauptstadt Alex* 
andrien, woselbst das Nahrungsmittelamt 
in fünf Unterteile, je einen für die fünf 
Stadtteile dieser Riesenstadt des Altertums, 
zerfieL 

Wie ein zu Oxyrhynchos in Mittel* 
■Ägypten gefundener Papyrus (Nr. 906) vom 
Jahre 199 n. Chr. zeigt, stand dort an der 
Spitze des Nahrungsmittelamtes ein Kölle* 
gium von zwölf Beamten von 

■denen monatlich abwechselnd jedesmal 
sedhs die Geschäfte führten. Ihre Aufgabe 
war es vor allem, für Brot zu sorgen. Die 
Zahl Sechs hing damit zusammen, daß es 
in der Stadt sechs Bäckereien gab, mit 
denen je eine Mehlmühle verbunden war. 
Jede Bäckerei wurde durch einen dieser 
Beamten beaufsichtigt, der die pünktliche 
Anlieferung des Kornes, das Mahlen und 
Backen zu prüfen und dafür einzustehen 
hatte, daß die erforderlichen Tiere zum 
Treiben der Mühle sowie das nötige Heu 
und Gerste zum Füttern dieser Tiere zur 
Stelle waren. Täglich mußten in jeder Mühle 
sechs Hektoliter Weizen ausgemahlen wer* 
den, das sind in den sechs Mühlen 1060 
Hektoliter monatlich, entsprechend der 
Kopfzahl der Bewohner. So sorgte die Stadt 
für den nötigen Bedarf an Brot. Die Maß* 
nähme war in allen Städten ungefähr die 
nämliche. 

P*Um die nötige Zufuhr von Korn an die 
Mühlen zu sichern, standen die städtischen 
Nahrungsmittelämter mit den Staatsbehör* 


den in Verbindung. Die Staatsbehörden 
waren imstande, über den Kornbestand des 
Gaues stets. die genaueste Auskunft zu 
geben an der Hand statistischer Ober* 
sichten. Jeder Dorfvorsteher führte nicht 
nur genaue Listen über die Besitzrechte 
am Ackerlande, sondern auch über die Art 
der Verwendung. Kein Bauer konnte bauen, 
was ihm gut dünkte, vielmehr hatte er nach 
bestimmten Grundsätzen und in Beachtung 
der Regeln für eine gesunde Fruchtwechsel* 
Wirtschaft diejenige Feldfrucht zu bauen, 
die fällig war, und auch in dem Umfange, 
wie das an der Reihe war. Daß das ge* 
schah, wurde von den Behörden überwacht 
War die Saatzeit vorüber, so hatte jeder 
Dorfvorsteher eine Statistik an die Gau* 
Staatsbehörde einzureichen, woraus man 
ersehen konnte, wie vielMorgen mitWeizen, 
wie viel mit Gerste, mit Hülsenfrüchten und 
sonstigen Früchten, und zwar für alles 
Ackerland mit Einschluß des Privatlandes, 
bestellt worden waren. Jede Gauhauptstadt 
faßte diese Dorfberichte zusammen und 
sandte die zusammenfassende Gau*Statistik 
an die* Landeshauptstadt Alexandrien. Dort 
konnte man sich also sehr bald nach be* 
endigter Aussaat ein Bild von dem Um* 
fange der bevorstehenden Ernte machen. 
War die Ernte vorüber, so hatte jeder Dorf¬ 
vorsteher eine Statistik über die bis in 
Bruchteile.von Scheffeln genau berechnete 
Menge der verschiedenen Ernteerträge des 
öffentlichen und privaten Ackerlandes an 
die Gaustaatsbehörde einzureichen, diese 
wiederum an die Zentralbehörde in Alexan¬ 
drien, und wenige Wochen später wußte 
man in Alexandrien, wie viel Scheffel 
Weizen, wie viel Scheffel Gerste usw. im 
ganzen Lande geerntet worden waren. Die 
weitere Berechnung, wie viel Korn zur Er¬ 
nährung des Volkes zu dienen hatte, war 
dann bald gemacht, weil die Kopfzahl auf 
Grund der alle vierzehn Jahre stattfinden¬ 
den Volkszählungen und der zwischen¬ 
durch geführten Zu* und Wegschreibungen 
(an der Hemd von Geburts* und Todesan¬ 
zeigen) bekannt war. 

Diese Saatstatistik, vor allem auch 
die Erntestatistik könnte uns heute als 
Vorbild zur gesicherten Durchführung der 
Volksernährung dienen, vor allem auch die 
Pflicht der Dörfer, bestimmte Früchte 
in bestimmten Mengen anzubauen. 

Für die Ernährung mit Brotgetreide bil¬ 
deten die oben erwähnten, in jedem Dorfe 


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Nachrichten und Mitteilungen 


376 


vorhandenen staatlichen Kornspeicher einen 
natürlichen Rückhalt, sie erleichterten auch 
den städtischen Nahrungsmittelämtern ihre 
Aufgabe. Neben dem Brote mußte aber auch 
für Fleisch gesorgt werden. Das geschah 
auf dem Wege vertraglicher Abmachun¬ 
gen zwischen dem Nahrungsmittelamte und 
den Viehzüchtern unmittelbar, also unter 
Ausschaltung eines Zwischenhandels. Vor 
allem kam hierbei Schweinefleisch in 
Betracht, wenigstens erwähnen die Papyri 
häufig den Auftrieb von Schweinen, nie¬ 
mals — soweit bisher bekannt — von Rin¬ 
dern oder anderem Sdilachtviehe. In sol¬ 
chen Verträgen, deren wir mehrere besitzen, 
verpflichteten sich die Schweinezüchter, 
eine bestimmte Zahl von Schweinen für 
den Markt einer bestimmten Stadt zu füt¬ 
tern und davon so viel jeweilig abzuliefern, 
als von Fall zu Fall verlangt wurde. So 
sicherte sich jede Stadt eine nach der Kopf¬ 
zahl ihrer Bewohner berechnete Anzahl 
von Schweinen, wobei nicht nur mit einem 
einzigen Züchter, sondern mit mehreren 
gleichzeitig Abkommen getroffen wurden, 
um die nötige Anzahl von Tieren 'festzu¬ 
legen. Die Tiere gehörten vom Tage des 
Vertragsschlusses ab der Stadtgemeinde, 
sie blieben bis zu ihrer Verwendung nur 
in Kost beim Züchter. Die Abschätzung der 
Tiere geschah durch die Nahrungsmittel- 
beamten, der Abschluß der Verträge da¬ 
gegen durch den obersten Qaubeamten, 
den sogenannten Strategen, weil die Züch¬ 
ter nicht bloß vertraglich, sondern auch 
noch eidlich sich binden mußten. Der Eid 
wurde nicht nur den Beamten auferlegt, 
sondern grundsätzlich auch allen Privat¬ 
leuten, welche eine Leistung für die Öffent¬ 
lichkeit übernahmen. Der Züchter haftete 
dem Staate für gewissenhafte Pflichterfül¬ 
lung mit seinem ganzen Vermögen, ja er 
mußte sogar noch einen Bürgen stellen, 
der dem Staate — ebenfalls mit seinem 
ganzen Vermögen — als Rückversicherung 
diente. Das war hart gegenüber unserer 
heutigen Auffassung, aber wirksam. So 
heißt es in einem Papyrus des Berliner 
Museums (Nr. 92) vom Jahre 187 n. Chr.: „Ich 
erkläre hiermit, indem ich schwöre beim 
Genius des Markus Aurelius Kommodus 
Antoninus, unseres Kaisers und Herrn, daß 
ich 165 Schweine habe, die ich füttere zum 
Auftriebe auf den Markt der Stadt Psen- 
bellichis, und die ich liefern werde, sobald 
es verlangt wird, andernfalls soll mich die 


Strafe des Eidbruches treffen.“ Also neben 
Vermögenshaftung noch Eidbruchstrafe. 

Nach Auftrieb der Schweine trat der 
Metzger in Tätigkeit. Auch dieser mußte 
zur Sicherstellung der Volksernährung eid¬ 
liche Verpflichtungen eingehen und einen 
Bürgen stellen, der ebenfalls eidlich sich ver¬ 
pflichten mußte. Etliche Papyri der Stra߬ 
burger Bibliothek, allerdings aus sehr spä¬ 
ter Zeit (566 n. Chr.), enthalten solche Bür- 
gerfverpflichtung: „Ich verpflichte mich frei¬ 
willig und aus eigenem Antriebe, Bürge zu 
sein für den und den Metzger, daß er das 
Metzgergeschäft untadelig auf die Dauer 
des folgenden Jahres ausübt und sein Ge¬ 
schäft nicht in Stich läßt, anderenfalls aber 
ihn vor die Behörde zu bringen derart, daß 
man ihn greifen kann“, usw. 

Alle Gewerbe waren zu Zünften zu¬ 
sammengeschlossen, deren Vorstände (Zunft¬ 
meister) halbamtliche Eigenschaft besaßen. 
Daß Metzger und Bäcker ihre Schuldigkeit 
taten, dafür sorgten auch diese halbamt¬ 
lichen Zunftmeister. Nach den im Frieden 
bei uns bestehenden Grundsätzen ist der 
Bäcker oder Metzger nicht verpflichtet, auf 
Verlangen an jedermann zu verkaufen; da¬ 
mals aber bestand diese Pflicht, doch nur 
in Hinsicht der Nahrungsmittel. 

Neben Brot und Fleisch waren es nach 
Ausweis der Papyri noch Eier und Speise¬ 
öl (statt der heutigen Butter), gelegentlich 
auch Obst, deren Zufuhr und Verkauf durch 
die Nahrungsmittelbehörden nach festen 
Regeln gesichert wurde. Es sind das die¬ 
selben Speisen, deren Sicherstellung audi 
heute unsere Behörden in die Hand ge¬ 
nommen haben. In einem Papyrus aus dem 
bereits genannten Oxyrhynchos vom Jahre 
327 n. Chr. heißt es: „Ich verpflichte mich 
durch heiligen Eidschwur, den Eierver¬ 
kauf auf dem Stadtmarkte auszuführen, und 
zwar im Handverkaufe, zur öffentlichen 
Nahrungsversorgung der Stadtbevölkerung,. 
Tag für Tag, ohne Unterbrechung. Nicht 
soll ich befugt sein, fortan unter der Hand 
oder in meiner Wohnung Eier zu ver¬ 
kaufen“ usw. Hier sehen wir deutlich den 
Unterschied zwischen privatem Handel im 
Hause des Verkäufers und öffentlichem Ver¬ 
kaufe — zu behördlich festgesetzten Preisen 
— im Dienste der öffentlichen Nahrungs¬ 
mittelversorgung auf dem Stadtmarkte. 
Wiederum ist der Händler, wie oben, durch 
Eidschwur gebunden. Die Zahl der Eier» 
die zum Verkaufe gestellt werden sollen» 


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Nachrichten und Mitteilungen 


378 


ist im Papyrus nicht angegeben, doch wird 
dieser Punkt irgendwie anders geregelt ge* 
wesen sein. 

Ober die Versorgung der Städte mit 
Speiseöl besitzen wir nur ein sehr frühes 
Zeugnis, nämlich das Steuergesetz desjtönigs 
Philadelphos aus dem 3. Jahrh. v. Chr. Dort 
handelt es sich um die Verpflegung Alexan¬ 
driens, dessen ölbedarf in der Weise ge¬ 
deckt wird, daß auf bestimmten Gauen die 
Verpflichtung lastet, eine genau vorgeschrie- 
bene Anzahl von Morgen Landes mit Öl¬ 
früchten zugunsten Alexandriens dauernd 
zu bestellen. 

Ein Papyrus des Britischen Museums 
endlich (Nr. 974) aus dem 4. Jahrh. n. Chr. 
zeigt uns die Versorgung einer Stadt mit 
Obst Auch hier hat der Händler einen 
Bürgen zu stellen, und dieser gibt folgende 
eidliche Erklärung ab: «Ich bin Bürge für 
den und den Fruchthändler, daß er der 
Stadt seinen Dienst ordentlich leistet in der 
Zufuhr aller zeitgemäßen Obstarten, die in 
tein Fach schlagen, in reichlicher Menge 
und ohne Unterbrechung. Sollte man wegen 
Vertragsbruches auf ihn fahnden, so will 
ich ihn stellen, daß er seine Schuldigkeit 
tirt, andernfalls will ich selber seine Pflicht 
auf mich nehmen, oder es soll mich die 
Strafe des Eidbruches treffen" usw. Wie 
hier für Obst, so wird auch für andere 
Friichtarten, insbesondere für Gemüse, ge¬ 
sorgt gewesen sein, wenn auch die Papyri 
bislang darüber keine Auskunft geben. 

Alle diese Maßnahmen zur Sicherung der 
Volksernährung, leider nur lückenhaft durch 
die Papyri uns überliefert, lassen sich durch 
alle Jahrhunderte der griechisch-römischen 
Zeit hindurch verfolgen. Dienststellung und 
Titel der Beamten der Nahrungsmittelämter 
wechselten im Laufe der Jahrhunderte, aber 
der Grundsatz, daß die Öffentlichkeit für 
geheberte Ernährung des Volkes zu sorgen 
hatte, blieb derselbe. 

Heidelberg. Prof. Dr. Preisigke. 

Ba deutscher Irrlehrer des Auslands. 

I. 

Emsig hatte die Presse des Auslands da¬ 
für gesorgt, daß all die Äußerungen deut- 
«eben Haders und deutscher Unzufriedenheit, 
die sie in der letzten Zeit vor dem Kriege 
wahrzunehmen glaubte, in vergrößerter und 
vergröberter Aufmachung den gläubigen Le¬ 
iern aufgetischt wurden, um den unbeque¬ 
men Nebenbuhler herabzusetzen, womög¬ 


lich auszuschalten, da man mit ihm erfolg¬ 
reich nicht konkurrieren konnte. 

Aber wie man als Kronzeugen des zyni¬ 
schen Imperialismus den General von Bern¬ 
hard i fand, so als Wortführer der „colossal 
immorality“ Treitschke, des deutschen 
Kultus der Macht Fr. Nietzsche, der die 
deutsche Kultur der letzten Generation be¬ 
herrschte, der die Prinzipien des „Bismarckis- 
mus" philosophisch begründete, der die 
neuere deutsche Dichtung, Kunst und Philo¬ 
sophie wie keiner vor ihm beeinflußte, der 
dem Denken und Fühlen der letzten Lustren 
seinen Stempel unverkennbar aufdrückte. 
Er ist neben Heine der deutsche Schrift¬ 
steller, der dem gebildeten Ausland am 
bekanntesten ist; seine Urteile wiegen hier 
so schwer, weil er auch der anerkannte 
Philosoph des jüngsten Deutschlands ist 

Er ist der Kronzeuge all derer, die die 
deutsche Kultur für eine minderwertige, 
rohe, barbarische halten, die neoen der fran¬ 
zösischen und — slawischen tief herabsinke. 

Für den Leser bedeutete die Frage, welche 
Schriften schon in die Zeit des umdüsterten 
Geistes gehören, wenig oder nichts; was in 
seinen Werken steht wird als gleichwertig 
genommen. 

Welches ist der Standpunkt Nietzsches? 
„Deutsch denken, deutsch fühlen — ich kann 
alles, aber das geht über meine Kräfte" 
(XI 313). ’) Er tat sich auf seine vermeint¬ 
liche Abstammung von polnischen Adligen 
und seine Verwandtschaft mit Chopin etwas 
zugute, gerade wie Paul de Lagarde sich 
seiner Verwandtschaft mit dem Eintagskönig 
Theodor von Korsika rühmte. „Es gehört 
selbst zu meinem Ehrgeiz, als Verächter 
der Deutschen par excellence zu gelten. 
Mein Mißtrauen gegen den deutschen Cha¬ 
rakter habe ich schon mit 26 Jahren ausge- 
drückt — die Deutschen sind für mich un¬ 
möglich" (XI 373). Und warum dieser auf¬ 
fällige Haß gegen das Vaterland, der nur bei 
Byron in solcher Schärfe ein Widerspiel 
findet? „In Wien, in St. Petersburg, in Stock¬ 
holm, in Kopenhagen, in Paris und Neuyork 
— überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht 
in Europas Flachland Deutschland" (XI312). 
Was Platen, Heine, Schopenhauer u. a. zu 
ähnlichen Ausfällen veranlaßte, trieb auch 
Nietzsche: gekränkte Eitelkeit oder das Ge¬ 
fühl derVerkanntheit. Dazu kommt dleOber- 


1) Ich zitiere nach der Leipziger Taschen¬ 
ausgabe. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


380 


sch&tzung f r a n z ö s i s c h e r Kultur.„ Au ch jetzt 
noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten 
und rafßniertesten Kultur Europas und die 
hohe Schule des Geschmacks* (VIII 224). 
„Als Artist hatfnan keine Heimat in Eu- 
ropa außer in Paris* (XI 298). Von den 
Engländern weiß er in der „Morgenröte* 
zu rühmen (V 376), sie hätten „sich an die 
Spitze der Wissenschaft gestellt*; doch die 
Russen erhalten keine lobende Charakte¬ 
ristik, wenn er auch von Dostojewski mäch¬ 
tig beeinflußt wurde. 

Was den Theoretiker in Deutschland be¬ 
sonders abstieß, war der Staat mit sei¬ 
nem gesetzmäßigen Triebwerk, seiner Ober¬ 
und Unterordnung, seiner das Kleinste re¬ 
gelnden Organisation — ein Zustand, der 
jetzt goldene Früchte trägt. Das „frideri- 
zianische Preußen*, dessen Geist das neue 
Deutschland zu erfüllen drohte, war schon 
den Romantikern ein Greuel gewesen und 
ist’s allen Stürmern und Drängern, die lie¬ 
ber wie Goethe im „Götz* das Faustrecht 
verherrlichen und wie Görres über den 
„Racker Staat* herfallen. In diesem Sinne 
redet auch der neue Zarathustra (VII69) 
„vom neuen Götzen*: „Staat heißt das käl¬ 
teste aller kalten Ungeheuer.. Vernichter 
sind es, sie stellen Fallen auf für viele und 
heißen sie Staat: sie hängen ein Schwert und 
hundert Begierden über sie hin...; dort, 
wo der Staat aufhört, da beginnt erst der 
Mensch, der nicht überflüssig ist.* Und öfter 
wie einmal spottet er gegen „preußische 
Schneidigkeit und Berliner Witz und Sand* 
(VIII211) und bekam dabei das ganze literari¬ 
sche und künstlerische Ästhetentum zu La¬ 
chern, das ja wie er den „Bildungsphilister* 
und die „heil’ge Ordnung* verabscheute. 

Als der Einfall der deutschen Heere in 
Belgien bekannt wurde, strategisch not¬ 
wendig, auch politisch gerechtfertigt, wie sich 
erwies, da brauste ein Sturm der Entrüstung 
durch den ausländischen Blätterwald, und 
die Zeitung eines neutralen Staates zitierte 
den Satz Nietzsches (aus VIII 211): „Es ist 
heute vielleicht die gefährlichste und glück¬ 
lichste Verkleidung, auf die sich der Deutsche 
versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkom¬ 
mende, die Karten aufdeckende der deutschen 
Redlichkeit: sie ist seine eigentliche Me¬ 
phistopheles-Kunst, mit ihr kann er es noch 
weit bringen. Der Deutsche läßt sich gehen, 
blickt dazu mit treuen blauen leeren deut¬ 
schen Augen — und sofort verwechselt das 
Ausland ihn mit seinem Schlafrocke.* 


Wie oft konnte man lesen, nicht das. 
Deutschland Goethes und Schillers bekriege 
man, sondern das „militaristische*. Das ist 
so die Vorstellung Nietzsches (V 136): 
„Wenn wir von deutschem Geiste reden, 
so meinen wir Luther, Goethe, Schiller und 
einige andere.* Aber seit die Deutschen 
zur Macht kamen (1870/71), ist’s mit dem 
Volk der Denker vorbei: „Die Macht ver¬ 
dummt* (X 284). „Wie viel verdrießliche 
Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrodc, 
wie viel Bier ist ih der der deutschen In- 
-telligenz!“ (X 215). „Deutschland gilt immer 
mehr als Europas Flachland* (X 287). Schon 
1873/74 ist der junge Nietzsche überzeugt, 
„daß die Deutschen bis jetzt keine Kultur 
haben, so sehr sie auch reden und stolzie¬ 
ren mögen“ (II 198). 

Mehr noch, die Deutschen haben überall, 
wohin sie kamen, die bestehende Kultur ver¬ 
dorben. „Sie haben, seit einem Jahrtau¬ 
send beinahe, alles verfilzt und verwirrt, 
woran sie mit ihren Fingern rührten“ (X 454). 
„Alle großen Kultur-Verbrechen von vier 
Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen.. 
Sie haben alles, was heute da ist, auf dem 
Gewissen, diese kulturwidrigste Krank¬ 
heit und Unvernunft, die es gibt, den Na¬ 
tionalismus, diese növrose nationale, an der 
Europa krank ist, diese Verewigung der 
Kleinstaaterei Europas* (XI 370f.). „Soweit 
Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur* 
(XI 294). 

Ist es ein Wunder, wenn die Nietzsche- 
aner des Auslandes mit ihrem Propheten 
den Weltkrieg als einen Kreuzug für die 
Kultur, gegen die Barbarei des kulturwid- 
rigen Deutschlands erklären? 

II. 

Aber noch in anderer Hinsicht ist Nietz¬ 
sche dem modernen Ausland ein Irrlehrer 
geworden — und das ist das Sonderbarste. 
Der Weltkrieg, der nach den erlogenen Er¬ 
klärungen der Feinde und nach der Ansicht 
weiter neutraler Kreise von Deutschland 
angestiftet und begonnen wurde, ist nach 
den Äußerungen fremder Zeitungen und 
Zeitschriften eine Folge der Lehre Nietzsches, 
der mit seinen Ideen zum mindesten das 
ganze gebildete Deutschland berauscht 
habe. 

Es ist richtig: für den Skeptiker war der 
militärische Geist stets etwas Hohes. Er 
selbst war ein begeisterter Feldartillerist, und 
es schmerzte ihn tief, als er durch eine 


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Nachrichten und Mitteilungen 


382 


schwere Verletzung vor der Zeit der Waffe 
entsagen mußte. Als der Krieg 1870 aus- 
brach, bot er sich sofort dem Vaterlande an 
und leistete als Krankenpfleger Dienste, die 
ihm sehr schwerfielen. Und als er einmal 
eine Heeresabteilung, Reiterei, Artillerie, 
Infanterie in schimmernder Wehr, mit dröh¬ 
nendem Schritte vorbeiziehen sah, da, sagte 
er zu seiner Schwester, .fohlte ich wohl, 
daß der stärkste und höchste Wille zum 
Leben nicht in einem elenden Ringen ums 
Dasein zum Ausdruck kommt, sondern als 
Wille zum Kampf, als Wille zur Macht und 
Obermacht“ (IX, XI). Er schwärmt für die 
militärische Erziehung. .Die gleiche Diszi¬ 
plin macht den Militär und den Gelehrten 
tflcfatig; und näher besehen, es gibt keinen 
tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte 
eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Be¬ 
fehlen können und wieder auf eine stolze 
Weise gehorchen ..., die Gefahr dem Be¬ 
hagen vorziehen; das Erlaubte und Uner¬ 
laubte nicht in einer Krämerwage wiegen“ 
(X 140). Seine .Zukunft“ träumt er sich 
in einem .Militärdienst, so daß durch¬ 
schnittlich jeder Mann der höheren Stände 
Offizier ist, er sei sonst, wer er sei“ (X52). 
Er freut sich .der militärischen Entwick¬ 
lung Europas: die Zeit der Ruhe und des 
Chinesentums ... ist vorbei* (IX 100). Im 
Staat sieht er die .organisierte Unmorali- 
tät... als Wille zur Macht, zum Kriege, 
zur Eroberung, zur Rache“ (X 2). Der Krieg 
ist ihm ein Kulturmittel: .er härtet ab, er 
macht Muskel* (X 210). Er predigt: .Man 
muß lernen, viele zum Opfer zu bringen 
uncLseine Sache wichtig genug nehmen, um 
die Menschen nicht zu schonen“ (X 181). 
.Eine Gesellschaft, die endgültig und ihrem 
Instinkt nach den Krieg und die Erobe¬ 
rung abweist, ist im Niedergang... Wenig¬ 
stens dürfte ein Volk ... sein Eroberungs¬ 
bedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waf¬ 
fen, sei es durch Handel, Verkehr und Ko¬ 
lonisation, als Recht bezeichnen — Wachs¬ 
tumsrecht etwa“ (X 7). In den Eroberern 
sieht er die neuen .Barbaren“, die kommen 
(X135)... .Man kann bei Naturen wie Cäsar 
und Napoleon etwas ahnen vonjeinem .inter¬ 
esselosen* Arbeiten an ihrem Marmor, mag 
dabei von Menschen geopfert werden, was 
nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zu¬ 
kunft des höchsten Menschen“ (X 178). Und 
so ruft er prophetisch aus: .Die Deutschen 
sind noch nichts, aber sie werden etwas... 
Wir Deutschen wollen etwas von uns, was 


man von uns noch nicht wollte — wir 
wollen etwas mehr“ (X 140). 

In dem .Willen zur Macht“, die Unkun¬ 
dige mit brutaler Gewalt verwechselten, sah 
man die Aufforderung zur Eroberung, zur 
Niederzwingung der Gegner; Deutschland, 
sagte man, habe diese Philosophie ergriffen, 
fühle den Beruf zum .Herrenstaat“, und der 
Kaiser wandle in den Fußtapfen Cäsars 
oder Napoleons (oder auch Tamerlans oder 
Attilas), der an seiner Idee arbeite, „mag 
dabei von Menschen geopfert werden, was 
nur möglich*; der Militarismus Deutschlands 
sei die in Praxis umgesetzte Philosophie 
Nietzsches,dessen Leitspruch: „Werdet hart!“ 
nicht umsonst gesprochen wurde. 

III. 

Wenn sich nach diesen Gedankengängen 
in einem neutralen Kopfe ein Zerrbild des 
deutschen Wesens, des deutschen Willens 
eigab, ist das wirklich verwunderlich? Eher 
ist verwunderlich, daß Nietzsche fast zur 
selben Zeit dem französischen Geiste assi¬ 
miliert wurde, als die puritanischen Englän¬ 
der in ihm den Geist des Belial entdeckten, 
gegen den die christliche Kultur (Englands, 
Rußlands, Italiens, Serbiens, Montenegros, 
Japans) mobil gemacht werden mußte. 

Und doch dürfen wir nicht vergessen, daß 
Nietzsche als „Europäer“ sprach, der den 
Kosmopolitismus der Romantik wieder neu 
entfachte, in jener Zeit, da die Gründertage 
manchen guten Deutschen am germanischen 
Wesen irremachen konnten; dürfen nicht 
vergessen, daß Nietzsche auf das Ausland 
viel tiefer gewirkt hat als auf uns, und seine 
Gegner bei uns viel zahlreicher und ge¬ 
schulter sind als anderswo. Und zuletzt sei 
daran erinnert, daß Nietzsches Kampf gegen 
alles Pharisäertum, gegen Plattheit, Selbst¬ 
genügsamkeit, Seelensattheit unser Denken 
aufgerüttelt, die innere Vertiefung vorbereitet 
hat, die nun die dira necessitas des Krieges 
mit Riesenschritten vollendet. Nietzsches 
idealer Mensch fordert, wie Wundt („Die 
Nationen und ihre Philosophie“ S. 104—115) 
so schön zusammenfaßt, .ideale Zwecke, in 
denen sein Leben aufgehen muß, wenn es 
für ihn lebenswert sein soll; und diese 
Zwecke können, weil sie von ihm erstrebt 
werden, wenn sein Leben ein Leben der 
Tat sein soll, niemals ein fertiger, nur zum 
Genüsse vorhandener Besitz, sondern sie 
müssen an Werte gebunden sein, die nicht 
unter ihm, sondern über ihm stehen. Hier 


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383 


Nachrichten und Mitteilungen 


384 


vollendet sich die Idee des .Oberniensdien“, 
wenn wir diesen Namen für ein zu erstre¬ 
bendes Zukunftsideal beibehalten wollen, 
indem sie sich mit der diesem auf die Tat 
gestellten Ideal selbst schon immanenten 
Idee der Hingabe verbindet. Hinter dem 
Obermenschen Nietzsches steht so das Pflicht- 
gebot: Du sollst dich selbst dahingeben für 
die Aufgabe, die dir in der Welt gestellt 
ist! Kein Zweifel, dieser Gedanke lebte 
auch in der Seele Nietzsches ... Und zwei¬ 
fellos ist es dieser nicht zu entbehrende 
Unterton, der in den Seelen vieler nachge¬ 
klungen hat, die von Nietzsche angezogen 
wurden ... Nietzsche hat, vielleicht ohne 
es selbst zu wissen, jedenfalls ohne es aus- 
zusprechen, den deutschen Idealismus seiner 
Wiedergeburt entgegengefQhrt ... in dem, 
was den Kernpunkt aller Philosophie aus- 
macht: in den Problemen der sittlichen 
Lebensanschauung.“ 

Eduard Stemplinger-MOnchen. 

Deutschland Im Urteil des Auslandes früher 
und — jetzt Herausgegeben von Heinrich 
Frankel. Mit Geleitworten von Peter 
Rosegger, Gustav von Schmoller und 
WilhelmWaldeyer. München 1916,Georg 
Müller. 

Das vorliegende Werk ist ein Kridgs- 
buch und muß als solches beurteilt wer¬ 
den. Es ist aus dem Bedürfnis hervorge- 
gangen, die Angriffe, die seit Ausbruch 
des Krieges gegen Deutschland und das 
deutsche Geistesleben gemacht worden 
sind, zurückzuweisen und namentlich der 
Herabwürdigung des deutschen Volkes durch 
die Franzosen und die nach Frankreich ge¬ 
flüchteten deutschfeindlichen Elsässer ent- 
gegenzuwirken. Zu diesem Zwecke hat der 
Herausgeber eine große Anzahl von Ur¬ 
teilen, die von Vertretern verschiedener 
Vblker seit Tacitus bis auf die Gegenwart 
über Deutschland gefallt worden sind, zu¬ 
sammengestellt. Das Verzeichnis der Be¬ 
urteiler weist 271 Namen auf. Am zahl¬ 
reichsten und interessantesten sind die 


Urteile der Engländer und Franzosen, ob¬ 
gleich die Auswahl nicht immer glücklich 
und charakteristisch ist. Mehr oder weniger 
typisch sind auch die Urteile der anderen 
Völker, die der Herausgeber berücksichtigt 
hat (Russen, Japaner, Italiener, Nordameri¬ 
kaner, Griechen, Bulgaren, Spanier, Argen¬ 
tinier, Iren, Danen, Norweger, Schweden, 
Niederländer, Flamen und Schweizer). Die 
meisten Vertreter dieser verschiedenen Völ¬ 
ker äußern sich zugunsten Deutschlands, 
so daß durch ihre Aussagen die Ankla¬ 
gen, die seit Ausbruch des Krieges ge¬ 
gen die Deutschen erhoben worden sind, 
sich in hohem Grade als ungerecht erwei¬ 
sen. Die Geleitworte von P. Rosegger, 
G. v. Schmoller und W. Waldeyer sind 
wertvoll insofern, als diese Männer frei von 
chauvinistischer Oberhebung sind und die 
Hoffnung hegen, daß die in diesem Buche 
zusammengestellten günstigen Urteile zu¬ 
gleich zur Selbsterziehung des deutschen 
Volkes mithelfen werden. So gibt Waldeyer 
dem Wunsche Ausdruck: „Möchten alle 
Deutschen, die das Buch lesen, sich fragen, 
ob sie stets das Ihrige dazu getan haben, 
der günstigen Urteile, die sie darin finden, 
sich wert zu erweisen, und möchte so jeder 
dazu beitragen, daß die uns zuerkannten 
guten Eigenschaften unserer heranwachsen- 
den Jugend bewahrt bleiben für und für!“ 
In diesen Worten ist schon angedeutet, 
was Ober das Unternehmen als Ganzes 
kritisch zu bemerken ist: daß es nament¬ 
lich im Auslande sicherer sein Ziel er¬ 
reicht, der gerechten Sache, für die es 
eintiitt, wirksamer gedient hätte, wenn der 
Herausgeber bei der Auswahl der Urteile 
im Hinblick auf Deutschland wie auf Deutsch¬ 
lands Gegner von einer objektiveren Ge¬ 
sinnung getragen worden wäre. Von die¬ 
sem Vorbehalte abgesehen, ist die Lektüre 
des vorliegenden Werkes lehrreich und 
fördernd sowohl für die Freunde als auch 
für die Feinde Deutschlands. 

J. B. 


POr die Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcelius. Berlin W30, LuitpoldstraBe 4. 

Drude von B.O.Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


11. JAHRGANG HEFT 4 1. JANUAR 1917 


Aus den Schützengräben. 

Von P. D. Fischer. 


Verehrte Freundin I 

Sie wünschten meine Meinung über 
das wundersame kleine Buch zu wissen, 
das Sie mir neulich mit nach Hause 
gaben. Ich komme Ihrer Aufforderung 
um so lieber nach, als ich mich da¬ 
durch von einem Druck zu befreien 
hoffe, den ich unter dem vielen Schwe¬ 
ren, womit der Krieg je länger, je härter 
auf uns lastet, am widerwärtigsten 
empfinde; ich meine den Druck der 
Lügen und Verleumdungen, die unsere 
Gegner von Beginn des Weltkrieges an 
in einem bis dahin unerhörten Maße 
gegen uns losgelassen haben, und deren 
Verbreitung sie zielbewußt als eines 
ihrer wirksamsten Kriegsmittel zu be¬ 
treiben nicht müde werden. Gehen sie 
doch, England auch hierin an der Spitze, 
90 weit, diejenigen ihrer Landesangehö- 
rigen, die auf Grund ihrer eigenen 
Wahrnehmungen gegen die eine oder 
andere dieser Lügen Front zu machen 
versuchen, wegen Landesverrats vor 
den Strafrichter zu ziehen. Ein Spezial¬ 
gesetz, das die Verbreitung der Wahr¬ 
heit mit Strafe bedroht, etwa eine lex 
Hobbouse, wäre ja wohl das Tollste, 
was dieser Krieg an Rechtsirrungen zu 
leisten vermöchte. 

Und wir? Sollen wir uns auf den 
landläufigen Trost beschränken, daß 
Lügen kurze Beine haben? oder daß 
Schimpfwörter keine Geschosse sind? 
Sollen wir diese Gasbomben ihrer Ver¬ 
leumdungen ruhig über uns ergehen 


lassen und ihnen lediglich die voll¬ 
endete Gleichgültigkeit unseres guten 
Gewissens entgegenstellen? Kann es 
uns wirklich gleichgültig sein, daß die¬ 
jenigen Nationen, die dem allgemeinen 
Weltenbrand bisher noch in mühsam 
aufrechterhaltener Neutralität gegen- 
Überstehen, von den Schmähungen und 
Drohungen unserer Gegner mehr und 
mehr angesteckt werden? Nein, und 
abermal neinl Zahmes Erdulden, stilles 
Verachten ist auch diesem Punkt der 
Kriegführung gegenüber vom ÜbeL 
Auch hier gilt es, sich zu wehren; auch 
hier ruft mutig sich zeigen, niemand 
sich beugen, die Arme der Götter her¬ 
bei. 

Ich bitte deshalb um die Erlaubnis, 
meine Bemerkungen auf noch einige 
andere Schriften aus den Schützengrä¬ 
ben ausdehnen zu dürfen, die mir neuer¬ 
dings in die Hand gekommen sind und 
die mir, jede in ihrer Art, typisch für 
den Geist unserer Feldgrauen, zugleich 
aber die wirksamste Widerlegung der 
wider uns erhobenen Beschuldigungen 
zu sein scheinen. 1 ) Und wenn ich mir 
für diese Bemerkungen einen Platz in 
den auch Ihnen wohlbekannten blauen 
Heften der „Internationalen Monats- 

1) Leutnant Gotthold von Rhoden. Tü¬ 
bingen 1916 bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 
— Ausgelöste Klänge. Briefe aus dem Felde 
über antike Kunst. Berlin 1916, Weidmann- 
sche Buchhandlung. — Leutnant Karl Feyer- 
abend. Gedenkblatt der Brasilianischen Bank 
für Deutschland. 

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P. D. Fischer, Aus den Schützengraben 


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schrift“ erbeten habe, so ist dies in der 
Hoffnung geschehen, daß diese Zeit¬ 
schrift, dem Sinne ihres BegrQnders 
und dem ihres jetzigen Leiters gemäß, 
auch gegenwärtig noch fortfährt, ein 
Organ der Verständigung zwischen den 
verschiedenen Kulturvölkern zu bilden, 
und daß ihre Stimme auch jetzt noch in 
neutralen Ländern, hier und da vielleicht 
auch bei unseren Gegnern, gehört wird. 

Ich beginne mit dem Heft, das die Er¬ 
innerung an Gotthold von Rhoden fest¬ 
zuhalten bestimmt ist ein Heft, dessen 
Bekanntschaft ich Ihnen zu verdanken 
hatte, als es noch lediglich dem Kreise 
der Verwandten und Freunde zugäng¬ 
lich war, und mit dem Sie mich jetzt, 
wo es auf vielfaches, wohl berechtigtes 
Verlangen veröffentlicht worden ist 
aufs neue beschenkt haben. Der Held 
dieser Schrift einer der drei in diesem 
Kriege vor dem Feinde gefallenen Söhne 
des Konsistorialrates und Predigers 
von Rhoden, ist als junger Theologe aus 
seinem ersten Marburger Semester un¬ 
mittelbar bei Ausbruch des Krieges als 
Freiwilliger zu den Waffen geeilt hat 
es durchgesetzt sehr bald an die Front 
zu kommen und ist zum Offizier beför¬ 
dert ein volles Jahr hindurch in den 
Schützengräben im Westen mit vorbild¬ 
licher Einsetzung seiner vollen Jugend¬ 
kraft tätig gewesen, bis ihn am 15. Sep¬ 
tember 1915 in der Champagne die töd¬ 
liche Kugel traf. Einer von vielen Tau¬ 
senden; aber einer der Reinsten, von den 
höchsten Idealen Beseelten. Einer, in 
welchem sich die sittlichen Grundlagen, 
auf denen die stärkste Kraft unserer 
Heeresmacht beruht am restlosesten 
ausgeprägt haben; einer zugleich, dessen 
so früh unterbrochener Entwicklungs¬ 
gang die bündigste Widerlegung der 
von unseren Gegnern über den preußi¬ 
schen Militarismus verbreiteten Ver¬ 
leumdungen darstellt 


Wenn der treffliche Schwede R- Kjel- 
16n in seinen „Ideen von 1914“ das deut¬ 
sche Pflichtgefühl dem westeuropäi¬ 
schen Individualismus gegenüberstellt, 
so kommt in den Feldzugsbriefen des 
Neunzehnjährigen trotz aller Zurückhal¬ 
tung der Gedanke der Unterordnung 
unter das Ganze wiederholt zu über¬ 
raschend klarem Ausdruck. „Ich bin 
nicht mehr ich,“ schreibt er am 11. De¬ 
zember 1914 von Arras, „sondern ein 
Teil der Volkskraft die sich für das 
Vaterland aufbrauchen und aufopfern 
muß. Darum weg mit der ängstlichen 
Sorge um meine Person I“ An der 
Wende des großen Jahres schreibt er 
den Eltern: „Das alte Jahr hat der un¬ 
sagbaren Not so viel gebracht das neue 
wird noch mehr bringen. Im alten brach 
im ersten Sturm der Begeisterung das 
Beste der Menschenseele hervor, im 
neuen heißt es Ausdauer, Bewährung. 
Das wird schwerer sein: seid auch Dir 
stark in der Liebe und bleibt es; verliert 
nicht den guten Glauben an unser Volk 
und bleibt stolz und getrost, auch wenn 
ich nicht heimkehre; ich will keine 
schwächliche Trauer.“ Ganz im Sinne 
dieser Bitte hat der Vater das Wort mit 
welchem der Sohn den Brief an einen 
gleichfalls im Felde stehenden Freund 
schloß: 

„Kopf hoch und Augen geradeaus aufs 
Ziel gerichtet!“ 

an den Schluß der Vorrede gesetzt, mit 
der er die Briefe des Gefallenen der 
Öffentlichkeit übergab. 

Jedes Wort in diesen schlichten Brie¬ 
fen legt Zeugnis davon ab, wie inner¬ 
lich gefestigt dieser junge Krieger war. 
„Als Zugführer, der für das Wohl¬ 
ergehen von 60 Mann verantwortlich ist, 
habe ich meine Gedanken zusammenzu¬ 
nehmen. Wer hätte das denken können, 
als ich noch ein fröhliches Studenten- 
tum vor mir haben zu können glaubte I 


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P. D. Fischer, Aus den Schützengraben 


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Aber vielleicht reift diese schwere Zeit 
... Jetzt muß sich zeigen, was an dem 
Menschen ist, ob er als innerlich ge¬ 
brochener, verlebter Mensch aus dem 
Strudel der grausamsten Erlebnisse 
heimkehren wird, oder ob ihn dieser ge¬ 
waltige Ansturm noch in seinem Charak¬ 
ter stärken konnte.“ Und als er am 
30. Januar 1915 seinen Lieben mitteilt, 
daß er über Nacht ein kgL preußischer 
Leutnant geworden, sagt er: „dies ganze 
militärische Leben, mit all seinen Förm¬ 
lichkeiten, dies Kriegsdasein — es ist 
nur das Äußerliche, das Körperliche; 
daß nur der Oeist stark und gesund 
bleibe und die Seele rein!... Freuen 
tue ich mich natürlich doch...“ 

Ausgesprochener Duellgegner, Absti¬ 
nent obgleich von der Familie, wie er 
sagt in Freiheit dressiert, doch von den 
strengsten sittlichen Grundsätzen be¬ 
herrscht, ist dem jungen Mann die An¬ 
passung an seine neuen Umgebungen 
nicht leicht geworden. „Es geht mir“, 
schreibt er nach Haus, nachdem er sich 
entschlossen hatte, als Fahnenjunker Be¬ 
rufssoldat zu werden, „äußerlich ja ganz 
gut Desto mehr muß ich innerlich 
schwer arbeiten. Meinen Geist kann ich 
auf keinen Fall dem Offizierkorps an¬ 
passen.“ In welchem Maße er sich trotz¬ 
dem die allgemeine Anerkennung seiner 
neuen Berufsgenossen erworben hat, na¬ 
mentlich auch die seiner Vorgesetzten, 
geht aus dem Briefe hervor, den sein 
Hauptmann nach der Beförderung Gott- 
holds zum Leutnant an dessen Vater 
richtete. „Es mag ihm zuerst schwer ge¬ 
worden sein, sich einzuleben, und vor 
allen Dingen wird er manche eigene An¬ 
sicht, die sehr anerkennenswert ist, dem 
allgemeinen Weren un'erordnen müssen. 
Aber gerade seine Ansichten, die zuerst 
etwas übertrieben schienen, sind so 
schätzenswert für uns alle, und er hat 
sich durch sein Auftreten unter Vorge- 

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setzten und bei seinen Untergebenen 
viel Freunde erworben. Zu seinem vor¬ 
züglichen Charakter gesellen sich bei 
ihm die guten Eigenschaften, die wir 
gerade jetzt bei unseren Offizieren brau¬ 
chen: das enge Zusammenleben und 
-fühlen mit den Leuten, das vorbildliche 
Verhalten, die nicht ermüdende Aus¬ 
dauer und vor allem auch sein persön¬ 
licher Mut, gepaart mit unerschütter¬ 
lichem Gottvertrauen —“ Und wieder¬ 
um der junge Leutnant über diesen 
Hauptmann: „Mein Hauptmann ist ein 
Hauptmann — unbeschreiblich. Er ist 
der vornehme Grundbesitzer, der durch 
sein großartiges Organisationstalent 
Großes zustande bringt, äußerst prak¬ 
tisch und weltgewandt... Seine Welt¬ 
anschauung ist durchaus nicht starr; er 
ließ mich so viel reden, wie ich wollte — 
natürlich nur auf seine Aufforderung 
hin — und suchte mich von der Uner¬ 
fahrenheit und Unhaltbarkeit meiner 
Ideen zu überzeugen... So rücksichts¬ 
los darf ich ja nicht sprechen, wie ich 
wohl möchte; aber in all diesen Sachen 
der Weltanschauung bin ich, Gott sei 
Dank, mein eigener Herr, da kann mir 
keiner dreinreden, da bin ich frei und 
selbständig...“ Und als der junge Leut¬ 
nant bald darauf von seinem Regiment 
zu einem neu gebildeten versetzt wird, 
begleitet ihn sein bisheriger Hauptmann 
eine Strecke lang und sagt ihm zum Ab¬ 
schied: „Bleiben Sie so.“ 

Stimmt dies Verhältnis zwischen dem 
eben flügge gewordenen jüngsten Leut¬ 
nant und dem welterfahrenen Haupt¬ 
mann zu den Vorstellungen, welche die 
Presse des Auslandes über den preußi¬ 
schen Militarismus verbreitet? Oder 
stimmt damit die Stellung zu seinen Un¬ 
tergebenen, die persönliche Teilnahme, 
die er für jeden von ihnen betätigt, das 
Verständnis, mit dem er auf die ein¬ 
zelnen einzuwirken sucht? „Meine 60 

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P. D. Fischer, Aus den Schützengraben 


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Schutzbefohlenen kenne ich nun alle bei 
Namen; für einen Zwanzigjährigen be¬ 
reitet die Behandlung so verschiedener 
Geister sicherlich manch Kopfzerbrechen 
... Ich werde f Euch ein paar Adressen 
schicken für Liebespakete.. 

In welchem Umfange der junge Offi¬ 
zier sich in den wahren Geist des preu¬ 
ßischen Militarismus einzuleben gewußt, 
wie er nach oben und nach unten 
den weitgehendsten Anforderungen ent¬ 
sprochen bat, das geht unwiderleglich 
aus den Briefen hervor, die nach seinem 
Heldentode der Hauptmann und der Re¬ 
gimentskommandeur an den Vater rich¬ 
teten, und andererseits aus dem rühren¬ 
den Schreiben des Burschen, das die 
Liebe und die Bewunderung für den Da¬ 
hingeschiedenen wunderschön zum Aus¬ 
druck bringt — 

Wie ganz anders das zweite Buch! 
Wenn in den Feldpostbriefen von Gott¬ 
hold von Rhoden das Ringen einer jun¬ 
gen Seele, die Erlebnisse in den furcht¬ 
barsten Kämpfen sich anschaulich und 
erschütternd, zugleich jedoch erhebend 
abspiegeln, so erwecken die Briefe des 
Landwehrleutnants Andrö Jolles aus 
dem Felde über antike Kunst die Lud¬ 
wig Pallat veröffentlicht und mit einigen 
prachtvollen Versen eingeleitet hat zu¬ 
nächst ein Gefühl des Staunens, ich 
möchte sagen des Befremdens darüber, 
daß Briefe dieses Inhalts aus dem Felde 
herstammen. Dreißig bis vierzig Briefe, 
alle ohne Anrede und ohne Schluß, nur 
mit Zeitangabe, ohne Ort — alle offen¬ 
bar an dieselbe Empfängerin gerichtet 
die wohl als Gattin des Absenders zu 
denken ist alle mit Nachdruck und ma- 
gistralem Ernst tiefste Fragen antiker 
Kunst behandelnd — die dorischen 
Tempel, Homer, archaische Kunstwerke, 
Stilfragen, das griechische Drama, 
Äschylos, Sophokles, Euripides und Ari- 
stophanes: ist das mitten unter den 


Schrecken des Weltkrieges möglich? 
Wie ist es denkbar, daß der Leser nur 
an ganz vereinzelten Stellen, vielleicht 
drei- oder viermal in dem ganzen Buch 
von 101 Seiten, und auch da nur ganz 
flüchtig, etwas davon erfährt, daß rings 
herum der Krieg tobt Einmal, unmit¬ 
telbar nach einer ebenso feinen als tief¬ 
sinnigen Charakterisierung der Kunst 
des Sophokles, entschuldigt sich der 
Verfasser, daß seine Briefe weniger 
überdacht und weniger zusammenhän¬ 
gend sind. „Bei uns sind die Umstände 
nicht danach, über Kunst zu schreiben 
— ich versuche trotzdem, meine Gedan¬ 
ken aus dem Dreck zu retten.“ 

Eine Erklärung liegt vielleicht darin, 
daß die Briefe sicherlich vor ihrer Ver¬ 
öffentlichung eine Redaktion erfahren 
haben. Zunächst offenkundig in ihrer 
Zusammenstellung nach dem Inhalt. 
Denn sie sind in der vorliegenden Aus¬ 
gabe nicht nach ihrer Entstehung geord¬ 
net sondern nach bestimmten sachlichen 
Gedankenfäden an- und hintereinander¬ 
gereiht; zwischen Briefe aus dem Juli 
und August 1915 ist einer aus dem Ja¬ 
nuar 1915 eingeschoben; dann folgen 
einige aus dem Mai und Juni 1915, unter 
denen sich wieder einer aus dem 
November 1915 befindet, und so fort. 
Wenn also hier sichtlich eine Um¬ 
reihung und eine durchgreifende Neu¬ 
ordnung des Materials vorgenommen 
worden ist, so liegt die Vermutung nahe, 
daß auch der Inhalt der Briefe nicht un¬ 
verändert geblieben sein wird. Unter 
anderem wird vermutlich viel Persön¬ 
liches, das in den Gedankengang der 
Briefe über antike Kunst nicht paßte, 
weggefallen sein; die Beziehungen des 
Schreibers zur Empfängerin, die per¬ 
sönlichen Eindrücke, die er doch not¬ 
gedrungen als Offizier, als Teilnehmer 
an gewaltigen Kriegshandlungen im 
Kreidemorast der Champagne empfan- 


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P. D. Fischer, Aus den Schützengraben 


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gen mußte, sind offenbar auf ein Ge- 
ringstmaß zurückgeführt, das diesen 
Briefen den Charakter des persönlichen 
Gedankenaustausches fast raubt und sie 
gelegentlich zu einer akademischen Vor¬ 
lesung oder noch naher zu Vortragen 
io einem kunstwissenschaftlichen Pri¬ 
vatkolleg umstempelt Und der Zweck 
dieses Privatkollegs? Wollte sich der 
Schreiber erretten aus dem Wust des 
Kriegsgetümmels, oder wollte er der 
Gattin eine Anleitung geben, nach der 
sie ihr Kind in die antike Kunst einzu- 
führen vermöchte? Vielleicht sogar 
wahrscheinlich, beides? 

Aber — so, wie sie sind, können diese 
Briefe aus dem Felde mit dem Dichter 
sagen: Ich bin nun, wie ich bin; so nimm 
mich nur hin. Und wer sie mit Auf¬ 
merksamkeit liest und vor einigem ge¬ 
legentlich etwas stark aufgetragenen 
Geistreichtum nicht zurückscheut wird 
in ihnen nicht nur eine höchst eigen¬ 
artige Bereicherung unserer Kriegslite¬ 
ratur, sondern eine Quelle mannigfaltig¬ 
ster Belehrung und Anregung kennen 
und schätzen lernen. Sie wissen, ver¬ 
ehrte Freundin, daß wir uns in der klei¬ 
nen Graeca, von der ich Ihnen öfters er¬ 
zählt habe, in diesem Jahre mit Homer 
beschäftigen. Ich kann aus unmittelbar¬ 
stem Eindruck die Wahrheit und das Zu¬ 
treffende von allem bestätigen, was der 
Brief vom 15. August 1915 über Homer 
sagt: „Als der blinde Sänger seine 
Stimme erhob, da schwiegen alle Musen 
und Künste; keiner konnte mehr einen 
Finger rühren, atemlos horchten sie; wie 
Josua die Sonne zum Stehen brachte, 
so stand, als Homer sang, die Welt stille 
... Wie macht er es, alle die Figuren, 
die sich im Grunde so ähnlich sehen, 
so verschieden zu charakterisieren.. „ 
nicht nur die Großen, sondern gerade 
die Kleinen... Er beschreibt nicht, 
macht keine psychologischen Andeutun¬ 


gen, Einzelheiten kennt er hierbei nicht 
— und trotzdem 1 Da stehen sie deutlich 
und fest Umrissen, stark wie die Wirk¬ 
lichkeit, schön wie Gedanken, alle ver¬ 
schieden, scharf gekennzeichnet... Ge¬ 
nau dieselbe Empfindung hat man bei 
jedem Wort, was er spricht Sagt er 
Haus, so sehe ich ein Haus, sagt er Tür, 
so trete ich ein, sagt er Meer, so lecke 
ich mir die Lippen und schmecke den 
salzigen Geschmack... Wie macht er 
das alles?... Ich weiß es ebensowenig, 
wie ich Prometheus zugeschaut habe, wie 
er beim Bache saß und Menschen schuf... * 
Oder die wundersamen Gedanken, die 
er „auf dem Kriegsschauplatz, kein ein¬ 
ziges Buch, nach allen Seiten abgelenkt“, 
über die religiösen Probleme bei Äschy- 
los vorträgt Ihm ist Äschylos ein Sturm, 
der alle Naturgewalten entfesselt ein 
Sturm, der aufbaut und nicht verwüstet 
ein Geisterbeschwörer, der von seinen 
Figuren besessen ist und dessen Perso¬ 
nen in einer Wolke von Ängsten und 
Leidenschaften, Gespenstern und unbe¬ 
herrschbaren Mächten wandern. Wie 
anders der milde, abgeklärte, mensch¬ 
liche Sophokles, nach dem er sich ge¬ 
legentlich wie von Sehnsucht angeweht 
fühlt „So wie sich in dem Schreiben 
über Äschylos mein ganzes Innere auf¬ 
wühlte, so kam mir beim Denken an So¬ 
phokles eine gewisse Linderung...“ 
Eine höchst eigenartige, ich möchte 
sagen eine einzigartige Erscheinung, die¬ 
ser Landwehrleutnant der mitten aus 
den Schrecken der Champagneschlacht 
des vorigen Jahres seiner Gattin ein Pri¬ 
vatkolleg schreibt über antike Kunst 
dieser Kenner des griechischen Thea¬ 
ters, der ihr aus dem Schützengraben, 
ohne Hilfsmittet mit beständigen Un¬ 
terbrechungen die Entstehung des grie¬ 
chischen Dramas, die Grundlehren der 
Poetik des Aristoteles, das Verhältnis 
der großen griechischen Dramatiker vor- 


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trögt Vortrage, die zu jeder Zeit Beach¬ 
tung verdienen würden, die aber, so ent¬ 
standen, ein vollgültiges Zeugnis von 
dem Geist ablegen, der in unseren 
Schützengraben solche Klange auslöst 
und eine glänzende Widerlegung der 
Schmähungen, die uns als kulturfeind¬ 
liche Barbaren verhöhnen. 

In diesem Sinne mögen zum Schluß 
noch die wenigen Blätter hier Erwäh¬ 
nung finden, in denen unser Freund 
Max Schinckel namens der Brasiliani¬ 
schen Bank für Deutschland einem am 
18. August d. J. gefallenen Beamten die¬ 
ser Bank, dem Leutnant Karl Feyer- 
abend, ein ehrendes Andenken errichtet 
hat. Bei Beginn des Krieges schlug sich 
Feyerabend von Porto Alegre nach 
Deutschland durch, um seine Kräfte dem 
bedrängten Vaterlande zu widmen. Mit 
welchem Heldenmut er dies getan hat, 
geht aus dem Brief hervor, den nach 
seinem Tode der Regimentskomman¬ 
deur an die Witwe gerichtet hat. Zur 
Charakteristik des Gefallenen ist eine 
Niederschrift von ihm über das Leben 
unserer Soldaten mitgeteilt, die aus 
einer früheren Stellung vor Ypern her¬ 
rührt, und der ich einige Sätze entneh¬ 
men möchte, da sie ohne Kommentar 
den Mann, die Situation und das Ver¬ 
hältnis des Offiziers zu seinen Leuten 
in schärfsten Umrissen vergegenwärti¬ 
gen : „Ein unterirdischer Gang, mit Bal¬ 
ken verstrebt, vorsichtig tastet sich der 
Fuß auf den schlüpfrigen Brettern wei¬ 
ter, ein Fehltritt, und er versinkt fast 
bis ans Knie in den Sumpf. Selten nur 
erhellt ein Lichtstümpfchen spärlich die 
Finsternis. Von Zeit zu Zeit schlagen 
wir eine Zeltwand beiseite, die zum 
Schutz gegen die herrschende Zugluft 
ausgespannt ist An der einen Wand 
hocken und liegen auf Bänken und ein¬ 
fachen Holzpritschen unsere Feldgrauen, 
meist schlafend, nur die wenigen, die 


das Glück haben, in der Nähe einer 
Kerze zu wohnen, spielen Karten, lesen, 
schreiben. Draußen lauert der Tod. Täg¬ 
lich mehrere Stunden lang fallen die 
feindlichen Artilleriegeschosse nieder; 
drinnen langweilige Stunden des War¬ 
tens. Jetzt bin ich bei meinem Zuge und 
grüße die bekannten Gesichter. 

Wenn es euch recht ist wollen wir 
wieder etwas lesen I 

Ein vielstimmiges: „Jawohl, Herr 
Leutnant 1" ist die Antwort und so gut 
es eben gehen will, drängen sie sich um 
mich zusammen. Eine Kerze habe ich 
selbst mitgebracht so daß mit einem 
anderen Lichtstumpf der Raum beinahe 
feenhaft erleuchtet wird. 

Es ist Gottfried Kellers „Fähnlein der 
sieben Aufrechten“, das wir zusammen 
begonnen haben, von dem mir mal ein 
Kamerad sagte, das könne man beinahe 
jeden zweiten Tag wieder lesen. Und 
einige Sekunden später ist Meister Kel¬ 
ler herniedergestiegen von seiner himm¬ 
lischen Höhe und erzählt seinen deut¬ 
schen Brüdern von seiner Schweizer 
Heimat... Die Geschichte ist zu Ende; 
alles hat gespannt gelauscht denn Mei¬ 
ster Gottfried versteht zu fesseln, ob er 
nun mit wenig Worten den Zauber einer 
Mondscheinlandschaft vom Zürcher See 
vor uns aufleuchten läßt oder mit leise 
quellendem Humor und jener Liebe, der 
nichts Menschliches fremd ist uns den 
Charakter und den Entwicklungsgang 
seiner Gestalten zeichnet, oder ob er den 
Blick aufs Ganze richtet aufs Vaterland 
und auf die Notwendigkeit ihm zu die¬ 
nen und es in jedem Augenblick immer 
wieder in erneuter Herrlichkeit aufzu¬ 
bauen. Solche Gedanken klingen in uns 
an; jeder mißt sie nach seinen Erfah¬ 
rungen und wendet sie prüfend auf seine 
Verhältnisse an, und wenn sich der kleine 
Kreis trennt, dann ist keiner, der nicht 
etwas mitgenommen hätte fürs Leben. 


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Franz Jostes, Quido Gezelle 


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Das ist das seltsam Große dieser Zeit, 
daß nun schon mehr als 20 Monate alle 
Standes-, Klassen-, Konfessions- und 
Parteischranken gefallen sind, daß alle, 
ob hoch oder niedrig, reich oder arm, stu¬ 
diert oder ungelehrt, dieselbe klare, ein¬ 
fache Pflicht zu erfüllen haben, das 
Vaterland zu verteidigen... Sehnen nach 
Klarheit erfüllt uns alle; nur was klar 
in uns geworden ist, befriedigt uns, frei¬ 
lich nur, um gleich wieder neues Sehnen 
in uns wachzurufen, aber das ist der 
Weg des inneren Fortschreitens. Und da 
zeigt sich nun ein gut Stück kamerad¬ 
schaftlicher Hilfeleistung darin, daß wir 
einander zu fortschreitender Klarheit 
verhelfen, und wo der eigenen Kraft 
Grenzen gezogen sind, uns mit den 
großen geistigen Führern unseres Volkes 
and der Menschheit verbinden .. 

Und nun wendet Karl Feyerabend sei¬ 
nen Blick auf die Zukunft Wie wird’s 
werden, wenn der Friede wiederkommt? 
Werden auch unsere Heimgekehrten 
wieder hineingezogen werden in die 
alten Gewohnheiten? Sollen die alten 
Parteiphrasen und -dogmen wieder um¬ 


gehen und heischen, daß man sie an¬ 
bete, unbesehen, mit Haut und Haar? 
Und er richtet seine Hoffnung als 
Heilmittel dagegen auf die deutschen 
Bücher; nicht ihre Masse, wie sie ständig 
den Markt überschwemmt sondern jene 
kleine Zahl, die der Feldgraue draußen 
im Unterstand gelesen, im Zwiegespräch 
mit den Kameraden geprüft und wieder 
geprüft und schließlich als goldhaltig 
befunden hat Und er schließt seine Nie¬ 
derschrift mit Fichtes Wort: 

„Dasjenige Volk, welches bis in die 
untersten Stufen hinein die tiefste und 
vielseitigste Bildung besitzt wird zu¬ 
gleich das mächtigste und glücklichste 
sein unter den Völkern seiner Zeit, un¬ 
besiegbar für seine Nachbarn, beneidet 
von seinen Zeitgenossen und ein Vorbild 
der Nachahmung für sie. 

Das sind wir Deutsche und wollen’s 
immer mehr werden.“ 

So Karl Feyerabend. 

Was bleibt uns übrig, als einfach ein 
ehrfürchtiges Amen zu sagen I 

Berlin, 20. November 1916. 


Guido Gezelle. 

Von Franz Jostes. 

IL Seine Dichtung. 1 ) 


Gezelle ist ein moderner Dichter in 
vollem Sinne des Wortes, und zwar er¬ 
scheint er als solcher von seinem ersten 
Auftreten an. Daher auch der Mangel 
an Verständnis für ihn bei denen, die 
nur nach alten Leisten zu schuhen ver¬ 
mochten. Das Hauptcharakteristikum sei¬ 
ner Dichtung aber ist Wahrheit, Einfach¬ 
heit und Natürlichkeit: 

.Hetgeen ik niet uitgeve en 
hebbe ik niet in, 

wie zal mij dat wijten te schänden? 

1) Siehe Heft 2. November 1916. 


Mijn herte en mijn tale, mijn 
zede en mijn zin, 

’t is al zoo van buten, ’t is 
cd zoo van bin’: 

*t ligt alles daar bloot op mijn banden! 

Dan weg met de oneigne 
tale en den schijn 

van elders geborgde gepeizen; 
mijn zijt gij niet, uw dat en 
wille ik niet zijn, 
dat in mij en aan mij is 
dat heete ik mijn 

oneigne, ik late uw, ... gaat reizen!“ *) 

2) Was ich nicht ausgebe, habe ich nicht 
in mir, mein Herz und meine Sprache, 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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Daran hielt er in Leben und Dich¬ 
tung allen Einwendungen zum Trotz fest: 

.Wat ook alle pedagogen 

Staande houden, hooge en fei, 
onbelogen, 
onbedrogen, 

wilde waarheid, wilde ik wel.“ *) 

Wohl bemerkt man zwischen den Ge¬ 
dichten der ersten und zweiten Periode 
hie und da Unterschiede: jene weisen 
in Wort und Bild begreiflicherweise noch 
Spuren der herkömmlichen Dichterspra¬ 
che auf, aber mit der Zeit werden sie 
immer seltener, ebenso wie die Fremd¬ 
wörter. Zugleich wächst seine Herrschaft 
Ober die Sprache immer mehr, und 
immer mehr Gewicht legt er auch auf 
einen in Sinn und Klang genau treffen¬ 
den Ausdruck. Seine Anforderungen an 
die Schärfe der Zeichnung, an die Ein¬ 
heitlichkeit des Bildes und die Festigkeit 
des Rahmens, in den er es spannt, sind 
mit den Jahren gewachsen. Aber das 
alles berührt nicht das Wesen seiner 
Dichtung, das ihn zu Gezelle und zu 
einem Bahnbrecher gemacht hat 
Reif in der Jugend, ist er im Alter 
jung geblieben. Als er die verstaubte 
Leier seiner FrQhzeit einmal wieder vom 
Nagel heruntergeholt hatte, da gelang es 
ihm auch, ihr wieder die alten Töne zu 
entlocken und Lieder zu singen von ju¬ 
gendlicher Frische und Anmut, Lieder 
von einer Zartheit und Innigkeit des Ge¬ 
fühles, einer Kraft und Schmiegsamkeit 
der Sprache, einer Lebendigkeit und Far¬ 


ineine Sitte und mein Sinn, es ist ganz so 
von außen wie es von innen ist: es liegt 
da alles offen auf meinen Händen. — Weg 
denn mit der uneigenen Sprache und dem 
Glanz anderswoher geborgter Gedanken; 
mein seid ihr nicht, euer will ich nicht sein, 
was in mir und an mir ist, das nenne ich 
mein: Uneigene, ich lasse dich ... geh fort. 

3) Was auch alle Pädagogen steif und 
fest (hoch und heilig) behaupten, ich wollte 
wohl wilde Wahrheit, ohne Lug, ohne Trug. 


benpracht der Bilder, die bei dem altern¬ 
den Mann überraschen mußten. — 
Verse zu machen wurde Gezelle sehr 
leicht, aber zu dichten im wahren Sinne 
des Wortes, das ist ihm nicht leicht ge¬ 
worden: 

.0 dichten, die ’k gedregen, die ’k 
gebaard hebbe, in de pijn 
des dichtens, en gevoesterd aan 
dit arem herte mijn; 
mijn dichten, die ’k zoo dikwijls her- 
kastijd heb, hergekleed, 
bedauwend met mijn tränen en 
besproeiend met mijn zweet,“ ... 0 

In seiner geistigen Werkstatt lag ein 
großer Vorrat von Stoffen aufgespeichert, 
Gedanken, Bilder, Wörter, Sprüche, Verse 
und Strophen, die der rechten Stimmung 
oder des glücklichen Griffes harrten, um 
aus ihrem embryonalen Zustande heraus 
und ans Licht zu kommen. Manches, das 
verbunden werden sollte, wollte sich 
durchaus nicht in die gewünschte Form 
und Fassung bringen lassen — .men doet 
ook niet al wat men wil met de woorden“, 
seufzt einmal der Dichter — und mußte 
oft jahrelang — wenn nicht für immer — 
liegen bleiben, bis es oft plötzlich und 
von selbst an- und ineinanderschoß. 6 ) 
.Ten halven afgewrocht, 
ontvangen niet geboren; 


4) O Gedichte, die ich getragen, die ich 
geboren in der Pein des Dichtens und ge¬ 
nährt an diesem meinem armen Herzen; 
meine Gedichte, die ich so oft wieder ge¬ 
züchtigt und umgekleidet habe, sie be¬ 
tauend mit meinen Tränen und benetzend 
mit meinem Schweiß ... 

5) Etwas Ähnliches bekennt Du Bois-Rey- 
mond von sich in einem Briefe an Fr. Zöllner: 
.Ich habe in meinem Leben einige gute Ein¬ 
fälle gehabt und mich manchmal dabei beob¬ 
achtet. Sie kamen völlig unwillkürlich, ohne 
daß ich einmal an die Dinge dachte. Sicht¬ 
lich fielen die Molekeln mit einmal 
in die gesuchte Lage ...“ Fr. Zöllner, 
Wissenschaftl. Abhandlg. II, 2. S. 1064. 
Leipzig 1889. (Hierauf hat mich mein Kol¬ 
lege Plaßmann aufmerksam gemacht) 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


402 


gevonden algeheel 

noch algeheel verloren, 
zoo ligt er menig rijm 
onvast in mij, en beidt 
den aangenamen tijd 
der volle uitspreekbaarkeit" *) 

Ein charakteristisches Beispiel bietet 
hierfür sein Nachtigallenlied, von dem er 
schon 1874 in einem Briefe an G. Verriest 
schreibt, daß es ihm im Geiste schwebe: 

„Ik hoore peerlen op een elpen tafel tin- 

kelen, 

Ik hoore op zilverdraad met rassen vin- 

gertik ... 

20—30 verzen ... 

Ik hoore uw (nacht) musijk, o roode nach- 

tegall* 

Im „Tijdkrans“ ist (zwanzig Jahre spä¬ 
ter) daraus folgende Strophe geworden: 
„Geteld, nu tokt zijn taalgetik, 
als wäre ’t op een marbelstik, 
dat perelkransen, 
van ’t snoer gevallen, dansen.“ 7 ) 

Ob freilich das lange Meißeln, Feilen 
und Schleifen nicht auch bisweilen seine 
Schattenseite gehabt hat, muß ich dahin¬ 
gestellt sein und die Flamen entscheiden 
lassen, für einen Fremden ist es zu 
schwer, hier ein Urteil zu fällen. 8 ) Der 

6) Zur Hälfte vollendet, empfangen, nicht 
geboren, weder ganz gefunden, noch ganz 
verloren, so liegt da mancher Vers schwan¬ 
kend in mir und wartet auf die erfreuliche 
Zeit der vollen Aussprechbarkeit. 

7) Gezählt nun schlägt sein Sprachgetick, 
wie wenn auf einem MarmorstQck von der 
Schnur gefallene Perlenkränze tanzen. 

8) Doch will ich offen bekennen, daß ich 
in die Bewunderung dieser Strophe nicht 
vorbehaltlos einstimmen kann. Ich bin über¬ 
zeugt, daß, wenn Hugo Verriest sie vor¬ 
trägt, man an Nachtigailengesang erinnert 
wird; ich zweifele auch gar nicht daran, 
daß Gezelle das Geräusch wirklich gehört 
und dem Nachtigallengesang ähnlich be¬ 
funden hat — aber! ich habe in meinem 
Leben zwar manche Perle und manche 
Marmorplatte gesehen, indes nie Perlen auf 
Marmor tanzen hören! Und das dürfte bei 
vielen Lesem der Fall sein. Was nützt uns 
aber ein Vergleich, bei dem uns das tertium 
comparationis unbekannt ist? — 


Rhythmus freilich, in dem Gezelle eine 
unübertroffene Meisterschaft besaß, hat 
dabei indes stets gewonnen. 9 ) 

Gezelles Dichtungen sind meistens ent¬ 
weder aus seinem eigenen innern Leben 
oder aus seinem Verkehr mit der Natur 
und seinen Mitmenschen hervorgegangen. 
Doch lassen sie sich nicht immer rein¬ 
lich scheiden; denn der Dichter ist kein 
bloßer Realist, seine Kunst kein Impres- 
sionalismus: die Natur ist für ihn ein 
Ausfluß der Gottheit, ihre Schönheit ein 
Abglanz der ihrigen und ihr Preis oft zu¬ 
gleich ein inbrünstiges Gebet zu Gott 
Er fühlt sich selbst als ein Teil der Natur 
und verschmilzt ihren Zauber mit dem 
Zauber seines Gemütes, bevor er sie uns 
zeigt: 

„Mij spreekt de blomme een tale, 
mij is het kruid beieefd, 
mij groet het altemale, 
dat God geschapen heeft.“ ,# ) 

Aber viele, sehr viele Gedichte sind 
doch auch rein religiösen Charakters und 
ohne Beziehung zur Schöpfung. Man hat, 
wie oben angeführt, Gezelles Dichtung 
„unklare Mystik“ genannt. Aber Gezelle 
ist überhaupt kein Mystiker, wenn man 
nicht mit dem Worte Unfug treiben und 
alles Obersinnliche und Religiöse als 
Mystik bezeichnen will, was freilich oft 
genug geschieht Alle Spekulation liegt 
ihm völlig fern; weder als Denker noch 
als „Schauer* will er zu dem Urgründe 
der Dinge Vordringen, vielmehr besieht 
er alles nur mit seinen leiblichen Augen, 
und zwar sehr scharf. Seinen gro Ben Lands¬ 
mann Ruusbroec (1294—1381) hat er 
zwar sehr fleißig studiert, aber nur dessen 

9) Ober den Rhythmus bei Gezelle han¬ 
delt G. Verriest, Des bases physiologiques 
de la parole rhythmöe. (Revue N6oscolasti- 
que. Löwen 1894.) 

10) Zu mir redet die Blume eine Sprache, 
mir gegenüber ist das Kraut liebenswürdig, 
mich grüßt es allzumal, was Gott geschaf¬ 
fen hat. 


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Franz Jostes, Quido Gezelle 


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praditvolle Sprache, nicht sein mystisches 
System hat ihn beeinflußt Nur sehr sel¬ 
ten, nur dort, wo die Wärme seines Ge- 
fflhles fast bis zum Siedepunkte steigt, 
erinnert er an die Mystiker, etwa an 
Seuse. Ich wflßte im Augenblick nur ein 
einziges Gedicht dieser Art zu nennen, 
„Blijdschap", aus dem hier eine Stelle 
mitgeteilt werden mag: 

.Ja! Daar zijn blijde dagen nog in ’t leven, 
hoe weinig ook, daar zijnder nog voor- 

waar, 

en geren zou ik alles, alles geven 
om 6£n van die, mijn God, om 66nen 

maar, 

wahneer ik U gevoel, U heb, U drage, 
mij onbewust, U zeit ben, mij niet meer, 

U noemen kan, mijn God, en zonder klagen 
herhalen: God! mijn Goden lieveHeerl 

o Blijft bij mij, Gij zon van alle klaarheid, 
o blijft bij mij, blaakt deur end deur 

mij nu, 

o blijft bij mij; 6en dingen, een is waarheid, 
al ’t ander al is leugen buiten U! 

Gij zyt mijn hulpe, als niemand helpt 

elk vlucht 

Gij zijt mijn vreugde, als elke vreugde 

een pijne is, 

,Hallelujah‘, als alles weent en zucht.“ u ) 

Das mag man Mystik nennen, aber 
ist es unklar? verschwommen? Ich finde 
es ebenso klar wie schön I Es ist mög¬ 
lich, sogar sicher, daß die Herzenser¬ 
gießungen eines frommen Priesters von 

11) Ja, es gibt frohe Tage noch im Leben, 
wie wenig auch, es gibt ihrer wirklich noch, 
und gerne würde ich alles, alles geben um 
einen von ihnen, mein Gott, um einen nur 
von ihnen, an denen ich Dich fühle. Dich 
habe, Dich trage, mein nicht bewußt, Dir 
selbst bin, mir nicht mehr, Dich, mein 
Gott, nennen und ohne zu klagen wieder¬ 
holen kann: Gott! mein Gott und lieber Herr! 
O bleib bei mir. Du Sonne aller Klarheit,.... 
bleib bei mir, durchglühe mich jetzt ganz 
und gar, o bleib bei mir; ein Ding, eins ist 
Wahrheit, alles andere, alles ist Lüge 
außer Dir! Du bist mein Trost, wenn aller 
Trost Gift ist. Du bist meine Hilfe, wenn 
niemand hilft, jeder flieht, Du bist meine 
Freude, wenn alle Freude eine Pein ist, 
.Halleluja", wenn alles weint und seufzt. 


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einem Protestanten, ja selbst von einem 
katholischen Laien oft nicht, oder nicht 
völlig nachempfunden werden können, 
aber wen wird das stören, wen zu einem 
abfälligen Urteile verleiten? Die refor¬ 
mierten Holländer offensichtlich nicht! 
Überdies ist Gezelles religiöse Dichtung 
nicht einmal durchweg subjektiv, es gibt 
darunter so objektive Stücke, daß sie 
meines Erachtens in jedem christlichen 
Kirchengesangbuche stehen könnten. Man 
nehme nur das folgende .Requiem* aus 
dem .Tijdkrans“: 

.Milde en mächtig mededoogen, 
keert uwe onbermhertige oogen 
toch niet af 

van mijn’ nietheit, die, benepen, 
voelt de dood haar henenslepen 
naar het graf! 


’t Is bestemd en ’t Staat geschreven: 
sterven eens moet alle leven; 

’t wil en ’t zal 

dat daar duurt of schijnt te duren, 
twintig jaar of twintig uren 
sterven al! 


Nu is ’t duister al en droevig, 
lästig, leedzaam, ongedoevig, 
waar ik ga; 

waar ik zoeke of waar ik dale, 
uitgeweerd gij, heldere strale 
vant ’t hierna! 


Vrijdt mijn arme ziele, o vrome 
vediter, dat zij t’Uwaard kome 
zonder scha; 

dat ze, in uwen schoot geborgen, 
na dees bittere wereldzorgen 

rüsten ga!".**) 


12) Mildes und mächtiges Mitleid, wende 
deine unbarmherzigen Augen doch nicht 
ab von meiner Nichtigkeit, die beklommen 
von dem Tode sich hingeschleppt fühlt 
zum Grabe. — Es ist bestimmt und steht 
geschrieben: sterben muß einmal alles 
Leben; es will und muß, was da währt und 
scheint zu währen zwanzig Jahr oder zwan¬ 
zig Stunden, alles sterben! — Jetzt ist finster 
alles und traurig, voll Last, voll Leid, voll 
Unruhe, wo ich gehe, wo ich suche oder 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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1 . 

Gezelles Naturdichtung ist in noch 
höherem Maße Gelegenheitsdichtung als 
seine religiöse. Seine Schilderungen 
knüpfen stets an eine bestimmte Gegend 
und einen bestimmten Gegenstand an, 
der bei dieser oder jener Gelegenheit be- 
sondem Eindrude auf ihn gemacht hatte. 
Man wußte genau, wo das .ranke riet* 
wuchs, das er besungen, wo die Weiden 
und Pappeln standen, die Kühe grasten, 
wo der Puter der .Pachthofschildering* 
einherstolzierte, und .König Canteclaar* 
seine mächtige Stimme erschallen ließ. 
Bei seinem letzten Besuche in Zillebeke 
hatte er, wie G. Verriest erzählt, dort 
flüchtig eine Kuh auf der Weide liegen 
gesehen, deren Bild nicht wieder aus 
seiner Erinnerung verschwinden wollte. 
Er nahm sich vor, in den nächsten Ferien 
sie womöglich noch einmal zu beobachten. 
Aber Versetzung und Tod kamen da¬ 
zwischen, .und der Mann hat das Kuh¬ 
bild unvollkommen mit in den Himmel 
genommen.* 

Der Schärfe seines Auges und der 
Sorgfalt seiner Beobachtung verdanken 
die Schilderungen es auch, daß sie so 
lebendig und anschaulich sind: man 
glaubt die Gegenstände vor sich zu haben, 
den Hengst zu sehen, die Nachtigall zu 
hören und die Blumen zu riechen. Die 
Wahrheit springt uns gleichsam ins Ge¬ 
sicht, und einem Maler müßte beim 
Lesen von Gedichten wie beispielsweise 
die .Pachthofschildering* der Pinsel auf 
der Palette zu tanzen anfangen. Als Bei¬ 
spiel wähle ich hier das bereits erwähnte 
Gedicht .Terug*, das er nach dem Be- 


wohlnab ich steige. Dich ausgenommen, 
heller Strahl des Jenseits! — Befreie meine 
Seele, o starker Streiter, daß sie zu Dir 
komme sonder Schaden; daß sie, in dei¬ 
nen Schoße geborgen, nach diesen bitteren 
Weltsorgen ruhen gehe! 


suche seines großelterlichen Hofes zwei 
Jahre vor seinem Tode gedichtet hat: 

1. Schee! is de poorte, van 

oudheid, geweken; 
zaalrugde ’t dak van 
de schüre; overal 
stroo op de zwepingen 
zit er gesteken; 
vodden beveursten het 
huis en den stal. 

2. Boven die vodden zijn 
blommen gesprongen; 
onder die vodden zit 

volk en gezin: 
blommen van vrede, zoo 
ouden, zoo jongen, 
blommen van buiten en 
blommen van bin. 

3. Daar is’t, dat moeder zat; 

daar is’t, dat vader 
vond die hem arbeid en 
herte bracht; daar 
knielden wij kinderen, 
handen te gader, 
baden wij, kleenen en 
grooten te gaär. 

4. Daar is de schippe nog, 

daar is de tange; 

’t ovenbuur Staat daar, zoo 
’t vroeger daar stond; 

’t hondekot Staat daar en ... 

— ’t is al zoo lange! — 

Hoe is die naam van dien 
anderen hond? 

5. Ach, hoe verheugen mij 

ach, hoe verheffen 
de oudere dagen mijn 
diepste gemoed! 

Is er wel iemand, die ’t 
oit kon beseffen, 
wat gij, oud hof, mij nu 
zegt, mij nu doet? 

6. Zalige Heden, al 

te arglooze menschen. 
weinig begeerdet gij, 
groot was uw hert! 

— Kon het maar helpen, met 
weenen en wenschen, 
weör ate ik roggenbrood 
naast u aan ’t berd! **) 


13) ZurQckl Schief ist die Pforte vor Alter 
gewichen, senkig (sattelrQckig) das Dach der 


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Franz Jost es, Guido Gezelle 


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Ein Vergleich dieses Gedichtes mit 
dem schon von Ida von Dfiringsfeld gelob¬ 
ten „Excelsior“ in den„Dichtoefeningen a , 
kann den Unterschied zwischen dem ju¬ 
gendlichen und alten Dichter veranschau¬ 
lichen. Wie prächtig sind dort die dem im 
Hafen von Antwerpen wartenden Dampfer 
„Excelsior“ gewidmeten Strophen I 
Gelijk het peerd te stampen Staat 
en sperken uit de steenen slaat, 
en schuimende van den rennendorst, 
met wit bespegelt zijn zwarte borst, 
zoo ligt een schip en spant en touwt 
den kabel die ’t gebonden houdt: 
in rep en in roere Staat alles aan boord, 
en hooge in de vlagge daar brandt het 

woord 

Excelsior! 


Daar hong een moeder moe geschreid, 
een dochter vol ellendicheid, 
een knaapke rood en wit gekoond, 
een vader met grijs haar gekroond, 
een weenden om den hals van een 
die beide en hun kind en hun broeder 

scheen, 

die zucht noch klacht en liet, noch traan, 
maar 66n woord van zijn lippen gaan: 

Excelsior I 


Scheune, überall auf den Latten sitzt Stroh 
gesteckt, Rasen (Grasplaggen) liegt auf der 
First von Haus und Stall. — Auf dem Rasen 
sind Blumen entsprossen; unter dem Rasen 
sitzt Volk und Familie: Blumen des Friedens, 
Alte wie Junge, Blumen außen und Blumen 
innen. — Dort ist’s, wo Mutter saß, dort isi’s, 
wo Vater fand, die ihm Arbeit und Herz 
brachte; dort knieten wir Kinder, die Hände 
gefaltet, beteten wir Kleinen und Großen 
zusammen. — Dort ist die Schaufel noch, 
dort ist die Zange, das Backhäuslein steht 
dort, wie es früher da stand; die Hunde¬ 
hütte steht dort, und ... — es ist schon so 
lange! — wie ist der Name des anderen 
Hundes? — Ach wie erfreuen mich, ach 
wie erheben die alten Tage mein tiefstes 
Gemüt! Gibt es wohl jemand, der es je 
zu fassen vermöchte, was du, alter Hof, mir 
jetzt sagst, mir jetzt tust! — Glückliche Leute, 
überaus harmlose Menschen, wenig begehr¬ 
tet ihr, groß war euer Herzl — Könnte es 
nur helfen, weinen und wünschen, wieder 
äße ich Roggenbrot neben euch am Tische. 


De winden ontbinden en bonzen op 
het schip, en voeren het in den top 
en dan weör van boven ten grondewaard 

neör 

der golven, die wiegen weg en weör; 
omleege grinst de dood van uit 
den afgrond en van boven luidt 
de donder; ... maar ’t edele kindgelaat 
en vreest niet, op de vlagge Staat 

Excelsior!. w ) 

Während in „Terug“ der Hof bis zum 
letzten Verse seine Rolle behält und die 
Sehnsucht des Dichters nach den Tagen 
der Kindheit um so mächtiger und rüh¬ 
render erscheinen läßt, je verfallener die 
Wohnung, je ärmlicher der Hausrat und 
je kärglicher das Mahl geschildert wird, 
trennt sich hier nach der Landung der 
junge Missionar von dem Schiffe, um zu 
den Wilden zu gehen und von ihnen 
erschlagen zu werden. Das ist das ei¬ 
gentliche Thema, für das der Dichter 
Interesse erwecken will, während das 
Schiff nur eine nebensächliche Bedeutung 
hat. Aber der Dichter widmet ihm so 
viele und so prächtige Verse, daß es 
ein zu großes Interesse auf sich selbst 
zieht, wodurch — nach meinem Gefühle 

14) Gleichwie das Pferd zu stampfen steht, 
und Funken aus den Steinen schlägt und 
schäumend vor Renndurst mit Weiß seine 
schwarze Brust besprenkelt, so liegt ein 
Schiff und spannt und reißt den Kabel, der’s 
gebunden hält: es regt sich und rührt sich 
alles am Bord, und hoch in der Flagge, da 
brennt das Wort: Excelsior! — Da hing 
eine Mutter müde geweint, eine Tochter voll 
Kümmernis, ein Knäblein mit Wangen, rot 
und weiß, ein Vater mit greisem Haar ge¬ 
krönt weinend um den Hals von einem, 
der sowohl ihr Kind wie ihr Bruder schien, 
der Seufzer nicht noch Klage, noch Träne, 
nur ein Wort von seinen Lippen gehen 
ließ: Excelsior! — Die Winde entfesseln 
sich und stoßen auf das Schiff und führen 
es in die Höhe und dann wfeder von oben 
tief hinunter zu den Wellen, die hin und 
her wiegen; unten grinst der Tod aus dem 
Abgrund, und oben wird der Donner laut 
... aber das edle Kinderantlitz fürchtet sich 
nicht, auf der Flagge steht: Excelsior! 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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— die Einheitlichkeit der Slimmung ei¬ 
nigermaßen gestört wird. — 

Gezelle ist wintersiech gewesen; Frost 
und Schnee machten ihn traurig und 
krank; der Winter ist für ihn ein „Spuk“. 

„De deuren van den Oosten gaan, 
nog nauwlijks, even open 
en toe, gelijk, den laatsten keer, 
des veegen wimpers doen, 
die henengaat in ’t eeuwige. Ach, 

’t is avond nog eer ’t noen 
kan worden! Is geen dageraad, 
geen dag ons meer te hopen? *•) 

Kommt aber „Ostern“, dann lebt er 
mit der ganzen Natur wieder auf. 


„Dagende uit den Oost is, allenthenen, 
dag en dauw in ’t land, en licht ver- 

s ebenen, 

pereis overal, die op, die aan 
’t ruwgelokte gerate blinken staan. ... 

’t Vee wil uit den stal; de veulen 

dweerachen, 

mallik achtereen, de maische meerachen, 
inanen in de locht; en eer zoo tarn, 
dertel nu, van doene, is rund en ram. 

Vogels hoore ik, heinde en verre siechten 
veete; om „mij en dij“, in ’s huwelijks 

rechten, 

Mjven immer mussche en mussche; ’t 

springt 

menig tonge los, die vecht, die vinkt 

Bezig is de bie, van vlerken vlugge; 
bezig worme, wespe, miere en mugge; 
bezig nu ist al, dat been verrept, 
vinne, vame voert, of asem schept... ie ) 

15) Die Tore des Ostens gehen kaum 
noch eben auf und zu; gleich wie es zum 
letzten Male die Wimpern des Sterbenden 
tun, der hinübergeht ins Ewige. Ach, es 
ist Abend, noch ehe es Mittag werden kannl 
Ist für uns kein Morgenrot, kein Tag mehr 
zu hoffen? 

16) Beim Tagwerden ist aus dem Osten 
überallhin Tag und Tau und Licht im Land 
ersdiienen, Perlen überall, die blinkend auf 
und an dem rauhgelockten Grase stehen. — 
’s Vieh will aus dem Stall, die Füllen durch¬ 
queren, eins hinter dem andern, die fetten 
Weiden, die Mähnen in der Luft, und vor¬ 
her so zahm, ist ausgelassen jetzt im Treiben 
Rind und Widder. — Vögel hör ich nah 


Licht, Tag, Wärme sind Voraussetzung 
für die gute Stimmung des Dichters und 
seine Lust zu singen. Die Nacht ist 
seine Freundin nicht und ebensowenig 
der sonst so viel besungene Mond: 
wenn er einmal auf diesen kommt, wird 
er matt. Ich habe mir das lange nicht 
erklären können, bis ich zufällig erfuhr, 
daß er gewöhnlich um 8 oder 9 Uhr zu 
Bett ging — er war ihm also nicht ver¬ 
traut und gegenständlich genug! 

Aber die Sonnet Schwerlid] hat ein 
anderer Dichter sie so häufig und so be¬ 
geistert besungen. 

1. „’t Heelal doordaverend vroongedrocht, 
die aarde, hemel, zee en locht 
bebouwt: die, algebriönde, gaat 
alleene; die geen schade en laat 
u sehenden; heerlijk zongespan, 
wie is't die, u geleken, kan, 
van al Gods werken, schoone zljn, 
o Schönheit van den zonneschijn“? IT ) 

Besonders schön finde ich die Schil¬ 
derungen — es sind mehrere — ihres 
Kampfes mit den nordischen Riesen im 
Gewitter: 

3. ’t Is donker nu, ’t is donkerder, 
nog donkerder! Gevaren, 
als mächtig, overmachtig groote 
en mammothsche adelaren, 
omslaan de wölken alles, en 
voor’t nachtelijk bedwang, 
onthemelt al dat hemel is, 
in ’s hemels zwart gevang. 

und fern Fehde schlichten; um „Mein und 
Dein“ in des Ehestands Rechten keifen 
immerzu Spatz und Spatz; es springt 
manche Zunge los, die ficht und singt. — 
Emsig ist die Biene, flügelflügge; emsig 
Wurm, Wespe, Grille und Mücke; emsig 
ist jetzt alles, das Bein, Flosse, Hand be¬ 
wegt, oder Atem schöpft. ... 

17) (O du) das Weltall durchschwingende 
Wunderwerk des Herrn, das Erde, Himmel, 
Meer und Luft bewohnt, das, allgebietend, 
einsam geht, das du durch keinen Schaden 
dich schänden läßt, herrliches Sonnenge¬ 
spann, welches ist’s von allen Werken 
Gottes, das sich dir vergleichen kann, schö¬ 
nes Wesen, o Schönheit des Sonnenscheins? 


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Franz Jostes, Guido Gezelle 


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4. ’t Is donkerl Zal ’t verwonnen zijn 

dat overheerlijk blaken, 
dat altijd even schoone van 
de schoone zonnekaken? 

’t Is nacht! En zijt voor goed nu gij 
gedompt en doodgedaan? 

Gij, beeid des Alderhoogsten, zult 
gij, stervend, ondergaan? 

5. Staat opl Het worde dag weerom! 

Staat op en slaat die booze, 
die duistere onbedachten, gij, 

Des hemels schoone rooze; 

Gij, onverkrachte lichtvorstin, 

Staat op uit uwen schans 

6. en plettert, onbermhertiglijk, 

de domme reuzen ganschl 

De zonne vecht! Zij duwt den spiet, 
den onverwonnen gaffel 
des zonnelichts, de reuzen in 
den zwartgezwollen naffel; 
ze bersten, en ze bulderen 
inalkander slaande, intween; 
en, hersens in de kele vait 
het reuzenrot ineen. 

8. Ze ’n zijn niet meer . . . . ze ’n zijn 

niet meer, 

Ze warenl .... In hun stede 
komt helderheid, komt hemelsblauw, 
komt goud, dat schittert, mede. 

De zonne vocht, de zonne won, 
en, tierende overluid: 

.Hier ben ik*l roept ons zonneken, 

.des vijands vonke is uit !“ u ) 

18) ’s ist dunkel jetzt, ’s ist dunkeier, 
noch dunkeier I Dahinziehend wie mäch¬ 
tig, übermächtig große mammuthafte Adler, 
Umschlägen die Wolken alles, und vor der 
nächtlichen Gewalt enthimmelt alles, was 
Himmel ist, in dem schwarzen Gefängnisse 
des Himmels. — ’s ist dunkelt Wird es 
überwunden sein das hoch überherrliche 
Glühen, das immer gleich schöne, der schö¬ 
nen Sonnenwange? ’s ist Nacht 1 Und bist 
für immer du nun ausgelöscht und totge¬ 
macht, du Bild des Allerhöchsten, wirst du 
sterbend untergehen? — Steh auf! Es 
werde wieder Tagt Steh auf und schlag 
die dunkelen Vermessenen, du, des Him¬ 
mels schöne Rose; du ungeschwächte Licht- 
fürstin, steh auf aus deiner Schanze und 
schmettere ohne Erbarmen die dummen 
Riesen völlig nieder. — Die Sonne ficht! 
sie stößt den Spieß, die unbesiegte Strah¬ 
lengabel des Sonnenlichts den Riesen in den 


2 . 

Zahlreich sind die Schilderungen aus 
der Fauna und Flora, bald kraftvoll und 
farbenprächtig, bald lieblich und anmu¬ 
tig, nicht selten mit sonnigem Humor 
hat er die verschiedenen Tiere abgemalt 
Sein Bild des Hengstes erinnert an das 
des Propheten Hesekiel, von dem es 
doch wieder ganz verschieden ist: 

Uit zijn groote longerpijpen 
rookt het ros, dat’t schauwe geeft; 
stampvoets stoot het stjjf en stevig, 
dat de stompe steenweg beeft: 
sterk van lijve, staal in de oge, 
kop omhooge 
huid ondrooge, 

voorwaards voert het, nij’g en trosch. 

’t hossebossend wielgeklots. 

Vriezen mag het, zonnebranden, 
duister zijn, of helder dag; 
ruw de weg, of effen: dapper 
slaan of niet, de geeselstag, 
pinnen zal me ’t hingstdier, moedig, 
trage of spoedig, 
kittelbloedig: 

deizen dat en doet het niet, 
alzoo lang het bane ziet“ **) 

schwarzgeschwollenen Nabel; sie bersten 
und sie poltern, sich einander entzwei 
schlagend; und, die Hirne in der Kehle, 
fällt das Riesenvolk ineinander. — Sie sind 
nicht mehr ... sie sind nicht mehr. Sie 
waren! An ihre Stelle kommt Helligkeit, 
kommt Himmelsblau, kommt Gold mit, das 
glänzt. Die Sonne focht, die Sonne ge¬ 
wann, und mit überlauter Stimme: .Hier 
bin idil“ ruft unser Sönnchen, .des Feindes 
Zunder ist aus!“ 

19) Aus seinen großen Lungenpfeifen 
raucht das Roß, daß es Schatten gibt; (mit 
allen vieren schnell) stampfend, stößt es fest 
und kräftig, daß der platte Steinweg bebt: 
stark von Leib, stier von Auge, Kopf em¬ 
por, Haut naß, führt es vorwärts, grimmig 
und stolz, den hin und her stoßenden Räder- 
klotz. — Frieren mag es, Sonnenbrand 
sein, dunkel sein oder heller Tag, rauh der 
Weg oder eben, tapfer schlagen der Peit¬ 
schenschlag oder nicht, auf die Zehen wird 
sich mir der Hengst stellen, langsam oder 
schnell, kitzeiblütig: zurückspringen, das tut 
er nicht, solange er noch Bahn sieht 


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Pranz Jostes, Guido Gezelle 


414 


Und der Hengst unter dem Geflügel, 
ist er je getreuer und würdevoller dar- 
gestellt worden als von Gezelle? 

Gekamde koning Canteclaar, 
hoe geren zie ’k u komen daar, 
gestapt zoo edeldraditig 
als Alexander, Attila 
of Karloman zijn’ wederga: 
heel keizerlijk almachtig; 

Gij kraait, terwijl ge uw’ vlerken slaat, 
en ’t stemgeluid dat henengaat, 
uit uwen hals gedreven, 
herwekt het slapend menschendom, 
bet boodsdiapt hem den dag weärom, 
den dag, het licht, en’t leven. 

Uw’ vonkeiende ooge, uw’ rooden kam 
een laaiend beeid van vier en vlam, 
uw’ zwakken steert, uw’ spooren, 
uw’ om end om geglimde borst, 
uw’ strijdbaarheit, uw’ zegedorst, 

uw’ stem, zoo schoon om hooren... 

wie is er die dat al beschrijft, 
die, heel in woord en taal gelijfd, 
doet leven u en waken? 

Wie is er? Anders geen als gij, 
heer Canteclaar, die mächtig zij 
uw evenbeeld to maken.* 0 )... 

Von den Vögeln hat er außer seiner 
Hauptfreundin, der Nachtigall, beson¬ 
ders die Meise in sein Herz geschlossen. 

20) König Canteclaar mit deinem Kamme, 
wie gerne sehe ich dich dahergestapft 
kommen, so edel von Haltung wie Alex¬ 
anders, Attilas oder Karlmanns Gegen¬ 
stück: ganz kaiserlich allmächtig; — du 
krähst, während du in die Flügel schlägst, 
ond der Klang der Stimme, der aus dei¬ 
nem Halse getrieben dahingeht, weckt 
wieder die schlafende Menschheit, er bot« 
schaftet ihr wieder den Tag, den Tag, das 
Lidit und das Leben. — Dein funkelndes 
Aoge, dein roter Kamm, ein von Feuer 
und Flamme lohend Bild, dein schwacher 
Schwanz, deine Sporen, deine um und um 
glänzende Brust, deine Kampfeslust, dein 
Siegesdurst, deine Stimme, so sdiön anzu¬ 
hören: — wen gibt es, der das alles be¬ 
schreibt, es ganz in Wort und Sprache ver¬ 
leibt, dich lebendig und wach macht? Wen 
gibt es? Anders keiner als du, König 
Canteclaar, ist imstande, dein Ebenbild zu 
schaffen. 


Daar hipt en wipt, den tak omtrent, 
een pimpermeesk’ half zonneblend; 
en ’k hoor zijn bekske, naaldefijn, 
herhalend en herhalend zijn, 
hoe ’t blijde en hoe ’t ja vromer is, 
nadien ’t nu eenmal zomer is. 

Ja-wel, mijn kleentje, en meä met u, 
zoo hipt mijn herte en wipt het nu, 
vol hope, omdat ’t weer zonneschijn 
verblijden zal en zomer zijn!“ ,l ) 

Besondere Freude bereitete ihm das 
Leben und Treiben der jungen Meisen, 
dem er zwei hübsche Lieder gewidmet 
hat, von denen eins hier Platz finden 
mag: 

Meezen. 

1. Twintig meezenvoetjes 

hippelen in t groen, 
zurkelende zoetjes, 
zoo de meezen doen. 

2. Sprangen, rechte en kromme, 

doen ze elkander na, 
oppe, nöere en omme, 
ga en wederga. 

3. Elk op elk z’n taksken, 

laat z’n tonge gaan; 
elk het meezenfrakske, en 
t meezenmutsken aan. 

4. Voor die ’t frakske maken, 

66n duim, of drie quart, 
kost het, van blauw laken, 
met ’n lapken zwart. 

5. Uit die kleene lapkes 

swarter als läget, 
snijen de meezen kapkes, 
volgens hunne wet. 

6. ’k Zie ze geren speien, 

’k hoor ze geren, ’s noens 
bobbelender kelen 
babbelen bargoenscfa. 


21) Dort hüpft und wippt ein Pimper¬ 
meislein (parus coeruleus) auf dem Zweige 
umher, halbblind von der Sonne, und ich 
höre, wie sein nadelfeines Schnäbelchen 
Immer wiederholt, wie es froh, und wie’s 
ja mutiger ist, nachdem’s nun einmal Som¬ 
mer ist. Jawohl, mein Kleines, und zu¬ 
sammen mit dir so hüpft mein Herz und 
wippt es nun, voll Hoffnung, daß Sonnen¬ 
schein und Sommersein es wieder froh 
machen wird. 


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Franz Jostes, Quido Gezelle 


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7. *t Zit entwaar ’en spinne, 

’t ronkt entwaar ’en bie: 
snappen doen ze ze inne 

zonder „een — twee — drie.“ 

8. Hoort ze vijzevazen 

altijd even stout; 
reppen, roeren, razen, 

weg en weere, in’t hout! 

9. „Mij,“ zoo roept er eene. 

„mij, die muggel* - „Dij?“ 
wedderroept Marleene, 

„mij, Martijne, mijl“ 

10. Twee die wetten weten, 
delen ’t heltegoed: 
eten en vergeten 

mensche en meeze moet**) 

Ich habe dieses Gedicht nicht nur um 
seiner selbst willen ausgewählt, sondern 
nebenbei auch, um an einem Beispiele 
zu zeigen, welche Schwierigkeit die 
Übersetzung aus Gezelles Werken bie¬ 
tet Das Gedicht ist nämlich von Hjerm 
Holling**) verdeutscht, im ganzen nicht 
übel, wenn auch bisweilen etwas zu 

22) ZwanzigMeisenfaßlein hOpfen im Grün 
(Strauch), lieblich trillernd, wie die Meisen 
tun. — Sprünge, gerade und krumme, macht 
eins dem andern nach, hinauf, hinab, im 
Kreise, Männlein und Weiblein. — Jedes 
auf seinem Zweiglein läßt seine Zunge 
gehn, jedes mit dem Meisenfräcklein und 
dem MeisenmOtzchen auf. — Denen, die 
das Fräcklein machen, kostet’s einen Dau¬ 
men oder dreiviertel blauen Tuches nebst 
einem Läppchen Schwarz. — Aus den 
kleinen Läppchen, schwärzer als Stein¬ 
kohle, schneidern die Meisen nach ihrem 
Herkommen Käppchen. — Ich sehe sie gerne 
spielen, ich höre sie gern des Mittags mit 
brodelnder Kehle kauderwelsch plappern. 
— Es sitzt wo eine Spinne, es summt 
wo eine Biene: wegschnappen sie sie 
ohne Einszweidrei (zu sagen). — Hört sie 
schwätzen, immer eben kühn, sich regen, 
rühren, rasen im Holze hin und her. — 
„Mir,“ so ruft da eine, „mir die Mücke!“ 
„Dir?“ ruft zurück Marleene. „mir, Martin, 
mirl* — Zwei (natürlich die Alten), die 
Gesetze kennen, teilen die gemeinsame 
Beute: essen und vergessen müssen Mensch 
und Meise I 

23) Vlämische Dichtung. Jena 1916. 


frei. Aber an der letzten Strophe ist er 
völlig gescheitert: 

„Zwei, die kundig dessen, 
fällen Urteil weis, 
essen und vergessen 
müssen Mensch und Meis.“ 

Und so etwas muß dem feinhörigen 
Gezelle angedichtet werdenI Ich werfe 
keinen Stein auf den Obersetzer, er ver¬ 
steht wenigstens seine Kunst besser als 
die meisten seiner Mitarbeiter an der 
Sammlung, aber an Gezelle scheitert 
eben oft jede Obersetzerkunst 

3. 

Schwalben und Stare, Raben und 
Spatzen, sie alle haben ihren Teil be¬ 
kommen, und sie können damit zufrie¬ 
den sein! Selbst die Fliege, die „dikke, 
weltevreden, welgezinde snaartrompet“ 
— bei Gezelle dürfen wir sie wohl zu 
den Singvögeln stellen! — der noch 
niemand das armseligste Verslein ge¬ 
widmet hat, obwohl sie reichlich so 
lange wie Merle, Meise und Nachtigall 
gesungen und eine mindestens so schöne 
Sprache besitzt wie die Honigbiene und 
Grille, hat endlich von Gezelle Genug¬ 
tuung für die lange Verkennung erhal¬ 
ten! Wir sehen hier indes schon, daß er 
bei Gegenständen, für die es doch 
schwer ist, das Interesse des Lesers 
wachzurufen, seinem Gedichte einen Zu¬ 
satz beimischt, der das erleichtern soll. 
Bisweilen nimmt er ihn aus dem Schatze 
seines reichen Wissens wie bei dem 
Gedichte auf den „Niemandfreund*, 
die Distel: 

Ach distel, ik en kende maar 
van zeggenswege uw streuvelhaar 
ik liet mij, van die ’t zeiden 
verwittigd zijn, in’t akkerland, 
dat ge overal de kroone spant 
om onraad uit te breiden. . . . 

Men scheldt... of erger nog, men hoort, 
van wetswege, en bij koningswoord, 
gebannen en geboden, 


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Franz Jostes, Ouido Gezelle 


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dat ’t distelvolk men, een en al, 
te zeisene en te spade, zal 
verdoen en de eerde uit roden.* 4 ) 

Aber sein Herz kann das alles nicht 
beeinflussen: 

dit Vlamingshert, dat, ’t baten niet, 
maar ’t schoone in al Gods werken ziet, 
en’t goede zoekt te raden.**) 

Gewöhnlich aber sdilägt er in solchen 
Fällen einen scherzhaften Ton an. 

Man lese einmal das folgende Gedicht 
auf die Spinne (De Kobbe): 

Vrouw kobbe zat weleer, eens voorjaar- 

morgen vroeg, 
dat ’t koolzaad blommen droeg, 
gedoken in heur holleken, 
zoo stille, of waar’ ze dood; 

een bolieken, 
geen’ errewete groot; 
maar waken deed ze wel: vrouw kobbe 

is slim genoegl 


Heur nette spande alom, van onberm- 

hert'ig fijn, 

onzicbtbaar schier, satijn, 
gesponnen zonder spinnewiel, 
nen koolzaadtop omtrent; 

daarinne viel, 

och arme, een bietje blendl 
och, bietje, bietje, vlucht, of u zal leed 

gaan zijnl 


Vrouw kobbe, op heur bureel, verwittigd 

alte wel, 
per spreekdraad even snel, 
komt kijken uit heur holleken. 
Verrezen van de dood 
is’t bolieken 
gebekt nu en gepoot! 

Het bietje beeft, het valt aan’t vechten 

voor zljn vel. 


24) Ach Distel, ich kannte nur von Hören» 
sagen dein Struwelhaar; ich ließ mich, von 
denen, die’s erzählten, unterrichten, daß du 
überall im Ackerland herrschtest, um Unheil 
m verbreiten. — Man schimpft . . . oder 
schlimmer noch, man hört, daß von Ge» 
setzes wegen und bei Königswort gebannt 
und geboten sei, das Distelvolk vom Ersten 
bis zum Letzten mit Sense und Spaten zu 
vernichten und aus der Erde zu roden. 

25) Dies Flämingsherz, das nicht auf den 
Nntzen. sondern auf die Schönheit in allen 

International« Monatsschrift 


Ach arem bietje, ’t wendt zijn’ hals en 

zijnen kop, 

zijn’ vlerken in het strop, 

zijn’ beentjes en zijn biliekes. . . . 

’t zou geren vluchten, maar 
al stillekes, 

’t vernestelt altegaar; 
terwijl vrouw kobbe komt geschreön er» 

boven op.**) . . . 

Zur Beruhigung des Lesers will ich 
aus dem Schlüsse mitteilen, daß der 
Dichter das Bienchen rettete, indem er 
der bösen Frau Spinne den Kopf zertrat 
Ich wflßte Oberhaupt keinen zweiten 
flämischen Dichter zu nennen, der einen 
so echten, feinen Humor besäße wie 
Gezelle. Wie prächtig hat er nicht seinen 
Landsmann gezeichnet, der allwöchentlich 
in den Straßen Kortrijks mit dem Rufe 
„beeksala! beeksala!“ (Bachsalat, Brun» 
nenkresse) seine Ware gegen alle Lei¬ 
den anpries, und, wenn er sie verkauft 
hatte, sich satt aß an Kartoffeln, denn 
„Beeksala" zu essen, nein, das fiberließ 
er den Walen! 


Werken Gottes sieht und das Gute zu er¬ 
raten sucht 

26) Frau Spinne saß dereinst an einem 
Lenzmorgen früh, als der Kohl in BlQte stand, 
verdeckt in ihrem Höhlchen, so still, als 
wäre sie tot, ein Kügelchen, keine Erbse 
groß; aber wachen tat sie gut: Frau Spinne 
ist schlau genug! — Ihr Netz von unbarm¬ 
herzig feinem, fast unsichtbarem Satin, ohne 
Spinnrad gesponnen, war rund um den 
Kohlkopf gespannt: dahinein fiel, o jemine, 
ein blindes Bienlein I Ach Bienlein, Bien¬ 
lein, flieh, sonst wird’s dir schlecht ergehen! 
— Frau Spinne, auf ihrem Bureau vorzüg¬ 
lich, ebenso schnell wie durch den Tele¬ 
graphen, benachrichtigt, kommt aus ihrem 
Höhlchen, zu schauen. Auferstanden vom 
Tode ist’s Kügelchen, mit Mund nun und 
Füßen ausgestattet I Das Bienlein bebt, es 
fängt an zu kämpfen um sein Fell. — Ach, 
armes Bienlein, es dreht in der Schlinge 
seinen Hals und seinen Kopf, seine Flügel, 
seine Beinchen und seine Hinterbäckchen 
... es würde gerne fliehen, aber ganz leise, 
leise ist’s völlig vernestelt; unterdes kommt 
Frau Spinne von oben hinzugeschritten... 

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Franz Jostes, Quido Gezelle 


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Nur ein Beispiel noch dafür, mit dem 
ich auf ein tiefes Verständnis bei Ehemän¬ 
nern wie Junggesellen zu stoßen hoffe, 
will ich hier anführen, den Schluß aus 
dem Gedichte auf die „groote kuisch“ 
(Großes Reinemadien): 

.Ze gieten 

bij heele en gansche vlietenl 
Past op, en niet te bij en gaat, 
gij heereru heel dien waterstaat 
en zult ge, of ’t zal u rouwen, 
niet stooren. Zwicht de vrouwen, 
die heerschend met den bezem staan, 
of seffens zal hun tonge gaanl 
’t En baat hier niet als vlucfaten 
en, stille of luide, züchten: 

’t zij binnen of ’t zij buiten huis, 
geen vrijheid meer: ’t is „groote kuisch!“ 
’k ga ievers om een glaasken: 
te naaste weke is Paaschen! ,T ) 

4. 

Es brauchte eigentlich nicht ausdrück¬ 
lich gesagt zu werden, daß Gezelle ein 
Flamingant vom Scheitel bis zur Sohle 
war. Er liebte sein Volk von gan¬ 
zem Herzen und hat seine Vergangen¬ 
heit in mehreren prächtigen Liedern 
verherrlicht, von denen das auf die 
Gülden-Sporenschlacht (Groeningheveld) 
allbekannt ist und viel gesungen wird. 
Durch seine literarische Tätigkeit hat er 
die vlämische Bewegung mächtig ge¬ 
fördert, aber öffentlich aufgetreten ist er 
für sie meines Wissens kaum. Nur ein¬ 
mal hat er doch das Wort genommen, 
und das ist ihm nicht gut bekommen: 

27) Sie gießen bei heilen und ganzen 
Bächen I Paßt auf und geht nicht zu nahe heran, 
ihr Herren, diese ganze Wässerei (eigentlich 
„Seewesen“) dürft ihr nicht stören, soll’s 
euch nicht gereuen! Laßt die Frauen in 
Ruhe, die da herrschend mit dem Besen 
stehen, sonst wird sogleich ihre Zunge 
gehen! Es nutzt hier nichts als fliehen und 
still oder laut seufzen: keine Freiheit mehr, 
sei’s in oder sei’s außer dem Hause: es ist 
„Großes Reinemachen"! Ich gehe mal zu 
einem Gläschen: die nächste Woche ist 
Ostern! 


er, der die Gefährlichkeit waschender 
Frauen, wie wir soeben gesehen, richtig 
zu würdigen und zu umgehen wußte, 
wagte sich an die politisierenden Studen¬ 
ten heran und nannte sie „ruitenbrekers“ 
(Radauschläger)! Das haben sie ihm 
wieder heimgezahlt I Doch wurde der 
Zwischenfall bald vergessen, und jetzt 
ist längst Gras darüber gewachsen. 

„Weg, weg, met de tale, 
die niemand spreekt, 
hoe edel dan ook 
zij mag heetenl“ 

Gezelle haßte die unnatürliche, schwer¬ 
fällige und geschraubte Buchsprache sei¬ 
ner Zeit, und suchte ihr im Anschluß an 
seine heimatliche Mundart in Wort und 
Wendung, Gang und Klang frisches Blut 
und neues Leben zuzuführen. Den da¬ 
maligen Wortführern in der flämischen 
Literatur war das ein Ärgernis und eine 
Torheit zugleich. Es war das insoweit auch 
zu verstehen, als man einer gemeinsamen 
Schriftsprache bedurfte und als solche die 
unter den obwaltenden Verhältnissen 
allein mögliche holländischeSchriftsprache 
gewählt hatte. Zu dieser hatte das Bra- 
bantische erhebliche Beiträge geliefert; 
die Limburger waren und blieben lite¬ 
rarisch indifferent, weil ohne innere Kraft; 
die Bewohner Flanderns aber, die schon 
geographisch dem Holländischen am fern¬ 
sten standen und ebenso regen Geistes 
wie literarisch rührig waren, empörten sich 
mit Recht dagegen, daß dieselben Leute, 
welche nicht laut genug über die Unter¬ 
drückung des Flämischen durch das Fran- 
zosentum schreien konnten, sich unter 
den Ihrigen wie die ärgsten Tyrannen ge¬ 
bärdeten. Hätte sich diese Tyrannei nur auf 
die Schule erstreckt, so wäre nicht viel da¬ 
gegen einzuwenden gewesen, denn diese 
bedarf der Einheitlichkeit und der stren¬ 
gen Gesetze. Aber darüber gingen sie 
hinaus: sie wollten auch den Schrift¬ 
stellern zu schreiben befehlen, wie man’s 


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Franz Jostes, Guido Gezelie 


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in der Schule lernte. Dichter, wie Here- 
mans selbst einer war, konnten das leicht, 
denn ihre Gedanken und Gefühle waren 
hundertmal gedacht, gefühlt und ausge- 
drückt, und sie hatten die Wahl; aber 
Gezelie? Wie wäre es selbst jetzt noch 
beim besten Willen möglich, seine Ge- 
dichte in das holländische Buchdeutsch 
der sechziger Jahre zu bringen? Nein, es 
war die erbärmlichste Kleingeisterei, die 
ihn niederzudonnem suchte. Immer und 
überall haben sich die bedeutenden Dich- 
ter das Recht gewahrt, sich von den Fesseln 
der Schulsprache, d. h. von der Herrschaft 
der Schulmeister zu befreien, und alle 
Vernünftigen haben ihnen dies Recht zu- 
gestanden. Wie treffend hat nicht schon 
im 18. Jahrhundert der nüchterne, aber 
einsichtige Justus Möser in dieser Hin¬ 
sicht geurteilt! Er fand die deutsche 
Sprache zu arm, «weil wir mit Hilfe der¬ 
selben kein tägliches Leben, was in jedem 
Provinzialdialekt vollkommen geschildert 
werden kann, vorstellen können ... Ver¬ 
schiedene große Genies ... haben zwar 
seit einiger Zeit gesucht, demselben ab¬ 
zuhelfen ; aber kaum wagt ein Lessing das 
Wort Schnickschnack oder beschreibt 
uns stiere starre Augen, so empören 
sich diejenigen, welche die Buchsprache 
allein gebraucht wissen wollen ... Der 
Engländer allein nimmt alles an, was 
er gebraucht und nützlich findet, und 
dieses tut mit ihm jeder Provinzial- 
dialekt"* 8 ) So urteilte einer, der kein 
Dichter, aber ein weitblickender Mann 
von gesundem und scharfem Urteile war. 
Hundert Jahre später war man in Flan¬ 
dern zu dieser Einsicht noch nicht ge¬ 
kommen! Hätte Gezelie ein System der 
Philosophie, eine Kirchengeschichte oder 
sonst ein gelehrtes Werk in seiner Sprache 
geschrieben, so wären die Anklagen auch 
vollauf berechtigt gewesen, denn für alle 


28) Sämtliche Werke V, S. 83. 


wissenschaftlichen Disziplinen war das 
Holländische im jahrhundertelangen Ge¬ 
brauche völlig ausgebildet, aber für die 
Bedürfnisse eines realistischen Dichters, 
der Stoffe behandelte, die dem Gebildeten 
viel ferner liegen, als dem Sohn der 
Natur, der Nuancen ausdrücken mußte, 
die kein Schriftsteller noch zu bezeichnen 
für nötig gehalten hatte, dafür reichte sie 
eben nicht aus. Zwar waren die Wörter 
und Wortformen, deren Gezelie bedurfte, 
auch im Holländischen vorhanden, aber 
sie lebten nur in den Mundarten, in der 
Schule waren sie geächtet, aus den Wör¬ 
terbüchern verbannt. Woher sollte also 
einer seinen Bedarf decken, wenn nicht 
aus seiner eigenen Mundart oder aus 
den Schriften früherer Zeiten? Hätte 
man Gezelie das verbieten können, so 
hätte er entweder dichten müssen, 
wie hundert andere bisher gedichtet 
hatten, oder ganz verstummen. Es gab 
ihrer auch genug, die letzteres am liebsten 
gesehen hätten und den Dichter mit 
seiner ganzen Sprache und Art an den 
Kongo wünschten. Freilich ging dieser 
weiter, als das Bedürfnis nach Schärfe 
und Abwechslung im Ausdruck verlangte: 
er entnahm dem Dialekte auch dort 
Wörter und Formen, wo die Schrift¬ 
sprache durchaus nicht versagte, aber 
weitaus in den meisten Fällen war dabei 
der Wortklang bestimmend, denn auf 
den Wohlkiang der einzelnen Wörter 
und den leichten Fluß des ganzen Verses 
legte Gezelie das größte Gewicht Und 
um sie zu erreichen, hat er nicht nur 
Alliteration und Assonanz in seinen 
Dienst gestellt, sondern sein überaus 
feines Gehör stand ihm auf Schritt und 
Tritt bei der Wahl von Wort und Wen¬ 
dung zur Seite und ließ ihn Rhythmus 
und Wohlklang zu einer Vollkommen¬ 
heit entwickeln, die kaum noch zu über¬ 
treffen sein dürfte. 

Die Flaminganten waren holländischer 

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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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als die Holländer, die selbst die Mängel 
ihrer Schriftsprache erkannten und Ge- 
zelle zustimmten. Dieser kümmerte sich 
übrigens nicht um all die Angriffe; nur 
einmal hat er kurz gefragt: .Wer seid 
Ihr, die Ihr das freieste, was dem Men* 
sehen gegeben wurde — die Sprache —. 
unter Gesetz stellt?* Bald mußten seine 
Gegner erleben, daß es gerade die ver* 
schrienen Partikularisten waren, denen 
es gelang, sich den Weg ins Ausland zu 
bahnen, was den sprachlich „korrekten“ 
Dichtem versagt blieb. Wer liest in 


Holland heute noch Jan van Beers, 
Jul. de Geyter, Vuylsteke, Dautzenberg 
und wie die damaligen Koryphäen der 
flämischen Dichtung alle heißen mögen? 
Sie sind in den Literaturgeschichten auf¬ 
gespießt wie Schmetterlinge in einer 
Sammlung, ja, aber sie sind tot, wie 
diese; Gezelle indes lebt noch, und jedes 
holländische Kind kennt ihn, trotz seiner 
Sprache: 

„Deposuit potentes de sede et exaltavit 
humilesl" 


Die Politik der Propheten. 

Von Hermann GunkeL 


Mitten in den Aufregungen dieses 
Weltkrieges, da so mancher wieder nach 
dem glaubensgewaltigen, von Kampf 
und Schlacht widerhallenden Alten 
Testamente greift, um sich daran den 
Mut zu tapferem Aushalten im Vertrau¬ 
en auf den alten Gott zu erneuern, dür¬ 
fen auch die Propheten, die großartig¬ 
sten Gestalten Israels, um Gehör bitten. 
Sind doch auch sie einem großen Teile 
ihres Wesens nach Politiker gewesen, 
und war doch der Krieg, und zumeist der 
Weltkrieg, das Element, in dem sie ge¬ 
lebt haben; und ihre Religion selber ist 
ohne die ständige Rücksicht auf die 
Kriegsschicksale ihres Volkes und ihre 
eigenen politischen Gedanken gar nicht 
zu verstehen. 

Die Propheten — Politikerl Das mag 
die Gegenwart verwundern, in der es 
ja eine vielfach umstrittene Frage ist ob 
eine unmittelbare Verbindung von Reli¬ 
gion und Politik überhaupt wünschens¬ 
wert erscheint. Anders aber als wir 
denkt über diese Dinge das alte Israel. 
Israels Religion ist von Anfang an eine 
Nationalreligion gewesen. Nach alt¬ 
israelitischem Glauben hängt die Sache 


des Volkes und die des Gottes aufs 
engste zusammen. Es liegt in der Natur 
der Dinge, wenn in einem solchen Volke 
Männer erstehen, die im Namen des 
Nationalgottes ihre Meinung über die 
staatlichen Verhältnisse aussprechen und 
Einfluß auf die Politik begehren. Nun 
haben zwar — wie wir noch sehen wer¬ 
den — gerade die größten unter ihnen 
diese Verbindung von Volk und Gott ge¬ 
lockert; ihr Jahve ist ihnen mehr als ein 
Nationalgott; aber darin denken doch 
auch sie noch ganz wie ihr Volk, daß 
nach ihrer Überzeugung alle Schicksale 
Israels von Jahve herrühren und daß 
ihnen unter allem, was es auf dieser 
Erde gibt, ihr Volk das Allerwichtigste 
ist Darum sind diese Propheten Politi¬ 
ker. Bei allen entscheidenden Wendun¬ 
gen der nationalen Geschichte haben sie 
ihre Stimme erhoben. Jahrhundertelang 
haben sie mit ihrem Volke gerungen; 
schließlich haben sie es überwunden und 
seinen Geist bestimmt 
Nun ist es freilich eine ganz beson¬ 
dere Art von Politik, die sie betrieben 
haben. Wer auch nur ein wenig von dem 
inneren Leben dieser feurigen Ekstati- 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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ker erfaßt hat, wird das völlig begreif¬ 
lich finden. Von nüchternen, realpoliti- 
sehen Erwägungen, von denen sich die 
zünftigen Politiker aller Zeiten leiten 
lassen, sind diese flammenden Seelen 
weit entfernt Ihre Politik ist durchaus 
idealistischer, religiöser Natur: ihren be¬ 
geisterten Glauben, ihre hohen sittlichen 
Ideale haben sie in bestimmte politische 
Forderungen oder Ratschläge umgegos¬ 
sen. So werden wir auch bei der Be¬ 
handlung dieses Gegenstandes immer 
wieder auf die Religion der Propheten 
zurückkommen müssen. 

Kein Zufall ist es auch, daß die Pro¬ 
pheten so oft gerade von Kriegen 
reden. Das erklärt sich aus der Art 
der ältesten israelitischen Religion, die 
zu einem großen Teile ihres Wesens 
eine Kriegsreligion gewesen ist: „Jahve 
Zebaoth" war der Streiter und Führer 
in der Feldschlacht Und dieser kriege¬ 
rische Geist war in den Propheten aufs 
neue erwacht Diese leidenschaftlichen 
Ekstatiker jauchzen hinein in das To¬ 
ben und den Graus der Schlacht wenn 
das Lärmhorn ertönt und die prasselnde 
Flamme Palast und Burg ergreift und 
wenn sich „Jahve Zebaoth" in seiner 
furchtbaren Größe offenbart. 

Der Prophet Jeremia 1 ) unterscheidet 
unter den Propheten zwei verschiedene 
Arten: die Heils- und die Unheils- 
Propheten. Diese Unterscheidung, die 
wir also nicht selber erdichtet sondern 
den Quellen entnommen haben, bestä¬ 
tigt sich uns durchaus, und nicht nur 
für das Zeitalter des Jeremia. Vielmehr 
können wir fast zu jeder Zeit diese bei¬ 
den Arten von Prophetie nebeneinander 
erkennen. 

Verfolgen wir zunächst die Geschichte 
der Heilsprophetie. Da sehen wir 
schon unter den älteren Königen Prophe- 


1) Jeremia 28,8f. 

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ten, die der Herrscher selbst in schwie¬ 
rigen Staatsfragen zu Rate zieht. Diese 
Männer ziehen etwa mit Israels Führer 
in den Krieg und helfen ihm in Jahves 
Namen zu Israels Heil. Solche Heilspro¬ 
pheten wird es damals sehr viele gege¬ 
ben haben; Hunderte von ihnen stehen 
z. B. in Ahabs Diensten. *) Typus dieser 
Art ist Elisa unter dem Königshause 
des Jehu, das er selber zur Herrschaft 
erhoben hatte. Einer der bedeutendsten 
unter ihnen mußJona ben Amitthai, 
der Helfer Jerobeams II., gewesen sein, 
dessen Namen die Geschichte bewahrt 
hat 3 ) und von dem noch die späteste Zeit 
ein gemütvolles Märchen, unser Jona- 
Buch, zu erzählen weiß. Solche Män¬ 
ner mögen manchmal politisch weit¬ 
blickend und höchst einflußreich ge¬ 
wesen sein, die festesten Stützen des 
Königtums und die beliebtesten Führer 
ihres Volkes: Elisa empfängt von seinem 
dankbaren Herrscher den Ehrennamen 
„Israels Wagen und Reiter“, d. h. Israels 
Kemtruppe im Kriege. 4 ) Und auch 
die fremden Völker, mit denen Israel 
kämpft, mögen den Namen des israeli¬ 
tischen Gottesmannes mit Schauder und 
Schrecken nennen. 5 ) Andererseits dür¬ 
fen wir uns vorstellen, daß diese Pro¬ 
pheten manchmal in die Ränke des Hof¬ 
lebens verflochten waren, so wie Na¬ 
than bei Salomos Thronbesteigung eine 
mehr als bedenkliche Rolle gespielt hat.*) 
Die Bedeutung dieser Männer für das 
religiöse Leben ihres Volkes war, daß sie 
den Grundgedanken der Religion: Jahve, 
Israels Gott, hilft ihm in allen seinen 
Nöten, beständig wachgehalten haben. 
Wir werden die Wirksamkeit solcher 
Propheten also nicht geringschätzen 
dürfen, auch wenn wir hinzufügen, daß 
sie mit diesem Gedanken über die Reli- 

2) I. Könige 22,6. 3) II. Könige 14,25. 

4) II. Könige 13,1. 5) II. Könige 6, llf. 

6) I. Könige 1. 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


428 


gion ihrer Zeitgenossen nicht hervor- 
ragten. Sie sind auch als Männer 
den Unheilspropheten gegenüber unter¬ 
geordnet; sie sind nicht selbständig wie 
diese, sondern sie erscheinen im Ge¬ 
folge der Könige, von deren Tisch sie 
essen, und das Volk jubelt ihnen zu. — 
Weissagungen dieser Heilspropheten 
mögen manchmal in der Form kurzer 
Gedichte im Volk umgegangen oder in 
fliegenden Blättern verbreitet gewesen 
sein. Es wird keinen Feldzug Israels ge¬ 
geben haben, wo sie nicht eine Verhei¬ 
ßung aussprachen. Oder wenn über ein 
Volk der Nachbarschaft das Verderben 
zu kommen schien, werden sie dies zu 
Israels Freude im voraus verkündet 
haben. So setzt Arnos 7 ) solche Drohun¬ 
gen über die Völker ringsumher voraus, 
einst durch Jahves Propheten kund¬ 
getan, aber noch immer nicht eingetrof¬ 
fen, die er nun seinerseits, wohl auch 
dem Wortlaut nach, auf nimmt: jetzt end¬ 
lich sollen sie in Erfüllung gehen t Auch 
Träume von einer seligen Endzeit 
müssen in den Kreisen der Heilsprophe¬ 
ten gepflegt worden sein: einst werde 
Jahve einen „Tag" halten, an dem er 
selber erscheint, um alle Heiden zu ver¬ 
nichten, Israel aber ein herrliches Glück 
zu schenken. Auf ein solches Heils¬ 
orakel nimmt ein Spruch in dem alten 
Jakobsegen Bezug: dereinst soll aus 
Juda ein Herrscher kommen, dem sich 
alle Völker unterwerfen, ein Spruch, den 
man fälschlich für unecht hat erklären 
wollen. 8 ) 

Aber auch in der späteren Zeit, dem 
eigentlich klassischen Zeitalter der Pro¬ 
phetie, als die großen schriftstellerischen 
Unheilspropheten erstanden waren, ist 
die Heilsprophetie nicht verstummt. 

7) Amos 1. 

8) 1. Mose 49,10. Wahrscheinlich versteht 

der Dichter des Liedes als diesen Kommen¬ 

den den David. 


Zwar könnten wir aus der Bibel selbst 
den Eindruck gewinnen, es hätte damals 
nur eine einzige, gleichmäßige Kette 
gewaltiger Unheilspropheten gegeben: 
Amos, Hosea, Jesaia, Jeremia, Hesekiel, 
denen allen dies gemeinsam ist, daß sie 
Israel den Untergang geweissagt haben. 
Nun hat die Geschichte die Drohungen 
dieser Mäner erfüllt, und das die Bibel 
sammelnde Judentum hat daher von den 
vorexilischen Propheten fast nur Un¬ 
heilspropheten aufgenommen. Wer aber 
tiefer blickt, der erkennt an vielen, mehr 
oder weniger deutlichen Spuren, daß 
in ebendieser Zeit zugleich auch eine 
höchst bedeutsame Heilsprophetie be¬ 
standen hat Amos setzt voraus, daß 
sich seine Zeitgenossen nach dem „Tage 
Jahves" sehnten und ihn für eitel „Licht“ 
hielten 9 ); wer anders kann diese Hoff¬ 
nung vertreten haben als eben Heilspro- 
pheten? Hosea hat gegen Propheten ge¬ 
kämpft, die er Verführer und Fallstricke 
des Volkes nennt und geradezu für 
»Verrückte “ erklärt. 10 ) Ebendasselbe 
sehen wir bei Micha 11 ), Jesaia 18 ) und 
Zephania 13 ); diese Männer, welche die 
Unheilspropheten leichtfertige Volksver¬ 
derber schelten, werden in derselben 
Zeit, da jene von Drangsal und Unter¬ 
gang sprachen, Jahves Hilfe in aller 
Not zugesagt und ebendadurdi den 
grimmigen Zorn ihrer Gegner erregt 
haben. In das volle Licht der Geschichte 
tritt diese Heilsprophetie dann am Ende 
der Geschichte Judas ein; damals haben* 
Jeremia und Hesekiel mit höchst ein¬ 
flußreichen und sicherlich gewaltig be¬ 
geisterten prophetischen Nebenbuhlern 
kämpfen müssen, die den Sturz der 
chaldäischen Weltmacht und Israels Er¬ 
lösung für die allernächste Zukunft be¬ 
haupteten und ihr Volk zum verzwei- 

9) Amos 5,18. 10) Hosea 4,5; 9,7L 

11) Micha 3,6.11. 12) Jesaia 28.7. 

13) Zephania 3,4. 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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feiten Widerstande gegen die Fremd- 
herrschaft fortrissen. Schließlich aber, 
seit der Perserzeit, ist diese Heilspro¬ 
phetie zur unbestrittenen Herrschaft ge¬ 
kommen und hat dem damals so tief 
daniederliegenden Judentum neue Hoff¬ 
nung eingeflößt. Von dem großen „Deu- 
tero jesaia“ an, d. h. dem uns sonst unbe¬ 
kannten Verfasser eines Bachleins, das 
dem Buche des alten Jesaia beigebunden 
ist 14 ), sind alle Propheten des Juden¬ 
tums Heilspropheten gewesen, bis zu 
ihren späteren Nachfolgern, den „Apo- 
kalyptikem“, hin. Hier kommt also die 
Heilsprophetie auch in der Bibel zu 
Worte. Aber auch aus der vorexilischen 
Zeit besitzen wir im Kanon selber einige 
StQcke, die aus diesen Kreisen stammen: 
das sind die kleinen Bücher des Nahum 
und Habakuk, die den Untergang der 
Weltmacht weissagen, und das so¬ 
genannte »Lied des Mose“ **), eine um¬ 
fassende prophetische Geschichtsbe¬ 
trachtung und Heilsverkündigung aus 
chaldäischer Zeit Dazu kommen noch 
nicht wenige Stücke, die wir jetzt 
als Einsätze in den Büchern der Un¬ 
heilspropheten lesen und deren „Un¬ 
echtheit“ man seit längerer oder kür¬ 
zerer Zeit erkannt hat Es sind zumeist 
Heilsweissagungen, einst ohne Namen 
umlaufend, von den späteren Sammlern, 
die namenlose Stücke überhaupt nicht 
anfnehmen wollten, so untergebracht. 
Die gegenwärtige Forschung pflegt sie 
*in Bausch und Bogen für „nachexilisch" 
zu erklären; aber man wird mit der 
Möglichkeit rechnen müssen, daß manche 
von ihnen aus älterer Zeit herrühren und 
daß also die Orakel von Heilspropheten 
— ein eigentümliches Spiel des Schick¬ 
sals — in den Schriften derselben Män¬ 
ner einen Unterschlupf gefunden haben, 
die sie einst als beide Parteien noch am 
Leben waren, so bitter bekämpft haben 1 
14) Jesaia 40—55. 15) V. Mose 32. 


— Noch weiter führt eine andere Be¬ 
trachtung. Ein Volk, das seiner eigenen 
Kraft bewußt ist sieht ebendarum auch 
eine große Geschichte, die es erleben 
will, vor sich und tröstet sich mit die¬ 
ser Hoffnung in Zeiten nationaler Be¬ 
drängnis. Die Wahrheit dieses Satzes 
erkennen wir Deutschen in der Drang¬ 
sal dieses Weltkrieges. Auch ein so von 
sich selbst überzeugtes Volk wie Israel 
muß eine große Hoffnung besessen 
haben. Demnach muß die Heilspro¬ 
phetie . zu jeder Zeit in ihm die Re¬ 
gel gewesen sein, und die Unheils¬ 
propheten sind überhaupt nur als 
furchtbare Ausnahmen denkbar. Das 
verraten diese Männer selber, indem 
sie von ihren prophetischen Gegnern 
stets als von der Mehrzahl sprechen, die 
ihnen, den einzelnen, gegenüberstehen. 
Ja, wir vermögen, wie das Folgende 
zeigen wird, noch zu erkennen, daß die 
Unheilsprophetie selber diesen patrio¬ 
tischen Gedanken nicht hat widerstehen 
können und, je länger, je mehr, Anleihen 
bei der Heilsprophetie gemacht hat Nun 
stellt es zwar Jeremia so dar, als ob es 
von jeher nur Unheilspropheten gegeben 
habe: „die Propheten, die seit uralter 
Zelt gewesen sind, weissagten 'über' 
mächtige Länder und gewaltige Reiche 
von Krieg, 'Hunger ’ und Pestilenz “ l6 ); 
sicherlich wird daran richtig sein, daß die 
weitaus meisten aller Propheten von Tod 
und Verderben gehandelt haben; so ent¬ 
spricht es der leidenschaftlichen, das 
Furchtbare liebenden israelitischen Re¬ 
ligion; trotzdem läßt sich das zornige 
Wort eines erregten Propheten nicht 
ohne Vorbehalt als Geschichtsquelle ver¬ 
wenden: Jeremia hat doch, wie gerade 
diese Worte zeigen, viele Unglücksora¬ 
kel über fremde Völker gekannt, die 
eben für Israel h e i 1 verkündend ge¬ 
wesensind. 

16) Jeremia 28,8. 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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Wer das überwallende Temperament 
der Propheten kennt, die nur von „Wahr¬ 
heit“ und „Lüge“ wissen und von nichts 
dazwischen, denen eine billige und ge¬ 
rechte Behandlung des Gegners fern¬ 
liegt, wird es nur natürlich finden, daß 
die Unheilspropheten ihre Gegner ein¬ 
fach als „Lügenpropheten“ gebrand¬ 
markt haben. 17 ) Uns Nachgeborenen 
aber, die wir größere Gerechtigkeit be¬ 
weisen sollten, will es nicht geziemen, 
dies Urteil nachzusprechen, und wir ge¬ 
stehen, mit wenig Freude zu sehen, wie 
noch Gelehrte der Gegenwart, in dem 
Unterlassenen Mantel der Propheten 
sich bergend, von diesem sicheren Orte 
aus auf ihre längst verstorbenen Geg¬ 
ner, die sich nicht mehr wehren können, 
schelten. Vielmehr haben wir zu erken¬ 
nen, daß sich Heils- und Unheilsprophe¬ 
ten weder in ihrem äußeren Auftreten 
noch in der Art, wie sie zu ihrer Über¬ 
zeugung gekommen sind, unterschei¬ 
den, und daß auch von diesen unver¬ 
äußerliche Gedanken der Religion aus¬ 
geprägt worden sind. So werden wir 
also diese Richtung, die in der Bibel für 
die ältere Zeit zu kurz gekommen ist, im 
Geiste überall ergänzen müssen, um 
von der wahren Geschichte der Prophe¬ 
tie eine Vorstellung zu gewinnen. 

Viel bedeutsamer freilich als diese 
Heilspropheten sind ihre großen Geg¬ 
ner, die Unheil verkündet haben. 
Das sind die Männer, die als Wider¬ 
sacher der Könige auftreten, ja, als 
Feinde ihres Volkes gelten, und die dem 
natürlichen Empfinden Israels oft aufs 
heftigste widersprechen. Es sind die 
großen Revolutionäre, wenn ihr Volk 
ihnen zufällt, die großen Einsamen, wenn 
sie niemand versteht, die Männer, die 
höhere Ziele haben als das Heil des 
Königshauses, ja, als das Gedeihen ihres 
Volkes, den en Jahves Sache hoch über 

17) Jeremia 23,211!.; 29,81.; Hesekiel 13. 


der nationalen steht Mag die Menge 
den Heilspropheten zu jauchzen, sie sind 
die Geschmähten und Verlästerten, die 
Verfolgten, Eingekerkerten und Getöte¬ 
ten. Aber sie sind zugleich die Träger 
der hohen sittlichen Ideale, die eigent¬ 
lichen Werkzeuge der Offenbarung. Die 
Heilspropheten haben für Israel ge¬ 
sprochen; die Worte dieser Großen er¬ 
gehen noch immer an die ganze Welt. 
Sie sind es, die in der Zeit der Assyrer 
und Chaldäer die furchtbare Drohung 
von Israels Untergang geprägt haben. 
Jahrhunderte hindurch haben sie mit 
den Heilspropheten gekämpft Dennoch 
haben beide Richtungen eine gewisse 
gemeinsame Grundlage: beide gehen 
auf ein volkstümliches Zukunftsbild zu¬ 
rück, das — wie man in der letzten Zeit 
zu erkennen beginnt — wahrscheinlich 
im letzten Grunde aus dem Ausland 
nach Israel gekommen ist Und sie 
haben sich im Laufe der Geschichte 
untereinander beeinflußt Fast alle Un¬ 
heilspropheten haben am Schluß der 
Wege Gottes das Heil gesehen und so 
in die Heilsprophetie, von der sie sich 
so weit entfernt hatten, schließlich doch 
wieder eingelenkt Demnach läßt sich 
an den Heilshoffnungen der Unglücks¬ 
propheten feststellen, was die Heilspro¬ 
phetie zu jener Zeit verkündet hat 

Unsere Aufgabe wird es im folgenden 
sein, vor allem die Unheilspropheten 
als die geschichtlich bedeutsameren zu 
schildern, zugleich aber in dies Bild, so¬ 
weit es möglich ist die Wirksamkeit der 
Heilspropheten mit einzuzeichnen und 
das Ringen der beiden Parteien mitein¬ 
ander zu zeigen. 

Zuerst ein V o r s p i e 1, eine gewaltige 
Ouvertüre. Schon vor den schriftstelle¬ 
rischen Propheten sind zwei große Un¬ 
heilspropheten erstanden, welche die bei¬ 
den entscheidenden Staatsumwälzungen 
in Israel hervorgebracht haben: Ahfa 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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hat Israels Abfall vom Hause Davids 
bewirkt, Elia und sein Schüler Elisa 
sind gegen Omris Geschlecht aufgetre¬ 
ten und haben es schließlich ausgerot¬ 
tet Die Verhältnisse, unter denen diese 
beiden großen Bewegungen entstanden 
sind, sind einander ähnlich gewesen, 
und auch die Ideen, von denen sie ge¬ 
tragen waren, werden sich einander ge¬ 
glichen haben. Die bedeutendsten Dy¬ 
nastien, die Israel erlebt hat, haben 
sämtlich den politischen Gedanken be¬ 
folgt ihr in allen äußeren Dingen 
verhältnismäßig unentwickeltes Volk 
in die Reihe der Kulturvölker zu er¬ 
heben und in Israel einen Kulturstaat 
mit Beamten, stehendem Heere, Festun¬ 
gen und Burgen, Wagen und Rossen, 
üppiger Hofhaltung, freilich auch mit 
Fronden und Aushebungen, zu begrün¬ 
den. Dazu haben sie freundschaftliche 
Beziehungen mit Staaten der Nachbar¬ 
schaft besonders mit den Phöniziern, 
angeknüpft und auch Götter oder got¬ 
tesdienstliche Formen aus der Fremde 
eingeführt Wären diese Bestrebungen 
zum Ziele gekommen, so würde Israel 
unzweifelhaft ein Stück seiner Eigenart 
nnd gerade sein bestes Teil verloren 
haben. Das haben große Propheten emp¬ 
funden und sich ihnen aufs leidenschaft¬ 
lichste entgegengeworfen. 

Gegen Salomo ist Ahia aufgetreten. 
Was das Volk gegen Salomos Regiment 
erbitterte, liegt klar am Tage. Es waren 
zunächst die Steuern und Fronden, da¬ 
mals in Israel noch etwas Neues, was 
man nicht ertrug. Der am Hofe Salo¬ 
mos geltenden despotischen Staatsauf¬ 
fassung, wonach das Volk um des Herr¬ 
schers willen da ist, trat die alte Frei¬ 
heitsliebe Israels entgegen, die ihm noch 
von der Wüste her im Blute steckte. 
Diesen Beweggrund aber zum Aufstande 
finden wir verkörpert in der Person 
eines Propheten. Diese Prophetie steht 


also nicht auf Seite eines neumodischen 
aus dem Ausland eingeführten, kulti¬ 
vierten Staates, sondern auf der Seite 
der alten Freiheiten des Volkes. Sie ver¬ 
tritt das Altisraelitische, nicht das Ka- 
naanäische in Israel. Sie schwört zu dem 
alten Jahve, zu dem Jahve der Wüste 
und der Väter. — Nun hatte Salomos 
Wunsch, ausländische Sitte und höhere 
Kultur in Israel heimisch zu machen, 
auch äuf den Kultus übergegriffen. In 
Jerusalem standen Altäre für die Göt¬ 
ter von Sidon, von Moab und Ammon, 
und der Jahvedienst selber war von 
Fremdländischem durchsetzt Der Jahve¬ 
tempel auf Zion war von tyrischen 
Werkleuten erbaut ausgestattet mit 
Symbolen kanaanäischer Religion: einem 
Baalhause ähnlicher als einem Heilig¬ 
tum Jahves. Wir dürfen schließen, daß 
Israels Abfall auch auf der Abneigung 
des für den alten Jahve begeisterten 
Volkes gegen den neuen Gottesdienst 
Salomos beruhte. 

So ist Ahia unter den Propheten der 
erste Vertreter des alten Wüstenjahves, 
der die Freiheiten Israels schützt die 
fremde Kultur als einen Verstoß gegen 
Israels Sitte und als nichts denn mensch¬ 
lichen Hochmut haßt dem die fremden 
Götter, die man neben ihn stellen will, 
ein Greuel sind. Und hier erkennen wir 
die Tragödie der inneren Geschichte Is¬ 
raels in der älteren Zeit: das Königtum 
war durch die Natur der Dinge auf 
diese Wege geführt auf denen es der 
Freiheitsliebe des Volkes und der Re¬ 
ligion begegnen mußte. In diesem be¬ 
ständigen inneren Kampfe, der das Volk 
nie zur Ruhe kommen ließ, ist die große 
Unheilsprophetie erwachsen. 

Diese Auffassung des Ahia ist um so 
sicherer, als auch schon frühere Gottes¬ 
männer in ähnlichen Fällen aufgetreten 
waren: der „Seher“ Samuel hatte den 
ersten König Saul bitter getadelt, als 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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dieser den altüberlieferten, aber höchst 
barbarischen Brauch des „Bannes“ nicht 
mehr vollziehen wollte 18 ), und Nathan 
hatte den Bau eines Tempels für die 
Lade Jahves widerraten: der Wüstengott 
wohnt in einem Zelt, aber in keinem Ze¬ 
dernpalaste. 19 ) Und auch die Späteren, 
Elia, Amos und deren Nachfolger, 
haben sich noch von denselben Gedan¬ 
ken leiten lassen. 

Mit Omri war ein neuer großer Or¬ 
ganisator auf den Thron gestiegen, der 
Salomos Politik mit aller Kraft wieder 
aufnahm. Omri hat z. B., wie einst Sa¬ 
lomo, Israel nach Bezirken eingeteilt und 
mit Tyrus einen Freundschaftsbund ge¬ 
schlossen. Die Ehe seines Sohnes Ahab 
mit der phönizischen'Prinzessin und die 
Erbauung eines Tempels für den tyri- 
schen Baal sollten dieses Bündnis be¬ 
siegeln. Abel* wieder hat sich eine kleine 
Prophetenpartei dieser Politik des Herr¬ 
scherhauses widersetzt Unter ihnen der 
gewaltigste, Elia, auch wenn wir die 
Übertreibungen der Sage abziehen, die 
ihn noch riesenhafter dargestellt und 
seinen Gegner, König Ahab, ganz ins 
Schwarze gemalt hat Auch Elia ist ein 
Mann der alten Zeit: in der Steppe, wo 
sich altvaterisches Leben gehalten hat, 
ist er zu Hause; im Pelzmantel, der ur¬ 
alten Nomadentracht 20 ), geht er einher; 
er sucht seinen Gott in der wilden Ein¬ 
samkeit des Horeb, unter den furcht¬ 
baren Erscheinungen eines Vulkanaus¬ 
bruchs, mit denen sich Jahve einst an 
derselben Stätte dem Mose offenbart 
hatte. Für den alten Jahve kämpft er 
gegen den wollüstigen, grausamen Baal. 
Die Rechabiten, jenes Geschlecht, das 
aus religiöser Begeisterung am Noma¬ 
denleben, auch noch in Kanaan, festhielt, 
haben sich auf die Seite dieser Män- 

18) I. Samuelis 15. 

19) II. Samuelis 7. 

20) Musil, Arabia Petraea Bd. III S. 123. 


ner gestellt 21 ) Und wie der Gott, so ist 
auch der Mann selber: gewaltig, zornig, 
rauh, von „Eifer“ erfüllt — Dieser Gott 
aber, das hat Elia mit aller Wucht sei¬ 
nes leidenschaftlichen Herzens gefor¬ 
dert, soll allein verehrt werden in Is¬ 
rael. Die Masse des Volkes jener Zeit 
mochte in dem Baaltempel des Königs 
nichts Schlimmes sehen, da Jahves Hei¬ 
ligtümer ja unangetastet blieben. Patrio¬ 
tische und dem Königshause ergebene 
Propheten sind dem Herrscher gefolgt 
und haben ihm Heil verkündet 22 ) Nur 
die Sage, nicht die Geschichte weiß von 
der Verfolgung der Jahvereligion durch 
Ahab. Dem Elia aber ist ein solches Ne¬ 
beneinander zweier Götter eine unerträg¬ 
liche Halbheit Wer sich neben Jahve 
einem anderen Gott zuwendet ist von 
Jahve abgefallen! Freilich hat er nur 
gegen den tyrischen Baal gekämpft 
nicht gegen den kanaanäischen, der da¬ 
mals schon längst mit Jahve verschmol¬ 
zen war. Aber es wird die Zeit kommen, 
da seine Nachfolger die Forderung der 
Reinheit der Religion auch wider den 
Jahve-Baal kehren! 

Zugleich hat Elia den König angegrif¬ 
fen bei seinem Justizmord an Na- 
both. Auch hier standen sich alte und 
neue Gedanken gegenüber. Naboth, ein 
Israelit von altem Schlage, weigerte 
sich, das Leben seiner Väter hinzugeben; 
Ahab aber, von dem Rechte des König¬ 
tums erfüllt, schreitet über das seines 
Untertanen hinweg. Der Jahve, für den 
Elia so eifert ist also der Gott des alten 
guten Rechts. Elia hat dem Königshause 
für Naboths Mord den Untergang ge- 
weissagt 

Aber noch mehr. Auch seinem eige¬ 
nen Volke, das den Baal gleichgültig ge¬ 
duldet hat droht er ein kommendes 
furchtbares Verderben. In den großen. 

21) II. Könige 10,15f. 

22) I. Könige 22,6. 


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Hermann Qunkel, Die Politik der Propheten 


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nationalen Unglücksfallen, den schreck¬ 
lichen Aramäerkriegen, die damals be¬ 
gannen, haben Elia und die Seinigen 
Jahves Rache erkannt. Dieser Gott 
bringt Unheil über sein Volk, wenn es 
ihm nicht gehorcht Denn Jahve ist mehr 
als Israel. Jahve stellt Forderungen an 
sein Volk und wird es eher vernichten, 
als auf sie verzichten. Ja, Jahves Feinde 
sollen seine Werkzeuge sein gegen sein 
eigen Volk. 

Elia selber hat den Sieg seiner Gedan¬ 
ken nicht mehr erlebt Aber sein Schü¬ 
ler Elisa bat Ahabs Haus gestürzt und 
den tyrischen Baal aus Israel ausgerot¬ 
tet Freilich durch welche Mittel 1 Er 
stiftete den blutigen Jehu auf, der den 
König und sein ganzes Geschlecht er¬ 
mordete. Der so auf den Thron gekom¬ 
menen Dynastie ist Elisa die treueste 
Stütze gewesen. 

Es folgte das Jahrhundert der 
schweren Kriege mit den Aramäern, 
in denen Israel bis hart an den 
Rand des Abgrunds geriet Dann 
kam eine neue Wendung durch das 
ferne Assur, das sich jetzt mit sei¬ 
ner ganzen Macht auf die Aramäer 
stürzt und so Israel aus ihrer Hand be¬ 
freit Das ganze verlorene Gebiet wird 
den Feinden wieder abgenommen. Nun 
beginnt für Israel eine schöne Zeit, eine 
letzte Herbstessonne, ehe derAssyrerden 
grausigen Winter brachte. Die Befreiung 
von Aram mochte damals für den Augen¬ 
blick angenehm genug sein, aber sie war 
ein böses Vorzeichen für die Zukunft. 
Denn die Aramäer, die jetzt allmählich 
dahinfielen, waren der Damm, der Is¬ 
rael von dem gewaltig flutenden Strome 
Assurs trennte. Sank dieser dahin, so 
brach die vernichtende Flut auch in Is¬ 
rael ein. Aber von diesen kommenden 
Nöten ahnte man in Israel nichts oder 
wollte nichts davon wissen. Ruhig und 
sicher saß man in Zion und in Sama- 


rien. Herrliche Hoffnungen von einem 
künftigen Jahvetage waren im Volke 
verbreitet und erfüllten es mit stolzem 
Selbstvertrauen. Zugleich war in jener 
Friedenszeit eine neue Welle ausländi¬ 
schen Einflusses über Israel dahin¬ 
gegangen. Eine Fülle neuer Bedürfnisse 
und Genüsse waren im Lande heimisch 
geworden. Auch die sozialen Verhält¬ 
nisse hatten sich verändert. Die Ara- 
mäerkriege hatten den israelitischen 
Freimann, den Träger der Lasten des 
Staates, an den Bettelstab gebracht; 
eine neu aufkommende Geldwirtschaft 
ruinierte ihn vollends. So traten sich 
immer mehr zwei Stände gegenüber, 
wie sie das alte Israel nicht gekannt 
hatte; die wenigen Reichen und Vor¬ 
nehmen, die in allen Lüsten dahinleb¬ 
ten, und die Masse der Besitzlosen, die 
in der Tiefe grollte. Jetzt hätten die 
Armen dringend des Schutzes einer 
überlegenen Gewalt bedurft; aber solche 
Macht war nicht vorhanden. Das Recht¬ 
sprechen war in Israel immer eine Sache 
des guten Willens gewesen. Aber dies 
auf das sittliche Empfinden gestellte 
System, das in älterer Zeit genügt hatte, 
versagte in diesen schwierigen Verhält¬ 
nissen, wo nur feste Ordnung hätte hel¬ 
fen können. — Dazu kam die niemals 
ruhende Eifersucht der Stämme und Ge¬ 
schlechter, die in der Folgezeit in blutigen 
Staatsumwälzungen ausbrechen sollte. 
Und schließlich noch, in der Folge¬ 
zeit, als die Assyrergefahr immer deut¬ 
licher wurde, der Streit der politischen 
Parteien: mit denen, die rechtzeitigen 
Anschluß an Assur forderten, kämpften 
diejenigen, die einen Bund der palästi¬ 
nensischen Kleinstaaten unter ägypti¬ 
scher Führung erstrebten. — Auch die 
Jahvereligion war nicht zur Ruhe ge¬ 
kommen. Eine klare Auseinandersetzung 
der höheren Religion, wie sie einst 
Mose gebracht hatte, mit der ihr unter- 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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geordneten, aber seit der Einwanderung 
in Kanaan auch in Israel tief eingedrun¬ 
genen kanaanäischen Religion war noch 
immer nicht erfolgt Diese beständige 
Spannung des inneren Lebens Israels 
hat es verhindert daß Israel jemals zu 
einem sicher befestigten Staate gekom¬ 
men ist Aber sie ist auch der Grund, 
daß hier ein geistiges Leben erwachsen 
ist wie es die anderen, an äußerer Kul¬ 
tur zum Teil so sehr überlegenen Völ¬ 
ker des alten Orients nicht kennen. 
Und gerade in dieser Zeit wo die Wolke 
des Assyrers näher und näher zieht 
ist in Israel das Größte entstanden, was 
es Überhaupt erzeugt hat, die schrift¬ 
stellerische Unheilsprophetie. 

Das Neue dieser Entwick¬ 
lungsstufe der Prophetie gegenüber 
der älteren eines Elia besteht in folgen¬ 
den Stücken. Während die ältere Be¬ 
wegung nur von Zeit zu Zeit aufgetre¬ 
ten zu sein scheint setzt nunmehr eine 
fast ununterbrochene Reihe gewaltiger 
Männer ein. Während ferner die älteren 
Propheten durch den einen oder den 
anderen Mißstand zu leidenschaftlichem 
Widerstande gereizt wurden, durch Sa¬ 
lomos Fronden, Ahabs Baaltempel und 
den Mord an Naboth, haben die Späte¬ 
ren in ihrem Geiste, aber in tieferer Ein¬ 
sicht und mit einer bei weitem größeren 
Weite des Gesichtskreises die Prinzipien 
herausgestellt soweit prinzipielles Den¬ 
ken hebräischem Geiste überhaupt ge¬ 
geben war. So haben sie z. B. nicht 
gegen den einen oder anderen Gott ge¬ 
eifert der damals Jahve zufällig den 
Rang in Israel streitig machte, sondern 
sie haben gegen alle fremden Götter und 
gegen die Vielgötterei als solche ge¬ 
kämpft Aus diesem großartigen Zuge 
ihres Denkens folgt zugleich, daß sie 
sich nicht begnügt haben, nur das eine 
oder das andere Ereignis der Zukunft 
anzukündigen, wie etwa Elia die Hun¬ 


gersnot obwohl sie von solcher Weis¬ 
sagung einzelner zukünftiger Gescheh¬ 
nisse niemals abgelassen haben, sondern 
daß ihnen — was besonders seit Jesaia 
hervortritt — zugleich ein ganzes, die 
Völker und Zeiten umfassendes Zu¬ 
kunftsbild, ein großer „Jahverat“, ein 
gewaltiges „Jahvewerk“, vor Augen 
stand. Für dieses Bild haben sie den 
Aufriß und viele Einzelheiten dem volks¬ 
tümlichen Glauben Israels, wie er durch 
die Heilspropheten gepflegt wurde; 
übernommen, aber das Heil, das man im 
Volke erhoffte, in furchtbarer Weise in 
Unheil für Israel verwandelt Mit die¬ 
sem größeren Gesichtskreis der Späte¬ 
ren ist es auch gegeben, daß sie Schrift¬ 
steller geworden sind: gegen einen ein¬ 
zelnen Frevel kann man mündlich eifern, 
ein einzelnes Ereignis im Worte kund¬ 
tun, aber eine ganze Kette von Ge¬ 
danken wird nur schriftlich fortge¬ 
pflanzt Betreffs des Bereichs ihrer 
Wirksamkeit sind beide Richtungen in¬ 
sofern verschieden, als sich die ältere 
mehr mit den inneren Zuständen be¬ 
schäftigt hat während bei der späteren 
die Weltpolitik mächtig hervortritt: es 
ist das Herannahen des entsetzlichen 
Assur, das diese Wendung im Geistes¬ 
leben Israels hervorgebracht hat 
Arnos aus Thekoa, ein schlichter 
Hirte, verkündet in schaurigen Worten 
das Furchtbarste, was jeder Vaterlands¬ 
freund zu glauben sich weigert den 
Untergang der Nation. Hervorgegangen 
ist diese Weissagung zunächst aus der 
politischen Lage: Assurs Kommen war 
es, was Arnos ahnte. Das Raunen der 
Völker von nahem Verderben hat in 
ihm ein so lautes Echo gefunden. Ans 
jenen Jahren der Spannung, da das Ge¬ 
witter schon am Himmel stand, aber der 
zündende Strahl noch nicht niederge¬ 
zuckt war, hat man ihn in seiner inne¬ 
ren Aufregung zu verstehen. Und doch 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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ist Amos mehr als der Herold zukünf¬ 
tigen politischen Geschehens. Die be¬ 
stimmte Weissagung über Assur ist ihm 
nicht die Hauptsache; zuweilen denkt er 
auch an andere Plagen, die Israel ver¬ 
derben können: an Mißwachs, Heu¬ 
schrecken und Pest. Daß gerade Assur 
auftreten wird, verkündet er, weil dies 
das Furchtbarste ist Israels Unter¬ 
gang will er; wodurch es untergeht, 
ihm ist es einerlei Also ein seltsamer 
Politiker — dieser Mann! Er, der ein 
bestimmtes Ereignis voraussieht und 
der doch gerade auf dies Bestimmte 
keinen ausschlaggebenden Wert legt 
Wir schließen also, daß er noch andere 
als politische Gründe für seine Drohung 
haben muß. Und so ist es wirklich. Viel 
mehr als die politische Einsicht Assur 
werde heranziehen und Israel vernich¬ 
ten, bestimmt ihn die tiefe sittliche Über¬ 
zeugung, daß sein Volk um seiner Sünde 
willen sterben muß. Ein Volk, so dem 
Bösen dahingegeben, so abgewandt von 
Gott darf nicht länger sein! — Was 
sind das für Sünden? Auch Amos ist ein 
Eiferer für das gute Alte gegen das 
Neue und das Ausländische. Der Mann 
aus der Steppe, selber an das einfachste 
Leben gewöhnt zürnt über die Üppig¬ 
keit der neuen Zeit und ballt die Faust 
wider die hoffärtigen Paläste. Hierin 
tritt seine Ähnlichkeit mit Elia, noch 
mehr mit Ahia hervor. Aber das ist bei 
ihm doch nur eine Nebensache. Die 
Hauptsache ist dem Propheten, daß 
Gott Gerechtigkeit will. Die Maje¬ 
stät des sittlichen Gedankens ist ihm 
aufgegangen und erfüllt ihn ganz. Und 
dem Volke seiner Zeit, das zwar reiche 
Opfer bringt, aber in der Sittlichkeit 
schwach ist, ruft er es entgegen, daß 
Gott der Opfer nicht begehrt Es ist eine 
neue Stunde in der Weltgeschichte, die 
mit solchen Worten des zornigen Pro¬ 
pheten anhebt: die Religion Israels, 


großgezogen im Gottesdienst ist nun er¬ 
wachsen und macht sich von der Schale 
los. Die Zeit der Opfer und der heiligen 
Bräuche ist vorüber, die Religion streckt 
sich nach einer besseren Verehrung Got¬ 
tes durch sittliches Handeln. — Und 
zugleich erhebt sich die Religion über das 
Volkstum. Jahve ist ein sittlicher Gott; 
das Recht gilt ihm mehr als sein Volk; 
ja, er ist entschlossen, um des Rechtes 
willen sein Volk zu vernichten. — So 
erhaben nun auch diese Botschaft des 
gewaltigen Mannes ist, so war es ande¬ 
rerseits für Israel ein furchtbares Ver¬ 
hängnis, daß seine größten Männer in 
so schrecklichen Gegensatz zu ihrem 
eigenen Volke geraten sind. Wir Deut¬ 
schen wissen ja aus eigener frischer Er¬ 
fahrung, daß eine Nation, der ein Krieg 
auf Leben und Tod bevorsteht nichts 
so nötig hat als ein gutes Gewissen. In¬ 
dem Amos und seine Nachfolger dies 
ihren Zeitgenossen zu nehmen suchten, 
schlugen sie Israel tiefer, als es je ein 
äußerer Feind hätte treffen können. 

Wie Amos, so hat auch sein etwas 
jüngerer Zeitgenosse Hosea den Sturz 
des Volkes und des Königshauses ver¬ 
kündet 

„Noch kurze Zelt, da suche Ich heim 
die Blutschuld von Jisreel an Jehus 

Haus“ 

— gemeint ist die entsetzliche Ausrot¬ 
tung der Omri-Dynastie, wodurch das 
damals herrschende Königshaus des 
Jehu auf den Thron gekommen war —; 
,so mache Ich dem Reich des Hauses Israel 

ein Ende“. 

„Ich zerbreche Israels Bogen 

Im Tale Jisreel“. **) 

Auch bei Hosea ist der Grund die¬ 
ser schrecklichen Weissagung Israels 
Sünde. Aber während sich Amos mit 
seinem ganzen Zorn auf die sozialen 
Schäden des Volkslebens wirft hat Ho- 

23) Hosea 1,4f. 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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sea, noch tiefer blickend, erkannt, daß 
Israels eigentliche Krankheit darin be¬ 
steht, daß es, wenn es auch Jahves Na¬ 
men noch so oft nennt, doch in Wirklich¬ 
keit dem Baal dient! Seitdem es in 
Kanaan eingezogen ist, hat es — so be¬ 
hauptet er — den alten Gott verlassen 
und ist dem fremden gefolgt Mit schrof¬ 
fer Rücksichtslosigkeit mit furchtbarer 
Einseitigkeit behauptet er, daß der Kul¬ 
tus, den die Zeitgenossen an ihren vielen 
Heiligtümern für Jahve betreiben, im 
Kern der Sache gar nicht diesem gilt 
Erbarmungslos reißt er so den Schleier 
des Jahvenamens hinweg, der über dem 
Gottesdienst lag und das aus der Baal¬ 
religion Eingedrungene verhüllte. Mit 
herbem Spott hat er die heiligen Sym¬ 
bole verhöhnt Auch hier keine Spur von 
Toleranz I — Und weshalb diese furcht¬ 
baren Ausbrüche, diese Erbitterung, 
dieser Abscheu? Hosea hat in den 
schmerzensreichen Schicksalen seines 
eigenen Lebens erkannt daß das Höchste 
die Treue, das Abscheulichste die Un¬ 
zucht des Eheweibes ist. Daß dieser an¬ 
gebliche Jahvekultus Jahve nicht gefällt 
hat er sich daran klargemacht daß darin 
Unzucht betrieben wird. Die Prostitu¬ 
tion, die im Jahvedienste jener Zeit 
nach dem Vorbild der Baalreligion im 
Schwange ging, sie hat ihm die Augen 
dafür geöffnet daß ein solcher Kultus 
in Wahrheit mit Jahve nichts zu tun 
hat Weil sie durch Unzucht wider Jahve 
freveln, darum hinweg mit Israel aus 
dem Lande, das ihnen Jahves Gnade 
einst geschenkt hat! 

,Sie sollen nicht bleiben in Jahves Landl 
Ephraim muß nach Ägypten zurück, 

in Assur sollen sie Unreines essen“. * 4 ) 

Die Verbannung in die Fremde, das 
furchtbarste Mittel, das damals beson¬ 
ders assyrische Machtpolitik anwandte, 
um störrische Völker zu zähmen, hat der 

24) Hosea 9,3. 


Prophet seinem Volke gedroht Oder er 
weissagt Jahve werde sie in die Wüste 
zurückführen, woher sie gekommen 
sind. Daß er so eine ganze Reihe ver¬ 
schiedener Länder nennt in die Israel 
auswandem muß, zeigt uns, daß es 
nicht eigentlich realpolitische Erwä¬ 
gungen sind, die ihm gerade diesen Ge¬ 
danken eingegeben haben. Vielmehr 
werden wir anzunehmen haben, daß 
man in Israel schon vor Hosea viel 
von der Fortführung als dem furchtbar¬ 
sten Schicksal gesprochen hat ein Ge¬ 
danke, den sich Hosea dann angeeig¬ 
net und in seiner idealistischen Weise 
zurechtgelegt hat — Auch von den 
Verhältnissen und Ereignissen der inne¬ 
ren Politik redet er nicht selten. Er 
schaut auf die vielen Staatsumwälzun¬ 
gen zurück, in denen sich Israel nach 
dem Tode des großen Jerobeam II. sel¬ 
ber zerfleischte. Er tadelt die Politiker, 
die in der Fremde Anschluß suchten 
und sich abwechselnd an die beiden, 
um Kanaan streitenden Weltmächte 
wandten, bald in Assur, bald in Äpyp- 
ten Schutz suchend. Der Prophet sei¬ 
nerseits sieht in solchem Gebaren eitel 
Narrheit: Israel ist wie eine einfältige 
Taube, die freiwillig ins Netz geht! Er 
ist der Überzeugung, daß man Jahve 
allein vertrauen solle; so könne man 
jeder Hilfe aus der Fremde entraten. 
Wie solche politischen Gedanken zu be¬ 
urteilen sind, werden wir bei der Dar¬ 
stellung des Jesaias zeigen. 

Von besonderer Bedeutung ist die Wen¬ 
dung, die Hoseas Prophetie am Schluß 
seiner Gedanken nimmt. Ein Arnos hatte 
in furchtbarer Einseitigkeit nur das eine 
Wort ausgesprochen, daß das Ende über 
Israel gekommen sei, und nicht gefragt, 
ob überhaupt etwas und was danach 
kommen so lle. 25 ) Dabei aber hat der 

25) Der Schluß des Buches Amos 9,8!L 
ist nach allgemeiner Annahme unecht 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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zartere und positivere Hosea nicht 
stehen bleiben können. Seine eigene 
Lebenserfahrung hat ihn gelehrt, daß 
es — so würden wir es ausdrücken — 
eine Liebe gibt, die auch die Sünde 
überwindet Der Gott aber kann nicht 
kleiner sein als der Mensch. Und so 
sieht der Prophet am Ende der Wege 
Gottes nicht mehr Sünde und Strafe, 
sondern Bekehrung und Gnade. In der 
Not wird sich Israel nach seinem alten 
Gotte sehnen und sich ihm wieder zu¬ 
wenden, und dann wird Jahve ihren 
Schaden gerne heilen. So lenkt Hosea 
nach all den furchtbaren Worten doch 
wieder in eine Botschaft vom Heile ein; 
und alle oder fast alle Späteren sind 
ihm darin gefolgt Denn vom Zürnen 
und Drohen kann keine Religion leben. 
Auch ein Mann wie Hosea, der so 
entsetzliche Worte über Israel spricht, 
müßte verzagen, wenn nicht nach der 
Nacht ein neuer Morgen anbricht Kein 
Zweifel aber, daß die Unheilsprophetie 
sich hier Hoffnungsbilder der Heilspro¬ 
phetie angeeignet hat 

Unterdessen sind die Assyrer Israel 
immer nähergerückt Mit König Pekach 
von Israel ist die zum Widerstand gegen 
Assur entschlossene Partei ans Ruder 
gekommen, und jetzt führt die gemein¬ 
same Not die alten Feinde, Aramäer 
und Israeliten, zu einem Bündnis zu¬ 
sammen. Der Gedanke dieses Bundes 
war derselbe, der die syrisch-palästi¬ 
nensischen Kleinstaaten in den folgen¬ 
den Jahrzehnten immer wieder be¬ 
stimmt hat Jeder einzelne dieser Staa¬ 
ten war zu schwach, um für sich 
allein den Assyrem zu widerstehen. So 
galt es, die alten Streitigkeiten zu ver¬ 
gessen und gemeinsam einen starken 
Wall zu bilden, an dem sich die Woge 
Assurs brechen mußte. Zugleich hoffte 
man auf die andere Großmacht die vor¬ 
zeiten Kanaan und Syrien beherrscht 


hatte: konnte es doch kein Zweifel sein, 
daß ebendies Ägypten mit seiner wun¬ 
derbaren Fruchtbarkeit und mit seinen 
seit uralter Zeit aufgehäuften Schätzen 
das letzte Ziel des assyrischen Vormar¬ 
sches war, sei es, daß den Politikern As¬ 
surs dieserPlan schon damals vor Augen 
stand, sei es, daß sich der assyrische 
Staat durch die innere Notwendigkeit 
schließlich doch zu diesem Unterneh¬ 
men gezwungen sehen mußte. Damas¬ 
kus, die Vormacht Arams, und Israel 
werden sich damals an Juda gewandt 
und dieses, das sie wegen seiner Ägyp¬ 
ten benachbarten Lage bei ihrem Bünd¬ 
nis unmöglich entbehren konnten, zum 
Beitritt aufgefordert haben. AberAhas, 
in jener Zeit König von Juda, verwei¬ 
gerte den Anschluß. Diese Politik des 
judäischen Staates ist zunächst aus dy¬ 
nastischen Gründen zu erklären: das 
Königshaus wünschte nicht, sich in die 
Abhängigkeit von dem Bruderstaat Is¬ 
rael zu begeben, und zog es vor, Vasall 
der entfernteren Assyrer zu werden. In 
Israel aber ward es natürlich als ein 
Verbrechen betrachtet, daß die nächsten 
Verwandten in so gefährlicher Stunde 
ihre Hilfe versagten. Darum war die 
Antwort ein wütender Angriff beider 
Verbündeten auf Juda. So groß aber die 
Not auch war, die so in den nächstfol¬ 
genden Jahren über Juda kam, so hat die 
Folgezeit doch Ahas’ assyrerfreundliche 
Politik als die richtige erwiesen. Das 
gewaltig überlegene Weltreich schlug 
jeden Widerstand, der ihm entgegen¬ 
trat, zu Boden, aber gewährte demjeni¬ 
gen, der sich ihm rechtzeitig ergab, ein 
bescheidenes Fortbestehen. Daß Ahas 
und — von wenigen Ausnahmen abge¬ 
sehen—auch seine Nachfolger den An¬ 
schluß an Assur gesucht und bewahrt 
haben, hat es bewirkt, daß Juda in das 
Verderben, das nun über Israel kommen 
sollte, nicht verwickelt wurde und die 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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Assyrerzeit überdauert hat So ist dieser 
Angriff von Aram und Israel auf Juda, 
der in der Geschichte der Welt nur ein 
Zwischenspiel ohne besondere Bedeu¬ 
tung darstellt, für Juda ein Ereignis 
ersten Ranges; und ebenso in der Ge¬ 
schichte der Prophetie, denn er ist das 
erste große Geschehnis, das Jesaia er¬ 
lebt und das seine Gedanken entschei¬ 
dend bestimmt hat 

Jesaia, der erste Prophet, der in 
Juda aufgetreten ist zugleich derjenige, 
der die Bewegung der Unheilsprophe¬ 
tie von dem zu seiner Zeit untergehen¬ 
den Israel nach Juda übertragen hat 
hatte in den ersten Jahren seiner Wirk¬ 
samkeit ähnliche Erwartungen ausge¬ 
sprochen wie vor ihm Arnos undHosea: 
Israel und Juda sind zum Untergange 
geweiht, der Assyrer wird kommen 
und sie hinwegfegen. Aber, so war auch 
er mit Hosea überzeugt gewesen, nach 
dieser Katastrophe kommt dennoch die 
Zeit des Heiles: 

„Der Rest wird sich bekehren, 
der Rest von Jakob 
zu dem Heldengott“.**) 

Mit einer ganz anderen Botschaft aber 
ist Jesaia jetzt da Aram und Israel das 
kleine Juda bedrängten, aufgetreten. Er 
hat Ahas den Anschluß an Assur aufs 
leidenschaftlichste widerraten: Juda soll 
überhaupt nichts unternehmen, sondern 
sich allein auf Jahve verlassen. Und 
man darf solches Vertrauen hegen, 
denn Jahve schützt seine heilige Stadt 
Diese Verkündigung des Jesaia ist nach 
mehr als einer Hinsicht bemerkenswert 
und vielleicht die bedeutsamste Wande¬ 
lung, die in der Geschichte der Unheils¬ 
prophetie überhaupt geschehen ist. Je- 
' saias Vorgänger hatten für die nächste 
Zukunft das Verderben erwartet und 
die Gottesangst gepredigt; er aber 
redet vom Heile und vom Vertrauen. 

26) Jesaia 10,21. 


Die älteren hatten allen Stätten Israels 
die Zerstörung angedroht, auch gerade 
den heiligsten, und keine dabei aus¬ 
genommen; Jesaia selber hatte dasselbe 
für Jerusalem in den grausamsten Wor¬ 
ten verkündet Jetzt aber unterscheidet 
er Israel und Juda, Samarien und Zion: 
„Über Ephraim mag Samarien gebieten, 

und über Samarien derRemalja-Sohn *,**) 

aber über Judas Hauptstadt über Jeru¬ 
salem, ist Jahve der König, und er be¬ 
schirmt seine Stadt als sein unantast¬ 
bares Heiligtum I Es ist unzweifelhaft, 
daß auch hier wiederum eine Anleihe 
bei volkstümlichen, heilsprophetischen 
Gedanken vorliegt Vom Vertrauen auf 
den helfenden Gott, der seine heilige 
Stätte schützt werden die Heilsprophe¬ 
ten immer wieder gesprochen, und das 
jahvegläubige Volk wird solchen Wor¬ 
ten viel lieber gelauscht haben als der 
finsteren Unglücksbotschaft eines Amos. 
Aber eine solche Anleihe war jetzt nötig 
geworden: in einer Zeit da alles ju¬ 
belte, mochte es genügen, zu drohen 
und zu schrecken; jetzt aber, da das 
Volk vor Aram und Israel erzitterte^ 
„wie des Waldes Bäume vor dem 
Winde beben u , konnte das bloße 
Schelten nicht helfen; der Prophet 
mußte verheißen und trösten können. 
Und das konnte Jesaia mit gutem Ge¬ 
wissen: er selbst empfand gerade in 
dieser Stunde der dringendsten Gefahr 
Zions unendlichen Wert: hier ist ein 
Ort in der Welt, da sich Jahve offen¬ 
bart; diese Stätte Gottes darf nicht 
verschwinden 1 Oder, wenn wir es 
mehr in unserer Sprache ausdrücken, 
ein Volk, dem so viel verliehen ist, hat 
eine Aufgabe und daher eine Zukunft: 
es wird von Gottes starker Hand gehal¬ 
ten, bis es ausgeführt hat, wozu es ge¬ 
schaffen ist So wird die Unheilspro¬ 
phetie positiv. Und höchst einflußreich 

27) Jesaia 7,9. 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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ist diese Botschaft fflr die Folgezeit ge¬ 
worden: je stürmischer die Verhältnisse 
worden, um so machtvoller ist dieser 
Glaobe an Zion als Jahves unantast¬ 
bares Asyl in allen Nöten hervorgetre- 
teo. Und diese neue Stellung gibt den 
Propheten zugleich die Möglichkeit, 
ihrem Volke und seinen Regenten poli¬ 
tische Ratschläge zu geben. Männer 
wie Arnos können nur drohen; sie 
waren überzeugt, daß kein Rat hilft, 
and daß Israel in den Abgrund taumelt 
Rat können nur Heilspropheten geben, 
die hinzuzufügen vermögen: wenn ihr 
nach meinen Worten handelt, werdet 
ihr Heil sehen: 

p Wenn ihr willfährig seid 
und ‘guten Rat '**) annehmt, 
sollt ihr das Land genießen* !**) 

Jesaia in seiner jetzigen positiven Stel¬ 
lung hat zum Guten geraten. 

So ist er denn auch von nun an ein 
Politiker gewesen, mehr, als es seine 
Vorgänger gewesen waren. Ein ganzes 
langes Menschenleben hindurch hat er 
bei jeder Wendung der Ereignisse sei¬ 
nem Volke gezeigt, was es tun müsse. 
Mit der Erfüllung seiner Weissagungen 
Ist es ihm so gegangen, wie es Män¬ 
nern, die sich auf ein so gefährliches 
Gebiet wagen, eben zu gehen pflegt 
Eine Reihe seiner Worte haben sich be¬ 
stätigt Denn Jesaia besaß in manchem 
eine bewunderungswürdige Einsicht in 
die Dinge dieser Welt, wie er denn vor 
allem die Schwäche Ägyptens Assur 
gegenüber klar erkannt hat. Zugleich 
aber war er von einem Glauben beseelt, 
der alles Irdische überflog, der alle 
kriegerischen Rüstungen, die Rosse und 
Wagen ebenso wie die Bündnisse, ver¬ 
schmähte und alles von dem Gotte er¬ 
wartete, der allein handelt und dem der 
Mensch nicht in den Arm fallen soll. 
Wahrlich, ein Glaube, der die Welt 

28) töb. 29) Jesaia 1,19. 

Internationale Monatsschrift 

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überwindet, und der auch nicht verzagt, 
wenn es nicht ganz so geht, wie es 
sich menschliches Denken ausgemalt 
hat, sondern der sich nach jeder Ent¬ 
täuschung immer aufs neue kühn her¬ 
vorwagt. — So hat er in jener Not 
Ahas geraten, nichts zu unternehmen, 
auch Assurs Eingreifen nicht anzurufen, 
sondern allein auf Jahves Hilfe zu war¬ 
ten. Ein seltsames Schauspiel, daß ein so 
tapferer Mann die scheinbar feige Poli¬ 
tik der Enthaltung von allem Handeln 
vertritt; aber alle Tapferkeit und Kühn¬ 
heit hat sich bei ihm in das trotzige 
Vertrauen auf Jahve und sein Werk er¬ 
gossen. König Ahas freilich wußte von 
solchem Glauben wenig genug; er war 
ein kluger Realpolitiker und zog es vor, 
sich Assur zur rechten Zeit zu ergeben, 
um so günstige Bedingungen zu erhal¬ 
ten. Gewiß dürfen wir also Jesaia be¬ 
wundern und ihn den Luther des Alten 
Testamentes nennen; aber ebenso sicher 
würde es töricht sein, Ahas zu tadeln, 
der so gehandelt hat, wie es ihm die 
Klugheit gebot, und der — damit recht 
behielt 

Nun geschah es, wie zu erwarten 
stand. Assur kam. Die Verbündeten er¬ 
lagen ihm beide. Damit aber beginnt 
ein neues Zeitalter in der Geschichte 
Syriens und Kanaans. Jetzt war Assur 
der Herr. Das Bestehen von Israel und 
Juda war nicht unmittelbar bedroht, 
aber die Freiheit war verloren. Und 
schwer lastete auf den Völkern allen 
Assurs grausamer Druck. Um „Beute 
zu erbeuten und Raub zu rauben “, 
war es ausgezogen, und es verstand 
sich auf die Kunst die unterwor¬ 
fenen Völker durch Abgaben und Fron¬ 
den auszupressen. Israel und Juda 
waren — um ein Bild jener Zeit zu ge¬ 
brauchen, Lasttiere desAssyrers gewor¬ 
den; ein schweres Joch lag auf ihrer 
Schulter, und ihr Rücken kostete den 

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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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Stab des Fronvogts. Es war eine Zeit, 
wie sie Deutschland in den Jahren der 
Unterdrückung durch Napoleon I. er¬ 
lebt hat, Jahren, von denen man reden 
wird, solange es ein deutsches Volk 
gibt Aber noch war Kraft und Frei¬ 
heitsliebe der kleinen palästinensischen 
Staaten nicht gebrochen. Viermal haben 
sie in den folgenden Jahrzehnten um ihre 
Freiheit gekämpft jedesmal von Ägyp¬ 
ten dazu angestiftet Ihr Unglück war, 
daß sie sich nur schwer zu gemeinsamer 
Tat entschließen konnten und immer 
wieder einzeln losschlugen, und ferner, 
daß sich ihr ägyptischer Bundesgenosse 
zu schwach erwies. So war der Erfolg 
immer derselbe: Assur behauptete seine 
Stellung und schlug Ägypten aus Ka¬ 
naan heraus. — Jesaia, der jetzt in die 
Zeit der männlichen Reife trat hat diese 
Aufstandsversuche als aussichtslos er¬ 
kannt und die zur Empörung ratende 
Partei, die es auch in Juda gegeben und 
die in dem fast verzweifelnden Volke 
viele Anhänger besessen haben wird, 
mit aller Gewalt bekämpft Auch da¬ 
mals werden Heilspropheten den Wider¬ 
stand des Volkes geschürt haben, indem 
sie das baldige Ende der assyrischen 
Macht und Judas Rettung verhießen: 
Jesaia spricht gelegentlich von einem 
Heilsorakel, das zu jener Zeit umging 
und Gläubige fand. 30 ) 

Nun stimmt der Prophet freilich mit 
solchen Heilsverkündigungen insofern 
überein, als auch er nunmehr Assurs 
Sturz erwartet Zu furchtbar — so ist 
er überzeugt — hat die Weltmacht den 
Auftrag, den sie von Jahve erhalten hat 
überschritten. Jahve hat sie gesandt 
sein Volk zu strafen; aber ihr Sinn 
steht darauf, es zu vernichten. Be¬ 
sonders aber wird Jahves Zorn durch den 
Hochmut des Assyrers gereizt Hoch- 
mütige Pru nkreden, welche die frem- 

30) Jesaia 28,15f. 


den Welteroberer zu halten pflegten, 
wie sie uns als Inschriften an den Wän¬ 
den assyrischer Königspaläste erhalten 
sind, hat er von ihnen vernommen. Der 
Prophet entsetzte sich über solche Prah¬ 
lereien von Menschen, die ihm als unmit¬ 
telbare Lästerungen des wahren Gottes 
erschienen. Hinunter in den Staub mit 
den Sterblichen, die es vergessen, daß 
sie nur Werkzeuge sind, Werkzeuge in 
der Hand des in allem wirkenden Gottes! 

„Wen hast du gehöhnt und gelästert? 
gegen wen die Stimme erhoben? 

Hoffärtig hobst du die Augen 
wider den Heiligen Israels* ! at ) 

Es muß der Tag kommen, da sich Jahve 
auch wider Assur wendet! Das ist aber 
eine Überzeugung, die Jesaia mit den 
Heilspropheten geteilt haben wird. Aber 
nun fährt er fort: Noch ist diese Stunde 
nicht erschienen. Noch ist die Ernte 
nicht reif und das Ende nicht da. Noch 
ist Jahves Werk nicht abgeschlossen: 
Jerusalems Sünde ist nicht genug be¬ 
straft, und auch Assurs Hochmut ist 
noch nicht aufs höchste geschwollen. 
Der sittliche Gedanke vor allem hat ihn 
verhindert, das Heil für sofort zu er¬ 
warten. Es ist, äußerlich betrachtet, nur 
eine zunächst kaum sichtbare Färbung 
der Gedanken, die ihn so von der Heils¬ 
prophetie unterscheidet. Blickt man aber 
in die Tiefe, so erkennt man, daß es sich 
hier dennoch um einen grundlegenden 
Unterschied handelt Denn die ganze 
Haltung eines Propheten wird dadurch 
bestimmt was er von der nächsten 
Zukunft behauptet Mochten die Geg¬ 
ner an baldige Erlösung glauben, Jesaia 
war überzeugt daß eine solche für heute 
und morgen nicht bevorstand. Jahve 
wartet noch. Aber freilich, schon liegt 
das Wetter in der Luft Wenn Gott aber 
einschreitet so wird er allein han¬ 
deln. Keines Mannes Arm wird ihm 

31) Jesaia 37,23. 


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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


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helfen. „Assur fällt durch kein mensch¬ 
liches Schwert“ 1**) Man sieht, daß 
keine politische Erwägung diese Er¬ 
wartung von Assurs Sturz eingegeben 
hat, sondern allein der Glaube, der 
Glaube, daß die Gottheit ein solches 
Obennaß von Hoffart und Übermut 
nicht dulden kann, und daß auf dies Re¬ 
giment des Zerstörens und Verderbens 
der Tag des Guten doch endlich er¬ 
scheinen muß. 

Jesaia hat diese Gedanken ausge¬ 
sprochen in einem großartigen, dra¬ 
matischen Bilde. Der Hochmut Assurs 
muß noch gewaltiger anschwellen: auch 
Zion, Jahves Heiligtum, wird er an¬ 
tasten; dann aber wird Jahve auf stehen 
und Assur zerbrechen. Vor Zion wird 
diese letzte Wendung der Weltge¬ 
schichte geschehen; denn Zion ist der 
Mittelpunkt der Welt Dann aber ist Je¬ 
rusalem genug gereinigt Dann erlebt 
es die selige Endzeit von der die Völ¬ 
ker singen und sagen: die goldene Zeit 
kehrt wieder, da Wolf und Lamm sich 
befreunden, unter einem göttlichen 
Könige aus Davids Stamm. — Manche 
dieser Züge, die Jesaia bald einzeln 
vorträgt bald zusammenstellt ohne sie 
freilich jemals — dem „impressionisti¬ 
schen“ Denken der Propheten ent¬ 
sprechend — zu einem vollständigen 
Gesamtgemälde zu verbinden, stimmen 
mit dem überein, was die Heilsprophe¬ 
ten verkünden mochten, wie denn ge¬ 
rade hier der gemeinsame Untergrund 
beider Richtungen, die überlieferte 
Eschatologie, auch in Einzelheiten stark 
hervortritt Aber wie in dem, was man 
für die Gegenwart zu erwarten habe, so 
besonders in den praktischen Folgerun¬ 
genweichen beide Parteien aufs stärkste 
voneinander ab. Jene werden zum Auf¬ 
stand und zum Bündnis mit Ägypten 
geraten haben; Jesaia aber warnte da- 

32) Jesaia 31,8. 


vor, sich Assur zu widersetzen. Mensch¬ 
liche Macht so ist und bleibt er über¬ 
zeugt richtet gegen Ägypten doch nichts 
aus; Jahve selbst wird helfen, aber er 
allein, ohne jeden fremden Beistand, 
dann, wenn seine Stunde gekommen ist 

Samarien ist der umgekehrten Politik 
gefolgt und darüber zugrunde gegan¬ 
gen. Schließlich haben auch die Führer 
Judas dem Freiheitsdrange ihres Vol¬ 
kes nicht mehr widerstehen können. Ge¬ 
waltige Anstrengungen hatte Jesaia ge¬ 
macht um Hiskias Anschluß an Ägyp¬ 
ten zu hinfertreiben. Er weissagte jetzt 
eine furchtbare Züchtigung seines Vol¬ 
kes, die es mit Recht verdient hätte, und 
hoffte doch zugleich auf Jahves Hilfe 
im letzten Augenblick. Wenn Jerusalem, 
tief erniedrigt zu ihm seufzen und jam¬ 
mern wird, daß seine Stimme wie die 
eines Totengeistes von der Erde her 
wimmert dann endlich wird er hören 
und sich mit seinen Schrecknissen auf- 
machen: 

„mit Toben und Tosen und lautem Schall, 

Sturm und Wetter und fressenden Feuers 

Lohe V*) 

und alle Völker, die gegen Zion ziehen, 
werden wie ein Traum, ein Nachtgesicht 
vergehen! So verband sich auch dies¬ 
mal bei ihm eine wunderbare Einsicht 
in die Verhältnisse der Weltmächte und 
ein höchst idealistischer Glaube. 

Sanherib, König von Assur, er¬ 
schien in Palästina, unterwarf die klei¬ 
nen Staaten, schlug ein ägyptisches 
Heer und sandte seine Streitmacht vor 
Jerusalem. In diesen Tagen der tödlich¬ 
sten Gefahr wurde Jesaia völlig ein 
Heilsprophet Jetzt da alles auf dem 
Spiele stand, mußte der plötzliche Um¬ 
schlag, Jahves Eingreifen, kommen! In 
dieser Zeit voller Drangsal und Angst 
allein aufrechtstehend, hat er einen rau- 
schenden J ubelhymnus gesungen und 

33) Jesaia 29,6. 

15* 


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455 


Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


456 


Assur, das er im Geiste schon weichen 
und fliehen sah, verhöhnt: 

„Es verachtet dich, 
es spottet dein 
die Jungfrau, Tochter Zionl 
Hinter dir drein schüttelt das Haupt 
die Tochter Jerusalem !"**) 

Und wirklich geschah ein Unerwartetes: 
das assyrische Heer — vielleicht durch 
eine Pest dazu gezwungen — mußte 
plötzlich abziehen. Wie frohlockte jetzt 
das befreite Jerusalem 1 Aber Jesaia 
empfand diese Freude nicht mit: soviel 
von seinen Weissagungen damals auch 
erfüllt war, zu deutlich erkannte er, daß 
das, was ihm stets die Hauptsache ge¬ 
wesen war, die Bekehrung seines Vol¬ 
kes, nicht eingetroffen sei. Der Freu¬ 
dentaumel, der jetzt die Stadt erfüllt, 
zeigt es ihm, daß im Innern der alte 
Schade geblieben ist: der leichtsinnige 
Lebensgenuß beginnt von neuem! 

„Es rief der Herr 
Jahve Zebaoth 
an jenem Tage 
zum Weinen und Klagen, 
zum Glatzescheren und Sacfcumgürten. 
Und es kam Jauchzen und Jubeln, 
Rindertöten, Schafeschlachten, 
Fleischessen, Weintrinken. 

„Gegessen und Getrunken, denn morgen 
sind wir tot" t**) 

Darum hat Jesaia gerade jetzt, bei dem 
Abzug des assyrischen Heeres, neue 
Drangsal und den schließlichen Unter¬ 
gang ge weis sagt: „dieser Frevel wird 
euch nicht verziehen, bis daß ihr ster¬ 
bet“! 38 Plötzlich also schlügt, tun Ende 
seine? Lebens, seine Prophetie um und 
wendet sich mit aller Wucht vom Heil 
zum Unheil zurück. Es sollte mehr 
als ein Jahrhundert dauern, bis diese 
Worte wahr wurden. 

Es folgte eine mehr als fünfzigjäh¬ 
rige Frist, in der Juda Assurs Va¬ 
sall blieb. Denn wenn auch in dem 

34) Jesaia 37,22. 35) Jesaia 22,12f. 

36) Jesaia 22,14. 


Schicksalsjahre, von dem wir soeben 
gehandelt haben, das Äußerste abge¬ 
wandt war, so war dennoch Juda da¬ 
mals von Assur so grausam gezüchtigt 
worden, daß es ein halbes Jahrhundert 
lang, soweit wir wissen, keinen Auf¬ 
stand wieder versucht hat Und erst 
jetzt erstieg Assur die Höhe seiner 
Macht: auch Ägyptens hat es sich 
schließlich bemächtigt Der Traum des 
Jesaia, daß es vor den Toren von Jeru¬ 
salem zerschellen würde, hatte sich 
nicht erfüllt. Jene Zeit der größten Aus¬ 
dehnung des assyrischen Reiches, da zu¬ 
gleich die assyrisch-babylonische Kultur 
mit vollen Strömen in aller Welt und 
auch in Juda eindrang, da sich alle Völ¬ 
ker vor Assurs großen Göttern beugten, 
das ist die Zeit, da assyrischer Gottes¬ 
dienst auch in Juda einzog. Judas 
Selbstgefühl war gebrochen. Der Glaube 
der Propheten, daß Jahve ein Gott be¬ 
sonderer Art, ja, der einzige Gott sei, 
war, so schien es damals, durch die 
Tatsachen widerlegt Jahves Volk mußte 
jetzt den Fremden dienen, und wie lange 
schon, und Jahve hatte nicht zu helfen 
vermocht Auch die Propheten aller 
Richtungen mußten verstummen, und 
wo sie etwa sprachen, wurden sie vom 
Könige Judas mit Gewalt zum Schwei¬ 
gen gebracht Hätte damals ein judäi- 
scher König gewagt sich an der Reli¬ 
gion des Weltenherm und ihren Sym¬ 
bolen zu vergreifen: ein Rachezug As¬ 
surs und die Vernichtung des judäischen 
Staates wäre die unausbleibliche Folge 
gewesen. Das sind die Jahre des Königs 
Manasse. 

Dann ist die Herrschaft der Assyrer 
allmählich zurückgegangen und schlie߬ 
lich in erschütterndem Falle zusammen¬ 
gebrochen. Schon lange vor der letzten 
Katastrophe hatten jauchzende prophe¬ 
tische Stimmen, die sich jetzt wieder 
hervorwagten, diesen Sturz des Zwing- 


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457 


Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


458 


herm geweissagt Jetzt beginnt unter den 
Völkern eine neue Blütezeit. Überall da, 
wo die Assyrer ihre schwere Hand ab¬ 
ließen, macht man sich an das Werk 
der „Restauration“. Die befreiten 
Nationen versuchen, die Spuren der 
Fremdherrschaft zu vertilgen und die 
alten Zustünde wiederherzustellen. Also 
eine Zeit, vergleichbar den Zuständen 
Europas nach dem Sturz Napoleons L 
Wir wissen von solchen nationalen Er¬ 
neuerungen in Ägypten, in Babylonien 
und in Juda. So erhob in Juda die Pro¬ 
phetie ihr Haupt aufs neue. Sie, die so 
oft im Gegensatz zu dem Empfinden 
ihres Volkes gestanden hatte, war jetzt 
von den Wogen der Zeit getragen. Ihre 
Feindschaft gegen die Götter der 
Fremde, die sich in Jahves Heiligtum 
eingenistet hatten, fand begeisterten 
Widerhall in den Herzen der Vater¬ 
landsfreunde, welche die Götter der jetzt 
dahinsterbenden Gewaltherrscher voller 
Haß betrachteten, und nicht minder in 
den Herzen der Jahvepriester von Jeru¬ 
salem, die sie so lange Zeit hindurch 
neben ihrem Gott hatten dulden müssen. 
Propheten und Priester, die sich bisher 
oft genug bekämpft hatten, fanden sich 
so zusammen. Es kam zu einer großen 
nationalen Handlung, bei der sich beide 
Teile in die Führung teilten, der Ge¬ 
setzgebung des Königs Josia. Wir 
kennen das Programm, auf das man sich 
damals geeinigt hatte: alle fremden Göt¬ 
ter sind auszurotten, und der Tempel von 
Jerusalem ist das einzig rechtmäßige 
Heiligtum des wahren Gottes; nur dort 
dürfen Jahveopfer dargebracht und 
Jahvefeste gefeiert werden. Das damals 
eingeführte Gesetz ist uns im fünften 
der Bücher Mose erhalten. 

Man darf in dieser Begeisterung für 
den Ziontempel etwas von dem Geiste 
eines Jesaia erkennen. Dennoch war es 
ein großer Abfall von den echten Ge- 

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danken der alten Unheilspropheten, daß 
man sich jetzt so tief auf Opfer, Feste 
und Zeremonien einließ, die gerade von 
Männern wie Jesaia stets gering ge¬ 
schätzt worden waren. Viel verhängnis¬ 
voller war es noch, daß ebendiese Ge¬ 
setzgebung die Heilsprophetie zur Herr¬ 
schaft brachte, zu der jetzt auch die Ern¬ 
steren, die mehr als bloße Vaterlands¬ 
freunde waren, übergehen mochten. 
Juda war ja jetzt offenkundig ein from¬ 
mes Volk geworden. Es hatte die For¬ 
derungen der Propheten auf sich ge¬ 
nommen. Die herrlichste Zukunft mußte 
ihm bevorstehen. Zugleich aber war, 
eben durch diese Tat der Reformation, 
der Nationalstolz gewaltig gestiegen: Is¬ 
rael, so war man überzeugt, ist das 
Volk, das Jahve aus allen Nationen der 
Erde erwählt hat, dem er Sieg verleiht, 
wohin es den Fuß setzt So mischte 
sich eigentümlich das Selbstbewußtsein 
Israels und sein Glaube an Jahves 
Größe: Jahve, der mächtigste der Göt¬ 
ter, ja, der alleinige Gott der Welt und 
Israel, sein Volk, das erste unter den 
Nationen zur Herrschaft über die Welt 
berufen. 

Dieser damals aufs höchste anschwel¬ 
lende religiöse Patriotismus aber sollte 
in der Folgezeit Juda höchst verderb¬ 
lich werden. Denn wie einst in der 
Assyrerzeit wurde es auch jetzt in den 
Strudel der großen Weltereignisse ge¬ 
zogen. Damals ist die Welt aufs neue 
verteilt worden. Chaldäer und Ägypter 
kämpfen nach Assurs Sturz um die Herr¬ 
schaft über Syrien und Kanaan. Auch 
jetzt wäre es Judas politische Aufgabe 
gewesen, dem jeweiligen Herrn der Welt 
zu gehorchen. Denn es war nicht zum 
Herrschen geboren, sondern zum Die¬ 
nen. Sein Unglück war, daß es diese 
herbe Notwendigkeit nicht begreifen 
wollte. Und darüber ist es zugrunde 
gegangen. 

INDIANA UNtVERSITY 





459 


Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


460 


Der einzige, der sich dem immer 
höher anschwellenden religiös-nationa- 
len Fanatismus entgegengesetzt hat, ist 
Jeremia, der noch einmal die alte 
Unheilsprophetie in aller Kraft er¬ 
neuert hat. Schon von früher Jugend an 
hat er das Verderben über die Heimat 
kommen sehen. Der Sturm der wilden 
„Skythen“, der damals über Vorderasien 
einherbrauste, hat ihn ursprünglich in 
Bewegung gesetzt Aber auch als sich 
dieser verzogen hatte, hat er die 
Drohung nicht fallen lassen, sondern 
Jahrzehnte hindurch aufrechtgehalten, 
wie oft verhöhnt und verspottet — sein 
ganzes Leben wurde ihm dadurch ver¬ 
giftet — und schließlich doch als Pro¬ 
phet beglaubigt: diese Erfüllung der 
Worte des Jeremia ist eins der wunder¬ 
barsten Ereignisse aus der Geschichte 
Israels I 

Und an dieser Drohung hat ihn auch 
die Reformation des Josia nicht irre¬ 
gemacht. Er erkannte klar, daß die neue 
Gesetzgebung den Kultus zwar äußer¬ 
lich gebessert hatte, daß aber im Innern 
nichts verändert war. Um so mehr strei¬ 
tet er gegen den religiösen Hochmut, 
der sich nun eingestellt hat; ja, im 
Gegensatz zum Geiste des neuen Ge¬ 
setzes, aber in Nachfolge der größten 
unter seinen Vorgängern, kämpft er 
gegen Opfer und heilige Satzungen 
überhaupt So ist Jeremia der letzte 
große Verkündiger einer Religion, die, 
frei von Kultus und Zeremonien, allein 
die großen Ideale der Frömmigkeit und 
Sittlichkeit kennt Solche rauhe Größe 
ist nur unter Unheilspropheten möglich. 

Für die Zukunft aber weissagt er den 
Untergang der Stadt und die Zerstö¬ 
rung des Tempels. Auch die Zerstö¬ 
rung des Tempels, nunmehr des 
einzigen Jahveheiligtums, das noch dem 
Jesaia das schützende Asyl in allen Stür¬ 
men gewesen war. Das ist das furcht- 

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barste Wort das je ein Unheilspro¬ 
phet gesprochen hat! Der Eifer dieser 
Männer für die Gerechtigkeit und die 
Frömmigkeit des Herzens hatte die 
ganze Religion umgestaltet alle Heilig¬ 
tümer in den Staub geworfen, alleSym- 
bole und Zeremonien für wertlos er¬ 
klärt und damit dem Volke allen äußeren 
Halt genommen. Nur eines war übrig¬ 
geblieben und wurde jetzt mit der ganzen 
Inbrunst des Glaubens umfaßt: der Tem¬ 
pel und sein Gottesdienst Jetzt fiel 
auch dieses Letztet Denen, die auf Jah¬ 
ves Gegenwart im Tempel vertrauen 
und hier ihren Schutz suchen, antwor¬ 
tet der Prophet: Jahve will euch Frev¬ 
lem hier keine Sicherheit bieten! Ihr 
sollt auf diesen Tempel nicht vertrauen! 
Obt Gerechtigkeit, so kommt ihr nicht 
in Not! Und in den folgenden Kämp¬ 
fen zwischen Chaldäern und Ägyptern 
hat er bis zum offenbaren Hochverrat 
immer denselben Rat gegeben: ergebt 
euch den Chaldäern! Jerusalem ist doch 
zur Zerstörung bestimmt! 

Aber ihm und seinem jüngeren Zeit¬ 
genossen Hesekiel, der nach der ersten 
Fortführung judäischer Vornehmer durch 
die Chaldäer in Babylonien wirkte, 
stand die leidenschaftlich erregte Par¬ 
tei der Heilspropheten gegenüber. Wäh¬ 
rend Jeremia die sittlichen Gedan¬ 
ken in furchtbarer Größe vertrat, waren 
seine Gegner von religiösen Gedan¬ 
ken erfüllt: habt Vertrauen auf den Gott, 
der euch auch in dieser Not nicht im 
Stiche läßt und sein Heiligtum nicht den 
Heiden preisgibt! Damit aber haben 
diese Heilspropheten ihr Volk zu einer 
wahnsinnigen Politik des Widerstandes 
gegen die weit überlegene Weltmacht 
fortgerissen und in den Abgrund ge¬ 
stürzt 

Wie sehr sich aber die beiden, sich so 
erbittert befehdenden Parteien dennoch 
in ihren Gedanken genähert hatten. 

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46t 


Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten 


462 


sieht man aus dem „Liede des Mose“ 37 ), 
das aus den letzten Jahrzehnten vor 
dem Untergange Jerusalems stammen 
mag. Auch der Verfasser dieser pro¬ 
phetischen Dichtung redet mit Wucht 
von Israels Sünden, redet also hier 
ganz wie ein Unheilsprophet, aber er 
schließt seine Gesamtbetrachtung der 
Geschichte des Volkes, indem er nun¬ 
mehr Jahves Eingreifen verheißt: der 
Tag, da der Gott seinem Volke Recht 
schafft und an seinen Drängern Rache 
nimmt, steht nahe bevor! So hatte 
also die Heilsprophetie von ihren Geg¬ 
nern gelernt Und andererseits hatten 
auch diese den schönen Traum von Is¬ 
raels en dli ch er Verklärung nicht auf¬ 
gegeben. Auch Jeremia hat die innere 
Kraft zu seinem Widerstande gegen sein 
Volk in der Überzeugung gefunden, daß 
Jahve am letzten Ende Gedanken des 
Heiles über Israel hegt Dennoch be¬ 
stand zwischen beiden Parteien auch 
hier ein grundsätzlicher Unterschied: 
denn für die Gegenwart verkündigen 
jene die Errettung, Jeremia das Verderben I 
So ging Juda zugrunde. Die Unheils¬ 
prophetie hatte gesiegt Die Gedanken, 
von denen sie ausgegangen war, wer¬ 
den nun in der sich neu bildenden Ge¬ 
meinde eine Macht Endlich glaubte man 
es, daß Jahve seinem Volke nicht gnä¬ 
dig sei, sondern schrecklich zürne; hatte 
man doch diesen schauerlichen Gottes¬ 
zorn selbst mit Entsetzen erlebt und er¬ 
kannte ihn immer wieder in dem Elend 
der folgenden Jahrhunderte. Eine Umge¬ 
staltung des Glaubens und Lebens, wie sie 
die Unheilsprophetie gefordert hatte, ist 
im „Judentum“ wirklich geschehen. He- 
sekiel hat selber am meisten mitgewirkt 
diesen Wandel zu vollziehen. Aber 
eben durch diesen gewaltigen Sieg 
hörte die Unheilsprophetie auf zu be- 


37) V. Mose 32. 


stehen. Die fremde Regierung, unter 
deren Macht man jetzt lebte, gestattete 
ein öffentliches politisches Auftreten 
nicht; damit war die Größe des Wir¬ 
kens der Propheten unwiederbringlich 
dahin. Und jetzt konnte es nimmer¬ 
mehr genug sein, nur vom Zorne Gottes 
zu reden; jetzt mußte Trost gespendet 
und Heil geweissagt werden, sollte das 
Volk nicht verzweifeln. So ist das Exil 
der Sieg der Unheilsprophetie, aber zu¬ 
gleich ihre Todesstunde. Die Heilspro¬ 
phetie hat Juda ins Verderben gestürzt; 
aber nunmehr erhob sie ihr Haupt Was 
von der Prophetie noch übrigblieb, fast 
immer in stiller mündlicher oder in 
schriftlicher Wirksamkeit ist Heilspro¬ 
phetie gewesen. Das erkennt man am 
deutlichsten an dem Beispiele des Hese- 
kiel selber. Dieser letzte der großen Un- 
heilspropheten, der an der Wende der 
Zeiten steht und die beiden nicht lange 
aufeinanderfolgenden Fortführungen Ju¬ 
das erlebt hat, hatte zwischen diesen 
beiden Exilierungen die vollen Schalen 
seines Zornes über sein Volk ergossen 
und es damals für seine Aufgabe gehal¬ 
ten, das bereits zum Teil eingetroffene 
Unheil durch die immer wiederholte 
Sünde Judas, die er nicht ekelhaft und 
abscheulich genug schildern konnte, zu 
rechtfertigen und das völlige Verderben 
zu weissagen. Aber auch dieser bittere 
Mann hat sich von dem Tage ab, da der 
Unheilsbote aus Jerusalem kam und 
den Fall der Stadt meldete, zur Ver¬ 
kündigung von Israels Wiedererstehen 
gewandt Und ein Menschenalter später 
hat „Deuterojesaia“ beim Herannahen 
der Perser den Trauernden Zions neuen 
Mut zugesprochen: jetzt jetzt endlich 
ist der Tag gekommen, da die Ver¬ 
heißungen wahr werden, da Jerusalem 
erneuert und verklärt wird und Jahve 
zur Weltherrschaft emporsteigt Und 
solange die Prophetie im Judentum 


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463 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 464 


Weiterbestand, hat sie im Geiste dieses 
enthusiastischen prophetischen Dichters 
von dem demnächst hereinbrechenden 
Heile geredet und dem Judentum so die 
Kraft zum Aushalten in seiner traurigen 
Drangsal gegeben. 

Die Unheilsprophetie hat eine grau¬ 


sige Erfüllung ihrer Worte erlebt. Der 
Traum von Zions Verklärung ist nie¬ 
mals Wirklichkeit geworden. Der größte 
Gedanke dieser Heilsprophetie aber, die 
Jahvereligion solle einst die Weltreli¬ 
gion werden, hat sich doch erfüllt, als 
die Zeit gekommen war. 


Die staatlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung 
der Landwirtschaft in der Provinz Ostpreußen« 

Von Wilhelm von Horn. 


Es konnte nicht anders sein, als daß 
der landwirtschaftliche Betrieb der Pro¬ 
vinz Ostpreußen, der Haupterwerbs¬ 
zweig ihrer Bewohner, durch den Ein¬ 
fall der Russen im Jahre 1914 in erheb¬ 
lichem Maße geschädigt wurde. Wenn 
schon jetzt, noch während des heftig¬ 
sten Völkerringens, ein Überblick über 
die Wiederherstellungstätigkeit ver¬ 
sucht werden kann, so ist dies nicht nur 
durch die beispiellos großartige staat¬ 
liche Unterstützungsaktion möglich; es 
treten hinzu die überall im Deutschen 
Reiche und darüber hinaus gebildeten 
Hilfsunternehmungen; nicht zuletzt aber 
das Pflichtbewußtsein der Einwohner, ihre 
Entsagungsfähigkeit und ihr unermüd¬ 
licher Schaffensdrang, der sie unbeküm¬ 
mert um die offiziell erklärte Freigabe 
der Provinz in die Heimat zurücktrieb. 
So war es in den ersten Oktobertagen 
1914, als die langen Züge der Flücht¬ 
linge bei den widrigsten Verhältnissen 
den Weg nach Ostpreußen wieder zu¬ 
rück suchten, so war es in der Zeit nach 
der Winterschlacht, als die Provinz dau¬ 
ernd befreit wurde. Von allen Schrit¬ 
ten zugunsten der Provinz ist jedoch der 
wichtigste die Hilfsaktion des Staates. 
Im folgenden soll der Versuch gemacht 
werden, in großen Zügen die Grund¬ 
sätze, die Ausführung und den Erfolg 
dieser staatlichen Maßnahmen nach dem 


Stande vom Ende September 1916 dar¬ 
zustellen. 

I. 

Was der Staat für die Wiedeiherstel- 
lung der Landwirtschaft getan hat, er¬ 
schöpft sich nicht in finanziellen Lei¬ 
stungen. Von nicht geringerer Bedeu¬ 
tung ist seine Tätigkeit in der inneren 
Verwaltung. In weitestgehender Weise 
hatte sich diese hierbei der dankenswer¬ 
ten Unterstützung der Militärbehörden, 
namentlich des Generalfeldmarschalls 
von Hindenburg und seines damaligen 
Generalstabschefs, zu erfreuen. Durch 
das Entgegenkommen der Militärver¬ 
waltung ist es u. a. gelungen, die Pro¬ 
vinz von Requisitionen der Truppen seit 
dem Frühjahr 1915 im wesentlichen frei¬ 
zuhalten. Die Heeresverwaltung hat fer¬ 
ner in weitem Umfange dienstunbrauch¬ 
bare Militär-, Beute- und Etappenpferde 
sowie Kolonnenpferde zur Bestellung 
hergeliehen und Motorpflüge und Be¬ 
triebsmittel zur Verfügung gestellt Sie 
hat die erforderlichen Mannschaften zur 
Bestellung beurlaubt kommandiert oder 
zurückgestellt und Gefangene überwie¬ 
sen und somit die Frühjahrsbestellung 
1915 wesentlich durchführen helfen. 
Auch durch verwaltungsrechtliche Ma߬ 
nahmen hat sie den Wiederaufbau der 
Provinz gefördert 

* An Geldmitteln wurden vom Staate 


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465 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 466 


im Jahre 1914 400 Millionen zur Ver¬ 
fügung gestellt Bei dieser Bewilligung 
handelt es sich rechtlich um eine Lei¬ 
stung des preußischen Staates. Das 
Kriegsleistungsgesetz enthält keine Vor¬ 
schriften darflber, ob und wie Kriegs¬ 
schäden und Nachteile, die über die all¬ 
gemeinen Kriegsleistungen hinausgehen, 
entschädigt werden sollen. Es spricht in 
dieser Hinsicht aber den wichtigen 
Grundsatz aus, daß über die Entschä¬ 
digung derartiger Nachteile ein späte¬ 
res Reichsgesetz zu befinden hat Ein 
solches Gesetz ist noch nicht ergan¬ 
gen. Wenn also die Staatsregierung für 
die Landwirtschaft in Ostpreußen durch 
Gewährung größerer Mittel helfend ein- 
greifen wollte, so konnte dieses nur aus 
preußischen Mitteln geschehen, aller¬ 
dings mit der Erwartung auf Ersatz die¬ 
ser Leistungen aus Reichsmitteln gemäß 
dem zu erlassenden Reichsgesetz. Indem 
der preußische Staat die Mittel zur Ver¬ 
fügung stellte, erfüllte er „die der Allge¬ 
meinheit obliegende selbstverständliche 
Pflicht, die Bevölkerung der Provinz da¬ 
für in vollem Umfange schadlos zu hal¬ 
ten, daß sie zum Heile des Reiches 
schwere Opfer bringen mußte, und den 
mitgenommenen Landesteilen wieder zu 
ihrem früheren Wohlstände zu verhel¬ 
fen“. Die Leistungen des Staates sind 
gegründet auf das öffentliche Recht. Das 
Verfahren ist kein gerichtliches; den Lei¬ 
stungen liegt kein Vertragsverhältnis 
mit den Geschädigten zugrunde. Ein 
Rechtsanspruch des einzelnen auf die 
Entschädigung besteht dem Staate 
gegenüber nicht 

Was der Staat dem einzelnen als Ent¬ 
schädigung gewährt ist die Vorweg¬ 
nahme der später vom Reiche zu ge¬ 
währenden Entschädigung: es ist die 
Vorentschädigung. Die Grundsätze über 
die Vorentschädigung waren zunächst 
abschließend geregelt durch die staats¬ 


ministerielle Anweisung vom 18. Januar 
1915. Nach ihnen ist in der Provinz unter 
Leitung des Oberpräsidenten und Bera¬ 
tung der Kriegshilfskommission und 
ihrer Abteilungen verfahren worden. 
Schon nach kurzer Zeit wurde es nötig, 
die Grundsätze über das Vorentschädi- 
gungsverfahren weiter auszubauen und 
zusammenzustellen. Ein Abschluß die¬ 
ser Arbeit ist nach mehrfachen Verhand¬ 
lungen erfolgt durch die ministerielle 
Verfügung vom 17. Mai 1916. Inzwischen 
ist am 3. Juli das Reichsgesetz über die 
Feststellung der Kriegsschäden ergan¬ 
gen, das zur Vorbereitung eines späteren 
Gesetzes den Begriff des Kriegsschadens 
feststellt und auch das Verfahren bei der 
Feststellung der Schäden regelt, eine 
Entscheidung über die Entschädigungs¬ 
pflicht des Reiches aber nicht bringt. Es 
liegt in der Natur der Sache, daß zwi¬ 
schen den Grundsätzen fQr die Vor¬ 
entschädigung und den reichsgesetz- 
liehen Bestimmungen eine weitgehende 
Übereinstimmung erstrebt wird. Immer¬ 
hin sind die Grundsätze der Vorentschä¬ 
digung teilweise weiter gegangen als die 
reichsgesetzlichen Bestimmungen über 
die Feststellung des Kriegsschadens, 
so daß nicht alle Schadensfälle, für 
die Vorentschädigungen gegeben wer¬ 
den, auch gleichzeitig in diesem Um¬ 
fange festgestellte Kriegsschäden im 
Sinne des Reichsgesetzes sind. Da¬ 
bei ist aber von Wichtigkeit daß 
das reichsrechtliche Feststellungsver¬ 
fahren nicht alle Kriegsschadensfälle 
festzustellen haben wird, denn die be¬ 
reits nach den preußischen Grundsätzen 
endgültig durch Abfindung mit 
den Geschädigten erledigten Schadens¬ 
fälle, d. h. solche, die unter 1500 Mark 
bleiben, werden durch die reichsrecht¬ 
lich eingesetzten Behörden nicht von 
neuem festgestellt und bleiben also auch 
den späteren reichsrechtlichen Vorschrif- 


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467 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 468 


ten gegenüber erledigt In diesen Fäl¬ 
len ist die Vorentscbädigung zugleich 
endgültige Kriegsentschädigung. 

Die wichtigsten Grundsätze über das 
Vorentschädigungsverfahren, soweit sie 
die landwirtschaftlichen Kriegsschäden 
betreffen, sind folgende: 

Die Vorentschädigung geschieht unter 
Anrechnung auf die dereinst zu gewäh¬ 
rende endgültige Entschädigung. Sie ist 
ihrem Zwecke nach beschränkt auf das 
zur Fortführung der landwirtschaft¬ 
lichen Betriebe und zur Beschaffung der 
hierzu erforderlichen Geräte, Betriebs¬ 
mittel und Zubehörstücke notwendige 
Maß. Es kann also aus der Vorentschä¬ 
digung nicht der Ersatz der verlorenen 
Gegenstände schlechthin erfolgen, son¬ 
dern nur insoweit als der Ersatz not¬ 
wendig ist um die Fortführung des Be¬ 
triebes zu ermöglichen. Die Vorentschä¬ 
digung muß hinter dem vorläufig zu er¬ 
mittelnden Gesamtbeträge des Kriegs¬ 
schadens Zurückbleiben. Für die Höhe 
des Sachschadens ist maßgebend der 
Wert den die beschädigte oder zer¬ 
störte Sache vor dem Kriege gehabt hat 
und zwar unter Berücksichtigung des 
Alters und der Abnutzung (Zeit-Frie¬ 
denswert). Es wird also nicht der meist 
höhere Wert berücksichtigt den die 
Sache im Laufe des Krieges infolge der 
Konjunktur erhalten hat sondern die 
Feststellung des Schadens geschieht 
nach dem Werte vor dem Kriege. Von 
diesem Grundsätze sind nur einige be¬ 
stimmte Ausnahmen zugelassen. Han¬ 
delt es sich um Gegenstände, die erst 
nach dem Ausbruch des Krieges (zu 
Kriegspreisen) beschafft waren, und 
zwar zu teureren Preisen als Friedens¬ 
preisen, und die dann beschädigt oder 
vernichtet sind, so sind die tatsächlichen 
Anschaffungspreise maßgebend. Diese 
Bestimmung ist wichtig für die Entschä¬ 
digung im Kreise Memel, in den die Rus¬ 


sen erst einfielen, nachdem sie schon 
fast einen Monat vorher aus der Provinz 
dauernd vertrieben worden waren. 

Die Ermittlung des Schadens und 
seine vorläufige Feststellung (die end¬ 
gültige Feststellung erfolgt nach den 
Vorschriften des Reichsgesetzes vom 
3. Juli 1916) geschieht durch die Kriegs¬ 
hilfsausschüsse, die bei den Landrats- 
ämtem der geschädigten Kreise — es 
sind dies sämtliche Kreise der Provinz 
mit Ausnahme von Fischhausen und 
Mohrungen — gebildet werden. Bei die¬ 
sen hat der Geschädigte, d. h. wer die 
Gefahr des zufälligen Unterganges der 
Sache trägt, nach einem vorgeschriebe¬ 
nen Formular seinen Kriegsschaden an¬ 
zumelden und die Anträge auf Gewäh¬ 
rung von Vorentschädigung zu stellen. 
Über diese Anträge hat sich der Kriegs¬ 
hilfsausschuß gutachtlich zu äußern. Die 
Festsetzung der Vorentschädigung ge¬ 
schieht durch den Landrat, in einzelnen 
Fällen (bei Beträgen über 5000 Mark) 
durch den Regierungspräsidenten — 
ausnahmsweise auf Grund der Genehmi¬ 
gung des Oberpräsidenten oder Regie¬ 
rungspräsidenten —, die Anweisung in 
allen Fällen durch den Landrat Es wird 
darauf Wert gelegt, daß die Vorentschä¬ 
digung in Natur durch Lieferung von 
Zubehörstücken, Waren u. dgl. erfolgt 
Wo Lieferung in Natur nicht möglich 
ist, soll — in der Regel — der Geschä¬ 
digte eine Bescheinigung des Landrats 
erhalten, daß Rechnungen für die be- 
zeichneten Anschaffungen bis zur fest¬ 
gesetzten Höhe aus Staatsmitteln ge¬ 
zahlt werden. 

Die Kriegshilfsausschüsse haben mög¬ 
lichst unter Zuziehung des Geschädig¬ 
ten, soweit erforderlich auf Grund ört¬ 
licher Verhandlung — sie sind auch zu 
eidlichen Vernehmungen der Zeugen be¬ 
rechtigt —, ihr Gutachten über die Höhe 
der Schäden abzugeben. 


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Original frum 

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469 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 


470 


Die Aufsicht über das ganze Vorent- 
schädigungsgeschaft führt der Oberprä¬ 
sident. Er kann nach Anhörung der 
Kriegshilfskommission oder ihrer Abtei¬ 
lungen einheitliche Schatzungsnormen 
feststellen, die zwar für die Kriegshilfs¬ 
ausschüsse bei ihrer Begutachtung ma߬ 
gebend sind, nicht aber für die reichs¬ 
rechtliche endgültige Feststellung des 
Kriegsschadens. 

II. 

Unter Berücksichtigung dieser grund¬ 
sätzlichen Bestimmungen ist die Ent¬ 
schädigung landwirtschaftlicher Scha¬ 
den vor sich gegangen. Die Feststellung 
der Grundsätze im einzelnen ergab sich 
aus der Praxis. Für eine große An¬ 
zahl von Einzelfallen hatte sich der 
Oberpräsident die Entscheidung Vorbe¬ 
halten und war somit zu genauester 
Kenntnis der Bedürfnisse der Landwirt¬ 
schaft gekommen. Im Verein mit der 
Landwirtschaftskammer, mit dem Land¬ 
wirtschaftlichen Institut der Universität, 
mit praktischen Landwirten wurden 
durch einen besonderen sachverständi¬ 
gen Landwirt des Oberpräsidiums die 
Grundsätze — Schätzungsnormen — be¬ 
raten, den Bezirksregierungen und der 
Kriegshilfskommission vorgelegt und 
schließlich von dem Staatsministerium 
gebilligt Sie halten die Mitte zwischen 
einer Entschädigung, wie sie im Fall der 
Versicherung gegeben wird, und der 
Entschädigung im Falle einer Enteig¬ 
nung. 

Für die Feststellung der landwirt¬ 
schaftlichen Schäden insbesondere ist 
vorgeschrieben, daß der Gegenstand des 
Schadens nach Art, Zahl und Menge ge¬ 
nau dargelegt wird. Die Schätzungsnor- 
men nehmen Bezug auf das Formular 
zur Anmeldung der Kriegsschäden. Das 
Formular sieht zunächst Schäden an Ge¬ 
bäuden vor, sodann Schäden an Liegen¬ 
schaften, Melioratkms- und sonstigen 

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baulichen Anlagen, Zäunen und Dräna¬ 
gen. Für die Gebäudeschäden gelten be¬ 
sondere Grundsätze, auf die hier nicht 
näher einzugehen ist Die Schäden an 
Liegenschaften werden nach den allge¬ 
meinen Grundsätzen über beschädigte 
Anlagen vorläufig ermittelt Es folgen 
Schäden an Holzungen. Die vorläufige 
Feststellung derartiger Schäden ist falls 
sie über 1000 Mark ausmachen, durch 
den Oberpräsidenten dem Forstamte 
der Landwirtschaftskammer übertrag«!. 
Sind die Schäden geringer, so erfolgt die 
Abschätzung durch den Kriegshilfsaus¬ 
schuß. Für Garten - und Parkanlagen 
sind besondere Sachverständige benannt 
worden. Die Grundsätze über die Ent¬ 
schädigung sind auch hier keine ande¬ 
ren als sonst; insbesondere können Sel- 
tenheits- und Schönheitswerte, die Lieb¬ 
haberwert sind, nur berücksichtigt wer¬ 
den, soweit durch Vernichtung oder Be¬ 
schädigung der gemeine Verkaufswert 
des gesamten Grundstücks nachweislich 
in erheblichem Maße vermindert wor¬ 
den ist 

Die weiteren in dem Formular aufge¬ 
führten Schadensfälle beziehen sich auf 
Getreide, auf totes und lebendes In¬ 
ventar. 

Die Ermittlung der angesetzten Nor¬ 
malpreise zur Entschädigung für Feld¬ 
früchte ist keine willkürliche gewesen, 
sondern beruht auf umfangreichen Be¬ 
rechnungen und Vergleichungen der in 
Königsberg und sonst in der Provinz be¬ 
zahlten Preise. Da diese Preise nur 
Höchstpreise sind, lassen sie einer dem 
Einzelfalle angepaßten Bewertung aus¬ 
reichenden Spielraum. Was das le¬ 
bende Inventar betrifft so sind für die 
verschiedenen Tierarten verschiedene 
Nonnalwerte angesetzt Die Berechnung 
der Normalwerte ist gleichfalls keine 
willkürliche, sondern beruht auf ein¬ 
gehenden Ermittlungen der Statistik. Die 

Original frn-m 

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471 


W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 


472 


Entschädigung für lebendes Inventar 
unterscheidet den Fall des Verlustes und 
den der bloßen Wertverminderung der 
Tiere. Bei dem Verluste ist für die Be¬ 
wertung der Tiere maßgebend das Ge¬ 
wicht Hierzu tritt die Bewertung der 
besonderen werterhöhenden Eigenschaf¬ 
ten (Zuchtwert und Qualitätswert). Die 
Berechnung geschieht danach so, daß 
zunächst das Gewicht der Tiere nach 
Zentnern ermittelt und zu dem sich hier¬ 
für ergebenden Preise ein Zuschlag für 
Zucht- oder Qualitätswert hinzugerech- 
net wird. Immer aber soll berücksich¬ 
tigt werden, daß Rinder, Schafe und 
Schweine mindestens den Fleischwert 
behalten, so daß ein Sinken unter diesen 
nicht eintreten kann. Für die Bewertung 
von Pferden sind besondere Bestimmun¬ 
gen absichtlich nicht gegeben. Es ist viel¬ 
mehr den Kriegshilfsausschüssen üb erlas¬ 
sen,den Wert derTiere richtig zu schätzen. 

Da die staatliche Aktion nur diejeni¬ 
gen Schäden treffen soll, die die Pro¬ 
vinz allein infolge der Kriegsereignisse 
erlitten hat, so konnten Seuchenschäden 
nicht mitentschädigt werden. Zwar ist 
es in der Provinz in sehr vielen Fällen 
nicht möglich gewesen, an sich zulässige 
Entschädigungsansprüche wegen Ver¬ 
lustes an Tierseuchen durchzuführen, 
weil eine tierärztliche Feststellung der 
Seuchen nicht hatte erfolgen können. 
Aber die Schädigung durch einge¬ 
schleppte Tierseuchen ist nicht auf die 
Provinz Ostpreußen beschränkt, und 
deswegen war es nicht möglich, den Ver¬ 
lust durch die Seuchen als vorentschädi- 
gungsberechtigten Kriegsschaden anzu¬ 
erkennen. Eine gewisse Abhilfe ist da¬ 
durch erreicht worden, daß die Provin¬ 
zialverwaltung in gewissen Fällen bei 
Verlusten infolge von Maul- und Klauen¬ 
seuchen helfend eingreift, gleichwohl 
bleibt eine Anzahl Seuchenfälle ohne 
Entschädigung, die entschädigt worden 


wären, falls der Einbruch der Russen 
nicht stattgefunden hätte. 

Durch die Flucht der Bevölkerung, 
die Vernichtung und Wegschaffung des 
Inventars ist es gekommen, daß in den 
Kreisen Pr.-Eylau, Friedland, Gerdauen, 
Königsberg, Labiau, Rastenburg, Weh- 
lau und im Regierungsbezirke Gumbin¬ 
nen und Allenstein die Winterung auf 
einer Fläche von 84000 ha nicht bestellt, 
auf 144000 ha zu spät bestellt worden 
ist, daß an Sommerung 32000 ha unbe¬ 
stellt geblieben sind, 152000 ha zu spät 
bestellt sind. Infolge dieses Umstandes 
ist der Acker schlechter geworden, ver¬ 
unkrautet und in seiner Struktur nach¬ 
teilig verändert, der Ertrag ausgeblieben 
oder geringer geworden. Man hatte des¬ 
wegen die Verluste, die sich hieraus in 
der Ernte 1915 zeigten, nach besonderen 
Grundsätzen entschädigen wollen, aber 
die Staatsregierung trug Bedenken, 
diese Ernteverluste, da sie kein Sach¬ 
schaden sind, als entschädigungsberech¬ 
tigt anzuerkennen. Sie hat demgemäß 
den Ausfall an der Ernte nicht als ent¬ 
schädigungsberechtigt anerkannt, wohl 
aber die Wertverminderung, die die 
Grundstücke dadurch erlitten haben, daß 
sie wegen der auf dem feindlichen Ein¬ 
bruch beruhenden unterlassenen oder 
beeinträchtigten Bestellung in schlechte¬ 
ren Kulturzustand gekommen oder ver¬ 
unkrautet sind (Feldinventarschäden). 
Es wird demgemäß Kriegsschaden aner¬ 
kannt, wenn die Winterung zu spät be¬ 
stellt ist oder wenn der Boden vor Win¬ 
ter nicht gepflügt ist Die hierüber fest¬ 
gesetzten Grundsätze beruhen auf einer 
ausführlichen Vergleichung der Ernte¬ 
statistik und besonderen Erhebungen, 
die für die einzelnen Kreise gemacht 
worden sind. Auf Grund der statisti¬ 
schen Unterlagen ist ferner der Wert der 
Winterung auf den Morgen Land, und 
zwar einheitlich für den einzelnen Kreis. 


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473 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 474 


für die Kreise selbst aber in fünf Abstu¬ 
fung«!, verschieden festgestellt Er 
schwankt zwischen 26 und 34 Mark, nach 
der Güte des Bodens. Diese Beträge sind 
aber nur Durchschnittsbeträge für den 
einzelnen Kreis. Die Summe der für den 
einzelnen Kreis verfügbaren Entschädi¬ 
gung — die gesamten Kosten werden 
über 100 Millionen Mark betragen — 
wird dadurch bestimmt daß die Zahl 
der zu spät bestellten Morgen multipli¬ 
ziert wird mit dem feststehenden Durch¬ 
schnittssatze für den Morgen. Die Ent¬ 
schädigung des einzelnen Besitzers hat 
der Kriegshilfsausschuß nach Lage des 
Falles festzustellen, nur darf die Ge¬ 
samtsumme dieser Beträge nicht größer 
sein als die Gesamtsumme der für den 
Kreis ermittelten Entschädigungssumme. 
Ergibt die Addition der einzelnen Ent¬ 
schädigungen mehr als die für den gan¬ 
zen Kreis verfügbare Gesamtsumme, so 
müssen die einzelnen Entschädigungen 
nötigenfalls prozentual herabgesetzt 
werden. Der zweite Fall des als Kriegs¬ 
schaden anerkannten Feldinventarscha¬ 
dens liegt vor, wenn der Boden vor Win¬ 
ter nicht gepflügt ist Für die Entschä¬ 
digung ist auch hier dieselbe Gruppen¬ 
einteilung der Kreise vorgenommen und 
der Durchschnittssatz in den Kreisen 
einheitlich zwischen 30 und 50 Mark für 
den Morgen festgesetzt Die Gesamtheit 
der einzelnen Entschädigung darf auch 
hier nicht größer sein, als das Gesamt¬ 
kontingent des Kreises (Produkt aus 
dem Durchschnittsschadenssatz und der 
Zahl der ungepflügten Morgen). Auf 
diese Schäden an Feldinventar können 
Vorentschädigungen gewährt werden. 
Diese Entschädigungen umfassen zu¬ 
gleich die Entschädigung für den Er¬ 
werbsausfall durch das Ruhen des Be¬ 
triebes. Darüber hinaus kann den Land¬ 
wirten, deren Wohngebäude zerstört 
waren und die sich deswegen haben an¬ 


derweit Unterkunft verschaffen müssen, 
ein entsprechender Teilbetrag des Netto¬ 
mietwertes der eigenen Wohnung, ge¬ 
mäß der letzten Veranlagung zur Ein¬ 
kommensteuer, erstattet werden. Wei¬ 
tere Feldinventarschäden, insbesondere 
Schäden aus der Ernte 1916, sind nicht 
als Kriegsschaden anerkannt, sie sind 
mit der Entschädigung für die Ver¬ 
schlechterung und Verunkrautung des 
Bodens abgegolten. Eine Sonderbestim¬ 
mung besteht über die Betriebseinstel¬ 
lungen bei landwirtschaftlichen Neben¬ 
betrieben, als welche nur die Brenne¬ 
reien, Stärkefabriken, Trocknereien und 
Molkereien gelten. Eine Betriebseinstel- 
lung ist nicht als Kriegsschaden zu be¬ 
handeln, wenn das zu verarbeitende 
Rohmaterial bereits anderweit entschä¬ 
digt oder sonst angemessen verwertet 
ist Ist dies nicht der Fall, so kann der 
Unterschied zwischen der tatsächlich er¬ 
möglichten und derjenigen Verwertung, 
die ohne den feindlichen Einfall möglich 
gewesen wäre, als Kriegsschaden behan¬ 
delt werden. Über die Gewährung von 
Vorentschädigungen entscheiden im Ein¬ 
zelfalle die Minister. Hinsichtlich des 
Konjunkturverlustes ist bestimmt, daß, 
wenn die Verwertung der Kartoffeln aus 
den im Winter 1914/15 geräumten Ge¬ 
bieten erst im Frühjahr 1915, und zwar 
zu einem geringeren Preise als 3 Mark 
für den Zentner, hat geschehen können, 
die Differenz zu ersetzen ist Endlich ist 
erwogen — die Entscheidung ist noch 
nicht erfolgt —, zur Kontrolle darüber, 
daß die Kriegsschäden nicht in einem 
größeren Betrage festgestellt werden, 
als die durch den Schaden hervorgeru¬ 
fene Wertverminderung des Gutes nebst 
dem Verluste an Wirtschaftsreinertrag 
beträgt für gewisse Fälle eine Gegen¬ 
rechnung durch Vergleichung der Guts¬ 
werte vor und nach dem schädigenden 
Ereignisse anzuordnen. 


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475 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 476 


III. 

Nach vorstehenden Grundsätzen ist 
die Wiederherstellung der Landwirt¬ 
schaft durchgeführt worden. An Vor¬ 
entschädigungen sind bis Anfang Ok¬ 
tober 1916 zusammen 609 Millionen 
Marie gegeben worden, von welcher 
Summe ein erheblicher Teil der Land¬ 
wirtschaft zugute gekommen ist — 
für lebendes Inventar allein in der 
Zeit vom 1. Dezember 1914 bis 1915 
97000000 Mark. Die Durchführung ist 
erfolgt in dauerndem Zusammenarbei¬ 
ten des Staates, der Selbstverwaltungs¬ 
behörden und der Landwirtschaftskam¬ 
mer. Was diese in der Kriegszett für die 
Provinz geleistet hat, ist in Heft 36 der 
Arbeiten der Landwirtschaftskammer 
dargelegt Auch die Denkschrift des 
Staatsministeriums vom 28. Mai 1916 
enthält die näheren Angaben darüber. 
Um der Landwirtschaftskammer die Ar¬ 
beit zu ermöglichen, hat ihr der Staat 
für Saatgetreide, Pferde, Zugochsen, Ge¬ 
schirre, Kraftpflüge insgesamt 30299000 
Mark teils als Darlehn, teils als zins¬ 
freien Vorschuß zur Verfügung gestellt 
von welcher Summe 29599000 Mark in 
Anspruch genommen sind. Ein großer 
Teil dieser Summe ist durch Verrech¬ 
nung auf Vorentschädigung dem Staate 
wieder zugeführt worden. Der Erfolg der 
Maßnahmen entsprach den Erwartungen 
und hat sie übertroffen. Die Gewährung 
der Vorentschädigung mußte sich in der 
ersten Zeit der noch wechselnden mili¬ 
tärischen Lage anschließen, besonders 
hinsichtlich der Besetzung der Weiden 
mit Rindvieh, konnte aber allmählich 
allen geschädigten Kreisen der Provinz 
gleichmäßig zugute kommen. 

Die Verluste der Provinz im einzel¬ 
nen betragen 186391 Stück Pferde. Die¬ 
der Verlust ist nicht vollständig wett¬ 
gemacht worden. Noch jetzt herrscht ein 
starker Mangel an Arbeitspferden. Die 


Pferde, die es der Landwirtschaftskam¬ 
mer einzuführen gelang (etwa 50000 
Stüde), waren zum Teil von schlechter 
Beschaffenheit Für die Erhaltung des 
Pferdematerials war es von Wichtigkeit, 
daß der Oberbefehlshaber den Handel 
mit älteren als dreijährigen Pferden 
untersagte. Besser hat sich die Wieder¬ 
besetzung der Provinz mit Vieh bewerk¬ 
stelligen lassen. Die Hochzuchten der 
Pferde und des Rindviehes hatten unter 
dem Russeneinfall schwer zu leiden ge¬ 
habt Man schätzt den Verlust an Stuten 
auf ungefähr die Hälfte. Ein Ersatz ist 
dadurch geschaffen, daß die Heeresver¬ 
waltung, auch nichtpreußischer Kon¬ 
tingente, der Landwirtschaftskammer 
Zuchtstuten zur Verfügung stellte, um 
sie an Züchter zu überweisen. Auf diese 
Weise sind etwas über 4000 Stuten in die 
Provinz gekommen, so daß die ostpreu¬ 
ßische Edelzucht für ihren Verlust in ge¬ 
wissem Umfange entschädigt ist Von 
den Beständen der ostpreußischen Herd¬ 
buchgesellschaft sind etwa 35000 Stüde 
erhalten geblieben. Der Ersatz geschah 
aus den unbeschädigt gebliebenen Tei¬ 
len der Provinz und aus Friesland und 
Holland. Schon vor dem Einfalle der 
Russen hatte die Landwirtschaftskam¬ 
mer auf militärische Veranlassung Ma߬ 
nahmen zur Sicherung des Viehes ge¬ 
meinschaftlich mit der Militärverwal¬ 
tung getroffen. Von den geretteten Tie¬ 
ren wurden die für die Zucht wertvolle¬ 
ren ausgesondert in anderen Provinzen 
untergestellt und nach Beseitigung der 
Gefahr wieder in die Provinz zurückge¬ 
bracht und dort verteilt. Das übrige für 
die Zucht nicht so wertvolle Vieh wurde 
im Inlande verkauft Auch im November 
1914 wurden auf militärische Anordnung 
Sduitte zur Bergung des Viehes durch 
die Landwirtschaftskammer unternom¬ 
men. Die Einlieferer des Viehes erhiel¬ 
ten Anerkenntnisse, nach denen der Be- 


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477 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 478 


sitzer berechtigt sein sollte, den Wert 
des abgelieferten Viehes als Kriegsscha¬ 
den anzumelden. Die Verwertung ist 
durch die Landwirtschaftskammer er¬ 
folgt Zwischen ihr und der Staatsregie¬ 
rung ist das Rechtsverhältnis aus die¬ 
sen Maßnahmen dahin geregelt worden, 
daß der Schaden, den die Besitzer durch 
Verlust des Viehes erleiden, als Kriegs¬ 
schaden anzusehen ist Auf diesen Scha¬ 
den werden Vorentschädigungen gegen 
Abtretung der an die Kammer bestehen¬ 
den Ansprüche gegeben, die Kammer 
dagegen überweist den Erlös aus der 
Bergungsaktion abzüglich ihrer Un¬ 
kosten und vorbehaltlich privatrecht¬ 
licher Erstattungsansprüche dem Staate. 
Von diesem sogenannten Bergungsvieh 
hat die Kammer 7000 ausgesucht gute 
Stücke wieder nach Preußen zurückge¬ 
schafft Sie hat ferner von anderer Seite 
Vieh bezogen und auf diese Weise ins¬ 
gesamt etwa 43000 Stück Rindvieh wie¬ 
der in die Provinz hineingeführt Ins¬ 
besondere hat sie, um dem Pferdeman¬ 
gel einigermaßen abzuhelfen, eine große 
Anzahl bayerischer Zugochsen in die 
Provinz eingeführt Sie hat ferner etwa 
17000 Schweine, 42000 Schafe, 1000 Zie¬ 
gen, 33000 Hühner, 5000 Gänse in die 
Provinz eingeführt und unter die Land¬ 
wirte verteilen und verkaufen lassen. 
Allein durch die Tätigkeit der Landwirt¬ 
schaftskammer ist der Vertust der Pro¬ 
vinz cm lebendem Inventar, der 872000 
Stüde Vieh betrug, um 191000 Stück ver¬ 
ringert worden. Das Ergebnis der Vieh¬ 
zählungen vom Dezember 1912,1914 und 
Oktober und Dezember 1915 ist in der 
Denkschrift des Staatsministeriums ver¬ 
öffentlicht. Es zeigt sich, daß sowohl die 
Zahl der viehhaltenden Haushaltungen, 
der Pferde, des Rindviehs, der Schafe, 
Schweine und Ziegen sich wieder in er¬ 
freulichem Aufschwünge befindet Im 
einzelnen haben betragen im Bezirk 



Königs¬ 

Gum¬ 

Allen¬ 


berg 

binnen 

stein 



am 2.12.1912 


die Zahl der 


„ 1.12.1914 


Vieh¬ 


„ 1.12.1915 


haltungen 

107659 

93522 

80100 


89848 

31021 

39531 


84610 

73101 

61325 

Pferde 

203384 

161519 

119354 


172531 

53782 

71571 


165011 

124961 

101036 

Rindvieh 

527700 

396440 

291264 


552155 

154845 

196137 


501111 

302762 

241234 

Schafe 

163972 

78170 

102427 


124261 

10116 

49578 


117170 

42791 

59177 

Schweine 

490 748 

459170 

283929 


478395 

191061 

183127 


420266 

306718 

197855 

Ziegen 

15807 

9595 

17606 

13757 

3578 

11127 


13108 

6538 

14817 


In gleicher Weise hat die Landwirt¬ 
schaftskammer sich die Heranschaffung 
von totem Inventar angelegen sein 
lassen. 

Da die Russen fast alles Leder und 
sämtliche Geschirre, ferner fast sämt¬ 
liche Wagen und landwirtschaftliche 
Maschinen vom kleinsten Pfluge bis zur 
größten Dreschmaschine beschädigt oder 
weggeschaft hatten, so übernahm es die 
Landwirtschaftskammer, für Ersatz zu 
sorgen. Es gelang ihr und der hiesigen 
Maschinengenossenschaft größere Vor¬ 
räte von Maschinen zu sichern und auch 
dem Mangel an Waren abzuhelfen. 
Auch hat sie eine große Anzahl Ge¬ 
schirre beschafft die sie an die Land¬ 
wirte abgab. Im Verein mit der Kreis¬ 
verwaltung hat sie für die Sicherung des 
zurückgelassenen Getreides und die 
Vornahme der Druscharbeiten gesorgt. 
Bei weitem die wichtigste Aufgabe aber 
war es, die Frühjahrsbestellung zu er¬ 
möglichen. Auf den Antrag des Ober¬ 
präsidenten erging die Bundesratsver- 


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479 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 480 


Ordnung vom 31. März 1915, derzufolge 
die Bestellung verlassener Äcker oder 
solcher Äcker, deren Eigentümer dazu 
nicht imstande sind, durch die Behörde 
gesichert werden kann. Diese Verord¬ 
nung hat sich so bewährt, daß sie dem¬ 
nächst auf das Jahr 1916 und neuerdings 
auch auf das Jahr 1917 ausgedehnt wor¬ 
den ist Ferner wurde es den Flücht¬ 
lingen durch Bundesratsverordnung vom 
31. März 1915 ermöglicht, die während 
ihrer Flucht geschlossenen Verträge, 
durch die sie außerhalb der Provinz fest¬ 
gehalten wurden, in erleichterter Form 
zu kündigen, um in die Provinz Ostpreu¬ 
ßen zurückkehren zu können. Um den 
Einwohnern jedoch einen besonderen 
Anreiz zur Vornahme der Bestellungs¬ 
arbeiten zu geben und ihnen einen Er¬ 
satz für die besonders hohen Unkosten 
zu gewähren, die die Bestellung der 
Äcker bei dem Mangel an fast allen hier¬ 
zu notwendigen Gegenständen verur¬ 
sacht hatte, hat der Staat auf Antrag 
des Oberpräsidenten eine Summe bis zu 
30 Millionen Mark zur Verfügung ge¬ 
stellt, um in den vom November 1914 
bis Februar 1915 besetzt gewesenen Lan¬ 
desteilen die Bestellung herbeizuführen. 
Die Abgrenzung der zu prämiierenden 
Fläche in den nicht völlig in Feindes¬ 
hand gebliebenen Kreisen war durch die 
Stellung der deutschen Truppen ge¬ 
geben. Doch ist auch, freilich mit hal¬ 
ben Prämien, ein schmaler, hinter die¬ 
ser Linie zurückliegender Streifen in die 
Prämienzone einbezogen, auch sind die 
nur zeitweise besetzten, aber dauernd 
gefährdet gewesenen Kreise Neidenbuig 
und Orteisburg mit einer geringeren 
Summe bedacht worden. Für den Mor¬ 
gen bestellten Landes wurden 25 und 
12,50 Mark gezahlt, je nachdem das Land 
in den Händen der Russen gewesen war 
oder nicht. Diese Mittel (es sind etwa 
19 Millionen Mark bisher verausgabt) 


werden auf die Vorentschädigungen 
nicht angerechnet, sondern sind eine 
staatliche Anerkennung für den Eifer der 
Bevölkerung. Trotz Fehlens von Vieh 
und Pferd, Wohn- und Wirtschafts¬ 
gebäuden ist es hierdurch gelungen, in 
den Grenzkreisen 800000 Morgen Land 
zu bestellen. Die Feststellung, daß die 
Bestellung ordnungsmäßig erfolgt war, 
geschah durch besondere Bestellungs¬ 
kommissionen des Kreises. Zur Vor¬ 
nahme der Bestellung hat die Landwirt¬ 
schaftskammer die Beschaffung des 
Saatgutes, fast 110000 Zentner, und die 
des damals nur in geringer Menge er¬ 
hältlichen Düngers vermittelt Sie hat 
mit dem ihr gewährten Staatskredit 128 
Motor- und Dampfpflüge besorgt und an 
die Besitzer zum Teil in Anrechnung der 
Vorentschädigung, zum Teil unter gün¬ 
stigen Abzahlungsbedingungen Über¬ 
lassen. In welcher Weise sich die Mili¬ 
tärverwaltung an der Frühjahrsbestel¬ 
lung beteiligt hat ist bereits erwähnt 
Da endlich die Heranschaffung der Fut¬ 
termittel sich zunächst nur mit Schwie¬ 
rigkeiten hatte vollziehen lassen, errich¬ 
tete die Landwirtschaftskammer im 
Sommer 1915 selbst eine Futterstelle, 
durch die sie zum Vorteil der Landwirt¬ 
schaft der Bezugsvereinigung deutscher 
Landwirte gegenüber allein als Käuferin 
auftritt und an die ihr angeschlossenen 
Kommunalverbände die Futtermittel 
verteilt 

Das Ergebnis der staatlichen Wieder¬ 
herstellungsarbeit an der Landwirt¬ 
schaft ist das, daß man jetzt nur selten 
einen Acker findet der noch nicht be¬ 
stellt ist 

Ackerbau und Viehzucht sind somit 
dank der großzügigen Tätigkeit des 
Staates wieder in Aufschwung begrif¬ 
fen und die Provinz wieder in die Lage 
gebracht ihren Anteil zu der Ernährung 
des Reiches beizutragen. Auch auf die 


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481 


Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


482 


Wiederherstellung der Landwirtschaft 
bezieht sich, was der Unterstaatssekre¬ 
tär Drews in der Sitzung der Kriegs¬ 
hilfskommission vom 6. Juli 1916 ausge¬ 
sprochen hat: es habe sich gezeigt daß 
der Weg, der der Kommission und ihren 
Mitgliedern gewiesen war, der richtige 
gewesen sei, und daß die Beteiligten auf 
ihrem Arbeitsgebiete erfolgreich mitge¬ 


wirkt hätten, des Königs Wort zu ver¬ 
wirklichen, daß neues, frisches Leben 
aus den Ruinen erstehen solle. 

Den Beteiligten aber ist der Lohn der 
königliche Dank, der auch ihnen in der 
an das Staatsministerium gerichteten Al¬ 
lerhöchsten Kabinettsorder vom 27. Mai 
1916 ausgesprochen worden ist. 


Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur. 

Von Ph. Aronstein.*) 


Neben dem großen Historiker Macau- 
lay steht als Verherrlicher und Verfech¬ 
ter des Engländertums der Dichter Al¬ 
fred Tennyson, der wahre, echte 
Poeta laureatus der herrschenden Klas¬ 
sen in England um die Mitte des 19. Jahr¬ 
hunderts. Tennyson hat in wohlklingen¬ 
den Versen die englische Freiheit ge¬ 
priesen, „die ehrbar gekleidete Freiheit, 
die sich langsam nach unten erweitert 
von Präzedenzfall zu Präzedenzfall". 
Ihrer natürlichen langsamen Entwick¬ 
lung, bei der das Neue gleichsam in das 
Alte hineinwächst, stellt er im Hinblick 
auf das französische Freiheitsideal „die 
Falschheit der Extreme“ und „die rohe 
Hast, die Halbschwester der Verzöge¬ 
rung", gegenüber. 4 ) Den Entwicklungs¬ 
gedanken, der gerade damals in Darwin, 
Huxley und Herbert Spencer seine grö߬ 
ten Vertreter hatte, überträgt der Dich¬ 
ter von der Natur auf das Staatliche und 
sieht sein Wirken in der Entwicklung 
des englischen Staatswesens, das nach 
ihm naturgemäß, also vollkommen er- 

*) Siehe Heft 3. 

4) Vgl. hierzu namentlich die Gedichte 
.You ask me why tho’ ill at ease“, ferner „Of 
old sat Freedom on the heights“ und „Love 
thou thy land with love far brought“... und 
meinen Aufsatz in den Englischen Studien 
XXVIII, 54 ff „Tennysons Welt und Lebens¬ 
anschauung“. 

Internationale Monatsschrift 

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folgt ist. Man weiß aus Tennysons Le¬ 
ben, wie einseitig, ja beschränkt englisch 
er war, ein verfeinerter, vergeistigter 
Typus des lebensfrohen, breitschultri¬ 
gen, in seiner Beschränktheit glücklichen 
englischen Landjunkers, den er so sym¬ 
pathisch geschildert hat. So finden wir 
ihn auch überall als unbedingten Für¬ 
sprecher der englischen äußeren Poli¬ 
tik. Der Krimkrieg sogar begeistert ihn, 
ohne daß er mehr als die Straßenpatrio- 
ten von London und Liverpool nach sei¬ 
nen Gründen fragt, weil er in ihm eilten 
Reiniger von Mammonsdienst und Mate¬ 
rialismus, von Krämergeist und schnö¬ 
der Selbstsucht zu sehen glaubt. Und 
wie ein lauter Rufer im Streite Englands 
mit anderen Nationen im vollen Sinne 
des „right or wrong, my country“, so ist 
er ein begeisterter Verfechter des Zu¬ 
sammenschlusses und der Organisation 
des englischen Weltreiches, kurz ein Im¬ 
perialist vom reinsten Wasser. 

Immerhin ist der Dichter Tennyson 
doch nicht ein so ganz einseitiger Ver¬ 
treter englischer Selbstzufriedenheit wie 
Macaulay. Mitunter findet auch die 
Kehrseite des gepriesenen Fortschritts 
in England, das Elend der Massen in der 
ersten Blütezeit des Industrialismus und 
der rücksichtslose Kampf ums Dasein 
in seinen Versen eine scharfe Beleuch- 

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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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tung. Der Blick für diese wenig erfreu¬ 
liche Seite der englischen Freiheit, na¬ 
mentlich auf wirtschaftlichem Gebiete, 
war Tennyson und anderen seiner Zeit¬ 
genossen geschärft worden durch den 
Einfluß des großen Schotten Tho¬ 
mas Carlyle. 

III. 

Es gibt wohl kaum einen größeren 
Gegensatz in der Literatur wie den zwi¬ 
schen Macaulay und Carlyle. Macaulay, 
obgleich ungeheuer belesen, wurzelt 
doch mit seinen Grundanschauungen 
ganz in der englischen Literatur, und 
zwar der Literatur des 18. Jahrhunderts, 
des Jahrhunderts der Kritik, des Skepti¬ 
zismus und der Verstandesklarheit. Car¬ 
lyle, der Nachkomme strenggläubiger 
schottischer Kalvinisten, die den Finger 
Gottes überall sahen, fand in der Litera¬ 
tur seines Landes keine Befriedigung und 
wandte sich der deutschen Literatur und 
Philosophie zu, besonders Kant, Fichte 
und Goethe, mit welch letzterem er auch 
in freundschaftliche Beziehungen trat. 
Er drang in die deutsche Gedankenwelt 
so tief ein und vermittelte diese Kennt¬ 
nis seinen Landsleuten durch Über¬ 
setzungen und kritische Schriften so 
weit, als es ihm seine angeborene puri¬ 
tanische Lebensauffassung gestattete. 6 ) 
Hier fand er einen anderen Maßstab für 
die Beurteilung von Menschen und Din¬ 
gen als den unmittelbaren praktischen 
Nutzen; hier erschien das Vergängliche 
nur von Wert als Symbol des Ewigen, 
„der Gottheit lebendiges Kleid". Und 
vom Standpunkte seines Idealismus, der 
gewissermaßen eine Synthese des feu- 
rigen Glau bens seiner Väter und des 

5) Daß dies nur in beschränktem Maße 
der Fall war, wie Leon Kellner in seiner 
„Geschichte der englischen Literatur im Zeit¬ 
alter der Königin Victoria“ und auch S. Sänger 
in einer besonderen Schrift gezeigt hat, 
ändert an der Bedeutung des Goetheschen 
Einflusses auf Carlyle nichts. 


deutschen Transzendentalismus bildet, 
ging er daran, teils gelegentlich, wie in 
seinen literarischen und historischen 
Schriften, teils verdeckt symbolisch, wie 
in dem tiefsinnigen „Geflickten Flick¬ 
schneider", teils direkt, wie in den flam¬ 
menden Schriften „Chartismus", „Ver¬ 
gangenheit und Gegenwart" und „Flug¬ 
schriften jüngster Zeit“, die Zustände 
und politischen Anschauungen in Eng¬ 
land zu beurteilen. Da erwies sich ihm 
die vielgepriesene Freiheit, besonders in 
ihrer Übertragung auf das wirtschaft¬ 
liche Leben, als Spiel von Angebot 
und Nachfrage, für die großen Mas¬ 
sen der Bevölkerung als nichts als 
die Freiheit, zu verhungern und roh 
und unwissend zu sein, und das eng¬ 
lische Parlament, jener Gipfel mensch¬ 
licher Weisheit, hieß „der nationale 
Schwatzklub", hervorgegangen aus den 
Stimmen von „27 Millionen meistens 
Narren", „die kondensierte Torheit der 
Nation", nur dazu gut, möglichst ge¬ 
räuschvoll nichts zu tun und die Regie¬ 
rung abwechseln zu lassen „zwischen 
dem Ehrenwerten FelixParvulus und dem 
Sehr Ehrenwerten Felidssimus Null". 
Auch der glorreiche Fortschritt erschien 
weniger imponierend, als er in Macau- 
lays tönenden Antithesen sich darbot, 
wenn man fragte, wohin der Fortschritt 
denn ging. Deshalb predigte Carlyle an 
Stelle der alleinseligmachenden Demo¬ 
kratie die Herrschaft der Tüchtigen und 
Besten, Heldenverehrung, Aristokratie, 
wobei allerdings die Frage der Aus¬ 
wahl dieser „Besten" als große Schwie¬ 
rigkeit bleibt. Gegenüber der äußeren 
Freiheit mit ihrem Mechanismus der 
Wahlurnen und des Parlamentarismus 
verkündet er die Lehre von der inneren 
geistigen Freiheit, wie er sie bei Goethe 
gelernt hatte, jener Freiheit, die keine 
Verfassung und kein noch so gerechtes 
Wahlrecht geben kann. Und dem be- 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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quemen Glauben an die Segnungen des 
freien Wettbewerbs, dem Laissez aller 
der damals herrschenden manchester- 
lichen Nationalökonomie, die die Augen 
schloß vor dem Elende des Volkes, 
stellte er die Notwendigkeit der Sorge 
fflr die Schwachen entgegen. Mit seiner 
gewaltigen Prophetenstimme und seiner 
Kunst des Wortes hat er die Engländer 
doch etwas aus ihrer Selbstzufrieden¬ 
heit, ihrem fröhlich-seichten Optimis¬ 
mus aufgerflttelt und das Dogma von 
der Überlegenheit und Vortrefflichkeit 
alles Englischen einigermaßen erschüt¬ 
tert Wir wissen, daß er das, was er in 
England vermißte, nirgends so sehr 
fand als in Deutschland. Er ist der ein¬ 
zige hervorragende Schriftsteller in 
England, der nicht nur das Deutschland 
Schillers und Goethes, Kants und Beet¬ 
hovens geschätzt hat sondern ebensosehr 
das Deutschland des „preußischen Mili¬ 
tarismus“, das Deutschland des großen 
Friedrich, dessen Leben er in zehn wie 
ein Roman spannenden Bänden erzählt 
hat Kaiser Wilhelms I., der ihm im 
Jahre 1874 den Orden Pour le Mferite 
verlieh, und Bismarcks, der ihn durch 
ein Schreiben an seinem 80. Geburtstage 
ehrte. Er glaubte an die Zukunft Deutsch¬ 
lands. „Seit alten Zeiten“, schrieb er im 
September 1870 an Froude, „ist Deutsch¬ 
land die friedliebendste, frömmste und 
stärkste und am meisten Respekt ein¬ 
flößende von allen Nationen gewesen. 
Deutschland sollte Präsident von Europa 
sein und wird auch dem Anschein nach 
wieder auf fünf Jahrhunderte mit die¬ 
sem Amte betraut werden.“ Was würde 
Carlyle wohl gesagt haben, wenn er den 
jetzigen Krieg erlebt hätte! 

Der realistische Roman in Eng¬ 
land um die Mitte des 19. Jahrhun¬ 
derts, ein Abkömmling des Romans des 
18. Jahrhunderts, übt wie dieser ernste 
nationale Selbstkritik, besonders in den 


Werken seiner beiden größten Vertreter, 
Dickens und Thackeray. Dickens war 
von glühendem sozial-ethischem Pathos 
erfüllt, ein warmherziger Anwalt des Vol¬ 
kes, dem er entsprossen, und ein scharfer 
Ankläger der regierenden Klassen. Inden 
Dienst dieser Sache stellte er mit Bewußt¬ 
sein sein großesTalent, seine mächtige Ge¬ 
staltungkraft, seine feine Beobachtung, 
seinen erquickenden Humor und seine 
ganze formlose, aber reiche Kunst. Den 
Jammer der Privatschulen („Nicolas 
Nickleby“ und „David Copper¬ 
field“), die Hartherzigkeit und Grau¬ 
samkeit manchesterlicher Armenpflege 
(„Oliver Twist“ und „Our Mutual 
F r i e n d“), desRechtesAuf schub („B1 e a k 
H o u s e“), den Unfug bei den Parlaments¬ 
wahlen („Pickwick Papers“), die 
Schäden der Krankenpflege („Martin 
Chuzzlewit“), denBureaukratismusin 
niederen und hohen Kreisen („Oliver 
Twist“ und „Litt le Dorr it“) und man¬ 
ches andere hat er so wirksam geschil¬ 
dert, daß seine Darstellungen eine große, 
oft direkt praktische Wirkung ausgeübt 
haben. Die satirischen Gestalten, die 
Bumble, Squeers, Creacle, Sarah Gamp 
u. a., haben die englische Sprache und 
die nationale Anschauung bereichert 
Ein Denker, ein Philosoph war Dickens 
allerdings nicht und über die Darstel¬ 
lung einzelner Mißstände ist er im all¬ 
gemeinen nicht hinausgegangen. Sein 
Kampf gegen das nationale Laster der 
Heuchelei, den „Cant“, trifft die Erschei¬ 
nungen desselben nur in dem Medium 
der unteren Volksschichten, wenn wir 
ihm auch die prächtige Gestalt eines 
Pecksniff verdanken, seine Darstellung 
der Aristokratie ist bloße Karikatur. Nur 
hier und da hat er sich hierüber erhoben. 
Unter dem Einflüsse der Ideen Carlyles 
hat er die Hartherzigkeit der kaufmän¬ 
nischen und großindustriellen Kreise 
und die freihändlerische Volkswirt- 

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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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schaft, auf die sie sich stützte und die 
sie nach englischer Art zum selbstver¬ 
ständlichen Naturgesetz erhoben, in 
seinen im besten Sinne populären „Weih¬ 
nachtsmärchen“ und dem sozialen Ro¬ 
man „Harte Zeiten“ bloßgestellt, und 
dann richtet sich seine Kritik, allerdings 
erst in seinen letzten Werken, auch 
gegen das festeste Bollwerk des Englän- 
dertums, den nationalen Eigendünkel. 
Sein Mr. Podsnap in „Our Mutual 
Friend“ ist ein Typus jener „echt briti¬ 
schen Beschränktheit", von der Heine 
spricht; er hält alle anderen Nationen, 
abgesehen von dem Handel, aus dem er 
sein Einkommen bezieht, für einen Feh¬ 
ler und pflegt von ihren Sitten kurz ab¬ 
weisend zu bemerken: „Nicht englisch, 
womit sie mit einer Handbewegung und 
einer plötzlichen Aufwallung aus der 
Welt geschafft werden.“ Bezeichnend 
ist es, daß das Kampflied des englischen 
Chauvinismus oder „Jingoismus“, wie 
die Engländer es nennen, Rule Britan- 
nia, Dickens besonders verhaßt war, so 
daß er sich oft über sein schwülstiges 
Pathos lustig macht 6 ) 

Thackeray, Dickens’ Rivale als Ro¬ 
manschriftsteller, kommt diesem nicht 
gleich an dichterischer Gestaltungskraft 
an Reichtum und Fülle der Phantasie; 
aber er ist philosophischer, ein tieferer 
und feinerer Denker. Seine scharfe Sa¬ 
tire zerlegt die Dinge und Menschen mit 
der harten, verständigen Klarheit jenes 
18. Jahrhunderts, in dem er geistig zu 
Hause war und das er in seinen histori¬ 
schen Romanen so wunderbar hat wie¬ 
der aufleben lassen. Und indem er mit 
seinem scharfen Blicke die oberen 
Schichten der englischen Gesellschaft 


6) Vgl. hierober meine Dickens-Studien 
und den Aufsatz „Dickens und Carlyle“ in der 
Anglia XVIII, ferner Eckardt, Zur Charakte¬ 
ristik von Charles Dickens Germ. Rom. 
Monatsschrift 1914. 


beleuchtet, zunächst bekanntlich in der 
ergötzlichen Maske des Kammerdieners 
—er nennt ihn Yellowplush nach seinen 
obligaten Beinkleidern —, legt er seine 
Sonde an eins der Hauptlaster der eng- • 
lischen und mehr oder weniger jeder 
künstlichen Gesellschaft,, dem er den Na¬ 
men gegeben hat, die snobbery 6 *), das 
Snobtum. „Derjenige, welcher ge¬ 
meine Dinge auf gemeine Weise bewun¬ 
dert, ist ein Snob“, lautet seine bekannte 
Definition in dem „Buch von den Snobs“. 
Diese gemeinen Dinge sind Rang und 
Geld, und wie diese Verehrung, nament¬ 
lich die der erblichen aristokratischen 
Kaste, die „Lordolatrie“, alle Schichten 
der Gesellschaft durchzieht, ist ein 
Hauptgegenstand seiner Satire und Ro¬ 
mane. Die Verehrung äußerlicher Dinge 
entspringt dem Wesen einer Gesell¬ 
schaft, die zwar äußerlich unter freien 
Formen lebt, aber innerlich unfrei ist, 
weil ihr der absolute Maßstab für das 
Sein und Handeln des Menschen fehlt, 
weil sie den Idealismus einer in dem 
Wesen der Dinge selbst verankerten An¬ 
schauung entbehrt und deshalb ganz 
unter der Banne der Konvention, d. h. 
eines aus mancherlei disparaten Elemen¬ 
ten, solchen des praktischen Nutzens, 
der zufälligen Bedingungen des Daseins, 
der Heuchelei zusammengesetzten Über¬ 
einkommens über das Erlaubte und Ver¬ 
botene steht England ist nicht umsonst 
nicht bloß das Land ohne Musik, son¬ 
dern auch ohne Metaphysik. 

Wenn in dieser Skizze, deren Gegen¬ 
stand die Darstellung der Selbstbespie¬ 
gelung des Engländertums in ihrer Lite¬ 
ratur und durch ihre Literatur ist, Voll¬ 
ständigkeit angestrebt würde, so könn¬ 
ten noch eine Reihe bedeutender Schrift¬ 
steller aus jener Zeit Erwähnung finden: 

6a) Vgl. hierOber Dr. Kurt de Bora „Wert 
und Wesen von Thackerays Snobsbuch** 
Germ. Rom. M. 1915. 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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Benjamin Disraeli besonders, der 
spätere Lord Beaconsfield, der die Ent¬ 
stehung der englischen Verfassung und 
ihr Wesen sehr verschieden von Macau- 
• lay und originell, allerdings von einem 
einseitigen Parteistandpunkte, darge¬ 
stellt hat in seinem Roman „Conings- 
by oder das neue Geschlecht“ 
(1844), und der die soziale Frage unter 
dem Einflüsse Carlyles vom sozialaristo- 
kratischen Standpunkte behandelt in dem 
bedeutenden Roman „Sybil oder die 
beiden Nationen" (1845), ferner ein 
anderer Schüler Carlyles, der vielseitige 
Pfarrer Charles Kingsley, dessen 
dichterisches Wirken beherrscht wird 
von den Ideen des Christentums, eines 
kampfesfrohen Protestantismus, der 
Überlegenheit des Germanentums und 
besonders von sozialen Bestrebungen 
und der in „Alton Locke“ (1856) den 
Roman des christlichen Sozialismus 
geschaffen hat Dann Frauen, wie 
Mrs. Gaskell (Mary Barton, 1848), 
Charlotte Brontö (Shirley, (1849), 
George Eliot (mit dem politischen 
Roman „Felix Holt“, 1866), und noch 
manche andere. Aber Vollständigkeit ist 
hierbei weder möglich noch von Wert. 
Es handelt sich vielmehr darum, die psy¬ 
chologische Entwicklung des nationalen 
Lebensgefflhls in England in seinen 
Hauptetappen zu verfolgen und in die¬ 
ser letzten kritischen Periode desselben, 
die mit Carlyle beginnt die wichtigsten 
Versuche des Engländertums in der Lite¬ 
ratur darzulegen, zu einer wirklichen 
Selbsterkenntnis durchzudringen. Hier¬ 
bei ist von hervorragender Bedeutung 
die Wirksamkeit Matthew Arnolds, 
die, obgleich ganz verschieden, sich 
etwa der Carlyles an die Seite stellt 

Matthew Arnold’) (1822—1888) 

7) Vgl. darüber meinen Aufsatz Ober 
Matthew Arnold in der Zeitschrift für ver¬ 
gleichende Literaturgeschichte XV 3/5 1904. 


ist wie Carlyle von der literarischen zur 
Gesellschaftskritik fortgeschritten; er hat 
auch wie dieser den Maß stab seiner Kritik 
in dem deutschen Humanismus des 18 
und des Anfangs des 19. Jahrhunderts ge¬ 
funden. Goethe war sein Lehrer, wie der 
Carlyles; er nennt ihn „den klarsten, 
breitesten, heilsamsten Denker der Neu¬ 
zeit". Daneben hat ihm Heine manche 
Anregungen und Ideen gegeben, Heine, 
der so scharf über die Engländer geur¬ 
teilt hat, nach M. Arnold „ein glän¬ 
zender und hervorragender Soldat im 
Freiheitskriege der Menschheit“ und 
„der bedeutendste Nachfolger Goethes 
auf seinem bedeutendsten Tätigkeits¬ 
gebiete“. Im übrigen kann es keinen 
größeren Gegensatz geben, als er be¬ 
steht zwischen Carlyle und M. Arnold. 
Jener, der Sohn der schottischen Heide 
und des schottischen strengen Kalvinis¬ 
mus, tritt wie ein Prophet auf und mahnt 
mit Worten voll Feuer und Kraft zur 
Buße und Einkehr, dieser, der Sohn 
eines bedeutenden gelehrten Vaters, des 
verdienstvollen Rektors von Rugby, ein 
feinsinniger Dichter und Meister nach¬ 
empfindender scharfsinniger Kritik — 
er hatte zuerst den Ehrgeiz, der eng¬ 
lische Sainte-Beuve zu werden — sucht, 
indem er von literarischen Gegenstän¬ 
den zu religiösen, politischen und so¬ 
zialen Fragen übergeht, nicht mit don¬ 
nernder Scheltrede, sondern durch 
ruhige Überredung und Milde auf seine 
Leser zu wirken. Deshalb ist sein un¬ 
mittelbarer Einfluß auch weit geringer 
gewesen als der des Propheten von 
Ecclefechan. Dagegen hat er mittelbar, 
indem er gleichgestimmte Geister an¬ 
regte, einen um so nachhaltigeren Ein¬ 
fluß ausgeübt Wir begegnen seinen 
Ideen sehr oft in der englischen Lite¬ 
ratur der allemeuesten Zeit 
Arnolds Gesellschaftskritik findet sich 
gelegentlich in seinen Gedichten und 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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Prosaschriften — ich erinnere besonders 
an sein Gedicht „Heines Grab“, das die 
oft zitierten, berühmten Verse über Eng¬ 
land, „den müden Titanen“, enthält, der 
unter der atlantischen Last seines 
Schicksals einherstolpert 8 ) —, im Zu¬ 
sammenhänge aber in einem eigenarti¬ 
gen und merkwürdigerweise wenig be¬ 
kannten und nie neugedruckten Buche, 
das in nicht sehr ansprechender Form 

— daher wohl sein geringer Erfolg 

— wohl die gründlichste und 
scharfsinnigste Kritik des Eng- 
ländertums darstellt, die wir, wenig¬ 
stens von einem Engländer, besitzen. Es 
heißt „Kultur und Anarchie“ und 
erschien im Jahre 1869, als der alte man- 
chesterliche Liberalismus, der Glaube an 
die Segnungen unbedingter Freiheit im 
politischen wie wirtschaftlichen Leben, 
in England auf seiner Höhe stand. Dö¬ 
ing as one likes, „Tun, wie man 
will“, so definiert Arnold die hochgeprie¬ 
sene persönliche Freiheit, die im Grunde 
nichts anderes sei als das Vorrecht jedes 
einzelnen, nach seinem eigenen Willen 
oder dem seiner Klasse zu handeln, und 
die über diesem zufälligen Selbst kein 
höheres, besseres Selbst im Staate an¬ 
erkenne, sondern im Gegenteil den Staat 
mit sich und seiner jeweiligen Klasse 
gleichsetze. Die drei Klassen aber, in die 
das englische Volk zerfällt, charakteri¬ 
siert er mit rücksichtsloser Schärfe des 
Urteils als Barbaren, Philister und Pöbel. 
Barbaren sind die Aristokraten, die 
zwar den Sport, die Ausbildung des 
Körpers, hochschätzen und äußerlich 
feine Formen, aber keinen Sinn für gei- 

8) Die bekannten Verse lauten: Yes, we 
arraign her! but she — The weary Titan, 
with dea! — Ears and Iabour — dimmed eyes 

— Regarding neither to right — Nor left, 
goes passively by—Staggering on to her goal. 

— Bearing on shoulders immense — Atlan- 
tean, the load, — Wellnigh not to be borne, 

— Of the too vast orb of her late. 


stige Dinge haben. Als Philister be¬ 
zeichnet er mit einem Heine entlehn¬ 
ten Ausdruck die große Mittelklasse 
und definiert sie, auf den Ursprung des 
Wortes zurückgehend, als hartnäckige 
Gegner der Kinder des Lichts, Feinde 
der Ideen und allein glaubend an me¬ 
chanische Methoden zur Erreichung 
äußerlicher Ziele. Pöbel nennt er end¬ 
lich — sehr undemokratisch—die Arbei¬ 
terklasse, die in Armut und Roheit da¬ 
hinlebe mit dem einzigen Vorrecht zu 
tun, was sie wolle, ohne doch zu 
wissen, was sie wolle. Allen aber ist 
nach Arnold gemeinsam eine besondere 
Form des Atheismus, nämlich der 
Unglaube an die Macht der Vernunft 
des besseren Selbst und gewissermaßen 
als Ergänzung, Korrelat dieses Unglau¬ 
bens, ein Quietismus, d. h. die An¬ 
sicht daß das Richtige von selbst zur 
Geltung komme, sich durchsetze durch 
den Zusammenstoß und die Wechsel¬ 
wirkung der Äußerungen unserer ge¬ 
wöhnlichen Natur. Daß dies aber keines¬ 
wegs der Fall ist zeigt Arnold auf dem 
Gebiete, auf dem er Fachmann war — 
er war Schulinspektor und hat viel für 
die Entwicklung des englischen Schul¬ 
wesens getan —, indem er die englischen 
Unterrichtsmethoden und -erfolge mit 
den preußischen vergleicht. So kommt 
Arnold zu dem Schlüsse, daß die Eng¬ 
länder wohl die äußere persönliche Frei¬ 
heit besitzen, aber nicht innerlich 
frei sind. Sie betrachten die Dinge 
eben allein vom praktischen Stand¬ 
punkte, sehen nur auf den unmittelbaren 
Nutzen und erreichen daher auch nur, 
was sich auf diesem Wege erreichen 
läßt Er zitiert einmal einen Ausspruch 
Goethes, der diese Eigenschaft treffend 
charakterisiert: „Alle Engländer sind als 
solche ohne eigentliche Reflexion; die 
Zerstreuung und der Parteigeist lassen 
sie zu keiner ruhigen Ausbildung kom- 


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men. Aber sie sind groß als praktische 
Menschen“ (Oespr. mit Eckermann, 
24. 6. 1825). — Ein Heilmittel für diesen 
kurzsichtigen Geist ist nach Arnold das 
Streben nach „Kultur“. Als Methode, 
diese zu erreichen, empfiehlt er mit einem 
von ihm geprägten Scherzworte, das 
Swifts „Bücherschlacht“ entlehnt ist, 
„Süßigkeit und Licht“, Süßigkeit (sweet- 
ness) im Gegensätze zu der Schärfe, Bit¬ 
terkeit und Brutalität des Parteikamp¬ 
fes, und „Licht“, d. h. Geist, Intelligenz, 
um die Enge und Dunkelheit des Lebens 
zu erhellen. Kultur aber ist, wie Arnold 
sie definiert, Bildung im weitesten Sinne 
des Wortes, d. h. das Streben, über die 
Dinge, die uns angehen, das Beste, was 
in der Welt gesagt oder gedacht worden 
ist, zu wissen und durch dieses Wissen 
Leben und Denken zu befruchten, die 
Dinge nicht mehr bloß vom Standpunkte 
des praktischen Nutzens und durch die 
Parteibrille zu betrachten, sondern von 
der hohen Warte der Vernunft, der Idee. 
Arnold bezeichnet dies auch als „hel- 
lenisieren“, indem er, wiederum im An¬ 
schlüsse an Heinesche Ideen, dem „Hel¬ 
lenismus“, der die Ausbildung aller 
Kräfte des Menschen lehrt, den „Hebra- 
ismus“ gegenüberstellt, der nur das Mo¬ 
ralische gelten läßt. Vertreter der letz¬ 
teren Richtung sind nach ihm die Puri¬ 
taner und ihre Nachfolger, die frommen 
Sekten der Methodisten, Baptisten usw., 
und ihrer Enge und Beschränktheit gilt 
besonders sein Kampf, wie der so man¬ 
cher der besten englischen Schriftsteller 
der Neuzeit. 

IV. 

Die allemeueste Literatur, die der 
Schriftsteller der Gegenwart, ist natür¬ 
lich in beträchtlichem Maße ein Ver¬ 
such nationaler Selbsterkenntnis, Kritik 
und bewußte Selbstbespiegelung des 
eigenen Volkstums. Daß diese oft zur 
Selbstverherrlichung wird, kann im 


Zeitalter des englischen Imperialismus 
nicht überraschen. Patriotischer Stolz 
durchglüht die Abenteuerromane Ro¬ 
bert Louis Stevensons wie die 
Dichtungen von Henry Newbolt und 
William Henly und wird zum einsei¬ 
tigsten, ausschweifendsten Nationalis¬ 
mus bei Rudyard Kipling, in dessen 
Gedichte alle Motive des englischen Na¬ 
tionalstolzes vereinigt und auf die 
Spitze getrieben erscheinen. Ihm ist 
England nicht bloß die welterobernde 
Macht, die Mutter der Nationen, die von 
Gott bestimmte Herrscherin über „die 
freien Meere“, die die niederen Rassen 
zum Lichte führen soll, sondern auch 
das auserwählte Land und Volk im 
Sinne des Puritanismus und des bibli¬ 
schen Judentums. Die verengende Wir¬ 
kung dieses der allgemein menschlichen 
Grundlage entbehrenden Nationalismus 
zeigt sich bei Kipling in den letzten Jah¬ 
ren in einem Erstarren seines Talentes 
und während des Krieges in der unglaub¬ 
lichen Roheit der Äußerungen, durch die 
er sich selbst entehrt hat. 

„Was England braucht, ist nicht Lob¬ 
preisung, sondern Warnung“, sagt ein 
englischer Kritiker bei Gelegenheit einer 
Besprechung Kiplings, und daran hat die 
Literatur, die dem Kriege unmittelbar 
voranging, es keineswegs fehlen lassen. 
Unter den Schriften dieser Art betrach¬ 
ten wir zuerst einige der bedeutendsten 
Produkte des zeitgenössischen Romans, 
der der Tradition des englischen Romans 
von Fielding und Smollett bis zu 
Dickens und Thackeray folgend, das 
englische Volk in seinen verschiede¬ 
nen Schichten darzustellen versucht. 
Unter den Schriftstellern dieser Gattung 
sind die erfolgreichsten Arnold Ben- 
nett, H. G. Wells und John Gals- 
worthy. 

Arnold Bennett hat in seinen 
wirklich guten Romanen — er hat auch 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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dem Sensationsbedürfnisse der Masse 
gedient, wie in „The Grand Babylon 
Hotel“ und ähnlichen Geschichten — 
einen engen Kreis des Lebens mit einer 
Gründlichkeit dargestellt, die an Har- 
dy s Wessex-Romane erinnert. Es ist die 
kleinbürgerliche Gesellschaft in der Hei¬ 
mat des Schriftstellers, dem Töpferei¬ 
bezirk von Nord-Staffordshire, den sog. 
„Potteries“ oder „fünf Städten“. Er 
führt diese vor in ihrem alltäglichen 
Tun und Leiden mit dem feinen psycho¬ 
logischen Verständnis, das der Sym¬ 
pathie entspringt. Seine Kritik ist dis¬ 
kret und zurückhaltend und darum um 
so wirksamer. Die Menschen, die hier 
dahinleben in eintöniger Erwerbsarbeit, 
weder den Tag genießend noch dem Le¬ 
ben einen wirklichen Inhalt und Zweck 
zu geben verstehend, sind der Typus 
jenes Philistertums, welches Arnold be¬ 
kämpft. Es ist eine stickige Luft in die¬ 
sem Milieu, wie in einer dunkeln Woh¬ 
nung hinter einem alten Laden. Geld¬ 
erwerb und Klatsch in der Woche, eine 
aszetisch freudlose Religion und als 
geistige Nahrung Sonntagsschulen und 
Bibelklassen an den langweiligen Sonn¬ 
tagen füllen das Leben aus, aber die 
Menschen fühlen sich wohl in dieser 
dumpfen Atmosphäre und stellen sich 
jedem Versuche, die frische Luft der 
großen Welt und ihrer Kämpfe und 
Ideen in ihre gettoartige Abgeschlos¬ 
senheit hineinzulassen, feindlich gegen¬ 
über. Aus den Anstrengungen der jun¬ 
gen Generation, hinauszugelangen aus 
dieser Enge und Dumpfheit, und den 
Kämpfen, die sich hieraus ergeben und 
die meist mit dem Siege der Alten oder 
höchstens einem Kompromiß endigen, 
entsteht die fast immer sehr eintönige 
und wenig bedeutende Handlung der 
Romane Bennetts. 

H. G. Wells ist vielseitiger, schär¬ 
fer, satirischer als Bennett tritt mehr 


mit seiner Persönlichkeit hervor, will 
nicht bloß Künstler, sondern eine Art 
allgemeiner Volks- und Mensdiheits- 
berater sein. Er hat mit phantastischen 
Romanen im Stile Jules Vemes begon¬ 
nen, die aber mit dem Ausspinnen 
irgendeiner wissenschaftlichen Phanta¬ 
sie die Tendenz verbinden, die Wirklich¬ 
keit gewissermaßen in Verzerrung, wie 
in einem Hohlspiegel, zu zeigen und 
irgendeine Seite derselben durch solche 
Vergrößerung satirisch zu charakterisie¬ 
ren. Aber er hat sich dann auch in 
Büchern wie „Kipps“, „Tono-Bun- 
gay* u. a. der unmittelbaren Darstel¬ 
lung der Wirklichkeit zugewandt. Und 
er schildert das Kleinbürgertum in sei¬ 
ner Enge, seiner geistigen Gebundenheit, 
der Dumpfheit und Einförmigkeit seiner 
Existenz ähnlich wie Bennett, nur in 
einem etwas anderen Milieu, dem der 
kleinen Städte im Südosten von England 
und Londons, und dann natürlich mit 
einer anderen persönlichen Note. Es ist 
eine trübe Welt, in die er uns einführt 
Welch ein Humbug, welch eine Ver¬ 
sündigung an der heranwachsenden 
Menschheit ist die Privatschule, die 
Kipps besucht anspruchsvoll „Caven- 
dish Academy“ genannt — alles Schwin¬ 
del, Reklame, hohler Schein. Wenn sie 
ein Typus vieler Schulen ist auf denen 
das Kleinbürgertum seine Bildung sucht 
— und sie ist es —, so hat England seit 
Dickens’ „Dotheboys Hall“ in „N i c o 1 a s 
Ni ekle by“, abgesehen von der huma¬ 
neren Behandlung, keine Fortschritte ge¬ 
macht Die Schule aber erklärt die Be¬ 
schränktheit und Unwissenheit der brei¬ 
ten Mittelklassen in England, die jedem, 
der dort eine Zeitlang gelebt hat auf¬ 
fällt Hiervon gibt das Bäckerhaus in 
Chatham, wo George Ponderevo, der Er¬ 
zähler von „Tono-Bungay“, Lehrling 
ist, ein Bild. Welch freudloses Hindäm¬ 
mern zwischen harter Arbeit und einer 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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selbstgerechten, lieblosen Religiosität, 
welche Häßlichkeit und erstickende 
Gettoatmosphäre hier in dem freien 
Englandl Fürwahr, man sieht, von wie 
geringem Werte die Freiheit, zu tun, 
was sie wollen, für die ist, die innerlich 
unfrei sind! 9 ) 

Wells hat seine Ideen über Dinge und 
Menschen auch in direkter Form dar- 
gelegt in einer Reihe von Aufsätzen, die 
unter dem Titel „An Englishman 
looks at the world“, „Die Weltan¬ 
schauung eines Engländers“, gesammelt 
sind und ein besonderes Interesse bieten, 
weil sie kurz vor dem jetzigen Kriege 
und zum Teil in Vorahnung desselben 
geschrieben sind. Der Grundgedanke 
dieser Aufsätze, die sich zum Teil mit 
der Zukunft von England beschäftigen, 
ist die Klage über den Mangel an gei¬ 
stiger Regsamkeit in seinem Vaterlande, 
an jener „von Kritik geleiteten Phanta¬ 
sie“, die das Kennzeichen hervorragen¬ 
der Arbeit ist Bezeichnenderweise stellt 
er gerade Deutschland seinen Lands¬ 
leuten als Muster vor. „Wir sind in 
hohem Grade eifersüchtig auf Deutsch¬ 
land, nicht nur, weil die Deutschen zahl¬ 
reicher sind als wir und ein größeres, 
abwechslungsreicheres Land besitzen, 
sondern auch, weil in den letzten hun¬ 
dert Jahren, während wir von Platthei¬ 
ten und Eitelkeit gelebt haben, sie die 
Energie und die Demut gehabt haben, 
ein ausgezeichnetes System der natio¬ 
nalen Erziehung zu entwickeln, in Wis¬ 
senschaft, Kunst und Literatur zu schaf¬ 
fen, eine soziale Organisation aufzu¬ 
bauen und über uns hinauszuklettem 
auf der Stufenleiter der Zivilisation.“ 

Von der höheren englischen Erziehung 
in den vielgerühmten „öffentlichen Schu- 

9) Ober Kipps und Tono-Bungay vgl. 
auch den Aufsatz von Bernard Fehr. „Das 
heutige England im Lichte englischer Litera¬ 
tur“ im Aprilheft 1916 dieser Zeitschrift. 


len“, wie Eton und Harrow, sagt er, daß 
sie nur Philister hervorbringe, engher¬ 
zige, vorurteilsvolle Leute mit nicht 
mehr geistigen Interessen als ein Tisch¬ 
ler und Schreiber, und weshalb? — weil 
die Lehrer selbst Philister ohne Persön¬ 
lichkeit seien, Menschen ohne selbstän¬ 
diges Denken, von denen man nur ver¬ 
lange, daß sie nie einen Gehrock zusam¬ 
men mit einem Filzhut trügen, aus guter 
Familie stammten, nicht an dem Apo¬ 
stolischen Glaubensbekenntnis zweifel¬ 
ten und nie durch sozialistische Meinun¬ 
gen oder sonstige Verstöße gegen die 
Regel Anstoß erregt hätten. Interessant 
ist besonders auch, daß Wells für den be¬ 
vorstehenden Seekrieg statt der Dread¬ 
noughts Unterseeboote, Torpedoboote, 
Torpedozerstörer und Luftschiffe emp¬ 
fiehlt. Hierfür aber, meint er, fehle es 
den Engländern an schöpferischer Fähig¬ 
keit, sie seien in allen geistigen und 
technischen Dingen rückständig und 
überschätzten gutes Betragen, körper¬ 
liche Gesundheit und die gewöhnlichen 
Tugenden der Mittelmäßigkeit. Die Frei¬ 
heit des Engländers ist eben vorzugs¬ 
weise äußerlich; innerlich ist er unfrei, 
gebunden durch die Fessel einer Kon¬ 
vention, die tiefer in das Leben des ein¬ 
zelnen einschneidet und es enger be¬ 
schränkt, als je ein Staatswille es ver¬ 
mag. 

John Galsworthy, auch als Pro¬ 
blemdramatiker erfolgreich, hat in sei¬ 
nen Romanen die sog. „obere Mittel¬ 
klasse“, das Großbürgertum, sich als 
Vorwurf genommen und stellt dies mit 
psychologischer Vertiefung dar. Sein 
erster Roman, „The Man of Proper¬ 
ty“, spielt in London in einer weitver¬ 
zweigten Großkaufmannsfamilie, die als 
Typus der ganzen Gesellschaftsschicht 
hingestellt wird. Ein unerschütterlicher 
starker Egoismus und ein angeborener 
Sinn für Besitz, sowie als Kehrseite die- 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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ser Grundeigenschaften die Abneigung 
und Unfähigkeit, sich irgendeiner Sache, 
Kunst, Wissenschaft, Literatur, dem 
Staatswohle, ganz hinzugeben, eine 
Sache um ihrer selbst willen zu treiben, 
was wir als Vorzug deutscher Art be¬ 
trachten, kurz, sachlich in höherem Sinne 
zu sein — das charakterisiert nach Gals- 
worthy diese Kreise. Sie sind energisch, 
solide, halten fest am Erworbenen und 
eng zusammen, die übrige Welt, beson¬ 
ders die Nichtbesitzenden, schroff ab¬ 
lehnend. Ihr Leben ist im allgemeinen 
streng nach der Konvention geregelt, 
Geschäft und Vergnügen, Ehe und Er¬ 
ziehung, die ganze Existenz von der Ge¬ 
burt bis zum Testament und Tode. 
Manchmal aber kommt es doch anders, 
wie so oft im Leben. Die Liebe führt 
einen Außenseiter, eine stolze, eigen¬ 
willige Künstlernatur, in diese Kreise, 
oder sie reißt ein Mitglied derselben her¬ 
aus, kurz, mischt die Karten des Lebens¬ 
spiels anders, als Konvention und Sitte 
es wollen. Dann entsteht Kampf und 
Leid und auch herbe Tragik. 

Eine andere Studie Galsworthys — 
seine Romane haben die Geschlossenheit 
und Klarheit psychologischer Studien, 
die einen Grundgedanken durchführen 
— „Das Landhaus", hat die Darstel¬ 
lung der ländlichen Grundbesitzer, des 
englischen Junkertums, wie wir sagen 
würden, zum Gegenstände. Die Schilde¬ 
rung atmet feine Ironie und ist von einer 
gewissen Milde durchwärmt, wie ja 
auch die Gesellschaft dieser Land¬ 
besitzer sympathischer ist als das Groß- 
kaufmannstum in den Städten. Auch 
hier beherrscht die Konvention das Le¬ 
ben, aber eine durch unvordenkliche Tra¬ 
dition gefestigte, die nichts außer sich 
kennt und anerkennt Das Glaubens¬ 
bekenntnis des Besitzers des Landhauses 
lautet: „Ich glaube an meinen Vater und 
dessen Vater und seines Vaters Vater, 


die Mehrer und Bewahrer meines Be¬ 
sitzes. Und ich glaube, daß wir das 
Land gemacht haben und es erhalten 
werden, wie es ist Und ich glaube an 
die .öffentlichen Schulen* und besonders 
an die, auf der ich gewesen bin. Und ich 
glaube an diejenigen, die mir gesell¬ 
schaftlich gleichstehen, und an das 
Landhaus, und an die Dinge, wie sie 
sind, in alle Ewigkeit Amen." Ein ehr¬ 
würdiger Edelrost liegt auf dem ganzen 
Leben im Landhaus, der regelmäßigen 
Geschäftigkeit der Tage mit ihren klei¬ 
nen, ruhigen Sorgen und Pflichten, denn 
man betreibt die Landwirtschaft ja nicht 
als Erwerb, sondern als Luxus, da man 
für sein Einkommen nicht darauf ange¬ 
wiesen ist und hat im übrigen irgend¬ 
eine harmlose Liebhaberei, sammelt Vö¬ 
gel, Bilder, Rosen, alte Möbel, Me߬ 
bücher und ähnliches, und ebenso auf 
der feierlichen Ruhe des „Sabbat", an 
dem der Gutsherr mit der Familie zur 
bestimmten Stunde zur Kirche geht sei¬ 
nen Ehrenplatz einnimmt mit Selbst¬ 
bewußtsein den sonntäglichen Bibeltext 
vor seinen Pächtern liest und dann der 
Predigt des Pfarrers zuhört der wie er 
stramm und fest auf dem Boden des Be¬ 
stehenden steht konservativ, intolerant 
gegen alles Neue, energisch, eigensinnig, 
beschränkt und wohlwollend wie er. 
Auch hier stört allerdings die Natur 
durch die Leidenschaft dann und wann 
den regelmäßigen Lauf des Daseins und 
ruft Konflikte hervor, und hartköpfige 
Idealisten, unpoetische Shelleys, der ja 
auch aus solch einem Milieu stammte, 
zerbrechen sich den Kopf an dem Be¬ 
stehenden. Am Ende bleibt aber alles 
immer beim alten; Neues findet nur 
schwer und sehr, sehr allmählich Ein¬ 
gang. 

Galsworthy hat auch versucht seine 
Studien von Stadt und Land zu einem 
Gesamtbilde zu vereinigen in einem Ro- 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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man mit dem bezeichnenden Titel „Die 
Insel-Pharisäer“. Das Buch ist als 
Kunstwerk unerfreulich, eine Reihe loser 
Skizzen, ohne rechte Handlung und in¬ 
teressante Charaktere; die Satire, die 
Tendenz hat wie so oft die Kunst ertötet 
Aber es ist um so interessanter als Do¬ 
kument englischer Selbstkritik. Nach 
Galsworthy ist der Grundcharakter der 
englischen Gesellschaft ein unwahrer 
Konventionalismus, eine äußerliche Kul¬ 
tur von Körperpflege, Sport und Bädern 
unter Verzicht auf jeden inneren Indivi¬ 
dualismus, auf wirkliche Freiheit. Be¬ 
schränktheit und Unduldsamkeit der 
Ansichten und Unselbständigkeit des 
Urteils sind das Kennzeichen der Aka¬ 
demiker und Geistlichen, namentlich wo 
die sexuelle Moral in Frage steht. „Wir 
denken so viel daran, was unsere Mit¬ 
menschen denken, daß wir Oberhaupt 
nicht mehr denken,“ heißt es einmal. 
Zivilisation ist vor allem Selbstbeherr¬ 
schung, nie Leidenschaft, Begeisterung 
oder Aufregung zu zeigen. Und das Hä߬ 
liche und Traurige im Leben sieht man 
eben nicht, weil man es nicht sehen 
wilL So verfließt das Leben dieser 
Glücklichen, dieser Götter der Gesell¬ 
schaft in ungetrübter Heiterkeit, äußer¬ 
lich wenigstens, aber im Wesen ist alles 
unoriginell, nachgemacht, konventionell, 
„keusch, diskret, abgeleitet, praktisch 
und behaglich“, wie die Bilder und die 
Zimmereinrichtungen. Man beschäftigt 
sich wohl auch mit den Armen, besucht 
das Ostende von London und die Hütten 
der Tagelöhner, aber man betreibt das 
wie einen Sport, eine Liebhaberei, und 
wundert sich dann, wie undankbar doch 
die Armen sind. In Wirklichkeit kennt 
man nur sich und seine Klasse, und die 
ganze Moral, eine Art „kultivierter Bru¬ 
talität“, hat die Selbstbehauptung die¬ 
ser Klasse zum Zweck. An die gerühmte 
Kulturmission Englands, wie sie Kipling 


etwa in seinem Gedichte „The white 
man’s bürden“, „Die Aufgabe des 
weißen Mannes“, besingt, glaubt Gals¬ 
worthy nicht. Man kann Nationen 
nicht von außen beglücken, ihnen eine 
fremde Kultur auferlegen: alles, was 
man darüber sagt, ist nur „cant“, Heu¬ 
chelei. — Man sieht, wie die englische 
Selbstgefälligkeit, der Glaube an die 
Überlegenheit alles Englischen, hier an¬ 
gegriffen wird. Galsworthys Bücher, die 
offenbar von M. Arnolds Ideen sehr be¬ 
einflußt sind, sind ein Symptom des Ein¬ 
tritts des englischen nationalen Lebens¬ 
gefühls aus der Periode des Dogmatis¬ 
mus, der unbedingten Selbstbejahung, in 
die der Kritik, des Zweifels. Ein englischer 
Politiker, C. F. G. Masterman, der in 
in einem bekannten Buche über „Die 
Lage von England“ Galsworthy meh¬ 
rere Seiten widmet, meint, daß man eben 
die Dinge nehmen müsse, wie sie seien, 
mit Zweifeln komme man zu nichts, ge¬ 
winne keine Siege, untergrabe nur die 
Energie usf. Das ist alles richtig. Aber 
wenn nun die Erkenntnis doch den Zwei¬ 
fel bringt und den Glauben an die eigene 
Vortrefflichkeit untergräbt, was hilft es 
da, die Augen zu schließen und sich mit 
Unwahrheiten und Halbwahrheiten zu 
täuschen? Das ist die Frage, die Gals¬ 
worthy in seinem ausgezeichneten Buche 
seinen Landsleuten vorlegt. Die Ant¬ 
wort ist inzwischen schon von der Welt¬ 
geschichte sehr deutlich erteilt worden. 

Die eben genannten drei Roman¬ 
schriftsteller, Bennett, Wells, Gals¬ 
worthy, sind Engländer und fühlen sich 
als solche. Es mögen zum Schlüsse noch 
zwei hervorragende Schriftsteller zu 
Worte kommen, die ähnlich wie Swift 
und Goldsmith ihren Standpunkt mehr 
oder weniger außerhalb des englischen 
Volkstums im engeren Sinne nehmen, 
George Meredith und Bernard 
Shaw. 


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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur 


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George Meredith, der Meister des 
psychologischen Romans und, wenn 
auch als Künstler ungleich und oft dun¬ 
kel und schwer verständlich, sicherlich 
der gehaltvollste und tiefste unter den 
Schriftstellern Englands vom Ende des 
19. Jahrhunderts — er ist 1909 gestor¬ 
ben —, war irischer und wallisischer 
Abstammung, wenn auch in England ge¬ 
boren. Er hat, was wohl auch zur Frei¬ 
heit seines Urteils in nationalen Fragen 
beigetragen hat, eine nichtenglische, 
und zwar deutsche Erziehung genossen; 
bis zum 15. Jahre besuchte er die Schule 
der Mährischen BrQder in Neuwied. 
Seine Romane, wie seine Gedichte üben 
scharfe Kritik an dem englischen Volke, 
dem Rangstolze und der Rücksichts¬ 
losigkeit der Aristokratie wie der geisti¬ 
gen Stumpfheit, dem Mangel an Einbil¬ 
dungskraft und dem Materialismus der 
wohlhabenden Mittelklasse. Er zeigt, so 
besonders in seinem einzigen politischen 
Romane, „Beauchamp’s Career“, 
wie in England die Stimmung abwech¬ 
selt zwischen einer satten Selbstzufrie¬ 
denheit und Bewunderung englischen 
Reichtums, Handels, der „wunderbaren 
Presse" und der Verfassung, die als 
„der Gipfel praktischen menschlichen 
Scharfsinns" gepriesen wird, und einer 
würdelosen Panik und Angst vor frem¬ 
der Invasion. Er hat in seinem letzten 
nachgelassenen Werke, „Celt and 
Saxon“ (1910), mit Geist und Scharf¬ 
sinn das Symbol des Engländertums, 
welches Arbuthnot vor 200 Jahren ge¬ 
schaffen hat, die geheiligte Gestalt John 
Bulls, besonders vom Standpunkte des 
idealistisch gestimmten Kelten und 
Dichters angegriffen. Die Gedanken, die 
er hier ausspricht, wären eines näheren 
Eingehens wert Meredith möchte an 
Stelle des feisten John Bull gerne „eine 
prächtige, glutäugige, mütterliche Bri- 
tannia" als Sinnbild Englands sehen. 


Daß aber John Bull heute noch das Feld 
unumstritten behauptet, erklärt sich 
doch wohl daraus, daß er die hervor¬ 
stechendsten Eigenschaften des engli¬ 
schen Volkes, seinen starken Eigenwil¬ 
len und Eigensinn, seinen Mangel an 
Reflexion, von dem ja schon Goethe 
spricht (s. o.), und seine Abneigung 
gegen den Idealismus so treu verkörpert. 
Nur daß die Geschichte, wenn sie einer¬ 
seits der Willenskraft dieses Typus ein 
volles Ausleben geschenkt hat andrer¬ 
seits doch auch die Beschränkungen des¬ 
selben den klügeren Geistern im engli¬ 
schen Volke mehr und mehr deutlich vor 
Augen geführt hat. 

Bernard Shaw ist ein außerordent¬ 
lich freier Geist, einer, der, wie Carlyle 
es ausdrückt, „alle Formeln verschluckt 
hat" (has swallowed all formulas). „Ich 
bin eine Krähe,“ sagt er einmal von sich 
(„Antonius and Cleopatra, Preface“), „die 
hinter vielen Pflügen hergegangen ist. 
Ohne Zweifel komme ich denen außer¬ 
ordentlich gescheit vor, die nicht hun¬ 
grig und neugierig auf den Feldern der 
Philosophie, der Politik und Kunst 
herumgehopst sind." Schopenhauer, 
Nietzsche, Ibsen und Wagner hat er in 
sich aufgenommen, und seine Kritik des 
Lebens, die Soziales und Politisches, das 
Verhältnis der Geschlechter und die mo¬ 
ralische Wertung der Handlungen, Hel¬ 
dentum, Aszetik, Patriotismus, Justiz be¬ 
handelt, ist sehr originell und antikon¬ 
ventionell, antiorthodox, ja oft mit Be¬ 
wußtsein paradox. Besonders dem eng¬ 
lischen Volkstum steht er, der englische 
Schriftsteller irischer Abkunft, ganz frei 
gegenüber. „Ich betrachte niemals einen 
Engländer als meinen Landsmann," sagt 
er von sich in der Vorrede zu dem 
Drama „John Bulls andere Insel" 
(1904), das die nationale Frage behan¬ 
delt. Allerdings faßt er zum Unter¬ 
schiede von Meredith die Verschieden- 


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heit von Engländertum und Irländertum 
nicht als eine der Rasse auf. „Es gibt 
keine irische Rasse,“ meint er, „so wenig, 
wie es eine englische oder Yankee-Rasse 
gibt“ Vielmehr drückt nach ihm das 
irische Klima jedem Einwohner des Lan¬ 
des sofort sein Gepräge auf, und dieses 
natürliche Klima wird durch das künst¬ 
liche wirtschaftliche verstärkt Wenn er 
sich einen Iren nennt so versteht er 
darunter einen, der die Sprache Swifts 
spricht und nicht „das unsägliche Kau¬ 
derwelsch der Londoner Zeitungen um 
die Mitte des 19. Jahrhunderts.“ Die 
sog. „gälische Bewegung“, die sich an 
Yeats, Synge und George Moore knüpft 
und die fast ausgestorbene irische 
Sprache wieder auferwecken will, hält 
er für eine bloße romantische Spie¬ 
lerei. 

Seine Gegenüberstellung des Iren und 
Engländers in der 1906 verfaßten Vor¬ 
rede zu dem genannten Drama — seine 
Vorreden sind bekanntlich literarisch 
nicht weniger von Bedeutung als die 
Dramen selbst — erscheint außerordent¬ 
lich paradox . „Der Engländer“, sagt er, 
„ist vollständig im Banne seiner Einbil¬ 
dungskraft, da er keinen Sinn für die 
Realitäten des Lebens hat, der Ire mit 
einer viel feineren und wählerischeren 
Einbildungskraft hat immer auch ein 
Auge auf die Dinge, wie sie sind, gerich¬ 
tet“ Er illustriert diese paradox erschei¬ 
nende Behauptung in noch paradoxerer 
Weise durch die Gegenüberstellung 
der Darstellung des britischen Sol¬ 
daten in Thomas Moores idealisiertem 
„Jungen Spielmann" („The minstrel- 
boy to the war is gone“) und in Kip¬ 
lings „quasi-realistischen“ „Drei Solda¬ 
ten“. Und doch liegt in dieser Para¬ 
doxie etwas Richtiges, insofern als die 
Idealisierung der inneren Wahrheit der 
Dinge näher kommt als die realistische 
Kunst die sie in den Zufälligkeiten 


ihrer äußeren Erscheinung abzukonter- 
feien versucht. Ist nicht z. B. Schillers 
„Jungfrau von Orleans“ trotz der Verge¬ 
waltigung des überlieferten Historischen 
eine innerlich wahre Gestalt? Shaw fin¬ 
det denselben nationalen Unterschied in 
dem Charakter zweier nationaler Hel¬ 
den. des Irländers Wellington und des 
Engländers Nelson, welch letzteren er 
einen Theaterhelden nennt der von 
Ruhmsucht und Patriotismus berauscht 
und voll von englischem Vorurteil sei. 
Geistige Trägheit ist nach ihm die cha¬ 
rakteristische Eigenschaft des Englän¬ 
ders; Willenskraft Energie erscheint 
diesem als die Hauptsache im Leben, 
während er der Intelligenz mißtraut und 
sentimentale Dummheit bewundert. Den 
Grund für diese „englische Dummheit" 
sieht Shaw in der begünstigten Lage 
Englands, die den Engländern gestatte, 
sich im Vertrauen auf ihre Macht und 
ihr Geld mit Schein und Rhetorik zu be¬ 
gnügen, während der Ire darauf ange¬ 
wiesen sei, mit den Waffen des Geistes 
gegen „das langsame Gewissen“ und die 
„schnellen Angstanfälle“ John Bulls zu 
kämpfen. Nach dieser schneidenden 
Charakteristik gibt Shaw noch ein akten¬ 
mäßig belegtes Beispiel der Methoden 
englischer Völkerbeglückung aus der 
Verwaltung Lord Cromers in Ägypten, 
„die Schrecken von Denshawai“, wel¬ 
ches zeigt, wie die Engländer im angeb¬ 
lichen Interesse der Ordnung unterwor¬ 
fene Völker mit Brutalität und despoti¬ 
scher Willkür tyrannisieren. 

Und nun zu dem Drama selbst. Zwei 
Zivilingenieure, die Besitzer eines gut¬ 
gehenden Geschäftes, Lorenz Doyle, ein 
Ire, und Thomas Broadbent, ein Englän¬ 
der, reisen geschäftlich nach Irland in 
die Heimat Doyles, das stille Örtchen 
Roscullen, das dieser seit 18 Jahren nicht 
gesehen hat, und in dem sein Vater noch 
lebt und die Jugendgeliebte, die „Erbin“ 


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des Orts mit 50 Pfund Sterling Einkom¬ 
men, auf ihn wartet Wir lernen die 
Haupttypen in dem irischen Städtchen 
kennen, das abergläubische, unwissende 
niedere Volk, kleine Bauern, die ein Le¬ 
ben harter Arbeit und mannigfacher 
Unterdrückung eng und zähe gemacht 
hat, den Priester, der klug alle be¬ 
herrscht und leitet die Ortshonoratio¬ 
ren, die in stolzer Dürftigkeit ein ein¬ 
töniges Leben verbringen, und als Typus 
irischer Träumerei einen exkommuni¬ 
zierten Priester, der, eine Art Franziscus 
von Assisi, sich eins fühlt mit aller Krea¬ 
tur, in idealen Träumen dahinlebt und 
unter der Maske einer angenommenen 
Verrücktheit den Leuten bittere Wahr¬ 
heiten sagt. In dieses Örtchen mit sei¬ 
nem ereignislosen Traumleben, dessen 
Symbol ein alter verfallener Turm ist 
kommt der energische Engländer hinein, 
wie ein rasendes Automobil in die wack¬ 
ligen kleinen Hütten eines Dörfchens. 
Und merkwürdig: obgleich er nichts wie 
hohle Phrasen vorbringt und keine Spur 
von Verständnis für Land und Leute 
zeigt ja sich nach Möglichkeit lächer¬ 
lich macht gewinnt er die schüchtern¬ 
stolze Jugendgeliebte Doyles zur Frau, 
wird als Parlamentskandidat aufgestellt 
und legt die Grundlagen zu einem Plane, 
das abgelegene Örtchen zu einem Mittel¬ 
punkte des Fremdenverkehrs zu machen 
mit einem lärmenden Hotel und dem 
unentbehrlichen Golfspielplatze für das 
Wodienende der Londoner. So werden 
Fortschritt und Geschäft in das traum¬ 
verlorene Städtchen einziehen, wobei 
allerdings die kleinen Existenzen, die bis 
dahin zufrieden dahingelebt haben, mit¬ 
leidlos geopfert werden. „Die englische 
Dummheit“ und der englische Wille 
haben wieder einmal gesiegt, nicht ohne 
die Segnung der hochtönenden morali¬ 
schen Phrase. „Ich fühle jetzt mehr als 
je zuvor, daß ich recht daran tue, mein 


Leben der Sache Irlands zu weihen. 
Kommen Sie und helfen Sie mir, den 
Platz für das Hotel zu wählen!“ — mit 
diesen Worten Broadbents, die in epi¬ 
grammatischer Schärfe jene eigentüm¬ 
liche Mischung von Geschäft und Hu¬ 
manität, wirklichem Mammonsdienst 
und einer unverbindlichen Verbeugung 
vor den Idealen kennzeichnen, welche 
das Engländertum ausmacht, endet das 
Drama. 

V. 

Mit den beiden Äußerungen von 
Meredith und Shaw, die uns bis an die 
Schwelle des Weltkrieges führen, schlie¬ 
ßen wir unsere Betrachtung. Über¬ 
blicken wir noch einmal den von Shake¬ 
speare bis Shaw durchlaufenen Weg. 
Die kraftvolle innere Selbstbejahung des 
englischen Volkes, die ihre Nahrung aus 
Quellen der äußeren Macht wie des inne¬ 
ren Wohlergehens, der Größe des Staa¬ 
tes und der Freiheit des einzelnen saugt 
und eine Weihe in dem Bewußtsein einer 
religiösen Auserwähltheit findet, wird 
unter dem Einflüsse der Ideen und Er¬ 
eignisse der Französischen Revolution 
bewußt dogmatisch. Sie sucht für ihr 
besonderes Sein, ihre Auffassung des 
Verhältnisses des einzelnen zu Staat und 
Gesellschaft die Gründe in dem Wesen 
des staatlichen Lebens selbst, dieses 
historisch gewordene und mit vielen Zu¬ 
fälligkeiten behaftete Sein und sein Wer¬ 
den zur Norm und zum Ideal des Staates 
erhebend, darin etwas Natumotwendiges 
sehend. Und sie findet für diesen Glau¬ 
ben nicht bloß in England selbst, son¬ 
dern auch bei fremden Völkern einen 
fruchtbaren Boden. Die Kritik, die geübt 
wird — und es fehlt nicht daran —, rüt¬ 
telt nicht an den Grundlagen dieses 
nationalen Lebensgefühls. Dann aber 
kommt im 19. Jahrhundert der Zweifel, 
angeregt einerseits durch die gesell¬ 
schaftliche Entwicklung unter der Herr- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


510 


Schaft des Industrialismus, andererseits sondern auf einer unbewußten inneren 
besonders durch die Bekanntschaft mit Eigenart, dem Mangel einer im Wesen 
deutschem Idealismus. Und dieser Zwei- und in der ewigen Wahrheit der Dinge 
fei, der immer weiter um sich greift und fest verankerten idealen Grundlage. (Als 
immer tiefer gräbt, findet beredten Aus- „sincere cant“, aufrichtige Heuchelei, 
druck in einer politisch-sozialen Litera- bezeichnet dies schon Carlyle.) Und 
tur, deren Spitzen Carlyle und Matthew hier stoßen wir auf den großen Grund- 
Arnold sind, und in der Spiegelung und mangel des Engländertums. Der bei- 
Kritik des Lebens, wie sie in dem Haupt- spiellose, der Gunst der Umstände und 
zweige der produktiven Literatur, dem der nationalen Energie verdankte Fort- 
Roman, geübt wird. Am Schlüsse die- schritt Englands in den letzten Jahrhun- 
ser Entwicklung stehen jene beiden be- derten ist erkauft worden um den Preis 
deutenden Männer aus dem Ausgange des Mangels an jener Innerlichkeit, jener 
des 19. Jahrhunderts, der vor wenigen wirklichen Menschheitskultur, die sich 
Jahren verstorbene Dichter und Psycho- nicht auf praktischen Bedürfnissen, son- 
loge Meredith, der in seinem letzten dem auf den tiefsten und innersten Be- 
Werke das geheiligte Symbol des Eng- dürfnissen des strebenden Menschengei' 
ländertums psychologisch zerpflückt stes aufbaut Die Erkenntnis dieses Man- 
und seine Unzulänglichkeit dartut da- gels bei vielen der geistigen Führer der 
bei den Standpunkt des Kelten einneh- Nation ist gewiß ein Schritt wenn auch 
mend und seine idealistischen Bedürf- nur der erste, auf dem Wege zur Hebung 
nisse vertretend, und der jetzt 60 jährige desselben. Der Zweifel schadet zwar der 
Bemard Shaw, der dem Engländertum Seele, wie Wolfram von Eschenbach 
mit der vollen Unabhängigkeit des Iren sagt aber wo er einem unverzagten 
gegenübersteht. Die Formel, die er für Manne nahe tritt kann dieser doch selig 
das englische Wesen in den letzten Wor- werden. Und was von dem einzelnen 
ten seines Dramas findet, zeigt uns als gilt gilt auch von den Völkern. Ob die 
Kem desselben die Vereinigung eines Erfahrungen des jetzigen großen, durch 
energischen, rücksichtslosen Geschäfts- Englands Mitschuld entfachten Welt¬ 
geistes mit der Pflege der humanitären krieges die dazu nötige Einkehr auch bei 
Phrase, eine Vereinigung, die um so dem englischen Volke bringen werden 
merkwürdiger und fester ist als sie kei- — das ist eine der großen Fragen der 
neswegs auf bewußter Heuchelei beruht Zukunft 

Nachrichten und Mitteilungen. 

Reymont, W. S., Die polnischen Bauern. Exemplare als Rezensionsexemplare ver- 
Berechtigte Obersetzung von Jean Paul sandt habe, das in 84 Zeitungen mit größ- 
d’Ardeschah. 4 Bände. Jena 1912. Eugen ter Anerkennung besprochen sei — im ersten 
Diederichs. Jahre nach dem Erscheinen nur 94 Exem- 

Das vorliegende Buch ist schon einige plare verkauft wurden. Wir seien heute, 
Jahre vor dem Kriege erschienen, ohne daß folgerte er daraus, so abgehetzt und ober¬ 
es in Deutschland Beachtung gefunden flächlich geworden, daß wir uns vor einem 
hätte. Der Verleger ließ kurze Zeit vor dem vierbändigen Roman fQrchten. Insbeson- 
Kriege einen Klageruf hinausgehen Ober die dere hätte auch die ostdeutsche Presse ver- 
Oberflächlichkeit des deutschen Lesepubli- sagt: .ich warte auf sämtliche Blätter in 
kiints, und er begründete ihn damit, daß Breslau, Posen und Königsberg, daß sie 
vom vorliegenden Buch, von dem er 700 ihren Lesern erzählen, ein Werk der Welt- 


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511 


Nachrichten und Mitteilungen 


512 


literatur sei ihnen endlich zugänglich, das 
ihnen das Seelenleben ihrer polnischen Mit¬ 
bürger so nahe bringe, wie es eben nur 
die Kunst tun könne und nicht ein politi¬ 
scher Leitartikel.“ 

In dieser letzten Bemerkung des Ver¬ 
legers liegt viel Wahres, aber man kann 
bezweifeln, daß dieser Appell genützt hätte, 
wenn nicht der Krieg gewaltsam die Auf¬ 
merksamkeit Deutschlands auf Polen hin¬ 
gelenkt hätte. Heute muß man den, der 
das einfache polnische Volk näher kennen 
lernen will, in erster Linie — schon der 
vorzüglichen Übersetzung, aber mehr noch 
des Inhalts wegen — auf das Werk Rey- 
monts hinweisen, und deshalb sei es hier 
nachträglich noch kurz angezeigt. Wtadisiaw 
Stanislaw Reymont (geb. 1868) ist einer der 
besten unter den jüngeren polnischen Ro¬ 
manschriftstellern; mit Vorliebe hat er so¬ 
ziale Stoffe behandelt und sich dabei stets 
auf die Seite des armen Volkes gestellt; 
er ist auch unmittelbar aus dem Bauern¬ 
tum hervorgegangen. Diese Herkunft aus 
dem einfachen Volk und den Zug zu ihm 
teilt er nun ja mit mehreren jüngeren pol¬ 
nischen Dichtern; ich erinnere daran, daß 
sich Männer wie Tetmajer und Rydel so¬ 
gar mit Bauemtöchtem verheirateten; aber 
Reymont zeichnet sich aus durch eine be¬ 
sonders feine Beobachtungsgabe. Das gilt 
namentlich von den „Chtopcy“, den «Bau¬ 
ern“. Es ist ein Volksepos; eine breite, 
aber sprachlich und darstellerisch wunder¬ 
schöne Schilderung des Lebens, Denkens 
und Fühlens der polnischen Bauern im rus¬ 
sischen Anteil, so, wie sie sich meines 
Wissens sonst nirgends findet Es ist viel¬ 
leicht das Meisterstück des Dichters. Die 
„Handlung“ (die Schicksale einer Dorf¬ 
schönen, Jagna, die den Vater heiratet, den 
Sohn liebt und durch ihre Leidenschaftlich¬ 
keit allmählich immer tiefer hinabsinkt) ist 
in den ersten beiden Bänden noch leidlich 
straff; in den beiden letzten verläuft die 
Schilderung typisch slawisch ganz ins Breite. 
Um so mehr tritt der eigentliche Mittel¬ 
punkt des Epos, das ganze Dorf, in den 
Vordergrund, und die Mächte, die das Dorf 
bewegen: das Gefühl enger Zusammenge¬ 
hörigkeit, verbunden mit dem demokrati¬ 
schen Prinzip der Selbsthilfe, das das Dorf 
geschlossen den Kampf mit dem Gutshof 


um seinen Waldbesitz aufnehraen und auch, 
zur Wahrung des Rechts, vor Gewalt nicht 
zurückschrecken läßt; die absolute Natur- 
gebundenheit des polnischen Bauern (die 
Verflechtung der Schilderung in die Jahres¬ 
zeiten gehört zu den größten künstlerischen 
Reizen der Dichtung; namentlich im dritten 
Bande, dem „Frühling“, der „Vorerntezeit“, 
die für den polnischen Bauer immer mit 
Entbehrungen verknüpft ist, tritt das her¬ 
vor, aber auch sonst in vielen Einzelheiten); 
weiter der instinktive Haß gegen die deut¬ 
schen Ansiedler; ferner tauchen in dem 
Roman, der noch vor der großen russischen 
Revolution geschrieben ist, schon Zeichen 
der neuen Zeit auf; bei aller Unterwürfig¬ 
keit finden sich schon politisch-demokrati¬ 
sche Tendenzen und Anfänge von Auf¬ 
sässigkeit, die sich ganz charakteristisch 
gegen die russische Schulpolitik richten: 
bekanntlich sind gerade dadurch die pol¬ 
nischen Bauern im russischen Anteil auf- 
gerüttelt worden. Dies letztere tritt, wie 
gesagt, erst in*den letzten beiden Bänden 
und mehr episodisch hervor. Sonst aber 
schildert das Epos im wesentlichen das 
russisch-polnische Dorf vor der Politisie¬ 
rung, die etwa in den 90er Jahren beginnt, 
mit seinem vegetativen Dahinleben, seinen 
Gewohnheiten, seiner Sinnlichkeit, die 
hauptsächlich in der Gestalt der Jagna 
verkörpert ist, seinen sonstigen Freuden 
(Tanz und Schnaps) und seiner Abhängig¬ 
keit vonjallen Naturereignissen. Das Ganze 
ist ein prächtiges Gemälde von erstaun¬ 
licher Anschaulichkeit und Naturtreue und 
gewährt allerdings einen einzigartigen Ein¬ 
blick in das Seelenleben der polnischen 
Bauern. 

Die Übersetzung ist ausgezeichnet ge¬ 
lungen und in sprachlicher Hinsicht viel¬ 
mehr eine Neudichtung als eine Überset¬ 
zung zu nennen; von der wundervollen 
Sprache Reymonts gibt auch die deutsche 
Übersetzung eine deutliche Vorstellung. 
Außerdem hat der Übersetzer eine gehalt¬ 
volle Einleitung, die gut in das Verständ¬ 
nis der Dichtung einführt, dem Werk vor- 
ausgeschickt. — Möchte die deutsche Über¬ 
setzung während und nach dem Kriege 
die Leser finden, die ihr vor dem Kriege 
versagt geblieben sind. 

Dr. E. Zechlin. 


FOr die SdirlfUeltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W30, LuitpoldstraBe 4. 

Druck von B.O.Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


11. JAHRGANG HEFT 5 1. FEBRUAR 1917 


Die Denkschrift des preußischen Kultusministeriums 
über die Förderung der Auslandsstudien.*) 


Die Aufgaben. 

Die Auslandskunde gehört im Rah¬ 
men der verschiedensten Wissenszweige 
seit Entstehung der modernen Wissen¬ 
schaft zu den Aufgaben der deutschen 
Bildungsstätten, vor allem der Univer¬ 
sitäten. Namen wie Humboldt, Savigny, 
Ranke, Ritter und Bopp sind dessen 
Zeuge. Im Rahmen des Unterrichts trat 
die Berücksichtigung des Auslands 
gegenüber den nationalen Aufgaben 
der Universitäten naturgemäß zurück, 
Kenntnis des Auslands wurde aber bei 
der gerade in Deutschland stets aner¬ 
kannten Unbegrenztheit der Wissen¬ 
schaft von Gelehrten wie Behörden ge¬ 
pflegt Solange Preußen und dann das 
Reich eine kontinentale Großmacht war, 
lag nur ein geringes staatliches Bedürf¬ 
nis vor, diesen Studiengebieten ein ande¬ 
res als wissenschaftliches Interesse ent- 
gegenzubringen. Erst mit dem Hinein¬ 
wachsen Deutschlands in die weltwirt¬ 
schaftlichen und weltpolitischen Zusam¬ 
menhänge rückten die Auslandsstudien 
ans der Sphäre der Wissenschaft ent¬ 
scheidend in die der praktischen staat¬ 
lichen Bedürfnisse. Wie der Staat an 
seinen Universitäten nicht nur Gelehrte, 
sondern namentlich auch Beamte erzo¬ 
gen wissen wollte, brauchte er jetzt 
auch Auslandskundige, und zwar zu¬ 
nächst ein ständig wachsendes Personal 
für den auswärtigen Dienst mit beson- 
derer Vorbi ldung, wie Dragomane und 

*) Haus der Abgeordneten 22. Legislatur¬ 
periode. IV. Session 1916/17. Nr. 388. 


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Kolonialbeamte, dann gut vorgebildete 
Pioniere des Deutschtums im Ausland, 
schließlich immer stärker nicht mehr nur 
binnenländisch, sondern auch weltpo¬ 
litisch gebildete Staatsbürger 
überhaupt 

Mit der Entwicklung der staatlichen 
Bedürfnisse hat die Organisation der 
Auslandsstudien annähernd Schritt ge¬ 
halten. In Geschichte, Geographie, Phi¬ 
lologie, Staats- und Naturwissenschaf¬ 
ten ist die Kunde des Auslands immer 
stärker gepflegt worden, und auch für 
die Ausbildung von Auslandsbeamten 
sind besondere Einrichtungen getroffen. 
Aber immer mehr drängt sich der Ge¬ 
danke auf: Auslandskenntnisse sind bei 
einem Weltvolk nicht nur das Rüstzeug 
für Auslandsbeamte und Auslandsinter¬ 
essenten, sondern ein unentbehrlicher 
Bestandteil der nationalen Bil¬ 
dung. 

Geschichtlicher Rückblick. 

Die besondere Förderung der im 
Staatsinteresse notwendig werdenden 
Schulung für das Ausland beginnt mit 
der Begründung des Seminars für Orien¬ 
talische Sprachen an der Universität 
Berlin im Jahre 1887. Diese wichtige 
Anstalt hat nun schon über 25 Jahre zur 
Zufriedenheit der Behörden und des Pu¬ 
blikums gewirkt Eine große Zahl her¬ 
vorragender Beamter des Auswärtigen 
wie des Kolonialdienstes sind aus ihr 
hervorgegangen. Bei langsamer Erwei¬ 
terung schien das Seminar für Orienta- 

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SNDIANA UNIVERSITY 





i 

Denkschrift aber die Förderung der Auslandsstudien 


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515 


lische Sprachen als „Orientalische und 
Kolonial-Akademie“ berechtigten An¬ 
sprüchen zu genügen. Erst die politi¬ 
schen Ereignisse des neuen Jahrhun¬ 
derts und die immer stärkere Verflech¬ 
tung Deutschlands in die Weltwirtschaft 
stellten die Frage der Auslandsstudien 
auf eine breitere Basis. Die am 1. Mai 
1908 in Kraft tretenden neuen Bestim¬ 
mungen über den Eintritt in den diplo¬ 
matischen Dienst des Reiches und die 
im gleichen Jahre erfolgende Begrün¬ 
dung des Hamburgischen Kolonialinsti¬ 
tuts, dessen Schöpfer den Begriff des 
Kolonialen im weitesten Sinne des Wor¬ 
tes verstanden, sind Zeichen der verän¬ 
derten Sachlage, mit der sich von da ab 
die Öffentlichkeit ohne Unterbrechung 
beschäftigte. Vom Jahre 1913 an be¬ 
gannen auch die Volksvertretungen der 
Frage der Auslandsstudien näherzutre¬ 
ten. Der Reichstag ersuchte den Reichs¬ 
kanzler um Vorlage einer Denkschrift 
über den Ausbau des Seminars für 
Orientalische Sprachen zu einer Deut¬ 
schen Auslandshochschule und hat die¬ 
sen Wunsch im folgenden Jahre wieder¬ 
holt 

In Preußen hatte sich das Kultusmini¬ 
sterium sowohl vom Standpunkt der 
allgemeinen Wissenschaft wie im Inter¬ 
esse einer deutschen Kulturpolitik im 
Ausland und des akademischen Unter¬ 
richts in der Heimat schon lange mit 
dem Gegenstand beschäftigt Hierauf 
gestützt konnte der Kultusminister, als 
es am 24. Februar 1914 auch im Land¬ 
tage zu einer ersten anregungsreichen 
Aussprache über die Auslandsstudien 
kam, bereits zu den verschiedenen Sei¬ 
ten des vielgestaltigen Problems näher 
Stellung nehmen und die leitenden Ge¬ 
danken skizzieren, die in der vorliegen¬ 
den Denkschrift eine nähere Ausfüh¬ 
rung finden. In seinen Darlegungen 
(Protokoll der Budgetkommission des 

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Abgeordnetenhauses, 17. Sitzung) wür¬ 
digte der Kultusminister zunächst die 
Aufgaben der nationalen Kulturpolitik, 
um dann für unser Versagen auf die¬ 
sem Gebiet die binnenländische Orien¬ 
tierung unserer Bildung verantwortlich 
zu machen. „Der Gedanke, in unserem 
akademischen Leben Einrichtungen zu 
schaffen, welche zum gründlichen Stu¬ 
dium des Auslandes Gelegenheit bieten 
und damit die studierende Jugend in 
ganz anderer Weise als bisher auf die 
Beschäftigung mit ausländischen Ein¬ 
richtungen und auf die Betätigung in . 
überseeischen Ländern hinzuweisen, er¬ 
scheine daher voller Beachtung wert.“ 
Es handele sich dabei nicht nur um das 
Studium fremder Sprachen, sondern der 
gesamten fremden Kulturverhältnisse. 
„In solchem Umfange gefaßt, gehe die 
Aufgabe über das Orientalische Semi¬ 
nar, sosehr es sich für die praktische 
Schulung zum unmittelbaren Auslands¬ 
dienst bewährt habe, weit hinaus. Es er¬ 
scheine überhaupt ausgeschlossen, daß 
eine besondere Anstalt als Auslands¬ 
hochschule sie zur Durchführung zu 
bringen vermöchte. Ihre Verwirklichung 
wäre vielmehr im Rahmen unserer Uni¬ 
versitäten zu suchen, die zu allen Zei¬ 
ten Brennpunkte unserer nationalen Bil¬ 
dung gewesen seien.“ Die Frage sei 
aber im einzelnen noch nicht genügend 
geklärt, so daß er sich weitere Prüfung 
Vorbehalten müsse. 

Bei dem Auseinandergehen der Mei¬ 
nungen über die Organisationsfrage wie 
über den Umfang der geforderten Re¬ 
formen war es erforderlich, zunächst 
noch Gutachten von Gelehrten und 
Praktikern einzuziehen und Beratungen 
mit den beteiligten preußischen und 
Reichsressorts einzuleiten. 

Gleichzeitig begannen auch die Fa¬ 
kultäten sich mit der Frage zu beschäf¬ 
tigen, und die Juristische und Philoso- 

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INDIANA UNIVERSITY 






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Denkschrift Ober die Förderung der Auslandsstudien 


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phische Fakultät der Berliner Universi¬ 
tät reichten eingehende Gutachten und 
Anträge ein. Die Arbeit war in vollem 
Fluß, als der Weltkrieg ausbrach und 
mit seinen Erscheinungen die Bedeu¬ 
tung der Frage für Deutschland mit ele¬ 
mentarer Wucht offenbarte. Die Vor¬ 
arbeiten wurden deshalb trotz des Krie¬ 
ges nicht eingestellt, wie auch der Kul¬ 
tusminister in der verstärkten Haus¬ 
haltskommission am 14. März 1916 von 
neuem auf die Frage einging und er¬ 
klärte, daß bei aller Einigkeit über die 
Ziele es noch eingehender Prüfung be¬ 
dürfe, welche Wege man einzuschlagen 
habe. Seitdem ist die Frage nun so weit 
geklärt worden, daß mit dem zur Be¬ 
ratung stehenden Haushaltsplan die 
ersten Anträge zum Ausbau der Aus¬ 
landsstudien dem Landtage vorgelegt 
werden konnten. 

1. Allgemeine Voraussetzungen. 

Die Problemstellung. 

Wie schon der geschichtliche Rück¬ 
blick ergab, handelt es sich bei den Aus¬ 
landsstudien um drei getrennte Aufgaben. 

1. Wissenschaftliche Auslandskunde, 

2. Praktische Schulung von Beamten 
oder Privaten, die ins Ausland 
wollen, 

3. Weckung außenpolitischen Inter¬ 
esses und Verständnisses in der 
Heimat 

Diese drei Aufgaben stehen aber 
nicht nur in historischer Folge hinter¬ 
einander, sondern auch in sachlich 
scharf zu trennender Problemstellung 
nebeneinander. Das Ausland, das schon 
früher Gegenstand der Wissenschaft 
war, ist das natürlich in erhöhtem 
Maße geblieben, daneben aber ist die 
praktische Forderung der Ausbildung 
für das Ausland getreten, und als neue¬ 
stes Ziel ist die Schaffung einer natio¬ 
nalen Auslandsbildung hinzugekommen. 


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Eine Lösung des viel erörterten und oft 
mißverstandenen Auslandsstudienpro¬ 
blems ist nur möglich, wenn diese drei 
Gesichtspunkte gleichmäßig berücksich¬ 
tigt werden. Da die wissenschaftliche 
Auslandskunde sich von selbst verstand 
und das Problem der außenpolitischen 
Vertiefung unserer Gesamtbildung noch 
wenigen aufgegangen war, hat die Frage 
der Auslandsschule bzw. -hoch- 
schule die öffentliche Erörterung be¬ 
herrscht und die ganze Fragestellung 
einseitig beeinflußt 

Ob Aufgabe des Reiches oder der 
Bundesstaaten. 

Die Tatsache der parlamentarischen 
Erörterung der Angelegenheit im Reichs¬ 
tag wie im preußischen Landtag zeigt, 
daß von vornherein keine Klarheit dar¬ 
über bestand, ob die Förderung einer 
besseren Kenntnis des Auslandes zu 
den Aufgaben des Reiches oder der 
Bundesstaaten gehöre. Bei der Bedeu¬ 
tung der Frage für die Reichsinteressen 
und den Reichsdienst schien das Reich, 
bei der sachlichen Verknüpfung der 
Auslandsstudien mit der Wissenschaft 
dem Unterrichts- und Bildungswesen 
schienen die Bundesstaaten zuständig. 
Da die öffentliche Erörterung sich be¬ 
sonders mit der Vorbildung für den 
auswärtigen Dienst beschäftigte, ergab 
sich die Forderung einer Reichsaus¬ 
landshochschule gleichsam von selbst 
In der Diskussion, die im Reichstage 
der oben angezogenen Resolution vor¬ 
anging, wurde ebenso wie in Broschü¬ 
ren und Zeitungsartikeln der Gedanke 
einer Umgestaltung des Seminars für 
Orientalische Sprachen in eine solche 
Reichsanstalt lebhaft befürwortet Nun 
ist das Orientalische Seminar zweifel¬ 
los aus dem Interessenkreis des Rei¬ 
ches heraus geboren und hat diesen In¬ 
teressen seit seinem Bestehen haupt¬ 
sächlich gedient Seine Kosten werden 

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Denkschrift Ober die Forderung der Auslandsstudien 


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zur Hälfte aus Reichsmitteln bestrit¬ 
ten, zur anderen Hälfte aber aus Fonds 
der preußischen Unterrichtsverwaltung, 
die auch die wesentliche organisato¬ 
rische Arbeit im Einverständnis mit 
dem Auswärtigen Amt übernommen hat. 
Es hat sich hier zu beiderseitiger Zu¬ 
friedenheit eine ersprießliche Zusam¬ 
menarbeit entwickelt, die mfn schon 
bald drei Jahrzehnte andauert Die 
Reichsleitung bezeichnet die für den 
Reichsdienst notwendigen Aufgaben 
und beteiligt sich an den Kosten: dafür 
erhält sie eine sachverständige Ausbil¬ 
dung ihrer Beamten. Die preußische 
Unterrichtsverwaltung bearbeitet die 
unterrichtstechnischen Fragen und er¬ 
halt dafür Reichsmittel für ein wichti¬ 
ges Universitätsinstitut Beide Teile 
haben also Nutzen von dieser Verein¬ 
barung und sehen vorerst keine Veran¬ 
lassung, das Verhältnis zu ändern. Rein 
theoretisch klingt es natürlich überzeu¬ 
gend, daß das Reich für seine Aus¬ 
landsbeamten selber sorgen müsse, aber 
dann könnte man mit dem gleichen Recht 
auch die Ausbildung der Inlandsbeam¬ 
ten des Reichsdienstes der Reichslei¬ 
tung zuschieben, was bei dem staats¬ 
rechtlichen Aufbau des Reiches sich von 
selbst verbietet 

Auf Grund der Reichsverfassung ist 
das gesamte Unterrichtswesen den Ein¬ 
zelstaaten Vorbehalten. Um so weniger 
ist ersichtlich, warum gerade auf dem 
Gebiet der Auslandsstudien die sonst 
gültige Praxis durchbrochen werden 
sollte, zumal dem Reich die ausführen¬ 
den Organe für eine solche Neuerung 
fehlen würden. Die Forderung einer 
Übernahme der Fürsorge für die Aus¬ 
landsstudien durch das Reich geht aus¬ 
schließlich von dem Gedanken der Aus¬ 
landsschule als einer in der Reichs¬ 
hauptstadt oder doch jedenfalls an 
einem bestimmten Ort zu errichtenden 


Reichsanstalt aus, berührt damit aber 
nur einen und nicht einmal den wich¬ 
tigsten Punkt des vielgestaltigen Pro¬ 
blems. Es sollen auch Auslandsbeamte 
ausgebildet werden, aber was würde 
eine noch so verschwenderisch ausge¬ 
staltete Auslandshochschule, was wür¬ 
den uns die bestausgebildeten Aus¬ 
landsbeamten nutzen, wenn die deutsche 
Bildung nach wie vor binnenländisch 
orientiert bliebe? Die Erziehung zum 
Weltvolk erfolgt nicht durch Konsuln 
und Diplomaten, sondern durch eine 
den neuen Tatsachen unserer Weltstel¬ 
lung gerecht werdende Erweiterung un¬ 
serer Bildungsinhalte. Gewiß werden 
Fachanstalten wie das Seminar für 
Orientalische Sprachen oder das Ham- 
burgische Kolonialinstitut nie entbehrt 
werden können, und gewiß sind diese 
Anstalten auch des Ausbaus und der 
Verbesserung fähig, aber nur, wenn 
auch unsere akademische Jugend sich 
willig den neuen Aufgaben des Reiches 
anpaßt und sich mit weltpolitischem 
Denken erfüllt, nur dann wird in der 
Heimat der unentbehrliche Resonanz¬ 
boden für die Arbeit der deutschen 
wirtschaftlichen und kulturellen Vor¬ 
kämpfer im Ausland geschaffen. 

Die Ziele der Unterrichtsverwaltung. 

Die Auslandsstudien sind gewiß auch 
für diejenigen da, die sich für eine 
Lebensarbeit in der Fremde ausrüsten 
wollen, aber es kann nicht scharf ge¬ 
nug betont werden, daß die Ziele, die 
sich die Unterrichtsverwaltung steckt, 
sehr viel weitere sind. Sie will unserer 
Bildung, die bisher allzu einseitig lite¬ 
rarisch-historisch-ästhetisch gerichtet 
ist, eine neue Note hinzufügen. Der 
Krieg hat auch die, die es noch nicht 
wußten, darüber aufgeklärt, wie er¬ 
schreckend unsere Unkenntnis des aus¬ 
ländischen Denkens gewesen ist, wie 


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Denkschrift Ober die Forderung der Auslandsstudien 


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bitter not uns ein staatswissen¬ 
schaftliches Verstehen der Ge¬ 
genwart tut. Gerade diejenigen, die 
niemals die Grenzen des Deutschen Rei¬ 
ches Qberschreiten werden, die aber die 
Masse der Bildungsschicht ausmachen, 
müssen den mangelnden Augenschein 
durch Studium ersetzen. Die junge Ju¬ 
ristengeneration, die dem Staat die 
künftigen Beamten stellen soll, die an¬ 
gehenden Oberlehrer, die unsere Bil¬ 
dungsideale in die Jugend der Zukunft 
pflanzen sollen, sie müssen es in ihren 
eindrucksreichsten Jahren erfahren, daß 
die Ideen von Weimar und die Zucht 
von Potsdam zwar auch weiterhin die 
Grundlagen unserer Kultur bilden sol¬ 
len, daß aber das neue Deutschland 
auch andere Aufgaben zu erfüllen hat 
als literarisch-künstlerische Bildung zu 
pflegen und pflichttreue Staatsdiener 
und tapfere Soldaten zu erziehen. Unser 
Feld ist die Welt Jeder Akademiker 
muß es als eine Ehrenpflicht ansehen, 
sich staatswissenschaftlich, sei es wirt¬ 
schaftlich, rechtlich oder politisch, zu 
belehren und innerlich zu den großen 
Problemen der Weltpolitik und Welt¬ 
wirtschaft Stellung zu nehmen. Da¬ 
bei ist es natürlich unmöglich, jeden 
einzelnen in alle fremden Gebiete ein¬ 
zuführen. Wer aber einmal etwas tie¬ 
fer in irgendeinen ganz andersartigen 
Kulturkreis eingedrungen ist der geht 
mit anderen Maßstäben an die Betrach¬ 
tung der Weltzusammenhänge; er wird 
auch ein ganz anderes Verständnis 
haben für die Auslandsnachrichten sei¬ 
ner Zeitungen. Das politische Denken 
muß geschult der junge Deutsche muß 
politisiert werden. Nicht als ob man 
ihn einsdiwören wollte auf gewisse 
Parteidogmen, nein, er soll gerade 
durch die Beschäftigung mit dem Aus¬ 
land, durch das Verständnis für die 
Weltstellung und die Weltaufgaben 


Deutschlands hinausgeführt werden 
über die Fragestellung der heimi¬ 
schen Parteipolitik. Die auch während 
des Krieges hervorgetretene Beurteilung 
außenpolitischer Fragen nach innenpo¬ 
litischen Gesichtspunkten kann nur über¬ 
wunden werden, wenn eine gediegene 
staatswissenschaftliche Bildung in be¬ 
zug auf das Ausland als Ziel unserer 
nationalen Bildungspolitik klar erkannt 
und energisch erstrebt wird. Als selbst¬ 
verständliche Folgeerscheinung wird 
dann auch der Auslandsinteressent bes¬ 
sere Bildungsmöglichkeiten erhalten, 
und die Deutschen im Ausland werden 
in der Heimat mehr Verständnis und 
mehr Förderung finden. Dann wird auch 
eine deutsche Kulturpolitik im Ausland 
im größeren Maße möglich werden als 
bisher. Mit Sonderinstitutionen ist hier 
nichts zu erreichen, wenn nicht das Bil¬ 
dungsideal eines ganzen Volkes da¬ 
hintersteht Das erzieht man aber nicht 
auf Auslandsfachschulen, sondern nur 
dadurch, daß man den Auslandsstudien 
ihren organischen Platz gibt im leben¬ 
digen Fluß unseres akademischen Le¬ 
bens. 

Von diesem Gesichtspunkte aus ist 
nicht nur der Gedanke einer Reichsan¬ 
stalt, sondern auch der einer einzigen 
großen an einem Ort gelegenen Hoch¬ 
schule für Auslandsstudien überhaupt 
abzulehnen, da davon doch immer nur 
ein paar hundert Bevorzugte Nutzen 
haben könnten. Die Aufgabe ist viel 
größer. Sie muß an allen Stellen, wo 
unsere akademische Jugend ihre Bil¬ 
dung erwirbt einer Lösung entgegen¬ 
geführt werden. Nicht Zentralisation, 
sondern Dezentralisation muß die Lo¬ 
sung sein. Damit scheidet eine Mitwir¬ 
kung des Reiches auf anderem als auf 
ideellem und etwa finanziellem Gebiet 
von vornherein aus. Ideelle Förderung 
und im Falle der Ausbildung von 


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Denkschrift Aber die Förderung der Auslandsstudien 


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Reichsbeamten auch finanzielle Unter¬ 
stützung von seiten des Reiches ist na¬ 
türlich höchst willkommen, bisher schon 
geleistet und wohl auch in Zukunft zu 
erwarten. 

Wie die verschiedenen Bundesstaa¬ 
ten die Aufgabe lösen wollen, ob sie 
mehr die wissenschaftliche Arbeit oder 
die Beamten- und Interessentenschu¬ 
lung oder endlich die allgemeine poli¬ 
tische Erziehung ins Auge fassen, muß 
dem Ermessen der einzelnen Regierun¬ 
gen überlassen bleiben, wenn auch eine 
Verständigung zwischen den Hochschul¬ 
staaten selbstverständlich erscheint und 
schon begonnen hat Für Preußen kann 
es sich nur darum handeln, alle drei 
Seiten der Aufgabe zu pflegen, am 
wichtigsten und dringlichsten aber er¬ 
scheint die Hebung unserer außenpoli¬ 
tischen Bildung, da für dieses Gebiet 
bisher weniger getan wurde als für 
Wissenschaft und Fachschulung. Hier¬ 
für ist auch innerhalb Preußens weit¬ 
gehende Dezentralisierung unerläßlich. 

Die Erörterung der Auslandshoch¬ 
schule oder Völkerrechtsakademie oder 
wie man die Anstalt sonst in der Öffent¬ 
lichkeit charakterisiert hat hat den Ge¬ 
danken großgezogen, daß eine bessere 
Kenntnis des Auslands nur durch eine 
Einrichtung im Stil des Seminars für 
Orientalische Sprachen, das aber noch 
nach der Realienseite mannigfach aus¬ 
gebaut werden müßten also nur durch 
eine kostspielige Spezialanstalt erreicht 
werden könnte. Wenn nun die Aus¬ 
landsstudien an allen Hochschulen be¬ 
trieben werden sollen, könnte man die 
Gründung zahlreicher Auslandsinstitute 
befürchten, für die bei der jetzigen Zeit¬ 
lage die Mittel einfach nicht aufgebracht 
werden könnten. Deshalb ist es nötig, 
die grundsätzlichen Gedanken der ge¬ 
planten Dezentralisierung kurz darzu¬ 
legen. 


Dezentralisierung. 

Überall soll angeknüpft werden an 
das Vorhandene, Ansätze weiter ent¬ 
wickelt und auch das Neue weniger in 
der Form als in der Sache gesucht 
werden. Vor allem wird ein langsames, 
organisches Wachstum erstrebt, ein 
Sichanpassen an die erst allmählich 
entstehenden Bedürfnisse, kein Prunken 
mit weithin sichtbaren Organisations¬ 
formen und vollklingenden Namen, son¬ 
dern eine bewußte Förderung des Wil¬ 
lens zur Sache, ein Suchen und ein Er¬ 
ziehen von sachverständigen Lehrern, 
ein rasches Ergreifen sich bietender 
Lehr- und Lemgelegenheiten. Die Aus¬ 
landsforschung ist ihrem Wesen ent¬ 
sprechend schon jetzt dezentralisiert 
Die Schulung der Auslandsbeamten des 
Reiches erfolgt, soweit Preußen in Be¬ 
tracht kommt nur in Berlin; Änderun¬ 
gen wären hier nur im Einvernehmen 
mit dem Reich möglich und sind, wenn 
überhaupt nötig, jedenfalls zur Zeit 
noch nicht spruchreif. Das Schwer¬ 
gewicht liegt also auf der allgemeinen 
Auslandsbildung. Ihre Pflege kann un¬ 
schwerdezentralisiert werden, und zwar 
in einem doppelten Sinne. Die großen 
allgemeinen Fragen der Zeitgeschichte 
und der Weltwirtschaft müssen in Zu¬ 
kunft überall regelmäßig gelehrt wer¬ 
den, nicht nur in Berlin, schon einfach 
aus dem Grunde, weil die aus den 
Schützengräben heimkehrende akade¬ 
mische Jugend ein Recht darauf hat 
die Ursachen des Krieges wie seine 
weltgeschichtliche Bedeutung m wis¬ 
senschaftlich vertiefter Form vorgetra¬ 
gen zu bekommen. Auf diesem gewal¬ 
tigen Hintergrund wächst dann ganz 
von selbst eine staatswissenschaftliche 
Allgemeinbildung, die dem Deutschen 
dringend not tut Bei diesen Studien 
sollen sich die Vertreter aller Fakultä¬ 
ten zusammenfinden. Es wird nicht 


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Denkschrift Ober die Förderung der Auslandsstudien 


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leicht sein, in den Studienplanen die 
Möglichkeit zu schaffen, daß diese 
staatsbürgerliche Erziehung ihren Platz 
an der Sonne erhalt Es wird hier viel 
von der Einsicht der Vertreter der üb¬ 
lichen Brotstudienfacher und von dem 
guten Willen der Studenten abhangen. 
Ob es nötig sein wird, hiermit Examens¬ 
bestimmungen oder durch Beschneidung 
der oft über Gebühr großen Stunden¬ 
zahl einzelner Vorlesungen einzugrei- 
fen, kann erst der Erfolg der ersten 
Versuche erweisen. Auch hier soll 
nichts übereilt werden. Der Krieg hat 
hoffentlich das Interesse an diesen Fra¬ 
gen derartig geweckt daß es nur der 
Anregung bedarf, dieses neue Gebiet 
dem akademischen Stundenplan ohne 
Schwierigkeiten einzugliedern. 

Sonderaufgaben einzelner Univer¬ 
sitäten. 

Daneben ist eine Dezentralisierung in 
dem Sinne geplant daß an einzelnen 
Hochschulen bestimmte Gebiete der Aus¬ 
landskunde mit besonderem Nachdruck 
gepflegt werden. Dadurch vertieft sich 
die Allgemeinbildung allmählich zur 
Fachbildung. Dabei wird an tüte Tra¬ 
ditionen oder an die von der geographi¬ 
schen Lage gestellten Sonderaufgaben 
anzuknüpfen sein. So ist um nur einige 
Beispiele zu nennen, bei Kiel durch das 
Institut für Seeverkehr und Weltwirt¬ 
schaft der Weg nach Übersee gewiesen, 
so liegt in Bonn durch die Nähe Frank¬ 
reichs und Hollands das Studium des 
romanischen Kulturkreises und des nie¬ 
derländischen nahe, so ist in Königs- 
berg und Breslau die slawische Welt 
für Lehre wie Forschung von besonde¬ 
rem Interesse. Diese Universitäten mü߬ 
ten allmählich zu Mittelpunkten einer 
besonderen Fachausbildung für die von 
ihnen gepflegten Gebiete entwickelt 
werden. Es wird hierbei nicht möglich 
sein, alle Hochschulen gleichmäßig zu 


bedenken. Die Technischen Hochschulen 
eignen sich der Organisation ihres Un¬ 
terrichts nach weniger dazu als dieUni- 
versitäten, wenn sich auch in den all¬ 
gemeinen Abteilungen der Technischen 
Hochschulen Gelegenheit dazu schaffen 
läßt Aber auch bei den Universitäten 
besteht nicht die Absicht sie nach be¬ 
stimmten Gesichtspunkten hin abzu¬ 
stempeln. Es wird versuchsweise be¬ 
gonnen werden, bei einigen bestimmte 
Gebiete in den Vordergrund zu stellen, 
ohne damit ihren Gesamtcharakter 
irgendwie zu beeinträchtigen. Die Aus¬ 
landsstudien bilden doch nur einen be¬ 
scheidenen Teil der wissenschaftlichen 
Gesamtarbeit. 

Berlin. 

Daß die größte preußische Universi¬ 
tät Berlin, keine Sondernote entwickeln 
kann, sondern das Gesamtgebiet der 
Auslandsstudien umfassen muß, ent¬ 
spricht ihrem Wesen und ihren Über¬ 
lieferungen. Dabei wird tunlichst Füh¬ 
lung mit den anderen Hochschulen Ber¬ 
lins zu erstreben sein, um unnötige 
Konkurrenz zu vermeiden. Vorerst ist 
hier nirgends an Änderung bestehender 
Organisationsformen gedacht. Schon 
jetzt besteht ein gemeinsames Vorle¬ 
sungsverzeichnis aller in Berlin gehal¬ 
tenen kolonialwissenschaftlichen Vor¬ 
lesungen, das vom Kultusministerium 
herausgegeben wird. An Stelle nach- 
heriger Zusammenstellung könnte vor¬ 
herige Verabredung treten. Jedenfalls 
soll auch hier wie überall die natürliche 
Entwicklung abgewartet werden. 

Ordnung nach Kulturkreisen. 

Eine Neuerung werden die Auslands¬ 
studien schon durch ihre natürliche 
Fragestellung in der Gruppierung der 
wissenschaftlichen Disziplinen bringen, 
und es ist nicht unmöglich, daß sich 
daraus im Laufe derZeit neue Organisa¬ 
tionsformen entwickeln werden. Wenn 


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527 


Denkschrift Ober die Forderung der Auslandsstudien 


528 


sonst von Fachstudien die Rede ist, so 
denkt man dabei an Jurisprudenz, Phi¬ 
lologie und andere große Berufsgebiete. 
Fachstudien in bezug auf das Ausland 
greifen aber über den Rahmen der Ein¬ 
zeldisziplinen hinaus, und der Spezia¬ 
list für ein bestimmtes Gebiet braucht 
nicht nur philologische, d. h. hier 
sprachliche, sondern auch staatswissen¬ 
schaftliche, historische und geographi¬ 
sche Kenntnisse. Vor allem muß er das 
vielgestaltige Denken und Empfinden, 
die ganze soziologische Struktur des 
betreffenden Landes kennen und ver¬ 
stehen, wenn seine Arbeit einen Sinn 
haben solL Es bereitet sich hier also auf 
einem Sondergebiet der Wissenschaft 
durch ihre Anwendung auf die Praxis 
eine neue Gliederung vor, die den alten 
Wissenschaften nichts nimmt aber zu 
neuen Zusammenfassungen führt die 
im wesentlichen mit gewissen großen 
Kulturkreisen zusammenfallen. Diese 
Neugruppierung spezieller Zweige der 
großen alten Wissensgebiete zu neuen 
Einheiten ist auch sonst zu beobachten 
und zu begrüßen; denn nur so kann 
unsere Wissenschaft davor bewahrt wer¬ 
den, in Spezialstudien zu zerfallen; nur 
so bleibt die notwendige Geschlossen¬ 
heit und Einheitlichkeit unserer Bildung 
erhalten. Einer der Wege zu diesem 
Ziel sind auch die Auslandsstudien, in¬ 
sofern sie das geistige Interesse von 
der einseitigen technischen Handhabung 
des Rüstzeuges zum Broterwerb, sei es 
beim Lehrer, Juristen, Theologen, Arzt, 
Kaufmann oder Techniker, wieder zu 
den großen Zusammenhängen einer na¬ 
tionalen Kultur zurückführen und ge¬ 
rade durch den Kontrast mit dem Aus¬ 
land dem gebildeten Deutschen die 
Werte seiner vaterländischen Kultur 
zum Bewußtsein bringen. 


2. Einzelbegründung der An¬ 
träge. 

BOcherbeschaffung. 

War die grundsätzliche Stellung zum 
Problem der Auslandsstudien einmal 
gewonnen, so ergab sich die Aufgabe, 
durch Stellung bestimmter Anträge die 
Arbeit zu beginnen. Drei Gesichtspunkte 
waren dabei maßgebend. Erstens ge¬ 
hört zu jeder Arbeit das nötige Rüst¬ 
zeug: für die Auslandsstudien sind das 
im wesentlichen Bücher. Es hat sich 
herausgestellt, daß die politische Lite¬ 
ratur über das Ausland, die mit weni¬ 
gen rühmlichen Ausnahmen in fremden 
Sprachen verfaßt ist, auf unseren Uni¬ 
versitätsbibliotheken, ja sogar auf der 
Königlichen Bibliothek, nur ungenügend 
vertreten war. Es erscheint deshalb eine 
Forderung von 30000 Mark zur An¬ 
schaffung ostländischer Literatur, ein 
Gebiet, das besonders große Lücken auf¬ 
wies. Namentlich die durch den Krieg 
und durch Bundesverhältnisse eng mit 
uns verknüpften Länder des Balkans 
und des Orients sollen dabei berück¬ 
sichtigt werden. In diesen Ländern be¬ 
steht kein gut organisierter BuchhandeL 
Es wird deshalb nötig sein, namentlich 
um wichtige ältere Quellenwerke zu be¬ 
schaffen, sachverständige Einkäufer an 
Ort und Stelle zu schicken, wofür ein 
weiterer Posten von 10000 Mark einge¬ 
stellt ist 

Die intensivste Benutzung der Bücher 
erfolgt auf den Fach Seminaren, wo der 
Student tagsüber bei der Arbeit sich 
von den wichtigsten Werken seines Ge¬ 
bietes umgeben sieht und dadurch mit 
der Literatur seines Faches durch den 
Augenschein bekannt wird, ohne sich 
mühselig durch dickbändige Kataloge 
oder volle Bücherzettelkästen hindurch¬ 
arbeiten zu müssen. So liegt dem Land¬ 
tag ein Antrag auf Begründung eines 
Orientalischen Seminars an der Univer- 


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Denkschrift Ober die Forderung der Auslandsstudien 


530 


sitflt Münster vor. Warum gerade Mün¬ 
ster gewühlt wurde, wird unten in 
anderem Zusammenhang dargelegt wer¬ 
den. Schon aus den Etatsposten (ein¬ 
malig 4000, jährlich 500 Mark) ist er¬ 
sichtlich, daß dieses Seminar nach Art 
der üblichen Universitätsseminare und 
nicht als ein großes Institut im Stil des 
Berliner Seminars für Orientalische Spra¬ 
chen gedacht ist 

Lehrauftrage. 

Zweitens schien es notwendig, einen 
größeren Betrag von 50000 Mark an- 
zufordern (Kap. 119, Tit. 13 d), um da¬ 
mit die ersten Versuche zu einer Aus¬ 
gestaltung des Universitatsunterrichts 
in dem oben skizzierten Sinne zu er¬ 
möglichen. Von wenigen gleich zu nen¬ 
nenden Ausnahmen abgesehen, wurde 
auf Begründung fester Stellen verzich¬ 
tet Einmal muß sich die Unterrichts¬ 
verwaltung freie Hand für Versuche 
Vorbehalten; weiter fehlt es an den nö¬ 
tigen Krüften, namentlich während des 
Krieges; endlich wird dauernd ein ge¬ 
wisser Teil dieser Summe zur Befriedi¬ 
gung wechselnder Wünsche verfügbar 
bleiben müssen. Es ist nämlich beab¬ 
sichtigt für bestimmte Fragen Männer 
der Praxis heranzuziehen, sei es aus 
dem Wirtschaftsleben, sei es aus dem 
Außendienst des Reiches. Diese sollen 
in der Form beauftragter Dozenten zu 
Wort kommen, ohne dem Lehrkörper 
der Universitäten eingereiht zu werden. 
Ob sie als Redner für ein ganzes Se¬ 
mester. für einen Kurs oder für einen 
Einzelvortrag gewonnen werden, wird 
von den jeweiligen Bedürfnissen und 
individuellen Möglichkeiten abhängen. 
Soweit tunlich, könnten zu diesen Vor¬ 
lesungen auch weitere Kreise zugelas¬ 
sen werden. Es soll auch der Versuch 
gemacht werden, die Redner zur Druck¬ 
legung ihrer Ausführungen zu veran¬ 
lassen, um so staatlicherseits die Ent¬ 


stehung einer außenpolitischen Litera¬ 
tur in deutscher Sprache zu fördern, an 
der es bisher nahezu gebricht Der 
Posten ist im Ordinarium eingesetzt 
worden, weil es in vielen Fällen nur 
möglich sein wird, Sachverständige zu 
einer literarischen oder pädagogischen 
Beschäftigung mit einer Sonderaufgabe 
zu veranlassen, wenn man ihnen eine 
materielle Entschädigung für längere 
Zeit in Aussicht stellen kann, und um 
dem ganzen Versuch eine gewisse Ste¬ 
tigkeit zu garantieren. Daß einer oder 
der andere dieser Lehraufträge später 
in eine feste Stellung wird umgewan¬ 
delt werden müssen, liegt im Wesen 
der Dinge. Bei dem Mangel an Sach¬ 
verständigen ist auch in Aussicht ge¬ 
nommen, Mittel aus diesem Fonds da¬ 
für zu verwenden, Spezialisten der 
einen Universität Gastvorträge an ande¬ 
ren zu ermöglichen. Es soll eben in 
möglichst freier Form der beste Weg 
zur Erreichung des gesteckten Zieles er¬ 
probt werden. In der Hauptsache wird 
es sich um zweistündige Semestervor¬ 
lesungen handeln, möglichst in Verbin¬ 
dung mit einem Kolloquium oder gar mit 
seminaristischer Arbeit Aus folgenden 
Gebieten sollen Lehraufträge erteilt 
werden: 

1. für spezielle Geographie und Lan¬ 
deskunde einzelner fremder Län¬ 
der mit besonderer Berücksichti¬ 
gung der Wirtschaftsgeographie, 
Vorlesungen, die neben die üb¬ 
lichen geographischen Hauptvor- 
lesungen zu treten haben; 

2. für ausländisches Recht und zwar 
für englisch-amerikanisches, roma¬ 
nisches, nordisches, slawisches, 
orientalisches, chinesisches und ja¬ 
panisches Recht; 

3. für Wirtschaftskunde des Auslan¬ 
des und weltwirtschaftliche Be¬ 
ziehungen überhaupt; 


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Denkschrift Aber die Förderung der Auslandsstudien 


532 


4 für Geschichte, Religions- und Kul¬ 
turgeschichte fremder Völker so¬ 
wie für außenpolitische Zeitge¬ 
schichte. 

Dabei wird nach Möglichkeit, sei es 
in zeitlicher Folge, sei es unter Berück¬ 
sichtigung der Sondernote einer Univer¬ 
sität, versucht werden, jeweils einen 
ganzen Kulturkreis dem Verständnis der 
Studierenden nahezubringen. Hier füh¬ 
ren dann die Vorlesungen von der poli¬ 
tischen Bildung langsam hinüber zu 
ernsteren Fachstudien für einen Lebens¬ 
beruf in dem betreffenden Kulturkreis. 

Feste Stellen. 

An solche Fachstudien ist — und da¬ 
mit wird der dritte Gesichtspunkt be¬ 
rührt — bei der Begründung einzelner 
fester Stellen gedacht Einem Wunsche 
des Herrenhauses folgend (Antrag Hil¬ 
lebrandt vom 5. Mai 1916), ist dabei 
das Schwergewicht zunächst auf den 
uns durch den Krieg besonders nahe¬ 
gerückten Orient gelegt. Es ist ein 
Extraordinariat in Berlin für orienta¬ 
lische Hilfswissenschaften und ein sol¬ 
ches in Münster für Kunde des christ¬ 
lichen Orients beantragt Die Berliner 
Professur soll die bereits bestehenden 
philologischen Professuren der Fried- 
rich-Wilhelms-Universität nach der Rea¬ 
lienseite hin ergänzen, so daß durch Zu¬ 
sammenwirken aller orientalischen Leh¬ 
rer der Universität ein wirklich ge¬ 
schlossenes Bild des islamischen Kul¬ 
turkreises gegeben werden kann. Da 
durch diese Professur wie durch die an 


vielen Universitäten eingerichteten tür¬ 
kischen Kurse für den islamischen 
Orient mancherlei geschieht ist es nur 
billig, auch den christlichen Orient 
zum Gegenstand unserer akademischen 
Arbeit zu machen. Als Ort dafür bot 
sich die Universität Münster. Hier gibt 
es in der Katholisch-Theologischen Fa¬ 
kultät bereits einen Lehrstuhl für Mis¬ 
sionskunde und einen für Religionsge¬ 
schichte. Dazu hatte die Fakultät eine 
Professur für Kunde des christlichen 
Orients angeregt Indem gleichzeitig 
dort in der Philosophischen und Na¬ 
turwissenschaftlichen Fakultät ein Orien¬ 
talisches Seminar begründet wird, sind 
in Münster alle Grundlagen zum Stu¬ 
dium des christlich-orientalischen Kul¬ 
turkreises gegeben, der, in die islami¬ 
sche Welt eingesprengt ein beachtens¬ 
wertes Sonderdasein führt 
Schließlich sind noch Lektorate für 
Bulgarisch in Berlin und für Spanisch 
in Bonn geschaffen. Daß das Bulga¬ 
rische an Deutschlands größter Univer¬ 
sität eine Stätte haben muß, bedarf kei¬ 
ner weiteren Begründung. Die Schaf¬ 
fung eines Lektorates für Spanisch ge¬ 
rade in Bonn hängt mit der traditionel¬ 
len Pflege der romanischen Sprachen in 
Bonn zusammen. Es wurde schon oben 
angedeutet, daß in Bonn in Zukunft der 
ganze romanische Kulturkreis beson¬ 
ders gepflegt werden solL Es sind dort 
neuerdings auch Vorkehrungen zum 
Studium des französischen Rechtes ge¬ 
troffen. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


534 


Die Großmacht 

Deutsche Betrachtungen Ober Ausdruck, Begriff und Wesen. 

Von Paul Herre. 


I. 

Die großen politischen Gegensätze, 
die das Völkerleben beherrschen, lenken 
unsere Blicke immer wieder auf die 
kleine Gruppe überragender Staats* 
wesen, deren Mit- und Gegeneinander 
der geschichtlichen Entwicklung die 
Richtung gibt. Vollends der gegenwär¬ 
tige Weltkampf, der das Dasein fast 
aller Völker bis in die Grundfesten er¬ 
schüttert, enthüllt die ausschlaggebende 
Bedeutung der Großmächte. Sie allein 
sind die Träger des ungeheuren Ringens. 
Die kleinen Staaten, die neben ihnen in 
den Krieg getreten sind, befinden sich 
mehr oder weniger in der Gefolgschaft 
der großen. Ja, nicht nur über das 
Schicksal der mitkämpfenden, sondern 
auch über das der femgebliebenen 
Kleinstaaten entscheidet das Machtwort, 
das die allbestimmenden Großmächte im 
Friedensschluß sprechen werden. Mehr 
denn je wird die zukünftige Gestaltung 
des staatlichen Zusammenlebens von der 
gioßstaathchen Verständigung abhängig 
sein. 

In einer plastischen und eindringen¬ 
den Studie hat uns Rudolf Kjellön, der 
Sohn eines kleinen Volkes, kurz vor 
Ausbruch des Weltkrieges das Wesen 
der heute bestehenden acht Großmächte 
unseres Erdballs dargelegt 1 ) Mit dem 
durch die vaterländische Not geschärf¬ 
ten Blick hat zumal die deutsche Publi¬ 
zistik das von dem Schweden gezeich- 


1) Rudolf K jelien, Die Großmächte der 
Gegenwart. Leipzig u. Berlin 1914. (Das 
schwedische Original werk, aus dem die 
deutsche Ausgabe ein Auszug ist 'erschien 
in 4 Bänden 1911—1913.) 


nete Bild ergänzt und erweitert Dank 
dieser Aufklärungsarbeit stehen die eu¬ 
ropäischen Großmächte England, Frank¬ 
reich, Deutschland, Österreich-Ungarn, 
Rußland und Italien vor uns als die 
großstaatlichen Individualität«!, die auf 
Grund ihrer besonderen natürlichen und 
geschichtlichen Daseinsbedingungen in 
dem ewigen Wettstreit um Herrschaft 
und Machtstellung ihr Lebensinteresse 
betätigen und darüber hinaus vom Wil¬ 
len zu immer größerer Macht sich vor¬ 
wärtstragen lassen. Wir kennen die ame¬ 
rikanische Großmacht der Vereinigten 
Staaten und die asiatische Großmacht 
Japan, die, von dem gleichen Drange er¬ 
füllt, mit der Erweiterung des geschicht¬ 
lichen Schauplatzes, der älteren Genera¬ 
tion zur Seite getreten sind. Wir über¬ 
blicken die geschichtlichen Zusammen¬ 
hänge, innerhalb deren sich das Werden 
und Vergehen der Großmächte bis herab 
auf das gegenwärtige Geschlecht voll¬ 
zogen hat. Wir besitzen von den be¬ 
sonderen Zielen der Großmachtsindivi¬ 
dualitäten, die den heutigen großstaat¬ 
lichen Areopag bilden, eine klare Vor¬ 
stellung und bauen darauf unser politi¬ 
sches Urteil. Wir würdigen ihre geogra¬ 
phischen und ethnischen Grundlagen, 
den Umfang ihrer Machtmittel, die 
Lebenskraft ihres Volkstums, die Festig¬ 
keit ihrer staatlichen Verhältnisse und 
ziehen daraus unsere Schlüsse für die 
weitere Gestaltung des Zusammenlebens 
auf dem Erdball 

Das letzte Wort über die Eigenart der 
großstaatlichen Erscheinung ist indessen 
noch keineswegs gesprochen. Vor allem 
ist es nötig, mehr, als das bisher ge- 


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Paul Herre, Die Großmacht 


536 


schehen ist, die aus der Betrachtung der 
einzelnen Großmächte gewonnenen kon¬ 
kreten Erkenntnisse für das Verständnis 
des Phänomens an sich nutzbar zu 
machen, um so zu weiteren historisch- 
politischen Erkenntnissen fortzuschrei¬ 
ten. Zur Lösung des schwierigen Pro¬ 
blems sollen die nachfolgenden Unter¬ 
suchungen beitragen. Teils selbständig, 
teils den Spuren anderer Forscher fol¬ 
gend, gehen sie im Zusammenhänge den 
Wandlungen nach, die Ausdruck und 
Begriff während der letzten zwei Jahr¬ 
hunderte in der deutschen Beurteilung 
erfahren haben, mit dem Ziele, auf die¬ 
sem Wege dem Verständnis des Wesens 
der Großmacht selbst näherzukommen. 

II. 

Die beiden Wörter, deren Zusammen¬ 
setzung den Ausdrude Großmacht er¬ 
gibt, deuten klar auf die Vorbedingun¬ 
gen seiner Entstehung hin. Zunächst 
spricht daraus die Erkenntnis, die den 
wesentlichen und bleibenden Inhalt der 
Lehre Machiavellis bildet, daß der Staat 
Macht ist Seitdem das aus dem Renais¬ 
sancegeist geborene Buch „vom Fürsten“ 
der Welt das Auge öffnete über das 
wahre Wesen des Staates, hat die Über¬ 
zeugung, daß Selbstsucht und Macht¬ 
wille die eigentlichen Triebkräfte staat¬ 
lichen Daseins bedeuteten, die Staats¬ 
männer und Politiker Europas be¬ 
herrscht und ihre Handlungen bestimmt 
In unzähligen Aussprüchen ist diese An¬ 
schauung für das 16. bis 18. Jahrhundert 
belegt Es ist bezeichnend, daß ein 
Friedrich der Große, der als Kronprinz 
die unsittliche Staatslehre des großen 
Florentiners bekämpfte, als König ihm 
zur Seite trat „Machiavell sagt“ so 
schreibt der Begründer der preußischen 
Großmachtstellung 1 ), „daß eine un- 

2) Politisches Testament von 1752. Aus¬ 
gabe von G. KQntzel S. 47. 


eigennützige Macht inmitten ehrgeiziger 
Mächte unfehlbar endlich zugrunde¬ 
gehen würde; es tut mir leid, aber ich 
bin genötigt einzugestehen, daß Machia¬ 
vell recht hat“ Es war nur die selbst¬ 
verständliche Folge dieser Erkenntnis, 
wenn Staat und Macht schließlich völlig 
gleichgesetzt wurden. Die handeln¬ 
den Staaten wurden schlechthin „die 
Mächte“. Wahrend Machiavell am Be¬ 
ginn der Entwicklung diese Identifizie¬ 
rung noch unbekannt war, wurde mit 
der Ausbildung einer über das euro¬ 
päische Staatensystem sich erstrecken¬ 
den Diplomatie der Ausdrude „Macht“ 
in dem übertragenen Sinne zum festen 
Bestand des politischen Wortschatzes. 

Eben die Gestaltung eines von gleich¬ 
artigen Grundsätzen beherrschten Staa¬ 
tensystems war jedoch die notwendige 
Mitvoraussetzung dieses Entwicklungs¬ 
prozesses. Nicht der auf das Wohl der 
Untertanen bedachte Staat, nicht der 
innerpolitisch tätige Staat hatte An¬ 
spruch auf den Titel „Macht“, sondern 
lediglich der nach außen handelnde 
Staat, der seine Machtmittel außerpoli¬ 
tisch und militärisch in die Wagschale 
warf. 8 ) Daraus ergab sich folgerichtig 
das Weitere. Erst indem die Staaten ri¬ 
valisierend und miteinander sich abfin¬ 
dend in Berührung traten, wurde man 
darauf gewiesen, sie gegeneinander ab¬ 
zuwägen und zu klassifizieren, kleine 
und große Staaten zu unterscheiden. So¬ 
lange nur eine überragende Macht vor¬ 
handen oder solange über zahlreichen 
kleinen Gebilden nur zwei Großstaaten 
nebeneinander standen, die sich das 

3) Demgemäß fällt fQr unsere Betrach¬ 
tung die Frage weg, inwieweit nicht der 
Machtcharakter, sondern der Rechtscharakter 
das entscheidende Merkmal des Staates ist. 
Man sollte bei diesem Problem Oberhaupt 
grundsätzlich die zwei Seiten des Staates 
mehr auseinanderhalten: seine Stellung nach 
außen und seine Einrichtung im Innern. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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Obergewicht streitig machten, fehlte der 
Anstoß zu einer derartigen Gegen* 
Überstellung. Eine Mehrzahl größerer 
Staatswesen, die mit einer Vielheit klei¬ 
nerer Staaten ein organisches Staaten* 
System bildeten, war die notwendige 
Voraussetzung für das Auseinanderhal¬ 
ten der zwei Klassen. 

Aus diesen Vorbedingungen erklärt es 
sich, daß das 16. und 17. Jahrhundert, 
obschon es handelnde „Großmächte“ vor 
Augen hatte, noch nicht den erkennen¬ 
den Blick für sie gewann, denn diese 
überragenden Staaten trugen noch mehr 
oder weniger den Stempel des Univer¬ 
salreiches, das keine gleichwertigen 
Nebenbuhler dulden will Erst mit der 
Niederwerfung der Weltherrschaft Lud¬ 
wigs XIV. gestalteten sich endgültig die 
' Verhältnisse, aus denen die Anschauung 
von der besonderen Art der Großmacht 
emporwuchs. Es ist kein Zufall, daß 
Lord Bolingbroke zum ersten Male den 
Ausdruck „große Mächte“ gebraucht: 
der Führer Englands in der letzten 
Phase des großen Kampfes gegen den 
französischen Universalherrscher, der 
Vater des Utrechter Friedens. In seinen 
„Letters on the study and use of histo- 
ry“, die in geschichtlicher Betrachtung 
aus den Vorgängen der Zeit politische 
Lehren zu sammeln suchen, nennt er 
Frankreich und Österreich „the two 
great powers", deren Gegensatz den In¬ 
halt der gewaltigen Auseinandersetzung 
des 16. und 17. Jahrhunderts bilde. 4 ) 
Der große Einfluß, den das politische 
Lehrbuch des englischen Staatsmanns 
ausübte, führte zusammen mit dem zu¬ 
nehmenden Verständnis für den Charak¬ 
ter des staatlichen Zusammenlebens da¬ 
hin, daß der Ausdruck „große Mächte“ 

4) Ausgabe London 1752, an mehreren 
Stellen des 7. Briefes, wobei „great power“ 
und „principal* power nebeneinander ge¬ 
braucht werden. 

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in der historischen und politischen Lite¬ 
ratur aller Völker im 18. Jahrhundert 
Aufnahme fand. Nicht so freilich, daß 
er schlechthin Geltung gewann. Zumal 
in der Diplomatie beschränkte man sich 
darauf, den Ausdruck „Macht“ vorsich¬ 
tiger anzuwenden, in der Weise, daß 
man ihn allein dem großen Staate vor¬ 
behielt, der im Gegensatz zu den schwä¬ 
cheren darauf Anspruch hatte. Indessen 
dieser Sprachgebrauch beließ offensicht¬ 
liche Unklarheiten der Klassifizierung, 
denen gegenüber der adjektivische Zu¬ 
satz „groß“ von Vorteil war, um so 
mehr, als mancher kleinere Staat nach 
dem erhöhenden Titel verlangte und ihn 
im abmildernden diplomatischen Ver¬ 
kehr auch eingeräumt erhielt 

Maßgebend für die Unterscheidung 
großer und kleiner Mächte war das Stre¬ 
ben, aus der dabei erlangten Erkenntnis 
für die politische Nutzanwendung Ge¬ 
winn zu ziehen. Man vergegenwärtige 
sich, welche Bedeutung ein Erfahrungs¬ 
satz für die politische Anschauung und 
diplomatische Praxis hatte, wie ihn 
Friedrich der Große aufstellte 5 ): „Die 
großen Monarchien gehen ihren Weg 
von selber, trotz der Mißbräuche, und 
halten sich durch ihr Gewicht und ihre 
innerliche Stärke. Die kleinen Staaten 
werden schnell zermalmt wenn nicht 
alles bei ihnen Stärke, Nerv und Lebens¬ 
kraft ist“ Kein Wunder, daß der große 
König auch in bezug auf die Klassifi¬ 
zierung der Staaten zu klaren Feststel¬ 
lungen gelangte. In seiner „Histoire de 
mon temps“, die mit einer Betrachtung 
der europäischen Staatenwelt beginnt 
findet er für das Jahr 1740, daß die „Re¬ 
publik Europas“ aus zwei Gruppen von 
Staaten bestehe. 6 ) Sie ergeben sich ihm 

5) Expose du gouveraement prussien. 
CEuvres Band 9 S. 191. 

6) Fassung von 1746. Publ. aus den preuß. 
Staatsarchiven Band 4 S. 206 ff. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


540 


aus einer Abstufung. Die eine Gruppe 
umfaßt die „puissances“ oder „grandes 
monarchies“, die sich in zwei Untergrup¬ 
pen spalten: Frankreich und England, die 
nach der Weltstellung streben, und Spa¬ 
nien, Holland, Österreich und Preußen, 
die in gewisser Hinsicht von Frankreich 
und England abhängen. Die dritte 
Gruppe setzt sich aus Staaten zusam¬ 
men, die nur mit fremder Unterstützung 
sich bewegen können und ihrerseits 
Europa nicht in Bewegung zu setzen 
vermögen; es sind Sardinien, Dänemark, 
Portugal, Polen und Schweden; auch 
Rußland und die Türkei gehören ihr zu, 
die halbasiatischen Staaten, die nur 
durch Frankreich und England in den 
europäischen Bereich hineingezogen 
werden. 7 ) 

Immer klarer zeigte sich die Rolle, die 
die großen Mächte für die Entwicklung 
des Staatenlebens spielten. Vollends 
seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts 
würdigte man sie in ihrem besonde¬ 
ren Charakter, in ihrem Wirken inner¬ 
halb ihres besonderen Kreises als „Senat 
Europas“ oder als „Aristokratie der eu¬ 
ropäischen Mächte.“ 8 ) Der schließliche 
Ausgang des großen Kampfes gegen die 
Französische Revolution und ihren Er¬ 
ben Napoleon befestigte diese Anschau¬ 
ung, obschon sich die Betrachtung in 
der Zeit der Humanitätsbewegung den 
machtpolitischen Fragen entfremdete. 
Mochte in den Umwälzungen jener Jahr¬ 
zehnte auch das Urteil über den Um¬ 
kreis der großstaatlichen Gruppe aus¬ 
einandergehen und mochte die Auffas¬ 
sung vom Wesen der großen Macht 


7) Eine ähnliche Abstufung der Mächte 
findet sich bereits in den 1738 niederge¬ 
schriebenen .Considärations sur l’ätat prä¬ 
sent du corps politique de l’Europe“. 

8) Diese AusdrQdce werden von den 

Historikern der ersten Jahrzehnte des 19. 

Jahrhunderts häufig angewendet. 


noch schwanken: die Tatsache des Be¬ 
stehens war ein überall geltendes poli¬ 
tisches Axiom, und der Ausdruck „große 
Mächte“ umschrieb nach wie vor die An¬ 
schauung vom Dasein dieser großen 
Staaten. Noch fixierte er sich nicht zu 
dem technischen Wort, das wir heute 
gebrauchen, aber das Bestreben nach 
einer schlagwortmäßigen Prägung läßt 
sich deutlich erkennen; Historiker wie 
Heeren, Rotteck und Schlosser bedien¬ 
ten sich gern des Ausdrucks „Haupt¬ 
mächte“. Zu einer regelmäßigen Hand¬ 
habung des Ausdrucks kam es jedoch 
nicht Selbst Rankes klassisches Frag¬ 
ment vom Jahre 1833 9 ), das uns später 
näher beschäftigen wird, trägt den Titel 
„Die großen Mächte“. Es bedurfte eines 
weiteren Anstoßes, um den Prozeß der 
Gestaltung des Ausdrucks zum Ab¬ 
schluß zu bringen. 

Dieser Anstoß kam aus den besonde¬ 
ren Verhältnissen des deutschen Staats¬ 
lebens nach dem Wiener Kongreß. 

Wir besitzen eine Aufzeichnung des 
Fürsten Metternich aus dem Jahre 1852 
über „die Großmächte“. 10 ) Der große 
Wert den sie für die Geschichte des 
Ausdrucks besitzt, beruht darauf, daß 
sie zum ersten Male das uns heute ge¬ 
läufige Wort bewußt ins Auge faßt 
und über seine Entstehung wichtige Auf¬ 
schlüsse gibt. Metternich berichtet, daß 
er selbst den Ausdruck „Großmacht“ 
nie gebraucht, vielmehr stets bekämpft 
habe. Die Begriffe „Macht“ und „Staat“, 
so meint er, bezeichneten hinreichend 


9) Im zweiten Bande der von Ranke her- 
ausgegebenen »Historisch-politischen Zeit¬ 
schrift*. Wieder abgedruckt in den .Sämt¬ 
lichen Werken* Band 24 und neuerdings in 
diesen Wochen mit einem Vorwort von 
Friedrich Meinecke in der lnselbQcherei 
Nr. 200. Leipzig 1916. 

10) Aus Metternichs nachgelassenen Pa¬ 
pieren. Band 8, S. 558—559. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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den Unterschied der materiellen Kräfte 
politischer Körper, und es beweise die 
Richtigkeit des alten Satzes Oxenstier- 
nas von der parva sapientia: „daß die 
Bezeichnung von Großmächten zuerst 
von den Kabinetten der Staaten des 
zweiten und dritten Ranges ausgegan¬ 
gen ist, und dies in Fällen, in denen sich 
die Regierungen irgendwelchen Ver¬ 
pflichtungen zu entziehen bewogen ge¬ 
funden haben.“ Das zusammengesetzte 
Wort erscheint dem Fürsten geradezu 
gefährlich, weil es auf das moralische 
Feld anspiele und so dem Mißbrauch 
Tür und Tor öffne: „Mißbrauch führt 
zu Anmaßungen auf dem Rechtsgebiete, 
zur Mißachtung der Gleichheit der 
Rechte der selbständigen politischen 
Körper ohne Rücksicht auf die Ausdeh¬ 
nung der Staaten." 

Es kann nach diesem Zeugnis Metter¬ 
nichs keinem Zweifel unterliegen, daß 
der Ausdruck „Großmacht" aus den un¬ 
gesunden Verhältnissen des Deutschen 
Bundes emporgewachsen ist. Die „Mit¬ 
telstaaten", wenn nicht gar die Klein¬ 
staaten, beanspruchten trotz all ihrer 
Machtlosigkeit als „Macht" angesehen 
zu werden. Um aber den Großen sich 
nicht gleichzustellen und diesen den 
Vorrang zu gewähren, den sie aus Grün¬ 
den der Klugheit glaubten anerkennen 
zu müssen, fügten sie im Verkehr mit 
den beiden deutschen Großstaaten, die 
zu den „großen Mächten" Europas zähl¬ 
ten, der „Macht" das schmeichelnde 
„Groß" hinzu. Die Entstehungszeit des 
neuen Ausdrucks wird durch die Nie¬ 
derschrift Metternichs einigermaßen ge¬ 
nau bezeichnet Eine Prüfung der poli¬ 
tischen Äußerungen jener Jahre bestä¬ 
tigt die Richtigkeit dieser zeitlichen An¬ 
setzung. So bediente sich Bismarck in 
seiner bekannten Rede vom 3. Dezem¬ 
ber 1850, die die klassische Formulie¬ 
rung der großstaatlichen Grundlage 

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enthält 11 ), noch nicht des Ausdrucks 
„Großmacht", sondern bezog sich ledig¬ 
lich auf den „großen Staat". Dagegen 
nannte er bereits in seinem Berichte 
vom 15. Februar 1854 an Otto v. Man- 
teuffel 1 *) Österreich und. Preußen „die 
deutschen Großmächte“. Es lag in 
sprachlicher Hinsicht nahe, daß sich zu 
den vielgebrauchten Ausdrücken „Mit¬ 
telstaat“ und „Kleinstaat" das ergän¬ 
zende Kompositum „Großmacht" bil¬ 
dete und einbürgerte. 

Schließlich erfolgte der letzte Schritt 
Das zusammengesetzte Wort „Groß* 
macht", das zunächst nur für den deut¬ 
schen politischen Umkreis Anwendung 
gefunden hatte, gewann auch für den 
weiteren europäischen Bereich die Füh¬ 
lung und verdrängte die nebeneinan¬ 
derstehenden Worte „große Macht" und 
das daneben gebrauchte zusammen¬ 
gesetzte Wort „Hauptmacht". Es wurde 
zu dem technischen Ausdruck, der uns 
heute geläufig ist Schon A.L.v.Rochau 
gebrauchte ihn in seinen „Grundsätzen 
der Realpolitik“ ganz in unserem 
Sinne 13 ), und sein vielbeachtetes Buch, 
das auf die junge Generation deutscher 
Politiker eine große Wirkung ausübte, 
sorgte für eine schnelle Verbreitung 
und Einbürgerung des handlichen" und 
bezeichnenden Wortes. In den 60 er und 
70er Jahren gelangte es zur vollen 
Herrschaft, zumal seitdem man begann, 
sich mit dem Inhalt zu befassen, der 
die Form füllte. Der Theoretiker Hein¬ 
rich v. Treitschke bediente sich des 
Ausdrucks „Großmacht" mit der glei- 
chen Selbs tverständlichkeit wie der 

11) Bismarcks Reden hrsg. von H. Kohl. 
Band 1 S. 264-265. 

12) H. v. Poschinger, Preußen im Bundes¬ 
tag. Teil 4 S. 175. 

13) Teil 1. Erste Auflage, Stuttgart 1853. 
Zweite Auflage 1859. Von der inhaltlichen 
Bedeutung des wichtigen Werkes wird noch 
die Rede sein. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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Praktiker Bismarck. Das allgemeine 
Wort „Macht“, das sich im diplomati¬ 
schen Sprachgebrauch lange Zeit für 
die Großmächte behauptet hatte, trat 
mehr und mehr zurück und ist uns 
heute geradezu ungeläufig geworden. 
Es wird fast nur noch in der Gleich¬ 
setzung mit dem nach außen handeln¬ 
den Staat gebraucht, wobei von dem 
Umfang seiner Machtmittel abgesehen 
wird. 

Indessen gilt dies lediglich für den 
deutschen Sprachgebrauch und bis zu 
einem gewissen Grade für den germa¬ 
nischen. Der aus mehr als einem Worte 
bestehende technische Ausdruck wird 
nur dann leicht zum festen Schlagwort, 
wenn sich seine Bestandteile zu einem 
neuen Worte zusammenschließen. Diese 
kompositale Bildung ist aber nur den 
germanischen Sprachen eigen. Dem¬ 
gemäß ist die Entwicklung des ent¬ 
sprechenden Ausdrucks in den Ländern 
romanischer Zunge anders verlaufen 
als in Deutschland. Allerdings gestal¬ 
tete sich, so sahen wir, auch in Eng¬ 
land 14 ) und Frankreich der Ausdruck 
„große Macht", seitdem das Bewußtsein 
für die besondere Stellung des Gro߬ 
staates erwacht war; „great power“ 
und „grande puissance“ gehören seit 
beinahe zwei Jahrhunderten dem engli¬ 
schen und französischen Wortschatz an. 
Aber zu dem festumgrenzenden Aus¬ 
drude .wie er sich im deutschen Sprach¬ 
gebiet entwickelte, sind sie nicht gewor¬ 
den. Der Franzoseund Engländer hat wie 
der Italiener und Spanier in einem ur¬ 
sprünglicheren Sinne als der Deutsche 
das Grundwort „Macht" lebendig er¬ 
halten und begnügt sich bis auf den 
heutigen Tag, durch die Hinzufügung 
der Adjektive „groß" und „klein" den 

14) Die englische Sprache ist bezOglich 
der Zusammensetzung mehrerer Wörter zu 
den romanischen zu rechnen. 

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Charakter des Staates zu kennzeich¬ 
nen, in der Weise, daß er nur in beson¬ 
deren Fällen diese Hervorhebung an¬ 
wendet. 15 ) Gewöhnlich werden die 
Großmächte nur als „Mächte" behan¬ 
delt, so daß es einen korrespondieren¬ 
den Ausdruck zur deutschen „Gro߬ 
macht" bei den romanischen Völkern 
nicht gibt. Vermutlich werden neben 
den Tendenzen der Sprache die staat¬ 
lichen Verhältnisse dazu mitgewirkt 
haben, daß die Entwicklung des Aus¬ 
drucks in den nichtdeutschen Ländern 
weniger weit ging als auf deutschem 
Boden. Das Fehlen jener politischen 
Zersplitterung, die eine Eigentümlich¬ 
keit der deutschen Geschichte ist 
und die an der Bildung des techni¬ 
schen Ausdrucks „Großmacht" einen so 
großen Anteil besitzt, brachte den grö߬ 
ten Teil der Voraussetzungen in Weg¬ 
fall, aus denen die scharfe wörtliche 
Gegenüberstellung großer und kleiner 
Staaten hervorging. 

III. 

Wir sind bisher lediglich der Ent¬ 
wicklung des Ausdrucks nachgegangen. 
Selbstverständlich steht sie von vorn¬ 
herein in engster Verbindung mit der 
Gestaltung des begrifflichen Inhalts, die 
wir nunmehr ins Auge fassen. Erst in¬ 
dem wir uns mit dieser Frage beschäf¬ 
tigen, gewinnen wir den festen Stand¬ 
punkt für die Beurteilung des Wesens 
der Großmacht 

Wir kehren zu unserem Ausgang zu¬ 
rück. Wie dem Ausdruck, so liegt auch 
dem Begriff „große Macht“ oder „Groß- 
macht“ die Tatsache zugrunde, daß 

15) Ich sehe davon ab, diese Feststellung 
in einzelnen Beispielen zu erhärten, wie ich 
denn auch nicht beabsichtige, für alle Spra¬ 
chen dem Problem nachzugehen. Vielleicht 
nimmt ein linguistischer Fachmann Gelegen¬ 
heit sich mit der interessanten Frage wei¬ 
ter zu beschäftigen. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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man den Staat als eine Macht sieht, 
die sich selbstsüchtig zu behaupten 
strebt, und daß man ihm in einzelnen 
Gebilden eine besondere Machtfülle 
und Machtbedeutung zuerkennt Von 
Machiavell bis zu Friedrich dem Gro¬ 
ßen beherrschte diese Erkenntnis in 
voller Klarheit die Staatsmänner und 
Politiker. Nach ihr wurde auch gehan¬ 
delt und ein hartes, aber wahres Wort 
des Fürsten Kaunitz kennzeichnet das 
Wesen staatlicher Praxis in diesem 
Zeitalter: „Die Verträge sind nichts 
mehr. Es falle der Staat der sich nicht 
zu halten vermag.“ 16 ) Aber auch die 
Wissenschaft vom Staate vertrat diese 
Anschauung. Es ist kein Zufall, daß 
man die Staaten vorwiegend unter dem 
außerpolitischen Gesichtspunkte zu be¬ 
trachten pflegte. So stellte der säch¬ 
sische Völkerrechtslehrer und Diplomat 
Emerich v. Vattel, dessen Lehrbuch des 
Völkerrechts 17 ) auf Theorie und Praxis 
der auswärtigen Politik im 18. Jahr¬ 
hundert einen entscheidenden Einfluß 
Qbte, die bedeutungsvollen Erfahrungs¬ 
sätze auf: der einzelne Staat habe zur 
Aufgabe die Pflicht der Selbsterhal¬ 
tung; das heiße, seine Macht so stark 
zu machen, daß sie zur Abwehr eines 
jeden ungerechten Angriffs ausreicht. 
Auch Historiker und Publizisten, wie 
Schmauß, Achenwall und Andllon, er¬ 
blickten in den Staaten selbstsüchtige Or¬ 
ganismen auf der Grundlage des Macht¬ 
zwecks. In voller Einheitlichkeit er¬ 
füllte der Staatsgedanke diese Gene¬ 
rationen, die die großen staatlichen 
Kämpfe der alten und neuen Gro߬ 
mächte im Zeitalter Ludwigs XIV. und 
Friedrichs des Großen vor Augen 


16) Kaunitz an Graf Wassenaer. Brie! aus 
dem Jahre 1782. Zit. in der anonym erschie¬ 
nenen (von v. Goldmann verfaßten?) Schrift 
.Die europäische Pentarchie“. Leipzig 1839, 
S. 281. 17) Leyden 1758 erschienen. 

Internationale Monatsschrift 

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hatten. Von der abstufenden Betrach¬ 
tung aus, wie wir sie als bestimmend 
für die Aufstellung einer Gruppe von 
Großmächten erkannt haben, beurteilte 
Ancillon 18 ), der am Schluß dieser Reihe 
steht, den Zustand des Staatensystems 
für die Zeit nach dem Hubertusburger 
Frieden folgendermaßen: „Fünf große, 
zu Angriff und erfolgreicher Abwehr be¬ 
fähigte Mächte bieten, sich wechselseitig 
scharf im Auge haltend, allen Staaten zwei¬ 
ten Ranges Anlehnungspunkte dar und 
scheinen die Stabilität Europas zu sichern.“ 
Es könnte danach scheinen, als ob die 
politischen Denker des 18. Jahrhunderts 
bereits das Wesen der überragenden 
Staatswesen richtig erkannt hätten, die 
wir heute Großmächte nennen. In Wahr¬ 
heit waren ihrer Einsicht noch erhebliche 
Schranken gezogen. Die neuere For¬ 
schung 19 ) hat uns über den Inhalt und 
die Bedeutung der Wandlung unterrich¬ 
tet, die die Anschauung von den großen 
Mächten in den Jahrzehnten um 1800 
durchmachte. Es besteht eine auffällige 
innere Verwandtschaft zwischen den 
tatsächlichen Vorgängen des Staaten¬ 
lebens und der Beurteilung, die sie sei¬ 
tens der Praktiker und Theoretiker der 
Staatskunst erfuhren. Weit weniger 
noch, als das staatliche Handeln im Zeit¬ 
alter der sogenannten Kabinettskriege 
von den wahrhaft organischen Kräften 
der Völker getragen wurde, war die An¬ 
schauung von dem wirklichen Ver- 


18) Tableau des rövolutions du Systeme 
politique de l’Europe depuis la fin du 15* 
siede. Berlin 1803. Teil 1 S. LXXI. 

19) Vgl. die eindringende Untersuchung 
Hermann v. Caeminerers, der allzufrüh der 
geschichtlichen Forschung entrissen worden 
ist: Rankes »Große Mächte“ und die Ge¬ 
schichtschreibung des 18. Jahrhunderts. Der 
Aufsatz ist ein Beitrag der .Studien und 
Versuche zur neueren Geschichte, Max Lenz 
gewidmet von Freunden und Schälern“. 
Berlin 1910. 

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Paul Herre, Die QroBmacht 


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ständnis staatlichen Wollens und Han¬ 
delns erfüllt Ganz rationalistisch mit 
den aus dem Naturrecht abgeleiteten 
Ideen von der Planmäßigkeit des ge¬ 
schichtlichen Verlaufs arbeitend, sah 
man den Staat gleichsam seelenlos, als 
eine äußerliche Zusammenballung von 
Macht, über deren inneren Gehalt man 
sich keine Gedanken machte. Gewiß 
trieb man auch Wohlfahrtspolitik, aber 
das Volk war lediglich Objekt nicht 
Subjekt dieses staatlichen Interesses, 
und nur in wenigen Ausnahmemenschen 
streifte es die sittliche Auffassung, die 
uns heute selbstverständlich dünkt 
Eine politische Richtung, die mit dem 
Aufstieg des Bürgertums in der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Aus¬ 
druck gelangte, nahm an den Wirkun¬ 
gen fürstlichen Willkürregiments zwar 
in steigendem Maße Anstoß, fiel jedoch 
nur der andern Gefahr zum Opfer, die 
Machtpolitik ganz zu leugnen. Diejeni¬ 
gen, die an der Anschauung vom Macht¬ 
charakter festhielten, blieben in den 
oberflächlichen Ideen der alten Staats¬ 
kunst stehen. So meinte Ancillon, ein 
jeder Staat müsse seine Macht nach 
Kräften zu entfalten suchen, aber ma߬ 
gebend dafür war seine Rechnung, daß 
auf diese Weise Friede und Gleich¬ 
gewicht am besten gewahrt würden. 

Allein der große König drang in 
seinen theoretischen Betrachtungen zu 
der Erkenntnis vor, daß bestimmte ge¬ 
schichtliche Kräfte die Grundlage der 
Staaten bildeten. Diese Wahrheit stand 
ihm vor Augen, wenn er es als not¬ 
wendig hinstellte, daß das Wohl des 
Staates nicht von den guten oder 
schlechten Eigenschaften eines ein¬ 
zelnen Menschen abhänge, sondern 
daß er sich durch sich selbst aufrecht¬ 
erhalte. 80 ) Jedoch auch in der über- 

20) Politisches Testament von 1752. Aus¬ 
gabe von G. Küntzel S. 49. 


ragenden Erscheinung Friedrichs des 
Großen kam die verinnerlichende Auf¬ 
fassung des Staates schließlich nur in 
der begrenzten Vorstellung des aufge¬ 
klärten Despotismus zu Worte, die dem 
Volke lediglich eine passive Rolle zu¬ 
wies und der die Einsicht in die den na¬ 
tionalen Lebensbedingungen entsprin¬ 
genden Triebkräfte fremd blieb. Auch 
hinsichtlich der Methode, die er zur 
Durchführung seiner Machtpolitik hand¬ 
habte, blieb er auf dem Boden der alten 
Staatskunst stehen, wenn er mit seiner 
großen Art auch die engen Schranken 
der herrschenden Richtung manchmal 
durchbrach, indem er sich namentlich 
des häufig gebrauchten Mittels der In¬ 
trige enthielt Im Stile der Kabinetts- 
politik trieb er jene Politik der Fein¬ 
spinnerei, die im Italien der Renais¬ 
sance zur ersten Vervollkommnung ge¬ 
bracht worden war. Kaum ein anderer 
Staatsmann hat so nachdrücklich den 
Wert des Geheimnisses in der Politik 
betont wie Friedrich. In diesem Punkte 
offenbart sich besonders klar der Cha¬ 
rakter der älteren Generation großer 
Staatswesen, die sich in der Person 
des Herrschers zusammenfaßten. 

Bis an die Jahrhundertwende blieb 
dieser Zustand bestehen. Während die 
Bewegung der Französischen Revolu¬ 
tion und der Befreiungskriege die 
Dämme des alten Fürstenstaates nieder¬ 
riß und den neuen volksmäßigen Theo¬ 
rien Eingang in das Staatsleben ver¬ 
schaffte, lebte die Anschauung vom 
alten Machtstaat in den leitenden Krei¬ 
sen fort Ein Theoretiker und Prak¬ 
tiker der Staatskunst wie Friedrich 
v. Gentz, der unter seinen Zeitgenos¬ 
sen vielleicht das größte Verständnis 
für den staatlichen Machtkampf besaß, 
wuchs weder in inner- noch außerpoli¬ 
tischer Hinsicht über die Auffassung 
des 18. Jahrhunderts hinaus. Dieser 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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Mann, der in seinem erbitterten Kampfe 
gegen die Universalmonarchie Napo¬ 
leons zum überzeugtesten Wortführer 
undVorkämpfer des europäischen Gleich¬ 
gewichts wurde, wog klar und nüchtern 
die Interessen der Großmächte gegen¬ 
einander ab. Sorgsam wies er einer 
jeden ihren besonderen Lebensumkreis 
zu, indem er zugleich auf die Inter¬ 
essen der kleinen Staaten Rücksicht 
nahm.* 1 ) Er zeigt sich uns auch als 
Gegner des durch das revolutionäre 
Frankreich zertrümmerten Absolutis¬ 
mus, wenn er die zukunftweisenden 
Worte schreibt: „Die Fürsten, heißt es, 
erziehen die Völker; und in einem ge¬ 
wissen Sinne verhält es sich auch so; 
aber in einem höheren und umfassende¬ 
ren gilt es, daß die Völker die Fürsten 
erziehen.“**) Jedoch die Folgerung aus 
dieser Erkenntnis hat Gentz nicht ge¬ 
zogen. Wie seinen Vorgängern erschien 
ihm der Staat nur als ein hohles 
Machtgebilde, wenn ihn auch sein po¬ 
litischer Realismus in bezug auf das 
Verständnis des Charakters staatlicher 
Selbstsucht jenen bei weitem über¬ 
legen machte. Im Grunde trug auch er 
bei Verfolgen seiner politischen Ziele 
mehr der Verwirklichung eines ratio¬ 
nalistisch angenommenen Plans der 
Weltordnung Rechnung als dem Wal¬ 
tenlassen der in den Nationen lebenden 
Kräfte, und es ist kein Zufall, daß er 
schließlich in den Dienst desjenigen 
Staates trat, der in den Stürmen der 
Vöikererhebung gegen den korsischen 
Welteroberer frei von nationaler Lei¬ 
denschaft blieb. 

Dem toten Berater und Mitarbeiter 
schrieb Fürst Metternich den bezeich- 


21) Ich denke namentlich an seine .Frag' 
mente aus der neusten Geschichte des po¬ 
litischen Gleichgewichts in Europa*. St Pe¬ 
tersburg 1806. 

22) Eb. S. XXXVIII. 

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nenden Nekrolog**): Gentz sei der 
Mensch gewesen, der „jeder Art von 
Romantismus am fernsten“ gestanden 
habe; erst in den letzten fünf bis sechs 
Jahren habe sich eine romantische Liebe 
bei ihm ausgebildet; das sei der Anfang 
vom Ende gewesen. Des großen Pu¬ 
blizisten politische Anschauungswelt ist 
in ihren Vorzügen und Schwächen mit 
diesem Wort, in dem natürlich auch alle 
Einseitigkeit des österreichischen Staats¬ 
kanzlers mitklingt, treffend gekenn¬ 
zeichnet Das tiefere Eindringen in das 
Wirken des Phänomens „Staat“ mußte 
Gentz verschlossen sein, weil er bis in 
sein Greisenalter ein Mensch des 18. Jahr¬ 
hunderts blieb. 

Aber schon war die Anschauung vom 
Staate in eine neue Entwicklungsphase 
eingetreten, die zugleich ein neues Ver¬ 
ständnis der Großmacht brachte. Den 
Anstoß gab die geistige Bewegung der 
Romantik, die aus der nationalen Er¬ 
hebung der Völker emporwuchs. Wäh¬ 
rend in der vorangehenden Genera¬ 
tion universaler Humanitätsbestrebun¬ 
gen das staatliche Interesse sich in der 
völligen Negierung des Staates er¬ 
schöpft hatte, gewann es unter der 
überwältigenden Einwirkung des ge¬ 
schichtlichen Prozesses, der sich um die 
Jahrhundertwende abspielte, einen ganz 
neuen Inhalt Mit ihrer Bekämpfung des 
rationalistisch-weltbürgerlichen Geistes 
des 18. Jahrhunderts fand die roman¬ 
tische Bewegung endlich den festen 
Standpunkt zu den umstrittenen Fragen 
des staatlichen Daseins. Mit ihrem 
Sinn für die Bedeutung der geschicht¬ 
lichen Kräfte, die der allgemeinen staat¬ 
lichen Entwicklung zugrunde liegen, er¬ 
faßte sie das geheimnisvolle Walten 

23) Mettemidi an Prokesch-Osten. Wien, 
15. Juni 1832. Aus dem Nachlasse des Gra¬ 
fen Prokesch- Osten. Wien 1881. Band 2 
S. 118. 

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Paul Herre, Die QroBmacht 


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des Volkstums, das in den einzelnen 
Staaten lebt und durch sie Geltung 
sucht zur gemeinsamen Arbeit für den 
menschlichen Kulturfortschritt. Mochte 
auch in diesen neuen Vorstellungen 
mancher universale Zug wirksam blei¬ 
ben ; das Entschejdende war, daß es die¬ 
sen Vertretern der früheren Romantik 
gelang, die feste Einheit zwischen Staat 
und Nation theoretisch zu begründen. 
Es ist nicht unsere Aufgabe, hier dem 
Wachsen dieser Erkenntnis im einzel¬ 
nen nachzugehen; Friedrich Meinecke 
hat es uns in seinem bedeutenden 
Werke „Weltbürgertum und National¬ 
staat“ 24 ) unübertrefflich geschildert. 
Von Herder beeinflußt, gewannen Nova¬ 
lis, Schlegel, Fichte, Arndt, Stein, Hum¬ 
boldt und Gneisenau in steigendem 
Maße und vielfach im Gegensatz zu 
eigenen früheren Vorstellungen Klar¬ 
heit über das Problem, und für man¬ 
chen von ihnen wurde sie der Antrieb 
zur nationalen Tat. Vereinzelt rang sich 
aus dem verwirrenden Kampf alter und 
neuer Anschauungen auch schon die 
Anschauung von der Individualität der 
Staaten durch. Ein Novalis erklärte: 
„Die Staaten werden verschieden blei¬ 
ben .solange die Menschen verschieden 
sind 25 ),“ und ein Fichte schuf bereits 
die Formel: „Völker sind Individualitä¬ 
ten mit eigentümlicher Begabung und 
Rolle dafür." 26 ) Aber wie es bei der 
Herkunft und dem Ziel der neuen Ge¬ 
danken nicht anders sein konnte: die 
Betrachtung aller dieser politischen 
Denker blieb im großen ganzen auf das 
innere Leben der Staaten beschränkt 
Ober dem Drange, die beherrschende 
Frage des Verhältnisses von Staat, Na¬ 
tion und Individuum einer Lösung ent- 

24) Manchen 1908, 3. Auflage 1915. 

25) Schriften, hrsg. von Heilbom, Band 2 
S. 291. 

26) SämÜicfae Werke Band 7 S. 563. 


gegenzuführen, wurde das nicht minder 
umfassende Problem des Zusammen¬ 
lebens der Staaten untereinander aus 
dem Auge verloren. Wohl ließ man 
die Blicke über die Grenzen der Nation 
schweifen und malte ein Nebeneinander 
der Völker, das die Anerkennung der 
Volksindividualitäten zur Grundlage 
hatte. Jedoch die Vorstellung dieses 
internationalen Zustandes irrte von den 
geschichtlichen Gegebenheiten ab und 
verlor sich unreal wieder in welt¬ 
bürgerliche Ideen, die das besondere 
Machtinteresse des einzelnen Staates 
außer acht ließen. Soviel neue hi¬ 
storische und politische Erkenntnis die 
Romantik vermittelte: gerade für die 
Frage des Großmaditdaseins hat sie 
mehr verwirrt als geklärt mehr ge¬ 
schadet als genützt 

In dieser Doppelrolle erscheint auch 
Adam Müller, der erste systema¬ 
tische Vertreter romantischer Staats¬ 
wissenschaft der es nicht verabsäumt 
hat neben dem innerstaatlichen Pro¬ 
blem sich mit den Fragen des inter¬ 
nationalen Zusammenlebens und der 
Wirksamkeit verschiedener Staaten in¬ 
nerhalb eines Staatensystems zu be¬ 
schäftigen. 27 ) Wie Gentz, mit dem er 
anfänglich aufs engste zusammenging, 
wendet er sich in dieser Hinsicht mit 
Schärfe gegen die Universalmonarchie. 
Aber er bekämpft auch die neutralen 
Staaten, die aus dem Kampf der Gro߬ 
mächte in größerer Zahl hervorzugehen 
schienen und zu denen er stillschwei¬ 
gend die Gruppe schwacher Kleinstaa¬ 
ten rechnet die sich zwischen den über¬ 
ragenden Großstaaten nicht zu behaup¬ 
ten vermögen. Er stellt ihnen den „or¬ 
ganischen Rechtsstaat“ entgegen, in 

27) Malier ist auffälligerweise in v. Caem- 
merers Untersuchung unberücksichtigt ge¬ 
blieben. Vgl. dagegen Meineckes Werk, 
Kapitel 7 des ersten Buches. 


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dem sich allein eine gesunde geschieht' 
liehe Entwicklung äußere. Ein solcher 
echter Staat jedoch kann nach seiner 
Vorstellung nur der von nationalen 
Kräften getragene Volksstaat sein, der 
als besondere Individualität nach seinen 
eigenen Lebensbedingungen handelt; 
die unvenneidliche Auseinandersetzung 
zwischen diesen daseinsberechtigten 
großen Staatsindividuen bilde den In¬ 
halt des geschichtlichen Prozesses. Wie 
charakteristisch sind die Ausführungen, 
die Adam Müller der umwälzendsten 
historischen Erscheinung, dem Kriege, 
widmet* 8 ): „Es waren nicht sowohl die 
Ansichten der Kabinette, welche den 
Krieg bestimmten; es war niemals der 
Eigensinn der Regierenden, wie ein 
weichlicher, verderbter Pöbel sich die 
Sache denken mochte; es waren immer 
tiefer liegende, in der notwendigen 
Konstruktion des gesamten Staatenver¬ 
hältnisses liegende Gründe.“ Kein Zwei¬ 
fel, daß hier bereits die Auffassung vom 
Wesen des handelnden Staates formu¬ 
liert ist, die wir heute als richtig er¬ 
kennen und in voller Übereinstimmung 
hegen. Und Müller stützt diese Erkennt¬ 
nis durch weitere Feststellungen, die 
unser Interesse in Anspruch nehmen: 
»Jeder wahre organische Rechtsstaat 
muß beschränkt sein im Raume, da¬ 
mit er ein wirkliches, lebendiges 
und abgeschlossenes Individuum sein 
könne.“ 29 ) Nur Staaten, die dies innere 
Gleichgewicht auf natürlicher Grund¬ 
lage besitzen, so meint er, sind „voll¬ 
ständig“, alle anderen einseitig. Europa 
ist der vornehmste Sitz organischer 
Staaten, und zwar sind es die „Fünf- 
Reiche“ Großbritannien, Spanien, Ita¬ 
lien, Frankreich und Deutschland; ihnen 
haben Natur und Geschichte „ein leben¬ 
diges rechtliches und unabhängiges Da- 

28) Elemente der Staatskunst. Berlin 1809. 
TeU 1 S. 287. 29) Eb. S. 276. 

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sein“ gegeben. Diese Unabhängigkeit 
zeigt sich auch unter allem Anschein 
äußerer Abhängigkeit und äußerer Ähn¬ 
lichkeit der Sitten. „Übrigens sind auch 
nur die unter den Fünf-Reichen, welche 
der Idee der politischen Einheit nicht 
treu geblieben oder welche sie aus¬ 
zuführen durch bisher unüberwind¬ 
liche Schwierigkeiten verhindert worden 
sind, nämlich Deutschland und Italien, 
einstweilen äußerlich abhängig gewor¬ 
den.“ 89 ) 

Entsprechen auch diese Sätze unse¬ 
rer heutigen Anschauung? Allerdings 
werfen sie die frühere äußerliche Be¬ 
urteilung des staatlichen Daseins über 
den Haufen, aber sie versagen in bezug 
auf eine Wahrheit, die die vorangehenden 
Generationen bereits besessen hatten 
und die die unrealistische Betrachtung 
des jüngeren romantischen Geschlechtes 
bis zur Bedenklichkeit verdunkelte. 
Während die Romantik mit hohem Ver¬ 
dienst am geschichtlichen Fortschritt 
auf der einen Seite neue Erkenntnis er¬ 
schloß, ließ sie auf der andern mit 
großer Schuld wertvollen Besitz fahren. 
Sie entfremdete sich dem Machtgedan¬ 
ken, der mit dem Staate untrennbar 
verbunden sein muß, soll dieser nicht in 
seinem Handeln innerhalb des Staaten¬ 
systems lahmgelegt werden, und rückte 
an seine Stelle, als die zur Tat drän¬ 
gende Kraft, ein wahrem staatlichen 
Leben widersprechendes Rechtsprinzip. 
Adam Müllers „Fünf-Reiche“, die er 
als die „organischen Staaten“ seiner 
Zeit ansah, waren nicht die Gro߬ 
mächte, die das Staatensystem be¬ 
herrschten. Spanien gehörte ihnen 
schon damals mehr als 100 Jahre nicht 
mehr zu, und die Gründe, die ihn das 
zersplitterte und unter Fremdherrschaft 
seufzende Deutschland und Italien den 


30) Eb. S. 281. 

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Paul Herre, Die Großmacht 


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Hauptmächten zurechnen ließen, schlos¬ 
sen sie vielmehr aus. Es kennzeich¬ 
net die von unlebendigen Rechtsvorstel¬ 
lungen beherrschte Anschauung, daß sie 
von den beiden Großmächten Öster¬ 
reich und Preußen gänzlich absieht, 
während Rußland, „welches bisher auf 
einem Fuß stand, nun auf zweien steht", 
im Begriff scheint, zu „gehen". 81 ) Aber 
gerade in der Betätigung einer imma¬ 
nent wirksamen Rechtsidee faßt sich 
für Müller alles echte staatliche Leben 
zusammen; sie ist der „unsterbliche 
Teil“ des „organischen vollständigen 
Staates". 88 ) 

IV. 

Die große Bedeutung, die diesen An¬ 
schauungen für die Entwicklung des 
Großmachtsbegriffs zukommt, liegt klar 
zutage. Adam Müllers Theorie hat zwar 
einen besonders individuellen Charak¬ 
ter, aber im wesentlichen spiegelt sie 
lediglich die romantische Schulmeinung 
wider. Es ist bekannt, daß Karl Lud¬ 
wig v. Haller, der einflußreichste 
Vertreter romantischer Staatswissen¬ 
schaft, dem staatlichen Machtgedan¬ 
ken noch viel ablehnender gegenüber¬ 
stand. 88 ) Vielfach im Widerspruch mit 
den geschichtlichen Tatsachen, be¬ 
kämpfte der Schweizer, der Sohn des 
gemischtnationalen Kleinstaates, grund¬ 
sätzlich die von Egoismus und Macht¬ 
streben getragene Betätigung. Dem¬ 
gemäß lehnte er auch die lebendige Er¬ 
scheinung der Großmacht mit Entschie¬ 
denheit ab, ganz befangen in patriar¬ 
chalischen Vorstellungen, die allen Rea¬ 
litäten hohnsprachen. „Kleinere Staa¬ 
ten sind die wahre, einfache Ordnung 
der Natur, auf welche sie durch ver¬ 
schiedene Wege am Ende allemal wie- 

31) Eb. S. 276. 32) Eb. S. 277. 

33) Vgl. das zehnte Kapitel des Buches 
Meineckes. 


der zurückführt“ 81 ) Ja, in seiner patri- 
monialstaatlichen Voreingenommenheit 
entschwand ihm selbst der Sinn für die 
entscheidende Bedeutung der nationa¬ 
len Triebkräfte, wie sie sein Vorgänger 
erkannt hatte. In der herrschenden ro¬ 
mantischen Richtung, die zumal im 
Preußen Friedrich Wilhelms IV. die 
Führung erlangte^ trat an die Stelle 
wachsenden Verständnisses für das 
Wesen des handelnden Staates ein 
völliges Unverständnis, das auf die 
deutsche Entwicklung einen unheilvol¬ 
len Einfluß geübt hat 

Sogar in den Kreisen, die die Tradi¬ 
tionen des 18. Jahrhunderts fortzu¬ 
setzen suchten, machte sich diese Rück¬ 
bildung geltend. Das lehrt das Bei¬ 
spiel des Göttinger Historikers Arnol d 
Heeren. Auf den Schultern der kame- 
ralistischen und historischen Schule 
seiner Universität stehend, sah auch 
er die Staaten vornehmlich in ihrem 
Zusammenleben miteinander, und es 
hätte bei dieser Betrachtung, die die 
machtpolitischen Gesichtspunkte in den 
Vordergrund rücken mußte, für ihn 
nahegelegen, unter Benutzung der neuen 
Erkenntnis romantischer Geschichts- 
und Staatsanschauung nunmehr das klä¬ 
rende Schlußwort zu sprechen, zu dem 
die Entwicklung drängte. Aber das 
Gegenteil war der FalL Heeren blieb 
nicht nur auf dem aufklärerischen 
Standpunkte der äußerlichen Betrach¬ 
tung des Staates stehen, indem er Adam 
Müllers vertiefende Auffassung außer 
acht ließ. Er entfremdete sich sogar, in 
der Erkenntnis absteigend, seinen Vor¬ 
gängern und gab in bezug auf die Ein¬ 
schätzung des Machtprinzips dem ro¬ 
mantischen Einfluß nach. So krankt 
sein Urteil über die Großmächte an 
einer seltsamen Unklarheit Auf der 

34) Restauration der Staatswissenschaft 
Band 2 S. 535. 


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557 


Paul Herre, Die Großmacht 


558 


einen Seite hat er ein volles Verständ¬ 
nis für das Dasein dieser „Aristokratie 
der Hauptmächte“. Entsprechend der 
politischen Wirklichkeit zählt er ihnen 
Österreich, Rußland, England, Preu¬ 
ßen und Frankreich zu, während Por¬ 
tugal, Schweden und Spanien, die sich 
den internationalen Abmachungen von 
1815 später anschlossen, erst in weitem 
Abstande folgen. 86 ) Auf der anderen 
Seite aber erklärt und rechtfertigt er 
die bestimmende Rolle der Großmächte 
mit rein rationalistischen Argumenten. 
Diese Aristokratie scheint ihm nützlich 
und nötig, „weil sie aus der Natur der 
Dinge hervorgeht", und unverdächtig, 
„weil sie öffentlich ist“: „sie bildet ge¬ 
wissermaßen einen europäischen Senat, 
dem es nur noch an einer festen Form 
fehlt“ 8 «) 

Das Bemerkenswerteste dieser An¬ 
schauung ist, daß ihr jede Vorstellung 
von dem selbstsüchtigen Machtstreben 
des Großstaates verlorengegangen war. 
Heeren hat die Lücke, die dadurch in 
die Beurteilung staatlichen Handelns 
gerissen wurde, selbst gefühlt, und er 
hat versucht, sie auf eigenartige Weise 
auszufüllen. Er setzt voraus, daß sich 
die Wirksamkeit der großmächtlichen 
Aristokratie, um wohltätig zu sein, auf 
die allgemeinen Angelegenheiten be¬ 
schränke, und er muß zugeben, daß sie 
schädlich sei, wenn sie diese Grenzen 
überschreite. Um der Politik aber die 
höhere Sanktion zu geben, die die Di¬ 
plomatie nicht bieten kann, ruft er, 
ganz Romantiker, die Religion zu Hilfe. 
Er sieht so die Verbindung der Heiligen 
Allianz als einen Zustand an, der das 
staatliche Zusammenleben dauernd zu 


35) Handbuch der Geschichte des euro¬ 
päischen Staatensystems und seiner Kolo¬ 
nien. 4. Aufl. Göttingen 1822. (Sämtliche 
Werke Band 9) S. 443. 

36) Eb. S. 444. 

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regeln imstande sei, indem die religiöse 
Gesinnung den für die menschliche Ent¬ 
wicklung schädlichen Äußerungen staat¬ 
lichen Machtstrebens Halt gebietet 
Diese durch und durch unhistorische 
Auffassung hat ihre Begründung in der 
unbedingten Verwerfung des staat¬ 
lichen Egoismus. Es steht für Heeren 
fest daß das Staatensystem auf der 
Unabhängigkeit seiner einzelnen Glie¬ 
der beruht aber er sieht diese wieder 
ganz äußerlich und kümmert sich nicht 
darum, inwieweit und weshalb ihre 
Macht ungleich ist Genug: die Prinzi¬ 
pien der Heiligkeit des Besitzstandes 
und des politischen Gleichgewichts bil¬ 
den seine Grundlage; ein System, in 
dem der Egoismus herrscht „nähert 
sich seiner Auflösung“. 87 ) Demgemäß 
findet ein Staat wie Preußen, der sich 
von seinem gesunden Egoismus zur 
Großmacht emportragen ließ, eine ent¬ 
schiedene Verurteilung. Friedrich dem 
Großen selbst bringt Heeren eine per¬ 
sönliche Bewunderung entgegen. Im 
übrigen aber ist sein Urteil: „Das Ent¬ 
stehen einer Macht in einem Staaten¬ 
system, der Vergrößerung Bedürfnis ist, 
kann nicht anders als gefährlich für 
dasselbe sein.“ 88 ) 

Daß ein führender Historiker, der 
der auswärtigen Politik der Staaten 
sein besonderes Interesse zuwendete, 
solche Ansichten vertrat und auf die 
Mitlebenden damit eine große Wirkung 
übte, war nur deshalb möglich, weil das 
staatliche Zusammenleben in der Epoche 
der Restauration zeitweilig selbst von 
Einflüssen beherrscht wurde, die außer¬ 
halb der staatlichen Daseinsbedingun¬ 
gen lagen. In dem Augenblick, wo sich 
die gegensätzlichen Machtinteressen der 
Großmächte wieder siegreich gegenüber 
wirklichkeitsfremden Prinzipien durch- 

37) Eb. S. 7. 

38) Eb. Band 8 S. 339. 

Original frum 

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559 


Paul Herre, Die QroBmacht 


560 


setzten, öffnete sich das Tor für klarere 
Vorstellungen. Zumal hinsichtlich der 
politischen Anschauungen verrichtete 
der langsam emporsteigende Realis¬ 
mus in Deutschland ein heilsames und 
erzieherisches Werk. So wurde Schritt 
für Schritt der verlorengegangene Bo¬ 
den wiedergewonnen. 

An der Schwelle der neuen Zeit steht 
Hegel, der große Vorkämpfer der 
idealistischen und spekulativen Philo¬ 
sophie. Mit hervorragendem realpoliti¬ 
schem Verständnis wußte er die Er¬ 
kenntnis der aufklärerischen und ro¬ 
mantischen Denker zu verbinden, um 
dem Staat sein Recht zurückzugeben. 39 ) 
Die Machtpolitik als die entscheidende 
Äußerung staatlichen Handelns erlebte in 
der „Philosophie des Rechts“ ihre Wie¬ 
derauferstehung ebenso wie das aus dem 
„Volksgeist“ verstandene nationale Prin¬ 
zip als die bestimmende Kraft staat¬ 
licher Entwicklung. Hegel sah wieder 
den von besonderen Interessen geleite¬ 
ten Volksstaat: „als einzelnes Indivi¬ 
duum ist er ausschließend gegen andere 
ebensolche Individuen.“ Die zukunft¬ 
weisenden Anschauungen des 18. Jahr¬ 
hunderts und der Romantik schienen zu 
der Einheit verknüpft, die das wahre 
Verständnis des handelnden Staates er¬ 
schließen mußte. Indessen von speku¬ 
lativen, universalistisch gefärbten Ideen 
erfüllt, vermochte der große Philosoph 
nicht die Folgerung aus seinen eigenen 
Feststellungen zu ziehen. Mit der An¬ 
nahme auserwählter Völker, die als die 
Werkzeuge des Weltgeistes jeweils be¬ 
rechtigt sind, die Weltherrschaft aus¬ 
zuüben, blieb Hegel, Fichte nahekom¬ 
mend, auf dem Wege zur letzten Er¬ 
kenntnis vor dem Ziele stehen. Die be¬ 
wertende Klassifizierung der Nationen 
verdunkelte ihm den Blick für das We- 

39) Im einzelnen vgl. Meinecke, Kapitel 11 
des ersten Buches. 


sen der großen Staaten, deren Wirken 
den geschichtlichen Gang bestimmt. 

Nicht der Philosoph, sondern der Hi¬ 
storiker machte endgültig die Bahn frei. 
Leopold v. Ranke wurde dank sei¬ 
ner genialen Veranlagung, die mit dem 
großartigen geschichtlichen Sinn ein 
klares Verständnis für das Bestehende 
verband, der vielbewunderte Interpret 
und Verkünder der tatsächlichen Er¬ 
scheinung der Großmacht. 40 ) Oberall 
knüpft seine Anschauung an die frühe¬ 
ren Vorstellungen an, aber indem sie 
jeder Einseitigkeit ausweicht und immer 
wieder der wahrhaft geschichtlich er¬ 
faßten Bedingtheit Rechnung trägt, ver¬ 
breitet sie ein geradezu neues Licht 
über das komplizierte großstaatliche 
Gebilde. Von großer Bedeutung waren 
die Lehren, die ihm der von Gentz ver¬ 
mittelte Einblick in das politische Ge¬ 
triebe der Großmächte erteilte. 41 ) Die 
Beobachtung der erneut zum Durch¬ 
bruch gekommenen großstaatlichen In¬ 
teressengegensätze schärfte sein Auge 
für den besonderen Daseinsinhalt der 
überragenden Staatswesen und führte 
ihn dazu, sich grundsätzlich mit ihnen 
auseinanderzusetzen. So erstand im 
zweiten Jahrgang seiner „Historisch¬ 
politischen Zeitschrift“ das schon ge¬ 
nannte großartige Fragment „Die gro¬ 
ßen Mächte“; so behandelte das als 
Schlußwort der Zeitschrift geschriebene 
„Politische Gespräch“ von 1836 das Pro¬ 
blem nochmals in allgemeinerem Zu¬ 
sammenhänge, und durch all die objek¬ 
tiv-ruhigen geschichtlichen Arbeiten der 
späteren Schaffenszeit Rankes blitzt 

40) Auch für Ranke verweise ich auf Mei¬ 
neckes Werk, dessen zwölftes Kapitel ihm 
und Bismarck gewidmet ist. Eine ins ein¬ 
zelne gehende Untersuchung der politischen 
Anschauungen Rankes verdanken wir O. 
Diether: Ranke als Politiker. Leipzig 1911. 

41) Darauf legt v. Caemmerer mit Recht 
großen Wert. A. a. O. S. 310 ff. 


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561 


Paul Her re, Die Großmacht 


immer wieder hell und klar jene Er¬ 
kenntnis auf, die das Fundament des 
Verständnisses staatlichen Einzelda¬ 
seins und staatlichen Zusammenlebens 
bleiben wird. 

Das Besondere Rankescher Auffas¬ 
sung von der Großmacht ist nicht so sehr 
die Feststellung ihres von staatlichem 
Egoismus bestimmten Machtcharakters 
und ihrer von eigensten Lebensbedin- 
gungen geleiteten Individualität; beides 
hatten bereits die vorangehenden Den¬ 
ker erkannt Was ihn über diese hin- 
anshebt und zum Repräsentanten einer 
ganz neuen Anschauungswelt macht, ist 
die kühle Folgerung, die er zuerst aus 
jenen Vorstellungen zog. Rankes Macht- 
Staat ruht auf der Nation. Aber indem 
er tatsächlich Greifbares und unreal 
Geistiges in ein innerliches Verhältnis 
brachte, umging er die Einseitigkeit, die 
die frühere Beurteilung der nationalen 
Kräfte hemmte. Die Nation macht den 
Staat aber der Staat macht auch die 
Nation: das ist sein Grundsatz. Ent¬ 
scheidend ist die von selbstsüchtigen 
Antrieben getragene lebendige Kraft in 
der Gestalt der dem Staate innewoh¬ 
nenden moralischen Energie. So ist für 
Ranke der moderne Staat: „ein Staat 
von organischer Einheit von einem ein¬ 
zigen und durchgehend herrschenden 
Interesse". 48 ) Innere und äußere Ent¬ 
wicklung werden in untrennbarer Be¬ 
ziehung zueinander gesehen, da für 
beide die eine Grundkraft treibend ist. 
»In jedem unserer großen Staaten", so 
sagt er 43 ), „ist ein lebendiges, individu¬ 
elles, ihnen innewohnendes Prinzip, von 
dem seine Tätigkeit nach außen, seine 
innere Gestaltung abhängt" 

Damit ist dem lebendigen Staat das 

42) »Die spanische Monarchie*, Einleitung. 
Sämtliche Werke Band 35-36 S. 87. 

43) »Politisches Gespräch*. Eb. Band 49—50 
S. 332. 

Internationale Monatsschrift 

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562 


uneingeschränkte Recht zuerkannt zu 
sein, zu bleiben und zu wachsen. Aber 
dieses höchste Recht auf besonderes 
Dasein erscheint Ranke zugleich als 
bindende Pflicht „Das Maß der Unab¬ 
hängigkeit“, so folgert er unerbittlich, 
„gibt einem Staate seine Stellung in der 
Welt; es legt ihm zugleich die Notwen¬ 
digkeit auf, alle inneren Verhältnisse zu 
dem Zweck einzurichten, sich zu be¬ 
haupten. Dies ist sein oberstes Ge¬ 
setz.“ 44 ) Egoismus wie Machtstreben 
erscheinen so wie Äußerungen, die aus 
den innersten Lebenskräften des gro¬ 
ßen Volkes notwendig herauswachsen, 
nicht nur wie Eigenschaften, die zu¬ 
fällig Herrschern und Regierungen an¬ 
haften. Dieser vertiefenden Beurteilung 
entspricht Rankes sittliche Auffassung 
vom Machtstreben des großen Staates. 
Machtpolitik sieht er untrennbar mit 
staatlicher Geltung verbünden, und 
mit beinahe friderizianischen Worten 
spricht der Historiker zu seinem Volk: 
„Um etwas zu sein, muß man sich er¬ 
heben aus eigener Kraft, freie Selbstän¬ 
digkeit entwickeln, und das Recht, das 
uns nicht zugestanden wird, müssen 
wir uns erkämpfen." 4Ö ) Es ist durch¬ 
aus richtig, wenn man den Inhalt der 
Politik in Rankes Sinn dahin bezeich¬ 
net hat: sie sei „machtmehrende Ver- * 
folgung derjenigen staatlichen Inter¬ 
essen, welche die innere Ordnung und 
die äußere Geltung fördern". 46 ) Von 
der Überzeugung ausgehend, daß das 
Machtstreben nur der notwendige Aus¬ 
fluß im Staate organisierter nationaler 
Lebenskräfte ist, weist Ranke den Ein¬ 
wand zurück, daß die Anerkennung 


44) Eb. S. 334. 45) Eb. S. 327. 

46) M. v. Szczepanski, Rankes An¬ 
schauungen Ober den Zusammenhang zwi¬ 
schen der auswärtigen und der inneren Politik 
der Staaten. Zeitschrift für Politik. Band 7 
S. 618. 

I^figiral frcm 
INDIANA UNiVERSITY 






563 


Paul Her re. Die Großmacht 


564 


einer solchen Machtpolitik zur Gut¬ 
heißung roher Gewalt führe, 47 ) Selbst 
der Krieg erscheint ihm lediglich als ein 
„Wettstreit der moralischen Energie“ 48 ). 
er prägt das kühne Wort .-„Große Ar¬ 
meen werden gebildet, um große Ge¬ 
danken durchzuführen.“ 49 ) 

Jm ganzen gesehen steht Rankes Auf¬ 
fassung vom Staate und seinen Da¬ 
seinsbedingungen den Anschauungen 
des 18. Jahrhunderts näher als denen 
der Romantik. Ja, sie will das in aus¬ 
drücklicher Absicht Denn der große 
Historiker, der sich über dielrrtümer der 
deutschen Politik seiner Zeit klar ge¬ 
worden war, hatte sich das hohe Ziel 
gesteckt, seinen Landsleuten die Augen 
zu öffnen über das wahre Wesen der 
großen Staaten. So stellte er in diesen 
publizistischen Arbeiten geflissentlich 
alles zurück, was das Bild der groß- 
staatlichen Aufgaben und Mittel trüben 
konnte, was den verwirrenden Vorstel¬ 
lungen der Humanität und Romantik 
entgegenkam. Unter diesem Gesichts¬ 
punkt erklärt sich das absprechende 
Wort, daß „die oft so zweifelhafte För¬ 
derung der Kultur“ nicht den einzigen 
Inhalt der großen Völkerkämpfe der 
Geschichte bilde. 60 ) Im übrigen lehrt 
die ganze Geschichtsauffassung Ran¬ 
kes, daß der von ihm in seinem Wesen 
scharf erfaßte Machtstaat im wahrsten 
Sinne eine Kulturerscheinung ist Wie 
sehr diese staatlichen Individualitäten 
bei aller Eigenheit ihres Wollens und 
Handelns doch ganz idealistisch im 
allgemeinen geschichtlichen Zusammen¬ 
hänge gesehen sind, bringt ein anderes 
Wort zum Ausdruck. Sie erscheinen ihm 
„in unaufhaltsamer Entwicklung begrif- 

47) „Politisches Gespräch*. A. a. O. S. 334. 

48) Eb. S. 327. 

49) „Weltgeschichte“. Band I, 2 S. 221. 

50) „Die Großen Mächte*. Sämtl. Werke 
Band 24 S. 39. 

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fen, mitten in den Verwirrungen der Welt 
durch inneren Trieb nach dem Ideal fort¬ 
schreitend, eine jede auf ihre Weise“. 51 ) 

Mit dem ihm angeborenen geschicht¬ 
lichen Instinkt und mit dem an der 
staatlichen Wirklichkeit geschärften po¬ 
litischen Urteil hat es Ranke weise ver¬ 
mieden, die großartige Mannigfaltigkeit 
seiner Eikenntnis in einengende For¬ 
meln zu gießen. Er unterließ es, dem 
tragenden Grundbegriff der Nationali¬ 
tät einen einschränkenden Stempel auf¬ 
zudrücken und ihn des mehrdeutigen 
Sinnes, wie ihn die Geschichte kennt, 
zu berauben. Er umging es, den neu¬ 
entdeckten Machtstaat in einer politi¬ 
schen oder staatsrechtlichen Wendung 
zu umschreiben. Gerade dieses beson¬ 
nene und verzichtende Offenlassen, an 
dem seine unvergleichliche künstle¬ 
rische Gestaltungskraft einen hervor¬ 
ragenden Anteil hat, sichert seinen Fest¬ 
stellungen die Unvergftnglichkeit Noch, 
heute gilt, was Ranke 1833 von den gro¬ 
ßen Mächten zusammenfassend schrieb: 
„Es sind Kräfte, und zwar geistige, 
Leben hervorbringende, schöpferische 
Kräfte, selber Leben, es sind moralische 
Energien, die wir in ihrer Entwicklung 
erblicken. Zu definieren, unter Abstrak¬ 
tionen zu bringen sind sie nicht; aber 
anschauen, wahmehmen kann man sie; 
ein Mitgefühl ihres Daseins kann man 
sich erzeugen. Sie blühen auf, nehmen 
die Welt ein, treten heraus in dem man¬ 
nigfachsten Ausdruck, bestreiten, be¬ 
schränken, überwältigen einander; in 
ihrer Wechselwirkung und Aufeinan¬ 
derfolge, in ihrem Leben, ihrem Ver¬ 
gehen oder ihrer Wiederbelebung, die 
dann immer größere Fülle, höhere Be¬ 
deutung, weiteren Umfang in sich 
schließt, liegt das Geheimnis der Welt¬ 
geschichte.“ 6 *) (Schluß folgt) 

51) „Politisches Gespräch*. A.a.0. S.339. 

52) „Die Großen Mächte*. A. a.O. S.39—40. 

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505 Fr- Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 50g 


Die internationale Meeresforschung vor und nach 

dem Kriege. 

Von Fr. Heincke. 


I. 

Die Vereinigung der Staaten Gro߬ 
britannien und Irland, Deutschland, 
Rußland und Finnland, Norwegen, 
Schweden, Dänemark, Niederlande und 
Belgien zur gemeinsamen wissenschaft¬ 
lichen Erforschung der nordeuropäi¬ 
schen Meere im Dienste der Seefische¬ 
rei, kürzer die internationaleMee- 
resforschung, wurde auf Grund des 
Christiania-Programms von 1901 be¬ 
gründet Nach Genehmigung desselben 
durch die beteiligten Regierungen und 
Bereitstellung der nötigen Mittel konnte 
die gemeinsame Arbeit organisiert und 
im Jahre 1902 begonnen werden. 

Die nächste Aufgabe der internatio¬ 
nalen Meeresforschung war die natur¬ 
wissenschaftliche Erforschung der nutz¬ 
baren Fische unserer nordeuropäischen 
Meere, insbesondere der noch sehr we¬ 
nig bekannten physischen und biologi¬ 
schen Bedingungen ihres Lebens, ihrer 
Ernährung und Fortpflanzung, ihres 
Wachstums, ihrer Wanderungen u. a. 
Das große Endziel der Arbeiten ist, 
durch solche Kenntnisse die wissen¬ 
schaftlichen Grundlagen zu schaffen für 
eine vernünftige Bewirtschaftung des 
Meeres an Stelle der plan- und rück¬ 
sichtslosen Ausnutzung durch den 
gegenwärtigen Betrieb der Seefische¬ 
rei. Dabei galt es zunächst die Mög¬ 
lichkeit von Schonmaßregeln für ge¬ 
wisse von der jetzigen Raubfischerei 
besonders stark betroffene Nutzfisch¬ 
arten zu prüfen und gegebenenfalls 
solche Schonmaßregeln durch interna¬ 
tionales Übereinkommen gesetzlich ein¬ 
zuführen. Bei der Organisierung der 

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internationalen Meeresforschung war 
das Wichtigste, daß die Forschungen 
über die in Betracht kommenden phy¬ 
sischen Verhältnisse des Meeres, über 
den Betrieb und die Erträge der Fische¬ 
reien und über die einzelnen Nutzfische^ 
z. B. den Hering und die Scholle, von 
allen beteiligten Ländern gleichzeitig in 
allen Teilen des großen Untersuchungs- 
gebietes und nach denselben wissen¬ 
schaftlichen Methoden ausgeführt wur¬ 
den. Dazu wurde eine leitende und kon¬ 
trollierende Zentralstelle errichtet, der 
aus je zwei Delegierten von jedem Staat 
zusammengesetzte und meist jährlich 
einmal zusammentretende Zentral- 
aus schuß mit einem festen Zentral¬ 
bureau in Kopenhagen für die Ge¬ 
schäftsführung und die Herausgabe der 
gemeinsamen Veröffentlichungen. Die 
Kosten der Zentralstelle trugen die be¬ 
teiligten Staaten gemeinsam mit nach 
ihrer Größe abgestuften jährlichen Bei¬ 
trägen. Den Vorsitzenden des Zentral¬ 
ausschusses stellte zuerst, bis 1908, 
Deutschland, dann, bis 1912, England, 
dann wieder Deutschland. Die Ausfüh¬ 
rung der eigentlichen Forschungsarbeit 
selbst war Sache der einzelnen betei¬ 
ligten Länder und geschah auf deren 
Kosten; sie setzten ihrerseits wieder 
besondere staatliche Kommissionen da¬ 
für ein, errichteten wissenschaftliche 
Laboratorien an Land und stellten vor 
allem für die Arbeit auf See besondere 
für diesen Zweck erbaute oder einge¬ 
richtete Untersuchungsdampfer bereit, 
so Deutschland den Reichsforschungs¬ 
dampfer „Poseidon". So entstand nach 
und nach ein großer Apparat von La- 

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567 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 568 


boratorien und Untersuchungsfahrzeu¬ 
gen jeder Art und ein Stab von mehr als 
hundert Gelehrten, womit die wissen¬ 
schaftliche Erforschung unserer Meere 
bald in weit größerer Ausdehnung und 
mit größerer Kraft ausgefQhrt werden 
konnte, als jemals zuvor. 

Nach Überwindung der ersten me¬ 
thodischen und praktischen Schwierig¬ 
keiten, die bei der Größe und Mannig¬ 
faltigkeit der Aufgaben längere Zeit er¬ 
forderte, sind bald sowohl allgemein- 
wissenschaftliche wie praktische Er¬ 
folge erzielt worden. Diese Erfolge 
und die Notwendigkeit, sie zu ver¬ 
größern und auszubauen, bewirkten, 
daß die anfangs nur für einen Zeitraum 
von fünf Jahren geplanten Arbeiten 
wiederholt verlängert wurden. Sie ver- 
anlaßten auch im Jahre 1913 die Ver¬ 
einigten Staaten von Nordamerika, der 
europäischen Vereinigung beizutreten, 
weil sie sich praktischen Nutzen für 
ihre eigenen Seefischereien davon ver¬ 
sprachen. Auch unsere europäischen 
Regierungen mußten sich überzeugen, 
daß die öffentlichen Mittel, die ja 
hauptsächlich für die Erreichung prak¬ 
tischer, meerwirtschaftlicher Ziele ge¬ 
währt wurden, fruchtbringend verwen¬ 
det waren. Im Jahre 1913 konnte der 
Zentralausschuß für die internationale 
Meeresforschung den beteiligten Regie¬ 
rungen die ersten auf praktisch-wissen¬ 
schaftliche Untersuchungen begründe¬ 
ten Vorschläge vorlegen zu einem ge¬ 
setzlichen Mindestmaß für die Landung 
und den Verkauf der Scholle in der 
Nordsee. 

In diesem Augenblick, wo Gelehrte, 
Fischer und Gesetzgeber der beteilig¬ 
ten Staaten den ersten wohlüberlegten 
und erfolgverheißenden Schritt zu einer 
vernünftigen Bewirtschaftung des Mee¬ 
res tun wollten, unterbrach der Krieg 
jählings die internationale Arbeit und 


machte ihre Fortsetzung so gut wie un¬ 
möglich. Zwar besteht das Zentral¬ 
bureau in Kopenhagen noch weiter, da 
die meisten Staaten, auch England, ihre 
Beiträge im ersten Kriegsjahre weiter¬ 
gezahlt haben, aber dieser anerkennens¬ 
werte Versuch, die zentrale Organisa¬ 
tion während des Krieges und darüber 
hinaus zu erhalten, bedeutet doch 
kaum mehr als die Möglichkeit, ge¬ 
wisse laufende Veröffentlichungen des 
Zentralbureaus abzuschließen. 

Am schwersten ist durch diesen plötz¬ 
lichen Abbruch der internationalen Ar¬ 
beiten die deutsche Meeresfor¬ 
schung betroffen worden. Gerade sie 
hatte ihre besten Kräfte an die Lösung 
der neuen wissenschaftlichen Aufgaben 
gesetzt und bei mancher derselben die 
Organisierung und die geistige Füh¬ 
rung übernommen. Nun ist sie mit 
einem Male ganz zur Untätigkeit ver¬ 
urteilt Der Seekrieg und der Still¬ 
stand der deutschen Hochseefischerei 
machen wissenschaftliche Forschungs¬ 
arbeiten auf See und in den Fischerei¬ 
häfen unmöglich. In unseren Meeres¬ 
laboratorien an Land kann kaum noch ge¬ 
arbeitet werden; ihre Gelehrten stehen 
im Felde oder die Anstalten sind ganz 
geschlossen, wie Helgoland. Überall 
aber fehlen zugleich die allemotwen- 
digsten Geldmittel, und so ist es zum 
größten Schaden der Sache nicht ein¬ 
mal möglich, wichtige angefangene Ar¬ 
beiten abzuschließen und zu veröffent¬ 
lichen. Die neutralen Staaten und selbst 
England sind hierin weit besser dran 
als Deutschland; die ersteren haben so¬ 
gar ihre Arbeiten auf See teilweise fort¬ 
setzen können. 

Für die internationale Meeresfor¬ 
schung bedeutet der Krieg, wie für so 
viele andere Friedenswerke, ein großes 
Unglück. Ihr Schicksal im Kriege wird 
aber noch ein besonderes durch den 

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569 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 570 


ausgesprochen internationalen Charak¬ 
ter ihres Gebietes, des Meeres, und 
ihres Hauptgegenstandes, der Hochsee¬ 
fischerei. Geht es in diesem Kriege um 
die Freiheit der Meere, so gewiß auch 
um die Freiheit der Seefischerei; diese 
kann nur bedeuten eine auf freies Über¬ 
einkommen aller Völker gegründete ge¬ 
meinsame wirtschaftliche Ausnutzung 
des Meeres, gesichert durch einen ge¬ 
setzlich geregelten vernünftigen Betrieb 
der Fischerei und durch internationale 
Fischerei vertrüge. Diese zu fördern ist 
aber nach dem Christiania-Programm 
von 1901 das wichtigste praktische Ziel 
der internationalen Meeresforschung. 

Angesichts der üblen Lage, in die 
der Krieg die internationale Meeresfor¬ 
schung und im besonderen die deutsche 
Meeresforschung gebracht hat und bei 
der großen Gefahr, die ihrem Fort¬ 
bestehen droht ist es nötig jetzt noch 
während des Krieges klare Einsicht in 
einige wichtige Fragen zu bekommen, 
von deren Beantwortung ihr ferneres 
Schicksal abhängt Diese Fragen sind 
folgende 

Erstens: Ist die internationale Mee¬ 
resforschung notwendig und unentbehr¬ 
lich zur Erreichung wichtiger wissen¬ 
schaftlicher und praktischer Ziele für 
die Beherrschung des Meeres durch 
den Menschen? Sind ihre bisherigen 
Leistungen und Erfolge groß genug, um 
die dafür aufgewandten öffentlichen 
Staatsmittel zu rechtfertigen und die 
Gewährung weiterer Mittel zu fordern? 
Muß sie daher nach Beendigung des 
Krieges auf jeden Fall wieder auf¬ 
genommen werden? 

Zweitens: Ist ihre Wiederaufnahme 
in absehbarer Zeit nach Friedensschluß 
möglich? 

Drittens: Hat Deutschland ein be¬ 
sonderes Interesse an ihrer Förderung 
und Fortsetzung? 

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Um die erste und wichtigste dieser 
Fragen recht zu verstehen, muß man 
sich klarmachen, daß die internatio¬ 
nale Meeresforschung dreifacher Art ist: 
erstens eine Erforschung des Meeres im 
allgemeinen, zweitens eine Forschung 
im Dienste der Seefischereien und drit¬ 
tens eine internationale, also gemein¬ 
same Arbeit mehrerer Länder. 

II. 

Die allgemeine Meeresfor¬ 
schung umfaßt die gesamten phy¬ 
sischen und biologischen Verhält- 
hältnisse des Meeres. Begründet und 
zuerst ausgebaut von den mehr see¬ 
fahrenden Völkern, namentlich Eng¬ 
land, ist sie in den letzten Jahrzehnten 
auch durch Deutschland gefördert und 
erweitert worden, so besonders durch 
die Deutsche Plankton-Expedition des 
„National“ (1889) und die Deutsche Tief- 
see-Expedition der „Valdivia“ (1898). 
Die deutsche Wissenschaft hat hier Be¬ 
deutendes geleistet durch die Auffin¬ 
dung neuer fruchtbarer Untersuchungs¬ 
methoden, besonders der Hensenschen 
quantitativen Bestimmung des Plank¬ 
tons, d. h. der frei im Wasser schwe¬ 
benden Umahrung aller höheren Mee¬ 
restiere; durch sie ist die Grundlage 
für eine allgemeine Biologie des Meeres 
geschaffen und die Erkenntnis des inne¬ 
ren Zusammenhanges zwischen den 
physischen und biologischen Verhält¬ 
nissen des Meeres mächtig gefördert 
worden. Bei solchen Forschungen 
wurde es auch bald klar, daß sie auf 
die Dauer nur durch internationales Zu¬ 
sammenarbeiten mehrerer Länder er¬ 
folgreich sein konnten. Die gewaltige 
Größe und Unzugänglichkeit des Mee¬ 
res erfordern sehr bedeutende Mittel 
und Kräfte, die ein einzelnes Land nicht 
aufbringen kann. Die räumliche Verbin¬ 
dung aller Meere untereinander und der 

Original fro-m 

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571 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 572 


damit gegebene Zusammenhang aller 
ihrer physischen und biologischen Vor¬ 
gänge verlangt die Anwendung glei¬ 
cher, durch internationale wissenschaft¬ 
liche Arbeiten festgestellter Unter¬ 
suchungsmethoden. Neuere Forschun¬ 
gen über die hydrographischen Verhält¬ 
nisse des nordatlantischen Ozeans, na¬ 
mentlich seiner Strömungen, haben er¬ 
geben, daß ihr Verlauf und ihre pe¬ 
riodischen Schwankungen in ursäch¬ 
lichem Zusammenhang stehen mit der 
Witterung in Mittel- und Nordeuropa 
und dadurch auch mit der Fruchtbar¬ 
keit unserer Meere und Länder, die also 
durch ozeanische Verhältnisse wesent¬ 
lich mitbedingt werden. Die Witte¬ 
rungsbeobachtungen sind bekanntlich 
seit geraumer Zeit international orga¬ 
nisiert; dasselbe muß auch mit den hy¬ 
drographischen Meeresbeobachtungen 
geschehen. 

Die allgemeine Meeresforschung in 
dieser ihrer neuen Gestalt als ange¬ 
wandte Naturwissenschaft ist nun die un¬ 
entbehrliche Grundlage und die Voraus¬ 
setzung des Erfolges für die besondere 
Meeresforschung im Dienste 
der Seefischerei. Auch sie ist ge¬ 
boren im Beginn des vorigen Jahrhun¬ 
derts. Aber nicht wie jen^ aus allge¬ 
meinem Wissenstrieb, angeregt durch 
die gewaltige Steigerung der übersee¬ 
ischen Schiffahrt, sondern unmittel¬ 
bar aus einer großen wirtschaft¬ 
lichen Not der Seefischerei, wie 
sie damals an den Westküsten Schwe¬ 
dens und Norwegens durch das plötz¬ 
liche Fernbleiben der gewohnten Fisch¬ 
züge, besonders des Herings, entstan¬ 
den war. Wo lagen hier die Ursachen: 
in menschlichem Verschulden durch un¬ 
vernünftigen Betrieb der Fischerei oder 
allein in natürlichen Verhältnissen, auf 
die der Mensch keinen Einfluß hatte? 
War Abhilfe möglich? Indem die Re¬ 


gierungen der nordischen Länder zur Be¬ 
antwortung dieser wirtschaftlich über¬ 
aus wichtigen Fragen auch die Hilfe 
der Naturwissenschaft als unentbehr¬ 
lich erkannten, entstanden im ersten 
Drittel des vorigen Jahrhunderts die 
ersten wissenschaftlichen Meeresunter¬ 
suchungen im Dienste der SeefischereL 
Im Aufträge und mit Unterstützung des 
Staates sind so in unseren nordischen 
Nachbarländern eine fortlaufende Reihe 
grundlegender Untersuchungen über die 
Naturgeschichte wichtiger Nutzfische, 
namentlich des Kabeljaus und Herings, 
durch namhafte Forscher, wie Nilsson, 
G. O. Sars u. a., ausgeführt und bis in 
die neueste Zeit fortgesetzt worden. 

Diese neue Art der praktisch-wissen¬ 
schaftlichen Meeresforschung wurde in 
der Folge zunächst in Deutschland von 
der 1870 begründeten Kieler Kommis¬ 
sion zur Untersuchung der deutsdien 
Meere mit großem Eifer aufgenommen 
und mit deutscher Gründlichkeit ver¬ 
tieft und ausgebaut Nord- und Ostsee 
wurden jetzt zum ersten Male physisch 
und biologisch planmäßig erforscht und 
im besonderen die Bearbeitung der Na¬ 
turgeschichte wichtiger Nutzfische, wie 
des Herings, in Angriff genommen. 
Diese in vieler Beziehung bahnbrechen¬ 
den und vorbildlichen Arbeiten der Kie¬ 
ler Kommission haben wesentlich da¬ 
zu beigetragen, auch in den anderen 
Küstenländern solche Untersuchungen 
durch Staatsmittel zu fördern. Es wur¬ 
den ständige Kommissionen dafür ein¬ 
gesetzt und besondere Meereslaborato¬ 
rien begründet die, wie die KgL Biolo¬ 
gische Anstalt auf Helgoland, nicht nur 
der allgemeinen Meeresbiologie, son¬ 
dern auch der angewandten im Dienste 
der Seefischerei dienen und deren Lei¬ 
ter zugleich auch Berater der Regierun¬ 
gen in Seefischereiangelegenheiten sind. 

Inzwischen vollzog sich in der See- 


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573 Fr* Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 574 


fischerei der nordeuropäischen Länder 
eine gewaltige Veränderung: der Über¬ 
gang von der Küstenfischerei zur Hoch¬ 
seefischerei. In früherer Zeit und noch 
bis in die Mitte des vorigen Jahrhun¬ 
derts konnten die Seefischer mit ihren 
kleinen, von Wind und Wetter abhän¬ 
gigen Segelfahrzeugen und ihren klei¬ 
nen und leichten Fanggeräten nur in 
engen Meeresbuchten, in Flußmündun¬ 
gen und auf den flachen Küstengrün¬ 
den der offenen See mit Erfolg fischen; 
ihre schwankenden Fangerträge wurden 
wesentlich mitbestimmt durch die wech¬ 
selnden Mengen der vor den Küsten 
mehr oder weniger regelmäßig erschei¬ 
nenden Züge der Wanderfische. Wie 
ganz anders jetzt 1 Große und seetüch¬ 
tige Fischerfahrzeuge, ausgerüstet mit 
Dampfmaschinen und Motoren aller 
Art und vergrößerten und verbesserten 
Fanggeräten, gewaltigen Grundnetzen 
und kilometerlangen Treibnetzen, durch¬ 
kreuzen zu Tausenden tagaus, tagein 
unsere nordischen Meere; kein Fang¬ 
platz ist für sie zu weit abgelegen, 
keine Meerestiefe und kein Meeresgrund 
mehr unerreichbar. Die Gesamterträge 
dieser Hochseefischerei sind gegen 
früher enorm gestiegen und steigen 
noch von Jahr zu Jahr. Der ungeheure 
Verbrauch von Seefischen im Binnen¬ 
lande reizt zu immer neuem Gewinne 
und zu einer stetigen Ausdehnung der 
Fischerei Auf dem freien extraterrito¬ 
rialen Gebiet des Meeres keinerlei Be¬ 
schränkung irgendwelcher Art unter¬ 
worfen, wird sie immer mehr zu einer 
rücksichtslosen Ausbeutung der reichen 
Schätze des Meeres, zu einer Raub- 
fischerei im schlimmsten Sinne des 
Wortes. Sie ist wirklich im Meere das¬ 
selbe, wie auf dem Festlande das Nie¬ 
derlegen ganzer Wälder und die Aus¬ 
rottung wertvoller Tiergattungen. 

Die örtlichen Küstenfischereien frühe¬ 


rer Zeiten wurden oft schwer betroffen 
durch das Fernbleiben der segenbrin¬ 
genden Fischscharen, das, wie jetzt 
wohl als sicher gelten kann, rein na¬ 
türliche und menschlicher Einwirkung 
entzogene Ursachen hatte. Der gewalti¬ 
gen, an keinen Ort mehr gebundenen 
Hochseefischerei droht eine andere, weit 
größere und dauernde Gefahr, die der 
Überfischung. Kann der natürliche 
Bestand eines Meeres an Nutzfischen, 
z. B. der Nordsee, eine so starke Be¬ 
fischung auf die Dauer ohne ernste 
Schädigung ertragen? Wird ihm jetzt 
nicht alljährlich mehr entnommen, als 
durch seine natürliche Wachstums- und 
Zeugungskraft in gleichem Zeiträume 
nachwachsen kann? Und wenn eine 
solche Überfischung ernstlich droht 
oder bereits besteht sind Gegenma߬ 
regeln nötig und möglich, und welcher 
Art müssen sie sein? 

Die Antwort auf diese Fragen wird 
sehr wahrscheinlich dahin ausfallen, 
daß eine Überfischung der Nordsee in 
der Tat droht oder bereits besteht Dafür 
sprechen mancherlei Anzeichen, so die 
relative Abnahme der großen und Zu¬ 
nahme der kleinen Fische in den Fän¬ 
gen, besonders aber, daß die Gesamt¬ 
erträge der Hochseefischerei in gerin¬ 
gerem Grade wachsen als der Umfang 
des Betriebes und die Ausdehnung der 
Fischgründe; dies weist deutlich auf 
eine Abnahme der Ertragsfähigkeit der 
alten Fischgründe der Nordsee hin. In 
England, das den weitaus größten An¬ 
teil an der Hochseefischerei hat ist die 
Frage der Überfischung und der damit 
zusammenhängenden sinnlosen Vernich¬ 
tung junger, untermaßiger Fische schon 
lange mit großem Interesse und in brei¬ 
ter Öffentlichkeit verhandelt worden, 
auch sind vielfache Abhilfemaßregeln 
vorgeschlagen, ohne daß ein greifbares 
Ergebnis erzielt wäre. In Deutschland, 


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575 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 576 


das seine Hochseefischerei erst in den 
letzten dreißig Jahren aus kleinen Anfän¬ 
gen zu achtungswerter Höhe entwickelt 
hat, sind jene Fragen von Anfang an mehr 
wissenschaftlich behandelt worden. Be¬ 
sonders der Deutsche Seefischerei-Ver¬ 
ein und die Biologische Anstalt auf Hel¬ 
goland haben immer wieder darauf hin¬ 
gewiesen, daß eine befriedigende und 
endgültige Antwort auf diese biolo¬ 
gisch wie wirtschaftlich gleichwich¬ 
tigen Fragen nur bei einer partei- und 
leidenschaftslosen Behandlung dersel¬ 
ben durch streng wissenschaftliche Un¬ 
tersuchungen gegeben werden könne. 
In der Tat ist die Frage, ob der natür¬ 
liche Bestand einer Fischart der Nord¬ 
see, z. B. der Scholle, jetzt überfischt 
ward oder nicht, ein rein biologisches 
Problem. Wir können es erst lösen, 
wenn wir nicht nur gleicherweise die 
Größe und Zusammensetzung dieses Be¬ 
standes nach Menge und Art der Fische 
kennen, sondern auch die ganze Ent- 
wicklungs- und Lebensgeschichte der 
Scholle, vor allem ihre Ernährung, ihr 
Wachstum und ihre Fortpflanzung; 
denn davon hängt die Möglichkeit ab, 
den weggenommenen Teil des Bestan¬ 
des regelmäßig wieder zu erzeugen. 
Daß wir ohne solche rein naturwissen¬ 
schaftliche Kenntnisse auch nicht im¬ 
stande sein werden, die Wirksamkeit 
und Zweckmäßigkeit irgendeiner Schon¬ 
maßregel, sei es Schonrevier oder 
Schonzeit oder Mindestmaß für den 
Fang, zu beurteilen, vielmehr mit der¬ 
artigen Maßnahmen völlig im Dunkel 
tappen müssen, versteht sich hiernach 
von selbst Eine Fischereigesetzgebung 
zum Schutze und zur Erhaltung der na¬ 
türlichen Fischbestände unserer Meere 
ohne solche wissenschaftliche Kennt¬ 
nisse ist eine Unmöglichkeit Endlich 
kann nur die wissenschaftliche For¬ 
schung entscheiden, ob wirklich das 


Meer als Ganzes so unendlich reich aji 
Fischen und so unerschöpflich für den 
Menschen ist wie die allein ihrem 
Verdienst nachgehenden Fischer und 
manche andere glauben; so reich, daß 
jeder noch so große örtliche, durch 
menschliche Schuld veranlaßte Verlust 
stets schnell wieder aus der unerme߬ 
lichen Fülle des Ozeans ersetzt wird. 

Die hier unentbehrliche wissenschaft¬ 
liche Forschung konnte aber nur dann 
erfolgreich sein, wenn sie ein organi¬ 
siertes internationales Zusammen¬ 
arbeiten aller an der Hochseefischerei 
beteiligten Staaten wurde, teils wegen 
des großen Umfanges der Arbeit die 
ein einzelner Staat nicht leisten konnte, 
teils auch in Ansehung ihres prakti¬ 
schen Endziels, nämlich einer gesetz¬ 
lichen Regulierung des Hochseefische¬ 
reibetriebes, die nur durch internatio¬ 
nale Fischereiverträge sichergestellt 
werden kann. Die in letzterer Bezie¬ 
hung gebotene, durch keinerlei natio¬ 
nale Sonderwünsche getrübte Sachlich¬ 
keit der Untersuchungen wird nur ge¬ 
währleistet durch ein internationales, 
sich selbst kontrollierendes Zusammen¬ 
arbeiten. Ein lehrreiches Beispiel dafür, 
wie es in solchen Dingen nicht zu¬ 
gehen darf, liefert der vor etwa dreißig 
Jahren gemachte englische Vorschlag, 
die Deutsche Bucht der Nordsee zu einem 
internationalen Schonrevier zu machen, 
weil sie der Hauptaufenthaltsort, die 
„K i n d e r s t u b e" der jungen Nutzfische 
der Nordsee, besonders der Scholle, 
sei. Eine solche, auf einer ganz unge¬ 
nügenden Kenntnis des Lebens der be¬ 
treffenden Fische beruhende Maßregel 
würde, wenn sie hätte durchgeführt wer¬ 
den können, die damals eben aufblühende 
deutsche Hochseefischerei im Keime er¬ 
stickt, England aber nur kleine Unbequem¬ 
lichkeiten und schließlich große Vorteile 
auf unsere Kosten gebracht haben. 


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Original frurn 

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577 Fr. Heincke. Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 578 


Unter dem Zwange solcher Tatsachen 
und Erwägungen entstand die inter¬ 
nationale Erforschung der Nordmeere, 
zuerst und fast gleichzeitig geplant in 
Deutschland, Holland und Schweden 
und im Jahre 1902 verwirklicht Nicht 
plötzlich und als etwas Neues, sondern 
aus kleinen Anfängen entwickelt, als 
etwas natürlich Gegebenes und Not¬ 
wendiges in der fortschreitenden ma¬ 
teriellen Beherrschung und wirtschaft¬ 
lichen Ausnutzung des Meeres durch 
den Menschen. Die Wissenschaft als die 
geistige Fahrerin aller schaffenden und 
fruchtbringenden menschlichen Arbeit 
erweist sich jetzt auf dem Meere so un¬ 
entbehrlich wie auf dem Lande, für die 
Seefischerei so nötig als wie für die 
Landwirtschaft für Handel und Indu¬ 
strie. Ohne sie gibt es im Meere nur 
Raubfischerei, die früher oder später 
große Werte unwiederbringlich vernich¬ 
ten muß, mit ihr wird künftig eine ver¬ 
nünftige Meerwirtschaft entstehen, die 
auf die Dauer größere Erträge bringen 
muß, als der jetzige Fischereibetrieb. 

IIL 

Die Notwendigkeit der inter¬ 
nationalen Meeresforschung ist 
damit bewiesen. Es soll jetzt untersucht 
werden, ob ihre bisherigen Erfolge groß 
und namentlich in Ansehung ihrer End¬ 
ziele wichtig genug sind, um eine wei¬ 
tere staatliche Förderung zu rechtfer¬ 
tigen. 

Bei der Größe der neuen hier zu 
lösenden Aufgaben und ihrer man¬ 
nigfachen Schwierigkeiten konnte trotz 
großen Arbeitsaufwandes nicht erwar¬ 
tet werden, daß in der kurzen Zeit von 
zwölf Jahren auf edlen Gebieten ab¬ 
schließende Ergebnisse erzielt werden 
würden. In der Tat, wenn auch schon 
jetzt manche schönen und großen Er¬ 
folge zu verzeichnen sind, so bleibt 


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doch noch viel mehr zu erforschen 
übrig. Aber man darf erwarten und 
verlangen, daß methodisch und ziel¬ 
bewußt gearbeitet wird und daß die 
Forschung jetzt die rechten Mittel 
und Wege zeigen kann, die zum End¬ 
ziele führen. Und daß dem so ist, darf 
getrost behauptet werden. 

In der allgemeinen Meeresforschung 
ist in erster Linie die Hydrographie 
der nordeuropäischen Meere mächtig 
gefördert worden. Auf Grund der vier¬ 
mal jährlich zu gleichen Zeiten und auf 
vorgeschriebenen Linien ausgeführten 
Terminfahrten und zahlreichen Zwi¬ 
schenbeobachtungen können wir jetzt 
genaue Karten entwerfen von dem phy¬ 
sisdien Zustande des Meeres nachSalz- 
und Gasgehalt, nach Temperatur und 
Strömungen in edlen Tiefen und von 
ihrem regelmäßigen Wechsel im Laufe 
des Jahres. Dadurch sind zugleich höchst 
wichtige Aufschlüsse gewonnen über die 
engen Beziehungen zwischen der Physik 
und Chemie und der Biologie des Mee¬ 
res, z. B. über den Einfluß von Tempe¬ 
ratur, Salzgehalt und Strömungen auf 
die Verbreitung der schwimmenden Eier 
unserer Nutzfische, ihrer jungen Brut 
und deren erster Nahrung, des Plank¬ 
tons. Unser Wissen von der qualitati¬ 
ven und quantitativen Verteilung des 
letzteren ist dabei außerordentlich ge¬ 
fördert worden. Dasselbe gilt von dem 
Gehalt des Meeres an Bakterien, der 
von bestimmendem Einfluß ist auf seine 
Produktion an organischer Substanz. 

In der Naturgeschichte der 
Nutzfische hat die internationale 
Meeresforschung ganz außerordent¬ 
liche, vorher kaum geahnte Fortschritte 
gebracht, die hauptsächlich der verbes¬ 
serter Technik der wissenschaftlichen 
Fischerei zu verdanken sind. Die Er¬ 
findung neuer mannigfacher Netze und 
Fanggeräte gestattet uns jetzt, jede 

19 

Original frorn 

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579 Fr. Heincke, Die internationale Meeresiorschung vor und nach dem Kriege 580 


Fischart des Meeres auf jeder Lebens¬ 
und Größenstufe und in jeder Meeres¬ 
tiefe mit Sicherheit zu fangen und da¬ 
mit auch ihre Lebensgeschichte, vor 
allem ihre Fortpflanzung und ihre Wan¬ 
derungen, in allen Einzelheiten zu er¬ 
forschen. Der größte Erfolg dieser Art 
ist die endgültige Lösung des jahrhun¬ 
dertealten Problems der Fortpflan¬ 
zung d e s A a 1 s. Es ist jetzt sicher nach¬ 
gewiesen, daß edle Aale Europas zum 
Laichen bis mitten in den Atlantischen 
Ozean wandern müssen, und daß ihre 
junge, dort geborene Brut nach Zurück¬ 
legung einer wu n derbarenMetamorphose 
alljährlich in ungeheuren Mengen an die 
Küste zieht und weiter in die süßen Ge¬ 
wässer aufsteigt Die Größe dieser Fort¬ 
schritte in der Naturgeschichte unserer 
marinen Nutzfische wird man vielleicht 
am besten daran ermessen, daß wir 
über sie jetzt fast in jeder Beziehung 
besser unterrichtet sind wie über unsere 
Süßwasserfische. Das ist allein das Er¬ 
gebnis eines zielbewußten und methodi¬ 
schen Zusammenarbeiten, das uns lei¬ 
der in der Süßwasserfischerei noch 
fehlt. In dieser Beziehung kann und 
wird die Meeresforschung anregend 
und befruchtend auf die Süßwasserfor- 
schung wirken; in erster Linie bei sol¬ 
chen Fischen, die, wie der Aal, der 
Lachs u. du, einen Teil ihres Lebens im 
Meere zubringen und die vielfachen 
engen Beziehungen zwischen Festlands¬ 
und Meeresleben erkennen lassen. 

Ers* auf Grund einer solchen genauen 
Kenntnis der Naturgeschichte der Nutz¬ 
fische und ihrer allgemeinen physi¬ 
schen und biologischen Lebensbedingun¬ 
gen konnte die internationale Meeres¬ 
forschung an die Lösung der prakti¬ 
schen Fragen der Überfischung 
und der Schonmaßregeln mit Aussicht 
auf Erfolg herangehen. Hier gilt es die 
Beantwortung folgender Fragen: l.Wie 


groß ist der natürliche Bestand eines 
Meeres, z. B. der Nordsee, an Nutz¬ 
fischen, und wie ist der Bestand jeder 
Art zusammengesetzt nach Größen¬ 
stufen, Geschlechtern u. a.? 2. Wie 
groß ist die Fischmenge jeder Art nach 
Zahl, Gewicht und Zusammensetzung, 
die die Fischerei alljährlich dem Be¬ 
stände entnimmt? 3. Kann diese jähr¬ 
lich weggefischte Menge durch die Ver¬ 
mehrung und das Wachstum der übrig¬ 
gebliebenen Fische regelmäßig und voll¬ 
ständig ersetzt werden, oder wird mehr 
weggefangen, als normalerweise nach¬ 
wachsen kann (Überfischung), und 
welches sind die sichtbaren Folgen da¬ 
von in der Größe und Zusammensetzung 
des Bestandes? 4. Sind solche Anzei¬ 
chen von Überfischung wissenschaftlich 
untrüglich festzustellen? Oder beruhen 
vielleicht alle bisher nachweisbaren 
Schwankungen und Veränderungen in 
den Erträgen der Fischerei nur auf na¬ 
türlichen, jedem menschlichen Einfluß 
entzogenen Ursachen? 5. Wenn eine 
Überfischung besteht, welche Mittel 
sind geeignet, den normalen Zustand 
wiederherzustellen, und wie muß der 
Fischereibetrieb reguliert werden, um 
einen Fischbestand, ohne ihn dauernd 
zu schädigen, mit größtmöglichem 
Nutzen zu befischen? 

So leicht diese Fragen gestellt und 
so kurz sie ausgedrückt werden können, 
ebenso schwer und langwierig ist ihre 
Beantwortung. Sie würde aussichtslos 
gewesen sein, wenn man sich nicht zu¬ 
nächst auf einen einzigen wichtigen 
Nutzfisch beschränkt hätte, und zwar 
auf die Scholle der Nordsee, bei 
der eine Überfischung mit großer Wahr¬ 
scheinlichkeit bereits besteht Die gründ¬ 
liche Bearbeitung dieses einen Fisches 
hat aber recht bald dahin geführt die 
Mehrzahl der obigen Fragen zu beant¬ 
worten, wenn auch keineswegs erschöp- 


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581 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 582 


fend, doch so weit, daß hier ein gang¬ 
barer Weg zu notwendigen Schon- 
maßregeln gezeigt werden kann. Die 
Ergebnisse dieser Untersuchungen über 
die Scholle sind in einem von 
Heincke ausgearbeiteten Generalbe¬ 
richt niedergelegt; auf Grund des¬ 
selben konnte der Zentralausschuß in 
Kopenhagen im Jahre 1913 den Re¬ 
gierungen der beteiligten Staaten die 
ersten positiven Vorschläge zu einem 
gesetzlichen Mindestmaß für die Scholle 
der Nordsee machen. 

Von den mannigfachen Mitteln und 
Wegen, wie diese Ergebnisse erreicht 
wurden, können und sollen hier nur 
einige wenige genannt werden, teils um 
die Größe der geleisteten Arbeit zu er¬ 
messen, teils um zu zeigen, wie nur die 
konsequente Anwendung streng wis¬ 
senschaftlicher Untersuchungsmethoden 
hier zu Erfolgen führen kann. 

Das erste und vornehmste dieser For¬ 
schungsmittel ist die Bestimmung 
der Lünge, des Gewichts, des 
Geschlechts und des Reifesta¬ 
diums bei vielen Tausenden ein¬ 
zelner Schollen aus allen Teilen der 
Nordsee und zu edlen Zeiten des Jahres. 
Solche Bestimmungen sind ausgeführt: 
1. an Land bei den Schollenfängen, 
wie sie in den Nordseehäfen gelemdet 
werden; sie belehren uns über die Zu¬ 
sammensetzung der in den mensch¬ 
lichen Verbrauch übergehenden Schol¬ 
lenmengen nach Zahl, Länge, Gewicht 
u. a. der einzelnen Fische; 2. auf See 
bei solchen Schollenfängen, wie sie in 
den Grundnetzen der gebräuchlichen 
Fisdierfahrzeuge gefunden werden; sie 
zeigen die Zusammensetzung der dem 
Schollenbestande des Meeres entnom¬ 
menen und damit vernichteten Schol¬ 
lenmengen, die stets größer sind als die 
gelandeten und damit nutzbar gemach¬ 
ten; 3. auf See bei den rein wissen- 

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schaftlichen Fängen der Forschungs¬ 
dampfer mit Grundnetzen von verschie¬ 
dener Maschenweite; sie zeigen uns die 
Zusammensetzung jener Teile des na¬ 
türlichen Schollenbestandes, die von 
den gebräuchlichen Fischerfahrzeugen 
nicht gefangen werden können, weil sie 
durch die Maschen ihrer Netze wieder 
entweichen. Die wissenschaftliche Ana¬ 
lyse dieser drei Arten von Schollenfän¬ 
gen zusammen und ihre Verarbeitung 
geben uns dann ein Bild von der Zu¬ 
sammensetzung des natürlichen Schol¬ 
lenbestandes der Nordsee nach Zahl, 
Länge, Gewicht, Geschlecht und Reife 
der einzelnen Fische. 

Selbstverständlich können nicht alle 
einzelnen Schollen gemessen und ge¬ 
wogen werden, sondern stets nur Stich¬ 
proben der Anlandungen und Fänge. 
Solche Proben müssen das sein, was 
man in der Statistik „repräsenta¬ 
tiv“ nennt und deshalb nach streng 
wissenschaftlichen, mathematisch be¬ 
gründeten Methoden ausgewählt und 
behandelt werden, um brauchbare 
Schlußfolgerungen zu gestatten. Die 
geistige Arbeit, die hier über das mehr 
oder weniger mechanische Messen und 
Wägen mehrerer Millionen einzelner 
Schollen hinaus geleistet werden mußte, 
ist eine recht große. 

Ein zweites, sehr wichtiges For¬ 
schungsmittel sind die Versuche mit 
dem Aussetzen und Wiederfan¬ 
gen markierter, d. h. solcher 
Schollen, die mit einer Marke ver¬ 
sehen sind, an der Zeit und Ort der 
Aussetzung zu erkennen sind. In den 
Jahren 1902 bis 1912 sind rund 29000 
solcher Schollen in der Nordsee aus¬ 
gesetzt und 9000 davon von der Fische¬ 
rei wiedergefangen und zurückgeliefert 
worden. Diese Versuche belehren uns 
über die Wanderungen und das Wachs¬ 
tum der Schollen, vor allem aber in 

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583 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 584 


dem Verhältnis der wiedergefangenen 
zu den ausgesetzten Fischen über die 
Wahrscheinlichkeit, mit der eine Scholle 
der Nordsee Aussicht hat, im Laufe 
eines Jahres von der Seefischerei gefan¬ 
gen zu werden. Man darf diese Wahr¬ 
scheinlichkeit auf Grund der bisheri¬ 
gen Untersuchungen zwischen */io und 
4 / 10 , im Mittel auf Vs» veranschlagen. 
Diese Zahl, der sog. Befischungs¬ 
koeffizient, bedeutet, daß die Schol¬ 
lenfischerei in der Nordsee jährlich etwa 
V 3 aller jener Schollen des ganzen Be¬ 
standes wegnimmt, die innerhalb der 
von den gebräuchlichen Geräten fang- 
baren Größen liegt Auf Grund der 
obengenannten fangstatistischen Unter¬ 
suchungen kann man die Gesamtzahl 
der alljährlich aus der Nordsee von 
erstklassigen Fahrzeugen gelandeten 
Schollen durchschnittlich auf rund 200 
Millionen Stück von 18 cm Länge an 
schätzen. Dazu kommen weitere 300 
Millionen Schollen von etwa 12 bis 
20 cm Länge, die zwar von den Grund¬ 
netzen mitgefangen, aber als wertlos 
wieder über Bord geworfen und nutz¬ 
los vernichtet werden. Dies ergibt 500 
Millionen als Gesamtzahl aller von der 
Fischerei jährlich dem Bestände der 
Nordsee entnommenen Schollen über 
12 cm Länge. Bei einem Befischungs¬ 
koeffizienten zwischen 8 /io und 4 /io» hu 
Mittel von Vs, berechnet sich hiernach 
die Zahl aller die Nordsee bevölkernden 
Schollen über 12 cm auf 1250 bis 2500, 
wahrscheinlich 1500 Millionen Stück. 

Ein drittes und nicht das unwich¬ 
tigste Forschungsmittel ist die Alters¬ 
bestimmung der Schollen. Die 
Möglichkeit das Alter der Fische in 
Jahren nach den sog. Jahresringen der 
Schuppen, Gehörsteine und Knochen zu 
bestimmen, ist bei Beginn der interna¬ 
tionalen Meeresforschung von deut¬ 
schen Gelehrten entdeckt und zu einem 


hohen Grade der Sicherheit gebracht 
worden. Bis heute liegen bereits bei 
etwa 30000 einzelnen Schollen solche 
Altersbestimmungen vor; sie haben sich 
als außerordentlich wichtig für die Lö¬ 
sung vieler praktisch-wissenschaftlichen 
Fragen erwiesen. Wir wissen jetzt daß 
die Seefische ein viel höheres Alter er¬ 
reichen können, als man bisher ge¬ 
glaubt hat die Scholle z. B. bis zu 
50 Jahren und mehr. Wir können nun 
bestimmen, in welchem Alter männliche 
und weibliche Schollen fortpflanzungs¬ 
fähig werden. Da jede Scholle ihren 
Geburtsschein gleichsam als versteinerte 
Urkunde bei sich trägt können wir jetzt 
die Zusammensetzung der Schollen¬ 
fänge nicht nur nach Geschlecht 
Länge und Gewicht sondern auch nach 
dem Alter der einzelnen Fische fest¬ 
stellen. Daraus ergibt sich die Möglich¬ 
keit die Zusammensetzung der Schol¬ 
lenbevölkerung eines Meeres in glei¬ 
cher Weise zu bestimmen, wie es 
beim Menschen durch die Bevölke¬ 
rungsstatistik auf Grund der Volkszäh¬ 
lungen geschieht Auf diesem Wege ge¬ 
langt man weiter durch vergleichende 
Untersuchung der Schollenbestände ver¬ 
schiedener Meere zu einem wirklichen 
wissenschaftlichen Beweise für eine 
tatsächlich bereits bestehende Über¬ 
fischung in der Nordsee. Es hat sich 
gezeigt daß die Schollenbestände in 
solchen Meeren, die erst seit kurzer Zeit 
mit großen Grundnetzen befischt wer¬ 
den, z. B. im Weißen oder Barents¬ 
meere, eine wesentlich andere Zusam¬ 
mensetzung haben, als in der schon so 
lange und so stark befischten Nordsee. 
Die Schollen erreichen im Barentsmeere 
nicht nur ein wesentlich höheres Alter 
als in der Nordsee, auch die verhältnis¬ 
mäßige Zahl der alten und großen 
Schollen ist dort viel größer. Die 
aus dem Zahlenverhältnis der einzel- 


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585 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 586 


nen Jahrgänge der Schollen erschlie߬ 
bare wahrscheinliche Lebensdauer einer 
Scholle von bestimmtem Alter ist im 
Barentsmeere ganz bedeutend höher als 
in der Nordsee, ein deutlicher Beweis, 
daß die Schollen in der letzteren viel 
stärker verfolgt werden. Hält man da¬ 
mit zusammen, daß nachweislich in 
dem Maße, wie die neuere zerstörende 
Grundnetzfischerei in der Nordsee an 
Stärke und Ausdehnung von Jahr zu 
Jahr zugenommen, auch die verhältnis¬ 
mäßige Zahl der großen zu den kleinen 
Schollen stetig abgenommen hat und 
gleichzeitig auch die absolute Größe 
der Fänge für die Fangeinheit (Trawl- 
stunde, Dampfertag u. a.), so ist sicher 
bewiesen, daß der ursprüngliche na¬ 
türliche Schollenbestand der Nordsee 
durch andauernde übermäßige Be¬ 
fischung bereits ernstlich angegriffen 
und nicht mehr imstande ist, die jähr¬ 
lich ihm entnommenen Fischmengen auf 
natürlichem Wege wieder zu ersetzen. 
Die Fischerei entnimmt also hier dem 
Meere nicht bloß den normalerweise 
möglichen Zinsertrag, sie zehrt bereits 
vom Kapital selbst; wird hier nicht 
ernstlich Einhalt geboten, so muß die¬ 
ses Kapital, der wertvolle Schollen¬ 
bestand der Nordsee, früher oder spä¬ 
ter erschöpft werden. 

Die Altersbestimmung der Schollen 
liefert uns aber nicht nur den Beweis 
für die Überfischung des Schollen¬ 
bestandes der Nordsee, sie zeigt auch 
deutlich, wie unwirtschaftlich und ge¬ 
radezu verwüstend die Art des Fische¬ 
reibetriebes wirkt Wie oben gesagt, 
kann man die Zahl der jährlich aus der 
Nordsee entnommenen Schollen auf 
etwa 500 Millionen von 12 cm Länge an 
schätzen. Von diesen werden 300 Mil¬ 
lionen — etwa 12 bis 20 cm lange und 
2 bis 3 Jahre alte — Schollen im Ge¬ 
samtgewicht von etwa 120000 Doppel- 

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zentnem vollkommen nutzlos vernich¬ 
tet. Rund 200 Millionen Schollen von 
18 an Länge an mit einem Durch¬ 
schnittsgewicht von etwa 220 g und 
einem Gesamtgewicht von 450000 Dop¬ 
pelzentnern werden gelandet und dem 
menschlichen Gebrauch zugeführt Da¬ 
von sind aber rund 80 Millionen im Ge¬ 
samtgewicht von etwa 90000 Doppel¬ 
zentnern sog. untermaßige, unter 
25 cm messende und unter vier Jahren 
alte Schollen, die nur einen äußerst ge¬ 
ringen Marktwert haben und die Kosten 
ihres Fanges nicht decken. Als wirklich 
wirtschaftlich verwertbar bleiben also 
von den 500 Millionen vernichteter 
Schollen nur 120 Millionen von über 
25 cm Länge und einem Alter von vier 
Jahren an mit einem mittleren Gewicht 
von 300 g, einem Gesamtgewicht von 
360000 Doppelzentnern und einem 
Marktwert von etwa 16 Millionen Mark. 
Um diesen wirtschaftlich verwertbaren 
Fang zu erzielen, werden gleichzeitig 
an Zahl mehr als dreimal und an Ge¬ 
wicht über einhalbmal soviel Schollen, 
unter 25 cm lang und unter vier Jahren 
alt, so gut wie zwecklos vernichtet 
Dieser junge Schollennachwuchs steht 
noch weit vor dem Eintritt in die volle 
Zeugungs- und Wachstumskraft; seine 
Vernichtung ist also sowohl wirtschaft¬ 
lich für den Menschen wie biologisch 
für die Erhaltung des Schollenbestan¬ 
des geradezu verhängnisvoll. 

Die Altersbestimmung der Fische ist 
endlich das einzige Mittel, uns über die 
Größe und den Gang des natürlichen 
Wachstums der Schollen Aufschluß 
zu geben. Durch sie wissen wir jetzt 
daß die Schollen normalerweise nur in 
den Frühjahrs- und Sommermonaten 
wachsen, aber nicht im Herbst und 
Winter. Wir können ferner bestimmen, 
wie groß die mittlere Länge und das mitt¬ 
lere Gewicht der Schollen in jedem ein- 

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587 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 588 


zelnen Jahre ihres Lebens sind und wie 
sie von Jahr zu Jahr zunehmen, d.h.wie 
groß das mittlere Wachstum in jedem 
Lebensjahre ist Dabei hat sich u. a. 
ergeben, daß die Schollen, wie zu er¬ 
warten, nicht in jedem Jahre ihres Le¬ 
bens gleichviel an Masse oder Gewicht 
zunehmen, oder, was dasselbe sagt, 
gleichviel an nutzbarem Fischfleisch 
hervorbringen, sondern daß es eine Pe¬ 
riode gibt, wo sie eine größere Wachs¬ 
tumskraft haben und eine größere jähr¬ 
liche Gewichtszunahme erfahren als zu 
irgendeiner anderen Zeit ihres Lebens. 
Bei den Schollen der südlichen Nord¬ 
see fällt diese Zeit des stärksten Wachs¬ 
tums in das Alter von 3,5 bis 7 Jahren 
und zwischen 25 und 45 cm Körper¬ 
länge. Hiermit eröffnet sich die Mög¬ 
lichkeit, bei jeder Scholle außer ihrer 
wahrscheinlichen Lebensdauer auch ihre 
wahrscheinliche Gewichtszunahme in 
einem bestimmten Abschnitt ihres Le¬ 
bens zu berechnen und damit auch ihren 
wirtschaftlichen Wert als Erzeuger von 
Fischfleisch. Die Kenntnis solcher Dinge 
ist ja bekanntlich unentbehrlich für eine 
rationelle Viehzucht; sie wird es auch 
für jede künftige Fischkultur im Meere 
sein. Von Bedeutung ist in dieser Hin¬ 
sicht auch die durch die Altersbestim¬ 
mungen festgestellte Tatsache, daß die 
Wachstumsgröße und Wachstumskraft 
der Schollen in verschiedenen Meeren 
auch sehr verschieden groß sein kann. 
In diesem Sinne gibt es „schnell¬ 
wüchsige“ Schollen, wie in der Nord¬ 
see und bei Island, und „langsam- 
wüchsige“, wie in der Ostsee und im 
Barentsmeere; um eine Länge von35cm 
zu erreichen, gebrauchen z. B. die erste- 
ren nur 4 bis 5, die letzteren 10 bis 
12 Jahre; zu einer Länge von 50 cm 
jene nur etwa 10, diese 20 bis 30 Jahre. 
Es kann als sicher angesehen werden, 
daß die Schollenbevölkerungen der ge- 

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nannten und anderer Meeresteile nicht 
nur in dieser Art ihres Wachstums, son¬ 
dern auch in vielen anderen körper¬ 
lichen Eigenschaften konstitutionelle 
und erbliche Unterschiede besitzen, sog. 
Lokalformen oder Rassen der Scholle 
sind, ähnlich den verschiedenen Rassen 
unserer Haustiere und Kulturpflanzen. 

Solche mit Hilfe der Altersbestim¬ 
mung gewonnenen Kenntnisse von dem 
Wachstum der Schollen sind von be¬ 
sonderer und grundlegender Bedeutung 
für die Ergreifung richtiger und brauch¬ 
barer Schonmaßregeln, eines der End¬ 
ziele der internationalen Meeresfor¬ 
schung. 

Die Altersbestimmung der Fische hat 
sich auch bei anderen wichtigen Nutz¬ 
fischen, über die ähnliche Untersuchun¬ 
gen wie bei der Scholle im Gange sind, 
als äußerst fruchtbar für die Lösung 
biologischer Fragen erwiesen. So hat 
z. B. eine Untersuchung der großen He- 
ringsschwärme an der Küste Norwe¬ 
gens ergeben, daß dort im letzten Jahr¬ 
zehnt — einer Periode besonders rei¬ 
cher Fischerei — ein bestimmter Jahr¬ 
gang der Heringe, nämlich die nach 
ihrer Altersbestimmung im Jahre 1904 
geborenen, eine Reihe von Jahren hin¬ 
durch an Zahl der Individuen alle ande¬ 
ren Jahrgänge stark überwogen hat 
Dies kann nur daher kommen, daß im 
Jahre 1904 an der norwegischen Küste 
eine viel größere Menge von Herings- 
brut erzeugt worden ist, als in jedem 
der Jahre vorher und nachher. Damit 
eiklärt sich sehr wahrscheinlich der 
große Heringsreichtum der letzten zehn 
Jahre in Norwegen durch dieses eine 
außerordentlich reiche Brutjahr 1904. 
Solche guten Brutjahre sind auch 
bei anderen Fischarten durch die inter¬ 
nationale Meeresforschung nachgewie¬ 
sen worden; sie scheinen periodisch 
aufzutreten und haben Ursachen, die 

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589 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 590 


sicher außerhalb menschlichen Einflus¬ 
ses und in zeitlichen und örtlichen Be¬ 
sonderheiten der physischen und bio¬ 
logischen Zustände* der betreffenden 
Meeresgebiete liegen, vermutlich in einer 
besonders üppigen Produktion jener 
kleinsten Formen des organischen Plank¬ 
tons, die die erste Nahrung der neu¬ 
geborenen Fischbrut bilden. Hier eröff¬ 
net sich die Aussicht, das Geheimnis 
der sog. Fischperioden zu enthül¬ 
len, d. h. des periodischen Anschwel¬ 
lens und Abschwellens der Menge ge¬ 
wisser Fischarten, einer der bemerkens¬ 
wertesten Erscheinungen in der Biolo¬ 
gie unserer nordischen Meere. Das ist 
ein neuer schöner Erfolg streng wis¬ 
senschaftlicher Untersuchungsmethoden 
und ihrer gleichzeitigen und gemein¬ 
samen Anwendung in dem ganzen gro¬ 
ßen Gebiet unserer Meeresforschung. 

IV. 

Schon vorher haben wir die Unent¬ 
behrlichkeit der internationalen Meeres¬ 
forschung erkannt Jetzt ist wohl auch 
bewiesen, daß sie bereits Bedeutendes 
geleistet hat und auf dem rechten Wege 
ist zur Erreichung ihrer großen wissen¬ 
schaftlichen und wirtschaftlichen End¬ 
ziele. Damit ist dann auch die Aufwen¬ 
dung staatlicher Mittel dafür gerecht¬ 
fertigt und die Notwendigkeit ihrer 
Fortsetzung nach dem Kriege gegeben. 
Hiervon sind jetzt alle sachverständi¬ 
gen und maßgebenden Stellen der betei¬ 
ligten Länder fest überzeugt, auch in 
England, dessen voriger Minister für 
Landwirtschaft und Fischerei es wäh¬ 
rend des Krieges auch öffentlich aus¬ 
gesprochen hat. 

Es fragt sich nun, ob die Wiederauf¬ 
nahme und Fortsetzung der internatio¬ 
nalen Arbeiten alsbald nach Friedens¬ 
schluß möglich sein wird. Diese Frage 

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ist größtenteils eine politische; ihre Be¬ 
antwortung hängt wesentlich vom Aus¬ 
gange des Krieges ab, besonders davon, 
wie sich das künftige Machtverhältnis 
zur See zwischen Deutschland und Eng¬ 
land gestalten wird. Behauptet und be¬ 
festigt England seine maritime Vorherr¬ 
schaft, so würde es möglicherweise 
selbst im Frieden nicht vor dem Ver¬ 
suche zurückschrecken, die Fischereien 
seiner Seenachbam zu vergewaltigen 
und die wirtschaftliche Ausnutzung des 
„freien Meeres“ zu seinem alleinigen 
Nutzen zu regeln. Das wäre wohl auch 
das Ende der internationalen Meeres¬ 
forschung. Kann dagegen Deutschland 
seine Seegeltung siegreich behaupten 
und vergrößern, so wird gewiß die jetzt 
lahmgelegte Hochseefischerei nach Be¬ 
endigung des Krieges sofort sehr ener¬ 
gisch und in friedlichem Wettbewerb 
der Völker wieder aufgenommen wer¬ 
den. Dann wird sich auch sehr bald die 
Notwendigkeit einer vernünftigen Rege¬ 
lung des Hochseefischereibetriebes von 
neuem geltend machen, und alle betei¬ 
ligten Staaten, auch England, werden 
im eigenen Interesse gezwungen sein, 
gemeinsam über internationale Schon¬ 
maßregeln zu beraten und Fischereiver¬ 
träge miteinander abzuschließen. Da¬ 
zu müssen aber unsere abgebrochenen 
Arbeiten wieder aufgenömmen werden. 

Ob dies freilich sofort nach Friedens¬ 
schluß möglich sein wird, ist wohl 
zweifelhaft Main wird damit rechnen 
müssen, daß — wie Fürst Bülow sagt 
— Haß und Rachegefühl noch lange die 
internationalen Beziehungen beeinflus¬ 
sen werden. So können wohl noch 
einige Jahre vergehen, bis die Gelehrten 
der jetzt so tief verfeindeten Völker im¬ 
stande sein werden, auf internationalen 
Zusammenkünften sachlich und leiden¬ 
schaftslos miteinander zu arbeiten. Aber 
kommen wird dieser Tag über kurz 

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591 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 592 


und lang, weil er kommen muß; ist doch 
alle wahre Wissenschaft international. 

Wenn aber die Unterbrechung unse¬ 
rer gemeinsamen Arbeiten durch den 
Krieg auch noch nach Beendigung des¬ 
selben vielleicht eine Zeitlang fort¬ 
dauert, so darf und kann doch diese 
Pause nicht ungenutzt bleiben. Wo die 
internationale Arbeit ruht, muß die na¬ 
tionale um so größer sein. Zunächst 
und _ vor allem ist es notwendig, in 
jedem Lande nach Bereitstellung aus¬ 
reichender Kräfte und Mittel die an¬ 
gefangenen Arbeiten abzuschließen und 
ihre Ergebnisse zu veröffentlichen; so¬ 
dann müssen gewisse laufende Unter¬ 
suchungen, namentlich hydrographische 
und allgemein biologische, energisch 
fortgesetzt werden. Wird beides un¬ 
möglich gemacht, so verliert auch die 
ganze mühsame Arbeit der letzten Jahre 
zum größten Teile ihren Wert, beson¬ 
ders in Deutschland. Endlich hat das 
durch den Krieg erzwungene Aufhören 
des größten Teiles der Hochseefischerei 
in der Nordsee und die dadurch ihrem 
Fischbestande unfreiwillig gewährte 
Schonzeit von bereits mehr als zwei 
Jahren die Meeresforschung vor ein 
ganz neues Problem gestellt, dessen 
Lösung sofort nach Friedensschluß mit 
allen Kräften versucht werden muß. 
Welche Veränderungen hat diese Schon¬ 
zeit in der Größe und Zusammen¬ 
setzung des Fischbestandes der Nord¬ 


see hervorgebracht, besonders bei der 
Scholle? Die Untersuchungen hierüber, 
die ziemlich erhebliche Mittel und vor 
allem die Wiedereinstellung des For¬ 
schungsdampfers „Poseidon“ in den 
wissenschaftlichen Dienst erfordern, 
sollten auf jeden Fall ausgeführt wer¬ 
den; ihre Unterlassung würde ein un¬ 
verzeihlicher, später nicht wieder gut 
zu machender Fehler sein. 

Wenn der hier versuchte Beweis von 
der Notwendigkeit und der großen Be¬ 
deutung der internationalen Meeresfor¬ 
schung geglückt ist, so muß Deutsch¬ 
land auch gewillt und bereit sein, sie 
zu erhalten und weiter zu fördern, sei 
es in der bisherigen Form oder mit 
einer vereinfachten zentralen Organi¬ 
sation oder vorläufig als nationales Un¬ 
ternehmen. Wenn irgend möglich, soll¬ 
ten die dazu nötigen Mittel schon jetzt 
— noch während des Krieges — ge¬ 
sichert werden, um eine zu lange Un¬ 
terbrechung unserer Forschungsarbeit 
zu vermeiden, die einer so groß ange- 
gelegten Sache verhängnisvoll werden 
kann. 

Deutschland hat in den letzten Jahr¬ 
zehnten die geistige Führung in der 
Meeresforschung gehabt; es muß sie 
auch in Zukunft behalten und seine 
Seegeltung auch in der wissenschaft¬ 
lichen und wirtschaftlichen Eroberung 
des Meeres fortschreitend betätigen. 


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Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios 


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Neue Lieder der Sappho und des Alkaios. 

Von Alfred Gercke. 


Je mehr wir von der lesbischen Dich¬ 
tung kennen lernen, um so zarter und 
inniger, leidenschaftlicher und offener 
offenbart sich uns das Gemüt der grö߬ 
ten Dichterin der Liebe, die die Welt 
kennt; um so gewinnender und ergrei¬ 
fender zeigt sich ihre in ihrer ungesuch- 
ten Schlichtheit so beredte Kunst, in der 
sich die Sprache mühelos dem Vers- 
rhythmus anschmiegt; um so schwerer 
verwinden wir den Verlust der kostba¬ 
ren Liedersammlung, die in hellenisti¬ 
scher Zeit neun Bücher umfaßte. Jetzt 
haben uns kurz vor Kriegsausbruch 
ägyptische Papyrusfunde 1 ) eine An¬ 
zahl Gedichte aus den beiden ersten 
Büchern wiedergeschenkt, vieles frei¬ 
lich nur in jämmerlichen Fetzen, und 
auch die besterhaltenen lückenhaft und 
unvollständig, aber doch, wie etwas, 
eines Versuches der Übertragung oder 
Nachdichtung, der Ergänzung und Be¬ 
sprechung wert Sie sind sämtlich ohne 
Überschriften überliefert, die uns selbst¬ 
verständlich, ja unentbehrlich scheinen. 

Die Allgewalt der Liebe, 
an Anaktoria. 

Manchen dünkt, es wäre ein Trupp von 

Reitern 

Oder Fußvolk oder ein Schiffsgeschwader 
Auf der schwarzen Erde das Schönste: mir 

scheint's 

Nur der Geliebte. 


1) The Oxyrynchos-Papyri ed. by Hunt 
Vol. X, Lond... 1914 Vgl. den Artikel „Neue 
Lesbische Lyrik“ von U. v. Wilamowitz- 
Moellendorff in Neue Jahrb. XXXIII (1914) 
225fl. Obiger Beitrag wurde im Juni 1914 dem 
Herausgeber eingereicht konnte aber bisher 
nicht gedruckt werden. Neuere Literatur ist 
nicht berücksichtigt, da der Verfasser seit 
zwei Jahren als Kommandant eines Kriegsge¬ 
fangenenlagers auf dem Hochmoore sitzt 
Internationale Monatsschrift 

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Alles trägt die Liebe ja leicht, und alles 
Lehrt sie uns verstehen. Von allen Männern 
Wählte als den schönsten die vielbegehrte 
Helena jenen, 

Der vernichten sollte die Scheu vor Troja; 
Ihrer Tochter, ihrer geliebten Eltern 
Dachte sie nicht weiter: verführt von Kypris 
Folgte sie Paris. 

Mich auch wußte Kypris im Flug zu fesseln, 
Daß ich nichts mehr schaute und nichts 

mehr hörte, 

Auch von ferne immer gedenkend, Anak¬ 
toria, deiner. 

Deinen lieben Schritt zu vernehmen, deiner 
Anmut Glanz zu sehen, erhoff ich sehnlichst, 
Statt der Kampfeswagen der Lyder, statt der 
Reiter im Panzer. 

Ach, es ist nicht möglich, ich weiß es freilich, 
Und mein Sehnen bleibt nur ein frommes 

Wünschen, 

Aber bitten darf ich darum die ew’gen 
Seligen Götter. 

Das Schicksal der Doricha. 
(Erhalten ist von dem merkwürdigen 
Liede nur der Schluß.) 

Du auch, Kypris, zeigtest dich harten Herzens, 
Dbcfa mit Prahlen haben erzählt die Männer, 
Wie zum zweiten Maie verlangend Sehnen 
Doricha stillte. 

Gebet an Hera. 

Nahe trat im Traume mir, Herrin Hera, 
Deine anmutsvolle Gestalt, so wie sie 
Vordem Atreus’ Söhne erblickten, beide 
Betend in Nöten. 

Ares’ Arbeit hatten sie kaum vollendet, 
Waren von Skamanders Gestade hierher 
Aufgebrochen, konnten jedoch die Seefahrt 
Nimmer vollenden. 

Bis sie dich und Zeus den gewalt'gen gnädig 
Fanden nebst dem lieblichen Sohn Thyonas. 
So auch bist du gnädig erschienen mir jetzt. 
Als ich dich anrief. 

Altem Brauche folgend, und Opfer brachte 
* * • • • • # •*•••••••# 

Diese Lieder sind alle im sapphischen 

Versmaße gehalten: dessen Strophe be- 

19** 

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Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios 


596 


steht aus drei Elfsilblem(_u_y_ww_u_o) 
und einem Adonius (.uw.c, benannt 
nach dem Kehrverse „wehe Adonis“). 

Das erste Buch der großen, mit 
erklärenden Anmerkungen versehenen 
Ausgabe umfaßte alle Gedichte in die¬ 
sem nach der Dichterin selbst benann¬ 
ten Maße, das waren im ganzen, wie 
wir jetzt aus der Buchunterschrift er¬ 
fahren, 1320 Verse oder 440 Strophen. 
Dieses Buch wurde schon im Altertume 
besonders gern gelesen und ausge¬ 
schrieben, und die modernen Papyrus¬ 
funde haben uns Reste dreier Exem¬ 
plare geschenkt, von denen die zuletzt 
gefundenen die ergiebigsten sind. Lei¬ 
der ist das meiste sehr verstümmelt. 
Wie Anaktoria, so wird auch eine andere 
leidenschaftlich geliebte Freundin, die 
Gongyla, angeredet: die Göttin von Ky- 
pros schilt ihr Vorhaben, vermutlich 
eine Reise, und sie selbst ist zur Freude 
der Dichterin erschrocken, als sie das 
Reisekleid (?) erblickt, so daß nun die 
Hoffnung auf ihr Bleiben auf leben kann, 
die Liebessehnsucht bis zuletzt umgibt 
Eine andere Geliebte vergleicht Sappho 
mit Hermione und ihrer göttlichen Mut¬ 
ter, der blonden Helena, „wenn solcher 
Vergleich Sterblichen erlaubt ist"; jeden¬ 
falls vergißt sie bei ihrem Anblicke aller 
Sorgen und will mit der Geliebten die 
Nacht durchschwärmen. Auch in dem 
Schlußgedichte des Buches ist von einem 
Nachtfeste der Jungfrauen die Rede, und 
darunter steht unmittelbar die erwähnte 
Unterschrift „Buch I der Lieder“ mit 
der Angabe der Zeilen. 

Die eigenartige, uns wie hypermodern 
erscheinende Selbständigkeit des weib¬ 
lichen Geschlechtes im öffentlichen Le¬ 
ben auf Lesbos war uns aus älteren 
Liedern bereits bekannt, erhält aber 
doch noch weiteres Licht und neue Sei¬ 
ten durch den jetzigen Fund. Die Lei¬ 
denschaftlichkeit der lesbischen Liebe 

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tritt immer stärker hervor und läßt uns 
jetzt erst ganz verstehen, wie die von 
der Großstadtluft Athens gepflegte 
Posse eine Sappho und ihre Gefähr¬ 
tinnen in den Schmutz ziehen und ein 
Vorurteil aufbringen konnte, von dem 
erst Welcker die edle und doch so na¬ 
türlich empfindende Sappho befreite. 
Vielleicht hat auch Doricha Mädchen 
geliebt, und die Männer sprachen da¬ 
von nicht eigentlich prahlend sondern 
mit Freude am Klatsch: was darüber 
Auskunft geben könnte, fehlt leider, 
nämlich das ganze vorangehende Gedicht. 

Ebenso fehlt der Schluß des Gebets 
an Hera und damit sein Anlaß. Ob die 
Dichterin noch lebendigen Götterglau¬ 
ben hatte, erführen wir gern. Denn 
Aphrodite, die in einem längst bekann¬ 
ten, wundervollen Gedichte angerufen 
wird, das sich durchaus als ein tief 
empfundenes Gebet darstellt, wird doch 
auch sonst so häufig als Kypris 
usw. erwähnt, daß derartiges sichtlich 
zu dem bequemen Vorräte von poeti¬ 
schen Vorstellungen und Wendungen 
gehört, der schon durch ältere Poesie an 
die Hand gegeben war. 

Völlig abgeblaßt erscheinen die reli¬ 
giösen Vorstellungen in den meisten 
Götterhymnen des Landsmannes und 
Zeitgenossen der Sappho, Alkaios, 
von denen wir mehrere bereits aus Zi¬ 
taten kannten, den auf Hermes gedich¬ 
teten nur durch eine Nachbildung des 
Horaz (1 10) kennen. Diese Dichtungen 
waren mehr vom Verstände als vom Ge¬ 
fühle diktiert, obwohl mit sicherem poe¬ 
tischen Takte durchgeführt Das zeigt 
deutlich der neue Hymnus: 

Gebet an die Dioskuren. 

Kommt hierher, verlaßt den gestirnten 

Himmel 

Und erscheinet gütige Hilfe bringend, 

Zeus’ und Ledas mächtige Söhne, Kastor 
Und Polydeukesl 

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Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios 


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Ober Landesbreite und alle Meere' 

Reitet ihr auf eilender Rosse Rücken, 
Und die Menschen rettet ihr leicht von 

Todes 

Eisigem Grauen. 

Hurtig eilt ihr Ober der Tempel Zinnen, 
Laßt von fern erglühen des Mastes Spitze 
Und bringt Hoffnungschimmer dem 

schwarzen Schiff in 
Nächtlicher Brandung. 

Dies könnte eine in sich abgeschlossene 
Dichtung sein. Aber vielleicht ist der 
Hymnus unvollständig, vielleicht folg¬ 
ten berühmte Taten der göttlichen Brü¬ 
der, vielleicht die Begründung der Bitte? 
Bei Sappho würde man das Letzte mit 
Sicherheit voraussetzen, aber die Ode 
des Horaz auf Merkur mahnt zur Vor¬ 
sicht, da ihr gerade das persönliche 
Moment fehlt, dagegen eine kurze my- 
thographische Skizze das Wesen des 
Gottes erläutert. Daß diese dem Vorbilde 
selbst entlehnt sein kann, lehrt moder¬ 
nem Zweifel gegenüber jetzt das Gedicht 
auf die Dioskuren. Dazu kommt das Sa¬ 
tyrspiel „Die Spürhunde“ des Sophokles, 
dessen erste Hälfte im Jahre 1910 ge¬ 
funden wurde: der doppelte Diebstahl 
des Hermes und seine Erfindung der 
Leier, die schließlich Apollon erhält, 
waren hier der Kern der Handlung, und 
eben dies hatte längst vorher Alkaios, 
wie auch ein homerischer Hymnus, 
scherzhaft behandelt Die älteren Dich¬ 
ter hatten den Respekt vor den Göt¬ 
tergestalten des Volksglaubens gründ¬ 
lich untergraben, und man kann nicht 
behaupten, daß Alkaios dagegen nach¬ 
drücklich angekämpft hätte, wenn er 
auch zu den Dioskuren ernsthaft betet, 
was man ihn als Kind gelehrt hatte. 
Mit Religion hat aber nichts mehr zu 
tun das folgende Gedicht: 

Das Walten der^Eris. 

Wie es heißt, erfuhren mit böser Tücke 
Priamos und seine geliebten Kinder 
Bitter Leid durch dich, du entfachtest Glut im 
Heiligen Troja. 


Dich nicht wollte Aiakos’ Sprößling ehren, 
Als er alle Götter zur Hochzeit einlud, 

Da das zarte Mädchen aus Nereus’ Haus in 
Cheirons Behausung 

Er als Gattin führte. Es löste der keuschen 
Jungfrau Gürtel Liebe des edlen Peleus 
Zu der allerschönsten der Nereustöchter. 

Und einen Knaben 

Schon im Jahresringe gebar sie: Glückskind, 
Einen Halbgott, Lenker der falben Rosse. 
Als die Phryger Helenas wegen fielen 
Samt ihrer Feste, 

War auch ihm des Todes Geschick be- 

schieden_ 

Das Gedicht steht an poetischer Kraft 
und im Einzelnen im Ausdruck nicht 
ganz auf der Höhe der meisten Dichtun¬ 
gen des Alkaios. Daß ich Eris, die nicht 
genannt wird, hineingebracht habe, ist 
leicht verständlich, weil dieser ungebe¬ 
tene Gast bei Peleus* und Thetis’ Hoch¬ 
zeit rachsüchtig den „Parisapfel" unter 
die geladenen Hochzeitsgaste warf und 
dadurch den zehnjährigen Brand ent¬ 
fachte und die Vernichtung der unschul¬ 
digen Trojaner und vieler Griechen her¬ 
vorrief. Ob ich Achills Tod als Schluß 
des Liedes mit Recht vermutet habe (die 
letzte Zeile ist nicht überliefert), mag 
zweifelhaft scheinen. Jedenfalls ist der 
Stoff dem Epos entlehnt, nicht der Ilias 
sondern den verlorenen Kyprien, die die 
Vorgeschichte des trojanischen Krieges 
ausführlich erzählten. Eine Reminiszenz 
daran flicht auch Sappho ihrem Liebes- 
liede an Anaktoria ein. 

Auch in dem Gebete an Hera hat 
Sappho epischen Stoff verwendet, die 
Heimfahrt der Zerstörer Ilions, denen die 
Götter günstigen Fahrwind versagten: 
diese Erzählung entstammte gewiß den 
verlorenen Nosten. Wir kannten die alte 
epische Erzählung bis in viele Einzel¬ 
heiten bereits aus der Odyssee, wo 
Nestor dem jungen Telemachos aus¬ 
führlich erzählt, was er von der Heim¬ 
fahrt der Helden weiß (III 103 ff.). Da¬ 
mit stimmt das Lied der Sappho teil- 


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Alfred Qercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios 


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weise überein. Lesbos kommt beide 
Male vor, da der blonde Menelaos nach 
der Telemachie hier die Vorausgefahre¬ 
nen einholte. Aber als erste Station, wo 
die voraussegelnde Hälfte der Griechen 
den Göttern Opfer brachte, nennt Nestor 
die kleine Insel Tenedos vor der troi- 
schen Küste; Agamemnon oder vielmehr 
beide Atriden blieben zunächst mit der 
anderen Hälfte der Mannen zurück. Auch 
die Anrufung des Dionysos, Sohnes der 
Semele oder der Thyone, und die der 
Hera selbst bei dieser Gelegenheit war 
bisher nicht überliefert, da vielmehr 
Athena neben Zeus als die zürnende 
Gottheit galt Die neuen Sagenzüge 
werden schwerlich lediglich dem les¬ 
bischen Lokalpatriotismus verdankt wer¬ 
den sondern gestatten einen Einblick in 
das ältere Epos, das durch die der 
Odyssee eingefügte Telemachie halb er¬ 
setzt und bald verdrängt wurde. Dieser 
Einblick ist auch für die Geschichte des 
hellenischen Heldenepos ein Gewinn. 

In der Ilias wird die Vermählung 
Hektors mit Andromache schon als 
längst vollzogen vorausgesetzt, beider 
Sohn war ein unmündiges Kind und 
blieb es auch, als sich der Krieg über 
zehn Jahre ausdehnte. Die Hochzeit 
gehörte der Vorgeschichte an, war also 
vermutlich in den Kyprien ausführlich 
geschildert worden, wie dieses verlo¬ 
rene und als Ganzes schwer vorstell¬ 
bare Epos seine Bilder breit und behag¬ 
lich zu malen liebte. Von dort hat 
Sappho wohl Umrisse und Farbenton 
zu dem Gemälde genommen, das das 
Schlußstück ihres zweiten Buches bildet. 
Dies war entweder der Kern eines Hoch¬ 
zeitsgedichtes, worin Sappho eine be¬ 
sondere Stärke besaß, oder man muß 
darin ein Seitenstück zu der homeri¬ 
schen Dichtung erblicken, da es, soweit 
es erhalten ist nichts von subjektiver 
Lyrik enthält sondern einen Ausschnitt 


aus dem Epos darstellt sogar in einem 
an den epischen Hexameter erinnernden 
daktylischen Maße. 

Die Einholung der Andromacha. 
Botschaft brachte Idaios der Held zu der 

Heimat hin. 

Und der eilige Bote verkündete folgendes: 
„König Priamos, Fürsten von Troja und 

Dardanos 

Und ganz Asien, lauschetI Unsterblichen 

Ruhm gewann 

Hektor samt den Gefährten, sie führen im 

Schiffe heim 

Von dem heUigen Theben und Plakias 

Quellgebiet 

Die glutäugige, zarte Andromacha über die 
Salzflut und eine Fülle von goldenen 

Schnecken auch, 

Purpurgürtel und schöne Rosetten und 

Spielerei’n, 

Ungezählte Gefäße von Silber und Elfen¬ 
bein.“ — 

Sprach’s, und hurtig erhob sich vom Sitze 

der alte Held. 

Und die Kunde durcheilte die weithinge- 

baute Stadt 

Eiligst spannten die Weiber vor Karren 

mit kreisenden 

Rädern Mäuler, und alles bestieg sie in 

Ungeduld, 

Die schlankfüßigen Mädchen und Frauen 

ohn’ Unterschied 

Außer Priamos' Töchtern, die fuhren getrennt 

für sich. 

Und die Männer bespannten mit Rossen 

den Wagenpark, 

Junggesellen sie alle, mit weithin erschal¬ 
lendem 

Rufe trieben die Lenker der Wagen nun 

ihr Gespann.... 

Also zogen sie aus zum Gestade der Mee¬ 
resflut. 

.... (Von dem Landen des Schiffes ist 
nichts, von der Begrüßung und Rückfahrt 

sind nur wenige Worte erhalten.). 

Weihrauch aber empfing sie daheim und 

verbrannter Zimt 
Und es schluchzten die Frauen, die edlem 
Geschlecht entstammt 
Und es jauchzten die Männer und riefen mit 

hellem Klang 

Den Ferntreffer, den Heiland Apollon, den 

Leierfreund, 

Jetzt zu preisen den Hektor im Bund mit 

Andromacha. 


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601 


Alfred Qercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios 


602 


Die epische Breite und der epische Ton 
sind unverkennbar, manche Beiwörter 
lassen sich aus Homer belegen, in Klei¬ 
nigkeiten weicht das Gedicht sogar von 
der sonst bekannten Technik der Sappho 
ab. Das ganze II. Buch enthält übri¬ 
gens Dichtungen in demselben Vers¬ 
maße (einem Vierzehnsilbler y_ 
-ww-uo), das nicht aus dem ionischen 
Epos stammt Aber Stoff und Sprach- 
form stammen daher. 

Auffällig ist im ganzen, wie völlig 
Ilias und Odyssee zurücktreten: diese 
wird gar nicht gestreift von der 
Ilias scheint Alkaios nur einmal berück¬ 
sichtigt zu haben, was wir jetzt gegen 
Schluß des ersten Gesanges lesen, wie 
Thetis dem Zeus ihres Sohnes Groll be¬ 
richtet und ihn fußfällig um Genug¬ 
tuung angeht Gewiß gab es schon um 
die Mitte des 7. Jahrhunderts die Ilias, 
die im Wesentlichen unserer Ilias ent¬ 
sprach, und von der Odyssee scheint 
wenigstens der Kern Vorgelegen zu 
haben, wie hauptsächlich darauf fußende 
Dichtungen des spartanischen Chordich¬ 
ters Alkman beweisen. Aber noch um 
600 v. Chr. waren Kyprien, Nosten und 
die Gesänge von der Zerstörung Ilions 
auf Lesbos die beliebtesten Epen. 

Damit wird einer antiken, noch heute 
vielfach geglaubten Legende der Lebens¬ 
nerv zerschnitten. Ein griechisches Hel¬ 
denepos, behauptete man, gab es nicht, 
bevor der athenische Tyrann Peisistra- 
tos um 550/30 durch Sammlung und Ord¬ 
nung der umlaufenden Heldengesänge 
die beiden großen Epen Ilias und Odys¬ 
see schuf; alle anderen Epen entstanden 
erst später in formaler Anlehnung an 
diese umfassenden Werke. Gegen diese 
im ganzen unwahrscheinliche und im 
einzelnen unhaltbare Hypothese hat sich 
die moderne Homerforschung in zahl¬ 
reichen, eindringenden Untersuchungen 
gewendet Jetzt liegen die Akten dafür 


vor, daß Kyprien und Nosten ebenso alt 
sind wie die beiden erhaltenen Epen 
oder wenigstens schon am Ausgange 
des 7. Jahrhunderts weltbekannt waren. 
Die Redaktion des Peisistratos war also 
nicht epochemachend für die Entstehung 
des Epos, sie kann nur Bedeutung für 
die buchmäßige Niederschrift und Er¬ 
haltung der Epen beanspruchen. 

Der Erfindung der griechischen Laut¬ 
schrift (um 900) folgte nach Freigabe 
des ägyptischen Handels unter Psam- 
metich die Herstellung geschriebener 
Bücher und bald auch ihre gewerbs¬ 
mäßige Verbreitung im Buchhandel, 
etwa in Sapphos Jugend oder wenig 
früher. Dadurch wurden die zahllosen 
Elegien, Iamben, Lieder seit Mitte des 
7. Jahrhunderts aus der Verzettelung und 
Verwahrlosung gerettet, keine älteren. 

Doch zurück zu den lesbischen Ly¬ 
rikern selbst und ihrem Nachlaß! 

Auch Alkaios verstand es, in der Art 
der ihm sonst vielfach überlegenen 
Sappho, durch Einflechten von Sagen 
oder Zügen alter Sage der zart abge¬ 
tönten Stimmung eines Liedes eine noch 
größere Weihe zu geben. Wohl das 
schönste von allen, die wir von ihm 
kennen, ist das in demselben Maße wie 
Sapphos Einholung der Andromache ge¬ 
dichtete 

Vermessenheit, 
an Melanippos. 

Du willst sterben mit mir, Melanippos, zu- 
gleich? Und dann, 

Wenn du über des Acheron wirbelnde Flut 
gesetzt, 

Willst du schauen noch einmal der Sonne 
erquickend Licht 

Droben? Nein, auf Unmögliches richte du 
nicht den Sinn. 

Wähnte Sisyphos nicht, der aiolische König, 
auch 

Einst dem Tod zu entrinnen, von allen der 
klügste Mensch? 

Doch wie sehr er verschlagenen Sinnes, er 
mußte doch 


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Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios 


604 


Ober Acherons wirbelnde Fluten zurück 
zuletzt: 

Kronos* Sohn, der gewaltige, legte ihm 
schwere Last 

Auf dort unter der schwarzen Erde. Drum 
wollen wir 

Nicht hinab ins Verschlossene dringen, so¬ 
lange uns 

Noch zu leben beschieden, was immer zu 
leiden bleibt, 

Was der Wind des Geschickes mit eisigem 
Hauch uns bringt 

Unter den Büßern im Hades hat 
Odysseus auch den Sisyphos gesehen, 
wie er unablässig einen Stein bergauf 
in stets vergeblicher Anspannung aller 
Krüfte wälzen muß zur Strafe für ein 
nicht genanntes und nicht bekanntes 
Vergehen. So hatten ihn die Orphiker 
als warnendes Beispiel geschildert Ent¬ 
weder dorther oder wahrscheinlicher 
aus einer älteren, reicheren Quelle 
schöpfte Alkaios, vielleicht einer münd¬ 
lich fortgepflanzten Volkssage, die uns 
freilich nur in junger, grotesk possenhaf¬ 
ter Ausstattung genauer bekannt ist Wie 
im deutschen Märchen der Teufel ge¬ 
prellt wird, so betrog Sisyphos, der Über¬ 
kluge, den Hades: dem Tode, den Zeus 
ihm wegen Verrats eines Geheimnisses 
schickte, kam er zuvor, bezwang ihn 
und legte ihn in starke Fesseln, so daß 
nun niemand mehr starb, bis Ares den 
Tod befreite und ihm den Frevler über¬ 
gab; da ließ dieser seine Gattin die 
Totenopfer zurückhalten und erbot sich 
nun bei dem verwunderten und unwilli¬ 
gen Hades, die Sache droben in Ord¬ 
nung zu bringen, kehrte aber nicht zum 
Hades zurück sondern blieb bis in sein 
hohes Alter König von Korinth. Nicht 
dieser Schwank, in den die schließliche 
furchtbare Strafe ohne Ende schlecht 
hinein paßt, sondern eine ältere Gestal¬ 
tung der Sage lag der orphischen Pre¬ 
digt wie dem lesbischen Liede zugrunde, 
und ihr schmiegten sich die schwer¬ 
mütigen Todesgedanken an. 


Derselbe Alkaios, der die offiziell ver¬ 
ehrten Gottheiten mit offiziellen Hym¬ 
nen feiert, weiß doch des Mythus tiefen 
Sinn zu verstehen und zu deuten und 
zeigt in aller Lebensfreude bisweilen 
einen ungewöhnlichen Emst der Lebens¬ 
auffassung, der nicht nur durch bittere 
Erfahrungen veranlaßt war sondern im 
Grunde auch in einer tiefreligiösen Über¬ 
zeugung wurzelt, die ja mit dem Gottes¬ 
glauben nicht zusammenfällt. 

Was niemand aus den Götterhym¬ 
nen schließen könnte, das verraten 
andere Dichtungen: ein aufgewühltes; 
zerrissenes Gemüt, eine zu Extremen nei¬ 
gende Leidenschaftlichkeit, einen jähen 
Wechsel der Stimmung. In einem neuen 
Bruchstücke offenbart er sich als Fata¬ 
list, darin über gelegentliche Äußerun¬ 
gen der homerischen Gedichte noch hin¬ 
ausgehend und wenig übereinstimmend 
mit dem etwas jüngeren Philosophen 
Pherekydes von Syros, der mit Pitta- 
kos von Lesbos in Verbindung ge¬ 
bracht wird. Denn dessen Darstellung 
in poetischer Prosa zeigt mehr das my¬ 
thische Gewand hesiodeischer Theologie 
als die Schärfe philosophischer Beweis¬ 
führung. 

Ganz allein steht Alkaios in dem 
geradezu an einen Ausspruch Jesu 
(Matth. 10, 30. Luk. 12, 7. 21, 18) er¬ 
innernden Satze, daß kein Mensch auch 
nur ein Haupthaar verlieren würde gegen 
den Willen der Moira des Zeus. Das 
ist eine ganz unerwartete Lehre alter 
Zeusreligion oder selbständiger Grübe¬ 
lei, die der Dichter vielleicht nicht im 
eigenen Namen vorgebracht, sondern 
irgend jemand in den Mund gelegt 
hatte, ein Vorläufer der gelästerten An¬ 
schauung eines Xenophanes über das 
Wesen und Walten der Weisheit Got¬ 
tes, der tiefste Spruch aus dem Zeitalter 
der sieben Weisen. Eben diese Tiefe 
sieht dem Alkaios nicht ähnlich, er hat 

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005 


Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios 


600 


die Lehre ohne Frage nicht selbst erfun¬ 
den. Aber wir wissen nicht, woher er 
den Spruch hatte. 

Fatalismus und zugleich feste Zuver¬ 
sicht auf irdische und überirdische Hilfe 
und glücklichen Ausgang erfüllte den 
streitbaren Dichter in den langwierigen 
Bürgerkfimpfen seiner Vaterstadt Myti- 
lene, in die er als Parteigänger des 
Adels verstrickt war. Seine politischen 
Lieder haben einen ansehnlichen Zu¬ 
wachs erhalten und wenigstens in einem 
tritt zuversichtliche Hoffnung auf eine 
Wendung zum Guten durch göttliche 
Fügung klar zutage. Der Name des an¬ 
gerufenen Gottes (Zeus?) ist nicht er¬ 
halten. Das Lied ist in einem eigentüm¬ 
lichen Versmaße gehalten, mit zwei 
schweren dreisilbigen Füßen (zumeist Pa- 
limbakcheen) anhebend, dann in leich¬ 
terem Takte gehalten (vgL die Askle- 
piadeen Maecenasatavts | editeregibus): 

-vy- 

— v-/ — V_/ — — W w/ — W — 

Melanchros unser Feind. 


imm er trieft des Palast’s Schwelle von 
üppigen 

Tranks Völlerei, seiner | zechenden Rotte 
Schwann 

tut sich gütlich mit ihm an der Gemeinde 
Mark. 

Er selbst, der Eidam sich | eines Atriden 
rühmt, 

mag verschlingen die Stadt (Myrsilos 
lehrte ihm’s), 

Bis hier der Kriegsgott uns | alles zu wen¬ 
den gibt 

Dann soll unseres Volk’s Hader vergessen 
sein: 

Herzfressend Elend, wir | wollen es achten 
samt 

bflrgermordendem Krieg. Einer der Götter 
hat 

Uns dies geschickt, ja, ge blendet des Volkes 

Sinn — 

Gib dem Phittakos jetzt sehnlich erhofften 
Ruhm. 


Wir wußten bereits von der Gewalt¬ 
herrschaft des Myrsilos, des Melan¬ 
chros und verschiedener Geschlechter 
wie der Kleanaktiden, denen erst das 
Waffenglück und die Friedensliebe 
des gerechten und weitschauenden Pit- 
takos oder vielmehr Phittakos ein 
Ende machte. Dieser stand, wie Solon 
in Athen, zehn Jahre (590—580?) an der 
Spitze des Staates und verstand die Par¬ 
teien zu versöhnen, so daß er wie So¬ 
lon um seiner praktischen Klugheit wil¬ 
len spater zu den sieben Weisen ge¬ 
rechnet wurde. Von seiner festen Hand 
und seinem milden Sinne erhofften 
schon lange vorher Aristokraten wie Ple¬ 
bejer, darin merkwürdig einig, Ordnung 
der Wirren, stammte er doch mütter¬ 
licherseits von dem alten lesbischen 
Könige Penthilos und weiterhin von den 
mythischen Königen Atreus und Aga¬ 
memnon ab, wahrend sein Vater Hyr- 
ras ein Zugewanderter war, der nicht 
mehr Rechte als das gemeine Volk be¬ 
saß. Auch der in den ersten Versen An¬ 
gegriffene rühmte sich seiner Verschwä¬ 
gerung mit den Atriden, war also irgend¬ 
wie mit Pittakos verwandt, aber nicht 
mit ihm identisch. Denn der Ausruf 
„möge er die Stadt verzehren" ist grim¬ 
mige Ironie: der Prasser war einst ein 
Werkzeug und Helfershelfer des in¬ 
zwischen gestürzten Tyrannen Myrsilos 
gewesen und hat sich nun selbst der 
Stadt bemächtigt, wahrend sich die Emi¬ 
granten unter Pittakos, Alkaios und sei¬ 
nen Brüdern zum Angriffe rüsten. Da¬ 
von wußten wir bereits, aber erst jetzt 
ist gesichert, daß Pittakos nicht den 
Myrsilos stürzte und unmittelbar nach 
dem Sturze seine Reformen einführte, 
sondern daß dazwischen die Tyrannis 
eines Dritten gehört, höchst wahrschein¬ 
lich des Melanchros. An Pittakos, in 
einem etwas früheren Zeitpunkte, wird 
auch gerichtet sein die 


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Alfred Qercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios 


608 


Warnung. 

Schmerbäuche sieh, die Lippen herabgesenkt. 
Bei Tage fallt man sich in Gelagen an. 
Und nachts rumoren die Gedärme, 

Die man befreit, der Natur gehorchend. 

Auch jener selber konnte das nimmermehr 
Verleugnen, seit mißhandelt er die Natur: 
Er macht die Nacht mit Fleiß zum Tage — 
Schon ist der Boden im Faß zu spüren. 

Du selber stehst, obwohl du aus solchem 
Haus, 

Im besten Rufe: den Edelsten der Nation, 
Die wackre Eltern streng erzogen, 
Gleichst du durchaus in dem besten 
Streben. 

Eine solche Ermahnung mußte, auch 
wenn sie in guter Absicht an einen sehr 
jungen Menschen gerichtet war, ihren 
Zweck verfehlen, da sie mit einer Ver¬ 
höhnung der Familie, einer ganz per¬ 
sönlichen Invektive verbunden war, wie 
man sie in der Form des lyrischen Vers¬ 
maßes, der alkäischen Strophe, nicht er¬ 
wartet Sie erinnert starte an den Reis¬ 
läufer und gottbegnadeten Dichter Ar- 
chilochos (um 648), der keine persön¬ 
liche Verunglimpfung scheute und seine 
Schimpfworte bisweilen von der Gasse 
auflas. Dessen giftige Iamben erzähl¬ 
ten aber auch gelegentlich einfach Tat¬ 
sachen und wirkten dann um so nach¬ 
haltiger. Das hat Alkaios in einem seiner 
Lieder glücklich nachgeahmt dessen 
Vorwurf wir nicht weiter kennen: 

Ein Schuft 

Schamlos hat er Menschen sowohl wie 

Götter, 

Alle, betrogen. 

Vater Zeus, die Lyder gewährten damals, 
Viermaltausend Drachmen als Ehrengabe 
Unsrer Rotte, falls es ihr glückte, jene 
Feste zu nehmen. 

Segen freilich konnten sie nicht erwartea. 
Doch der tief verschlagene Fuchs gedachte, 
Uns zu hintergehen mit wenig Mühe, 

Als er uns anwies 


Der Schluß der Geschichte, wie die 
Söldner um ihren Lohn gebracht wur¬ 
den, fehlt Aber wir sehen den Dichter 
selbst in fremdem Solde, wie auch seine 
Brüder Kriegsdienste in der Ferne taten. 
Ein Bruchstück spricht auch, ohne sonst 
Neues zu bieten, von Askalon, dem hei¬ 
ligen Babylon und dem Todesgange. 
Die Vaterstadt hat die Anhänger der 
unterlegenen Partei ausgestoßen. Im 
Krieg und wilden Lagerleben, beim 
Becher und im Liebestaumel suchen sie 
Trost und Vergessen, um doch immer 
wieder auszuschauen, wie es daheim 
aussieht, und sich beim ersten Winke der 
zurückgebliebenen Gesinnungsgenossen 
zusammenzufinden und je nachdem zu 
einem unüberlegten oder wohlvorberei¬ 
teten Putsch zurückzukehren. Eine der¬ 
artige fast verzweifelte Stimmung, weit 
entfernt von stiller Ergebung in das un¬ 
abänderliche Schicksal, spiegelt ein am 
Anfänge und Schlüsse verstümmeltes 
Lied in alkäischem Maße wider: 

Das Schiff am Strande. 

Schon ist die Fracht gebracht vom Schiffe, 
Wo sie am besten geborgen lagert 
Gepeitscht von heftig brandender Wogen 
Schlag, 

Im Kampf mit Sturm und strömendem 
Regenguß, 

Hat’s keinen Wunsch mehr, sondern 
fürchtet. 

Rasch am verborgenen Riff zu bersten: 

So wird das Schiff geschleudert nach hier 
und dort. 

Ich aber will, mein Lieber, vergessen dies 

Und mich mit euch beim Wein vergnügen 
Und mit dem Bykchis im Reigen tanzen. 
Uns soll auch Sehnsucht nimmer erneu’n 
den Schmerz, 

Mag einer noch so reichlich. 

Das Bild des herrenlosen, der Gewalt 
der Elemente preisgegebenen Schiffes 
war von Alkaios aufgebracht und schon 
im Altertume auf das Staatsschiff ge¬ 
deutet wie in der bekannten horazi- 


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609 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 610 


sehen Übertragung eines ganz ähnlichen 
Liedes (O navis referent). Diese Deu¬ 
tung ist gewiß richtig. 

Auch der Umschlag der Stimmung ist 
für den Dichter charakteristisch. Von 
dem unkünstlerischen, gesuchten und 
verletzenden Umkippen bei Heine ist er 
weit entfernt, denn auch durch alle lär¬ 
mende Fröhlichkeit des Zechens und Tan- 
zens klingt doch stets der eine Ton eines 
fast verzweifelten Sichberauschens und 
Vergessenwollens hindurch: das ist fast 
die wehmütige Lustigkeit des Narren im 
„König Lear“. So bieten diese politischen 
Lieder reich bewegte und immer wech¬ 
selnde Bilder, den Ausdruck der äußeren 
und inneren Erlebnisse einer starken Per¬ 
sönlichkeit in wild bewegten Zeitläuften, 
lauter Schöpfungen des Augenblickes. 
An poetischem Werte stehen sie hoch 
über den glatten, unpersönlichen Götter- 
hymnen, die mit seinem Herzblut ge¬ 
schriebenen Dichtungen eines großen 
Dichters; die schönsten von ihnen kön¬ 
nen den reineren, harmonischeren Lie¬ 
dern derSappho wohl zur Seite stehen.— 


Diese Mitteilungen mag ich nicht 
schließen, ohne dem Manne öffentlich 
Dank zu sagen, der seit zwei Jahr¬ 
zehnten mitgeholfen hat, die neuen, so 
schwer verständlichen und stark zer¬ 
störten Funde zu bergen, zu enträtseln, 
zu würdigen. Sein Name verschwindet 
fast in den Veröffentlichungen, obwohl 
die englischen Herausgeber ihren Dank 
ihm abzustatten nie versäumt haben. 
Aber nur wer Einblick hat in die eigent¬ 
liche Arbeit, die der Veröffentlichung 
vorausgegangen ist, weiß, daß wir ihm 
nicht bloß einzelne Ergänzungen und 
Erklärungen verdanken, sondern daß 
häufig auch da, wo jetzt alles klar auf 
dem Papyros zu stehen scheint, ur¬ 
sprünglich nichts als wenige zusammen¬ 
hanglose Buchstaben gelesen wurden, 
bevor Ulrich von Wilamowitz-Möllen- 
dorff an die Entzifferung ging und mit 
genialem Blicke ihre Bedeutung er¬ 
kannte und die weitere Lesung er¬ 
zwang. Einen solchen Retter brauchten 
Sappho und Alkaios. 


Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung. 

Von Bernhard Fehr. 


I. 

Die Gestalt Charles Dickens’ ist uns 
bis jetzt meistens nur in dem verklä¬ 
renden Licht der Legende erschienen. 
Der ganz überwältigende Erfolg seiner 
Werke hat ihn in den Augen der mei¬ 
sten Leser zu einem literarischen Hel¬ 
den gestempelt Wohl machte sich in 
den späteren Jahren die scharfe Kritik 
der gebildeten englischen Kreise gel¬ 
tend. Im großen und ganzen ist aber 
das Bild vom literarischen Riesen in 
den wesentlichen Zügen dasselbe ge¬ 
blieben. Die gewissenhafte, scharfe For- 

Internationale Monatsschrift 

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schung allein ist hier imstande, dem 
Bild die Umrisse der Wahrheit zu geben. 

Wie nimmt Dickens sich aus, wenn 
wir ihn in seine Zeit richtig hinein¬ 
gestellt haben? Was ist das Wesen sei¬ 
ner Persönlichkeit? Wie äußern sich 
Zeit und Persönlichkeit in seiner Kunst 
und wie ist diese Kunst selber entstan¬ 
den? Diese drei großen Fragen vor 
allen Dingen und andere mehr hat 
Wilhelm Dibelius in seinem tief¬ 
gründigen Werk beantwortet. 1 ) Eine 
Flut von Eindrücken stürmt auf den 

1) Wilhelm Dibelius, Charles Dickens. 
B. G. Teubner 1916. Geh. 8 M., geb. 10 M. 

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611 


Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 612 


Leser, der sich in die Ideenwelt dieses 
Buches versenkt hat, ein. Aus ihrer 
Menge wählen wir einen ganz beschei¬ 
denen Teil aus, den wir hier als Roh¬ 
material benutzen wollen, um ein klei¬ 
neres Gebäude, Abbild des größeren, 
von Dibelius aufgetürmten, vor den 
Augen des Lesers zu errichten. 

II. 

Dickens ist ein Kind des idealen 
englischen Liberalismus, mit ihm 
aufgewachsen und vielleicht später wie¬ 
der mit ihm untergegangen. Seine 
Haupttätigkeit fällt in die dreißiger und 
vierziger Jahre des vorigen Jahrhun¬ 
derts. 1850 hat er schon seinen be¬ 
rühmtesten Roman „David Copperfield“ 
geschrieben. Was nachher kommt, ist 
immer noch gewaltige Leistung, steht 
aber an Kraft und schöpferischem Wert 
hinter den Werken der ersten Zeit be¬ 
deutend zurück. Philosophisch-politisch 
und künstlerisch ist Dickens ausgewach¬ 
sen, sein Werk eigentlich jetzt schon 
abgeschlossen. 

Der Liberalismus aber, den Dickens 
in den dreißiger Jahren vorfand, war 
eine nüchterne, farblose, gefühlsfeind¬ 
liche Verstandeslehre. Hier war nach 
Locke der Freiheitsbegriff in der inne¬ 
ren Politik zum Grundsatz des Staats¬ 
lebens erhoben worden. Locke schwebte 
die Freiheit des Volkes im Gegensatz zum 
Despotismus vor. In Wirklichkeit han¬ 
delte es sich aber hier nur um die Frei¬ 
heit der herrschenden Klasse gegen¬ 
über jeder Kontrolle von unten und von 
oben. Der Adlige verschafft sich Ge¬ 
folgschaft im Parlament, der kleine Jun¬ 
ker regiert mit dem Geistlichen zu¬ 
sammen seine Grafschaft Die jüngeren 
Söhne der Adligen werden Bischöfe 
und Richter. Dieser Freiheitsbegriff 
wird nun aber gegen das Ende des 
18. Jahrhunderts von dem neuen, durch 


den Industrialismus gestärkten Bürger¬ 
tum übernommen und auf seine Weise 
umgedeutet Der reiche Bürger waltet 
nun in seiner Fabrik wie der Grundherr 
auf dem Lande. Freiheit bedeutet für 
ihn das Recht den Schwachen, den Ar¬ 
beiter, rücksichtslos zu unterdrücken. 
Das Ideal, das später Matthew Arnold 
als das Krebsübel der englischen De¬ 
mokratie hingestellt hat das „Tue, was 
dir beliebt“ (Do as you like), hat in den 
behäbigen Bürgerkreisen seine Verwirk¬ 
lichung schon gefunden. 

Die Not ist groß. Auf dem Lande 
läuft der Hauptgewinn in die Taschen 
des großen Grundherrn und großen 
Pächters. Der Landarbeiter geht leer 
aus. Auf ihm lasten die hohen 
Kornpreise, die erhöhten Steuern, Fol¬ 
gen des Napoleonischen Krieges. In 
Südengland flammen 1816 die Heuscho¬ 
ber auf. Die Revolution steht drohend 
vor der Türe. 

Das Spinnrad schnurrt nicht mehr im 
Bauernhause, der Webstuhl ruht Die 
Stadt hat die landwirtschaftliche Bevöl¬ 
kerung in Massen an sich gezogen... 
Dort sinken die Löhne durch das über¬ 
wältigende Angebot der Arbeitskräfte 
und durch die Konkurrenz der Kinder¬ 
arbeit; denn die Gemeinden haben die 
Kinder des Armenhauses in Scharen 
dem Fabrikherrn zugetrieben. 

Nun kommt die Wissenschaft und 
liefert für alle diese Zustände die lo¬ 
gische Rechtfertigung. Das muß so 
seinl Es ist ein Naturgesetz, daß der 
Reiche reicher, der Arme ärmer werde. 
Aber immer noch bleibt der Grund¬ 
gedanke die Freiheit Schon Adam 
Smith hat sie für den Handel gefor¬ 
dert den er von allen Schranken, von 
den Hemmungen aller Innungen und 
Gilden und Organisationen befreien 
möchte. „Jeder sorge für sein eigenes In¬ 
teresse; damit sorgt er am sichersten für 


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613 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung @14 


das Gemeindewohl; denn die Weisheit 
des Schöpfers hat es so gefügt, daß das 
Streben des Menschen, seine wirtschaft¬ 
liche Lage zu verbessern, dem Ganzen 
zugute kommt“ So wird die mensch¬ 
liche Selbstsucht mit der göttlichen Vor¬ 
sehung in Einklang gebracht. Malthus 
kommt mit seiner Bevölkerungstheorie, 
einer Ergänzung zu Smiths Lehre, zum 
Schluß, daß alle die schlimmen Mi߬ 
stande unvermeidlich sind, denn jedes 
Jahr stößt der menschliche Gesell¬ 
schaftsorganismus einen Teil der über¬ 
flüssigen Bevölkerung ab, um zwischen 
Menschen- und Nahrungsmittelvorrat 
das Gleichgewicht herzustellen. Ri¬ 
cardo beweist durch sein ehernes 
Lohngesetz, daß der eigentliche Vorteil 
dem Grundherrn verbleiben muß. Bent- 
ham schließlich empfiehlt einen Staat 
in dem das selbstsüchtige Interesse des 
Individuums mit dem Interesse der Ge¬ 
samtheit zusammenfällt so daß die eine 
Selbstsucht die andere aufhebt Jede 
Handlung muß nützlich sein für die 
größtmögliche Zahl. 

Die Selbstsucht ist als eine unantast¬ 
bare menschliche Kraft als Urtrieb 
menschlicher Handlung erkannt wor¬ 
den, als notwendigste Grundlage jedes 
Staatswesens. Da der Staat aber nicht 
geistig, sondern wirtschaftlich aufgefaßt 
wird, so muß er eine ungehemmte wirt¬ 
schaftliche Interessenpolitik, den Frei¬ 
handel, gewähren lassen. Richard 
Cobden (1804—1865) ist der große 
Agitator dieses Liberalismus, den er in 
richtiger Erkenntnis des englischen Na¬ 
tionalcharakters zur Religion der Masse 
umgestaltete. Er hat eine von jenen ver¬ 
blüffenden Gleichungen aufgestellt, die 
wir in der Geschichte des Puritanismus 
immer wieder finden. Freihandel be¬ 
deutet den Frieden zwischen den Völ¬ 
kern. Wer also dem Freihandel dient, 
wird zugleich ein Wohltäter des 

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Menschengeschlechtes. Freihandel bringt 
auch dem Einzelwesen den größten Ge¬ 
winn. Der eigene Geschäftsvorteil wird 
somit wiederum der Sache der Mensch¬ 
heit gleichgesetzt Der Cant erreicht in 
jenem Zeitalter den Gipfelpunkt 
Der äußerste linke Flügel der Libera¬ 
len, der philosophische Radikalismus, 
verlangt eine Reform, die vor keinem 
Mittel zurückschreckt. Er hat erkannt 
daß die aufklärende Arbeit der Volks¬ 
erziehung und Volksbildung die Ver¬ 
wirklichung eines politischen Planes am 
meisten fördern kann. Zwei Schriftstel¬ 
lerinnen, Jane Marcet und Harriet 
Martineau, besorgen diesen Aufklä¬ 
rungsdienst indem sie Erzählungen und 
Novellen im Volke verbreiten, die natio¬ 
nalökonomische Grundsätze, vor allen 
Dingen die Lehre eines Malthus, künst¬ 
lerisch verwerten. Miß Martineau ver- 
steigt sich in einer Erzählung (Man¬ 
chester Strike) zu folgendem hübschen, 
an die Adresse der Arbeiter gerichteten 
Malthusschen Trostsatze: „Wir Fabri¬ 
kanten tun für euch alles, was wir 
können, indem wir das Kapital vermeh¬ 
ren, das euch die Existenz bietet; ihr 
müßt das übrige tun, indem ihr eure 
Anzahl den Existenzmitteln anpaßt“ 
Der rein wirtschaftlich gefaßte Frei¬ 
heitsgedanke, den der Bürger dem Ad¬ 
ligen abgelauscht hatte, geht in der Ge¬ 
werkschaftsbewegung auch auf den 
englischen vierten Stand über, der in 
grob selbstsüchtiger materialistischer 
Weise die Grundsätze der klassischen 
Nationalökonomie auch seinen Zwecken 
dienstbar zu machen weiß und sich 
heute von jeder Kontrolle freigemacht 
hat Der Chartismus, der dem Schoße 
des Radikalismus entsprungen ist, bil¬ 
det in, den vierziger Jahren dazu eine Er¬ 
gänzung, mündet dann aber immer 
mehr in das sozialistische Fahrwasser 
ein. 

20 * 

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INDIANA (JNIVERSITY 






615 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 


616 


Der Liberalismus war erstarrt. Er 
ward gewogen und zu leicht erfunden. 
Selbst der feinsinnigste und begabteste 
Liberale, John Stuart Mill, der eine 
rein verstandesmäßige Erziehung ge¬ 
nossen hatte, fühlte im Vollbesitze sei¬ 
ner Kenntnisse, daß ihm zum ganzen 
Menschen etwas fehlte, und mit Trä¬ 
nen in den Augen gestand er sich, daß 
er bei seinen reichen Verstandesgütem 
allein nie glücklich sein könnte. Die 
fromme, schlichte, romantische Dich¬ 
tung eines Wordsworth brachte ihm 
Trost 

III. 

Die Romantik ist die Gegenbewe¬ 
gung zum Liberalismus, dessen nüch¬ 
ternes, kaltes Wesen glücklicherweise 
England nie ganz beherrschen konnte. 
Aus der spanischen Mystik gelangt über 
Frankreich der Kultus der schönen Seele 
nach England, wo er in Richard- 
sons „Pamela“ (1740) seine literarische 
Verkörperung erhält Mit Sternes 
„Sentimentaler Reise“ (1768) lernt der 
englische Leser wieder weinen. Young 
und Blair bringen Grabesstimmung in 
die englische Dichtung und Blake die 
heilige Tiefe der Mystik. In der Poli¬ 
tik predigt der Konservative Burke 
die Lehre von einem Staate, der ein 
lebendiger Organismus ist belebt von 
der Tradition, von der ererbten Ange¬ 
wöhnung an alles Gute und Heilige. 
Coleridge greift die Aufklärung an 
und wird zum Vorboten Carlyles. Durch 
den von dem abtrünnigen Wesley be¬ 
gründeten Methodismus wird auch die 
englische Staatskirche gezwungen, dem 
gesamten Volke zu dienen, will sie nicht 
zu einer bloßen Brahmanenkaste zu¬ 
sammenschrumpfen. So wirkt auf ihrer 
äußersten Linken der Geist des ab¬ 
trünnigen Wesley als Sauerteig in der 
sog. „evangelischen Partei“. Viel stär¬ 
ker bricht die Kraft der Kirche in den 


dreißiger Jahren in der OxforderBe- 
wegung durch. Die Macht der Mystik 
und der Schönheit der Sinn für die 
Vergangenheit wurden aufs neue ge¬ 
weckt die Forderungen künstlerischer 
Erziehung für die höheren Schichten, 
der Vertiefung der Gefühlswerte im 
Volksleben aufgestellt und die Lösung 
der sozialen Frage als wichtig aner¬ 
kannt 

Die größte Stoßkraft jedoch in der 
romantischen Gegenbewegung liegt in 
dem schottischen Puritaner Carlyle 
verborgen. Er besaß die tiefe Einsicht 
daß alte Dogmen, Grundsätze und all¬ 
gemeine Wahrheiten als Symbole fest¬ 
gehalten werden müssen; er war ein 
Gegner der Nationalökonomie, war aber 
einsichtig genug, sich gewisse ihrer 
Ideen zueigen zu machen. Er begriff, 
daß der alte Agrarstaat geopfert und 
zum Industriestaat fortschreiten muß, 
daß in der Industrie Englands wirt¬ 
schaftliches Heil liege. Aber er wollte 
nicht gestatten, daß die Entwicklung 
sich selbst überlassen werde. Eine Ari¬ 
stokratie sollte sie lenken und leiten: 
Zur alten Aristokratie des Landes ge¬ 
selle sich heute die neue, die aus den 
Offizieren der Industrie besteht. 

Carlyle hat nach allen Seiten hin ge¬ 
wirkt Nicht nur finden sich seine 
Grundgedanken in Einklang mit den 
seelischen Kräften, die bei den An¬ 
hängern der evangelischen Partei wir¬ 
ken, bei den warmherzigen Fabrikanten 
David Dale (1739—1806), Robert Peel 
(1750—1830), dem Vater des berühmten 
Ministers, bei John Fielden (1784 bis 
1849), bei dem Kaufmann Thomas Sad- 
ler (1780-1835), bei Richard Oastler 
(1789-1861), dem König der Fabrik¬ 
arbeiter, bei B.Seeley (1798—1886), dem 
Verleger der evangelischen Partei, bei 
dem strengen Tory, dem Grafen von 
Shaftesbury (1801—1885). Seine Lehre 


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617 


Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 618 


findet Verbreitung und Anhang bei den 
führenden Geistern der konservativen 
ParteL Hier ist es vor allen Dingen der 
ehrgeizige und phantasievolle Dis- 
raeli, der sich Carlyles System an¬ 
zueignen versteht Nicht der Verstand 
allein kann die großen Rätsel des Le¬ 
bens lösen. Groß ist der Mensch eigent¬ 
lich nur, wenn er unter der Herrschaft 
der Leidenschaft steht Diese roman¬ 
tische Auffassung färbt bei ihm ab auf 
den Staatsbegriff und auf die Politik, 
und Disraeli hofft auf dem Boden des 
Bestehenden, auf dem alten Staate in sei¬ 
ner Verbindung mit der Kirche, auf der 
Grundlage der alten sozialen Abstufung 
die soziale Frage lösen zu können. Er 
verkündigt in seinen beiden Romanen 
„Coningsby“ (1844) und „Sibyl" (1845) 
Carlyles Patriarchalismus, während der 
Geistliche Charles Kingsley (1819 
bis 1875) Carlyles rein sittliches, nicht 
christliches System wieder auf den Bo¬ 
den des Christentums stellen möchte. 
Dem Liberalismus der dreißiger und 
vierziger Jahre muß ein schlechtes 
Zeugnis ausgestellt werden; denn alle 
großen Leistungen auf dem Gebiete der 
sozialen Fürsorge verdankt das dama¬ 
lige England den Konservativen. Die 
Konservativen waren die geistig stärke¬ 
ren. Sie konnten aber den Liberalismus 
nicht entwurzeln. Das viktorianische 
und das moderne England tragen sein 
Gepräge. Die Nützlichkeit bleibt immer 
noch der wichtigste Wertmesser der 
menschlichen Handlung, die Begeiste¬ 
rung wird als unbequem empfunden. 
Aber die Romantik mit ihren starken 
Gefühlsmächten hat das englische Gei¬ 
stesleben ergriffen, und ihrem Einfluß 
konnte sich auch der Liberalismus nicht 
entziehen. 

IV. 

Die auffallendste Verkörpe¬ 
rung dieser Vereinigung von 


Romantik und Liberalismus ist 
Charles Dickens. Er bekennt sich 
zu den besten liberalen Traditionen, die 
er mit den Erfordernissen des Tages und 
mit den Gefühlswerten der führenden 
konservativen Geister auf geschickte 
Weise verschmolzen hat. Er ist kein 
großer Menschheitsprophet. Was er zu 
verkündigen hat, ist längst bekannt, ist 
das geistige Besitztum anderer. Aber 
gerade darum war er volkstümlich, weil 
er geistiges Gemeingut verbreitete. 

Die Persönlichkeit Dickens’ hat 
sympathische und abstoßende Züge. Er 
gehört dem bürgerlichen Mittelstände 
an, ist nicht, wie oft behauptet wird, 
Vertreter des vierten Standes. Von sei¬ 
nem Vater, der im praktischen Leben 
nichts taugte, hat er den Flug der Phan¬ 
tasie, vielleicht auch die schauspiele¬ 
rische Ader, von der Großmutter väter¬ 
licherseits die Lust am Fabulieren. Die 
Mutter übermittelt ihm den Sinn für das 
Komische, aber sonst nichts;wenigstens 
fühlt sich Dickens ihr gegenüber nicht 
zu Dank verpflichtet; in seinen Briefen 
wird sie nie erwähnt Eindrucksvoll 
sind des Dichters Kinderjahre in Land¬ 
port, wo er 1812 das Licht der Welt er¬ 
blickte. Es ist das Peggottymilieu, das 
auf ihn einwirkt Die Eindrücke werden 
ergänzt und verstärkt durch Phantasie 
aufpeitschende Ammenerzählungen, spä¬ 
ter durch Reisebeschreibungen und 
Abenteuergeschichten, durch Smollet, 
Fielding, Goldsmith, Defoe, Cervan¬ 
tes, Gil Blas, Tausendundeine Nacht, 
durch die moralischen Wochenschriften 
des 18. Jahrhunderts. Auch der Ernst 
des Lebens blickt finster in die heitere 
Jugendszene. Im Hafen liegt das dü¬ 
stere Sträflingsschiff, das von Verbre¬ 
chen und Sünde, von Strafe und Leiden 
spricht Schlimme Tage sammeln sich 
über der Familie. Der Ort wechselt An 
die Stelle der heiteren Küste tritt ein 


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619 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 620 


schmutziges Quartier in der Hauptstadt 
London. Der Vater wandert in das 
Schuldgefängnis, und der zwölfjährige 
Charles muß sein eigenes Brot verdie¬ 
nen. Hier übertreibt die Dickenslegende, 
die uns zu sagen vergißt, daß die har¬ 
ten, demütigenden Tage in der Schuh¬ 
wichsefabrik nur wenige Monate aus¬ 
machen, daß sie wohl hätten vermieden 
werden können. Freudlos ist überhaupt 
die Jugendzeit Dickens* nicht Es folgt 
eine interessante Schulzeit bis der vier¬ 
zehnjährige Knabe bei einem Rechtsan¬ 
walt Stellung findet und es endlich mit 
19 Jahren zum Parlamentsberichterstat¬ 
ter gebracht hat Daneben findet Dickens 
Zeit recht häufig ins Theater zu gehen 
und sich an den Erzeugnissen der klei¬ 
nen Muse, an Posse und Melodrama, zu 
ergötzen. Nun geht es fabelhaft schnell 
vorwärts. 1833 veröffentlicht er seine 
erste Skizze. Schon drei Jahre später 
erscheinen die ersten Nummern seiner 
„Pi ckwi ckie r“, durch die er mit einem 
Male zum berühmten Manne wird, 1837 
folgt „01 i v e r T w i s t“. Die Verleger be¬ 
ginnen sich um ihn zu reißen. „Nicho- 
las Nickleby“ (1838), „Der alte Rari¬ 
tätenladen“ (1839) bedeuten weitere Tri¬ 
umphe. Sein Ruhm dringt nach Ame¬ 
rika. Er fährt nach Neu-England hin¬ 
über und wird, wo er sich nur zeigt 
als geistiger Held gefeiert Der Erfolg 
läßt ihn nie mehr im Stich. Sein Leben 
wird für den Außenstehenden, trotz 
dem unaufhörlichen ungeheuren Kraft¬ 
aufwand, den es aufweist uninter¬ 
essant Am Schluß seiner Laufbahn 
wirkt er als Mime, der Szenen aus sei¬ 
nen Romanen vor einer eindrucksfähi¬ 
gen Menge mimodramatisch aufführt 
Dabei aber verschwendet er seine ganze 
Kraft und liefert sich dem Tode aus 
(1870). Wer Pikantes in Dickens’ Leben 
sucht wird schwer enttäuscht Wohl 
hört er, daß Dickens mit seiner Frau 

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Catherine Hogarth auf gespanntem Fuße 
lebte, daß es später zum Bruch kam, 
daß der Dichter die jüngere Schwägerin 
Mary (f 1837) innig liebte, daß seine 
zweite Schwägerin Georgina seine 
eigentliche Lebensgefährtin war. Aber 
er vernimmt auch, daß Dickens bei alle¬ 
dem ein untadeliger Ehemann blieb. 

Die bisherigen Tatsachen und Züge 
machen uns Dickens eher sympathisch. 
Neugierig lauschen wir, wenn von 
der stark pathologischen Seite dieses 
Mannes die Rede ist Krankhaft ist 
eigentlich schon die fast an Wahnsinn 
grenzende, übereilte Verausgabung sei¬ 
ner Kräfte am Ende seiner Laufbahn. 
Nervenkrank erscheint uns Dickens, 
wenn wir sehen, wie er mitten in der 
Nacht aufsteht sich ankleidet, sich auf 
die dunkle Straße begibt und nun die 
ganze finstere Nacht hindurch seine 
48 Kilometer durchrast durch die Gas¬ 
sen der Stadt über die dunkle Land¬ 
straße dahineilt „Er schläft ein beim 
monotonen Klang seiner Füße, die regel¬ 
mäßig ihre sechs Kilometer stündlich 
zurücklegen. Meile um Meile bewältigt 
er, ohne das Gefühl der Anstrengung, 
in schwerem, von Träumen durchzoge¬ 
nem Schlummer.“ In diesem eigenarti¬ 
gen Rauschzustand hat er seine Visio¬ 
nen, sieht er die Gestalten, mit denen er 
seine Romanwelt bevölkern will, hört 
er ihre abgebrochenen Worte, die für 
ihn zu Stichworten werden. Und hat 
er einmal seine Gestalten in der Erzäh¬ 
lungvoll und ganz erschaffen, so lassen 
sie ihn nicht mehr los. Sie bewegen 
sich immer noch, ebenso rastlos wie im 
Roman, auf der inneren Bühne seines 
Geistes, die sich allem Widerstreben 
zum Trotz mit der äußeren Bühne der 
Wirklichkeit zu verwischen beginnt Da 
wandelt er auf der Straße inmitten sei¬ 
ner Romangestalten, wandelt unter 
ihnen selbst in Begleitung seiner stau- 

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621 


Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 622 


nenden Freundei Er flüstert ihnen zu: 
„Da kommt Mr. Pumblehook — eine Fi¬ 
gur aus den ,Großen Aussichten* — und 
will uns begrüßen; wir wollen ihm aus- 
weichen; dort ist Mr. Micawber, lassen 
Sie uns lieber in diese Straße ein¬ 
biegen.' 4 

Zu den krankhaften gesellen sich lei¬ 
der aber auch unangenehme Züge. Die¬ 
ser Dickens ist in erster Linie ein ver¬ 
schlagener Geschäftsmann, der sich bei 
seinen Werken vor allen Dingen um 
den buchhändlerischen Erfolg, nicht so 
sehr um die künstlerische Leistung in¬ 
teressiert. Wie quält er seine Verlegerl 
Zuerst verpflichtet er sich, dem kleinen 
Macrone einen Roman für 200 Pfund zu 
liefern. Er erfüllt den Vertrag nicht, 
verspricht statt dessen dem reichen 
Bentley zwei Romane zu je 500 Pfund, 
die er zwei Jahre spater eigenmächtig 
in 750 Pfund verwandelt, zu schreiben. 
Er schreibt die Romane nicht, unterhan¬ 
delt aber mit Chapman und Hall. Jetzt 
bietet ihm der geangstigte Bentley 4000 
Pfund für einen Roman allein, wahrend 
Dickens das Verlagsrecht des andern 
zurückkauft Dickens ist rücksichtslos 
in der Durchführung seiner Plane und 
vergißt alte Freunde leicht Er ist eitel 
bis zur Lächerlichkeit pflegt eifrig und 
sorgfältig seine Lochen und kleidet sich 
stutzerhaft auffallend. Er protzt mit sei¬ 
nem Reichtum, glanzt durch übertrie¬ 
benen Aufwand an seinen Gesellschafts¬ 
abenden. Er schart mittelmäßige Geister 
um sich, um deren Lob zu hören. Mit 
großen und starken Persönlichkeiten 
kann er nicht verkehren. Gegen Kritik 
ist er überempfindlich. Die Zeit seiner 
Armut verschweigt er echt bourgeois- 
mäßig. Er ist ein Snob. 

V. 

Dickens erscheint uns auf den ersten 
Büch als ein Dichter, der mit einer un- 

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erschöpflichen Phantasie begabt 
ist. Auch gegen diese Ansicht greift die 
Forschung berichtigend ein. Sie zeigt 
uns den Ursprung der Stoffe, wie 
Dickens seine Stoffe und Motive, Cha¬ 
raktere und Formen von allen Seiten 
her geholt hat 

Vieles liefert ihm das Leben, die 
Fülle seiner Zeit mit ihren guten und 
bösen Elementen. Dickens wollte das 
Leben seines Volkes sittlich heben und 
mußte unwillkürlich an die Mißstande 
seines Zeitalters anknüpfen. So ist der 
Ausgangspunkt seines Romans „Oliver 
Twist“ das in malthusianischem Geiste 
erdachte neue Armengesetz des Jahres 
1834 mit seinen Härten. Mit vielen an¬ 
deren Politikern bekämpft Dickens den 
Geist dieses Gesetzes, das den Armen 
das Recht auf regelmäßige Gemeinde¬ 
unterstützung entzieht So malt das 
nächste Buch „Nicholas Nickleby“ einen 
buntscheckigen gesellschaftlichen Hin¬ 
tergrund, auf dem die Hauptfiguren 
sich abheben sollen: die unglaublichen 
Zustande in den berüchtigten York- 
shire-PrivatschuIen, wo die Jungen ge¬ 
flissentlich ausgehungert und lahmge¬ 
prügelt werden. Das Schulmeisterunge¬ 
heuer Shaw steht Dickens für den noch 
schauderhaftem Squeers Modell. Die 
Eindrücke, die Dickens von der ameri¬ 
kanischen Gesellschaft erhalt verdich¬ 
ten sich in „Martin Chuzzlewit“ zu der 
Gestalt Pecksniffs, des Heuchlers, des 
Bannerträgers der verheerenden Macht 
der englischen Selbstsucht die er in 
Amerika in gesteigerter Form vorfand. 
Die beiden ersten Weihnachtsgeschich¬ 
ten spiegeln ganz einfach die herz¬ 
lose Gesinnung zeitgenössischer Kapi¬ 
talisten, Kaufleute, Politiker und Ge¬ 
lehrten wider, die, gestützt auf die will¬ 
kommenen Erklärungen der National¬ 
ökonomie, jede Anteilnahme an dem 
Kampf gegen das große, gesellschaft- 

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623 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 


624 


liehe Elend, jedes Mitgefühl mit den Lei¬ 
den der Schwachen auszuschalten wu߬ 
ten. Scrooge braucht nicht auf einem le¬ 
bendigen Vorbild zu beruhen. Der Volks¬ 
wirtschaftler Filer ist wohl bloße Ver¬ 
körperung des damals so beliebten und 
wichtigen Sozialtheoretikers, der die ge¬ 
läufigen volkswirtschaftlichen Schlag¬ 
worte in den Mund nehmen muß. Aber 
Alderman Cute ist Karikatur eines Po¬ 
litikers jener Zeit, Sir Peter Laurie, 
wahrend Sir Joseph Bowley, Vertreter 
der „Jung-England-Partei“, wieder Ver¬ 
körperung ist, aber Verkörperung da¬ 
mals wirkender begrifflicher Möchte. 
Auch die der Unterhaltung dienenden 
„Pickwickier“ verraten den Einfluß zeit¬ 
licher Zustande. Das Schuldgefangnis 
wird geschildert und spater in „Little 
Dorrit“ noch einmal eindrücklich vor¬ 
geführt. Gerade in diesen spateren Ro¬ 
msmen ist der Ausgangspunkt immer 
noch irgendein zeitgenössisches Obel: 
Die verrostete Verwaltungsmaschine in 
„Little Dorrit“, das versteinerte Rechts¬ 
verfahren in „Bleak House“, die Ehe¬ 
scheidung in „Hard Times“. Die ganze 
Romanwelt Dickens’ ist angehaucht von 
der neuen bourgeoismäßigen Gesinnung 
der viktorianischen Zeit Dickens’ Held 
ist meistens — man denke an David 
Copperfield — ein jüngerer Mann des 
besseren Bürgertums, der gezwungen 
ist, Geld zu verdienen und energisch 
nach oben strebt Die Helden Fieldings 
und Smollets haben das nicht nötig, 
ihre Mittel sind unbeschränkt Sie dür¬ 
fen allerlei Liebschaften mit Mädchen 
der niedrigen Stände haben, ohne da¬ 
durch Verpflichtungen auf sich zu neh¬ 
men, ganz im Einklang mit den An¬ 
sichten des 18. Jahrhunderts, die Ver¬ 
fasser und Leserschaft miteinander tei¬ 
len. Dickens aber schreibt für eine 
andere Klasse und für eine andere Zeit. 
Steerforth, der Emily verführt, begeht 


ein Verbrechen, das gesühnt werden 
muß; denn die bescheidenen Bürger 
haben genau so wie die Adligen ihr 
Ehrgefühl und ihre heilige Würde, aber 
auch ihren Edelsinn. Der edle Gran- 
dison ist zum Fischer Ham Peggotty 
geworden. Immerhin hütet sich Dickens, 
allzu tief hinunterzusteigen. Nur seine 
Hintergrundfiguren entstammen der un¬ 
tersten gesellschaftlichen Schicht Seine 
Helden sind stets Mittelklassenbüiger. 
Selbst der Waisenknabe, der anschei¬ 
nende Spurius Oliver Twist ist ein ver¬ 
sprengtes Glied der besseren Gesell¬ 
schaft Nell und ihr Großvater (im „Ra¬ 
ritätenladen“) kommen allerdings von. 
unten, haben aber das Betragen der 
vornehmen Welt. Erst George Eliot 
hat es in ihrem „Adam Bede“ gewagt, 
einen schlichten Arbeiter zum Helden 
zu wählen und zum Helden wirkungs¬ 
voll zu gestalten. Dickens macht aller¬ 
dings, seiner Zeit gehorchend. Ver¬ 
suche, den Fabrikarbeiter künstlerisch 
darzustellen. William Fern in den „Sil¬ 
vesterglocken“ ist ein wohlgelungener 
Versuch, steht aber in Dickens’ Por¬ 
trätgalerie vereinzelt da. Seine Vorgän¬ 
ger, Mrs. Gaskeil und Disraeli, über¬ 
treffen ihn mit ihrem John Barton und 
Gerard. Auch der Kapitalist, dieser 
neue Typus, den Dickens dem Leben 
der Zeit entnimmt, ist ihm nicht gelun¬ 
gen. Er hat einfach den alten literari-, 
sehen Typus des Geizhalses seiner vie¬ 
len Nebenzüge entblößt und die eisige 
Seelenkälte stehengelassen. Die Fa¬ 
brikstadt aber in ihrer Häßlichkeit hat 
er künstlerisch erfaßt Über Mrs. Gas¬ 
keil, Kingsley und Miß Martineau hin¬ 
ausgehend, hat er es verstanden, den 
Gesamtcharakter dieser neuen Erschei¬ 
nung wiederzugeben. Auch die künstle¬ 
rischen Entwicklungsmöglichkeiten, die 
in dem Bilde der Eisenbahnen verbor¬ 
gen liegen, sind ihm nicht entgangen. 


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625 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 626 


Er vergleicht die Güterzüge mit gewal¬ 
tigen, übersinnlichen Leichenprozessio- 
nen, die sich schuldbewußt aus der Ge¬ 
genwart der hellen Laternen fortsteh¬ 
len und von Kohlenzügen als Detek¬ 
tiven verfolgt werden, und die Eisen- 
bahnfahrt weiß er sinnlich wirksam 
wiederzugeben durch Einfügung rhyth¬ 
mischer, regelmäßig sich wiederholen¬ 
der Sätze, ein Verfahren, das Mark 
Twain in seinem „Punch, brothers, 
punch with care, punch in the pre- 
sence of the passenjare“ ebenso wirk¬ 
sam ins Komische umgebogen hat 
Dickens hat offene Augen für das 
Schöne in der ihn umgebenden Natur. 
Er hat viele Landschaften in seinen 
Romanen verewigt: Canterbury, das 
hübsche, alte, erinnerungsreiche Städt¬ 
chen, die Marschlandschaft des Ostens, 
die Hafenstadt Yarmouth, die Urwald¬ 
landschaft am Mississippi, die Wälder 
und Wiesen bei Salisbury, gelegentlich 
auch die Alpen und Italien. Er verwen¬ 
det sie nach romantischem Verfahren 
als Umrahmung der Geschichte, in inni¬ 
ger seelischer Verbindung mit den han¬ 
delnden Menschen. Man wird aber vor 
allen Dingen an Dickens als den Geo¬ 
graphen der Hauptstadt denken. Auf 
diesem Gebiete ist ihm ganz gewaltig 
vorgearbeitet worden durch Addison 
und Steele, Leigh Hunt, Irving und 
Lamfa. Und da wir bis jetzt schon 
mehrfach gezwungen waren, von Vor¬ 
gängern zu reden, so ist es an der Zeit, 
daß wir Dickens in seiner so durchaus 
engen Verknüpfung mit der literari¬ 
schen Tradition betrachten. 

VL 

Schon in der allgemeinen Form, die 
Dickens wählt, in der literarischen 
Gattung, die er pflegt, zeigt sich die 
Macht der Tradition. Dickens vereinigt 
ganz einfach die beiden im 18. Jahr¬ 


hundert noch getrennt nebeneinander 
herlaufenden Typen des Romans, den 
Abenteuerroman Defoes und Fieldings 
und den psychologisch gerichteten Per¬ 
sönlichkeitsroman Richardsons. Schon 
Scott hat die Verschmelzung vollzogen. 
Dickens hat ihr aber durch seine Volks¬ 
tümlichkeit zum endgültigen Siege ver¬ 
holten. „Oliver Twist“ wird für das 
spätere 19. Jahrhundert zum typischen 
englischen Roman. Dickens selber ver¬ 
sucht mit der Hemdlungsfreude die ein¬ 
gehende Betrachtung seelischer Zu¬ 
stände zu verbinden. Doch neigt der 
eine oder andere Roman mehr oder 
weniger zum einen oder andern Typus 
hinüber. „Oliver Twist“ und „Nicholas 
Nickleby“ sind zunächst Problemromane. 
Dann wird das Problem aufgegeben, um 
in dem einen Falle in einen Verbrecher¬ 
roman, im andern in einen reinen Aben¬ 
teuerroman überzulenken. Nicholas Nick¬ 
leby ist ein typischer Tom Jones, der 
jugendliche, aufbrausende Held Fiel- 
dings, Schirmer aller Bedrückten, Feind 
aller Bedrücker, begleitet von dem obli¬ 
gaten Bedienten des Fieldingschen Ro¬ 
mans, von dem Yorkshireburschen John 
Browdie. Er stürzt sich in einen wah¬ 
ren Wirbelstrudel von Handlungen. Er 
kommt zu Schauspielern, rettet eine 
Dame vor Zwang und will sogar gro߬ 
mütig seine Liebe zu ihr opfern, wäh¬ 
rend er sich gegen die Liebe eines auf¬ 
dringlichen Weibes wehren muß. Man 
reist in Postkutschen, belauscht Unter¬ 
redungen, findet Briefe, sieht die Böse- 
wichter bestraft und die Guten verhei¬ 
ratet, das Ganze nach der Art des alten 
Romantypus. Im „Alten Raritätenladen“ 
steht kein handelnder junger Mann im 
Vordergrund, sondern eine leidende 
Heldin. Die kleine Nell ist eine vom 
Schicksal verfolgte Clarissa, ihr Leiden 
und Sterben das eigentliche Thema des 
Romans. Dickens folgt diesmal nicht 


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627 Bernhard Fehr, Charles Dickens 


Fieldings, sondern Richardsons Spuren. 
Nicht die Abenteuer, sondern der See¬ 
lenzustand der Verfolgten verlangt das 
tiefste Interesse. Die idyllische Welt 
eines Goldsmith tritt in den Vorder¬ 
grund. Die Sentimentalität Richardsons 
und Sternes feiert ihre Auferstehung. 
Das übertriebene Pathos wird etwas ge¬ 
mildert durch komische oder groteske 
Gestalten, wie Dick Swiveller und 
Quilp. „David Copperfield“ fangt an 
als typischer Abenteuerroman, dessen 
Züge er auch spater zu erkennen gibt 
Der jugendliche Held und sein Beglei¬ 
ter fehlen auch hier nicht Dann aber 
macht sich wieder Goldsmiths idylli¬ 
sches Moment geltend und überwuchert 
die Fieldinggrundzüge. Brave Men¬ 
schen, die Peggottys, werden geschil¬ 
dert, die wir alle schon von Goldsmith 
her kennen. Ham ist Moses, Emily ist 
Olivia, Daniel Peggotty ist Primrose. 
Auch die Handlung verlauft parallel. 
Steerforth verführt Emily, der alte Peg¬ 
gotty macht sich auf die Suche nach 
der Entschwundenen wie bei Goldsmith. 

Die Hauptmerkmale der beiden Ro¬ 
mantypen wiederholen sich bei Dickens 
immer wieder. Wir finden einen mo¬ 
dernisierten Tom Jones wie Nicholas 
Nickleby, wie Mart in „Chuzzlewit“, wie 
Pip (in „Großen Erwartungen“) oder 
wir finden einen verzeihenden, selbst¬ 
losen Liebhaber wie Ham Peggotty, wie 
Tom Pinch (in „Martin Chuzzlewit“), 
wie Jarndyce in „Bleak House“, wie 
Stephen Blackpool (in „Harte Zeiten“). 
Dabei haben wir noch gar nichts von 
den zahllosen Nebenzügen, die Dickens 
mit dem 18. und frühen 19. Jahrhun¬ 
dert gemeinsam hat, gesagt. 

Ganz nach dem Muster des 18. Jahr¬ 
hunderts zeigt uns Dickens seinen Hel¬ 
den im Kampf mit einem Rivalen, der 
die gleiche Geliebte begehrt Dabei ist 
der Nebenbuhler gerne ein scheußliches 


im Lichte der neuesten Forschung 628 


Wesen, das vielleicht mit dämonischen 
Zügen ausgestattet ist Um Agnes wirbt 
nicht nur der edle Copperfield, son¬ 
dern auch der Dämon Uriah Heep; 
Madeline Gray wird nicht nur von Ni¬ 
cholas Nickleby geliebt; sie ist den 
Verfolgungen des zahnlosen Ungeheu¬ 
ers Gride ausgesetzt Dies ist in An¬ 
lehnung an die Technik des Schauer¬ 
romans der Mrs. Radeliffe und 
des Abenteuerromans Marryats. Der 
Schauerroman hat überhaupt in 
technischer Hinsicht großen Einfluß auf 
Dickens ausgeübt Seine Kunst des Re- 
tardierens hat er Mrs. Radcliffe ab¬ 
geguckt die durch ihren Stoff gezwun¬ 
gen war, die verschiedenen Spannungs¬ 
mittel bis aufs äußerste auszunutzen. 
Das zeigt die Geschichte des unglück¬ 
lichen Smike in „Nicholas Nickleby“. 
Der Elende wird verfolgt wir ahnen ge¬ 
heimnisvolle feindliche Mächte, er flieht, 
wird von seinem alten Peiniger wieder 
gefangen, entkommt aufs neue, da for¬ 
dert sein angeblicher Vater, der Un¬ 
hold Snawly, seine Auslieferung. End¬ 
lich wird Smike von seinen Qualen 
durch den Tod erlöst Erst jetzt folgt 
die Enthüllung. Aber sie wird uns in 
zwei Dosen gegeben: Ralph ist sein 
Vater und — sein geheimer Verfolger. 
Mrs. Radcliffe zeigt auch Dickens, 
wie die Katastrophe sorgfältig vor¬ 
bereitet werden muß. Im „Alten Ra¬ 
ritätenladen“ wird der kommende 
Tod der kleinen Nell schon früh 
mehrfach leise angedeutet Der brave 
Schulmeister spricht davon, der alte 
Großvater selbst und die Dorfkinder 
ahnen ihn. Die ganze Spannungstechnik 
des Schauerromans ist von Dickens 
übernommen worden, nicht um das 
Gruseln zu erregen, sondern um das 
sentimentale Pathos ins Gewaltige zu 
steigern. Wenn Mrs. Radcliffe uns auf 
kommenden Schauer vorbereitet so 


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620 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 


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schafft Dickens in uns die Vorahnung 
der Trauer und des Leides. Auch die 
detaillierte Schilderung des In- 
nenraumes, die Mrs. Radcliffe zur 
Schaffung eines schauerlichen Milieus 
entwirft, hat bei Dickens Spuren hin- 
terlassen. Er zeigt uns seine Menschen 
stets in ihrer Umgebung, in ihrem Zim- 
mer voll altem Kram, in einem Raume, 
der wie im Schauerroman mit einer der 
Person entsprechenden Stimmung er- 
fQllt ist Unter Lumpen und Gerümpel, 
alten Flaschen, schäbigen Büchern auf 
wackligen Regalen, zerknitterten, farb¬ 
losen Papieren und alten Knochen sitzt 
der alte Geizhals Krook (in „Bleak 
House“) mit seinem leichenfarbigen Ge¬ 
sicht und seiner Oberfülle an weißem 
Haar. Diese Schilderung geht nun aller¬ 
dings über die Grenzen der Schauer¬ 
romantechnik schon bedeutend hinaus 
in das Gebiet einer gewaltsamen Stili¬ 
sierung der Wirklichkeit, die sich der 
Symbolik nähert und deren Über¬ 
treibung eigentlich geradezu Dickens’ 
Eigenart ist 

Alter Tradition folgt Dickens, wenn 
er neben seinen Helden einen edeln 
Beschützer oder einen braven, dummen 
Gesellen aus den untern Ständen stellt 
Oliver Twist steht im Schutze Mr. 
Brownlows, Nicholas Nickleby wird 
von Newman Noggs unterstützt Auch 
die alte Regiefigur Goldsmiths und 
Scotts ist Dickens wohlbekannt die 
meist im Hintergrund steht aber alle 
Fäden der Geschichte in der Hand hält. 
Unbemerkt lenkt der alte Martin Chuzz- 
lewit die Schicksale der Hauptperson. 
Wie bei Scott die Bettler und Zigeuner 
gegen den Schluß des Romans uner¬ 
wartet zu leitenden Kräften der Hand¬ 
lung werden, so greift auch bei Dickens 
der Verachtete als Werkzeug strafender 
Gerechtigkeit ein und entlarvt den 
Bösen. Rühmlich bekannt ist der un- 

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brauchbare Mr. Micawber, der am Schluß 
die Fäden, die der Intrigant Heep ge¬ 
sponnen hat, kühn zerreißt und zum 
Retter der Tugend wird. 

Im übrigen verfolgen wir auch sonst 
die einfachen Linien Fieldingscher 
Handlungsführung. Eine Intrige arbei¬ 
tet gegen den Helden. Menschen treten 
auf, deren Stellung zur Hauptgestalt 
erst allmählich klar wird. Dann wendet 
irgendein plötzlicher Vorfall des Helden 
Geschick. Am Schluß setzt stärkere 
Spannung ein. 

Auch in den Charakteren und der 
Porträtierung ist Dickens in zahl¬ 
losen Fällen auf der Stufe des 18. Jahr¬ 
hunderts stehen geblieben. Wie bei 
Walter Scott, dessen Helden und Hel¬ 
dinnen mehr einem technischen Erfor¬ 
dernis als einem inneren Erlebnis ihr 
Dasein verdanken, kommt Dickens bei 
den Hauptgestalten über das blasse 
Schema nicht hinaus. Wie wenig pla¬ 
stisch ist sein Held Nicholas Nickleby, 
wie farblos sein David Copperfield! 
Wie geradezu puppenhaft sind seine 
Heldinnen! Nelly Trent, Amy Dorrit, 
Agnes Wickfield, Florence Dombey, 
Kate Nickleby sind mit den Augen des 
18. Jahrhunderts gesehene Dulderinnen 
in der Art von Fieldings Amelia. Sie 
sind meistens sogar noch blässer als 
ihr Vorbild. Die verheirateten Frauen 
sind mit den alten traditionellen Zügen 
gezeichnet Er kennt die hohlen Ge¬ 
sellschaftsdamen des Frauenromans: 
Mrs. Merdle, Fanny Dorrit, Mrs. Go- 
wan. Er kennt das keifende Weib der 
Legende: Mrs.Varden, Mrs. Snagsby, Mrs. 
Gargery. Sein Bild der Frauenwelt ent¬ 
spricht der Vorstellung eines damaligen 
rückständigen Durchschnittsmenschen. 
Das junge Mädchen muß stets inter¬ 
essant ideal, heroisch, groß im Leiden, 
die verheiratete Frau aber stets uninter¬ 
essant, launisch, tyrannisch, im günstig- 

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sten Falle komisch sein. Die geistig 
unbedeutende Frau ist für Dickens 
wie für frühere Zeiten etwas ganz 
Selbstverständliches. Seiner eigenen 
Zeit allerdings hätte sie schon längst 
nicht mehr etwas Selbstverständliches 
sein sollen. Man denke an die bedeu¬ 
tenden englischen Frauen des 19. Jahr¬ 
hunderts, an Mary Wollstonecraft 
Shelley, an Harriet Martineau, an Flo- 
renceNightingale! Und wie ganz anders 
sind die Frauengestalten, die Schrift¬ 
stellerinnen wie Miß Austen, Charlotte 
Brontß und Elizabeth Barrett Browning 
zu zeichnen wissen! Dickens kommt 
über die minderwertige Frau nicht hin¬ 
aus. In Dora Spenlow hat er sie sogar 
in verklärter Form als bürgerliches Ideal 
hingestellt 

VII. 

So weit dürfte der alte Roman auf 
Dickens eingewirkt haben. Andere 
literarische Traditionen machen 
sich deutlich geltend. Die Auffassung 
des Kindes deckt sich bei Nelly Trent 
und Amy Dorrit ungefähr mit der Vor¬ 
stellung, die sich Wordsworth davon 
gemacht hatte. Der Byronsche Typus 
des Giaour hat in dem romantischen 
Monks des „Nicholas Nickleby“ nach¬ 
gewirkt 

In die Augen fallend ist Dickens’ Ab¬ 
hängigkeit von den großen Essaischrei- 
bem des 18. Jahrhunderts in seinen 
Skizzen, die londonsche Krähwink¬ 
lerei schildern. Addison, Steele, Tho¬ 
mas Hood, W. Irving, Lamb, Leigh 
Hunt haben hier den Anfang gemacht 
und das Londoner Milieu mit immer 
größerer Liebe behandelt Pie ree 
Egan hat sich hier vor Dickens zum 
Spezialkünstler dieses Gebietes herange¬ 
bildet Dickens’ nächster Vorgänger aber 
war der Polizeiberichterstatter des„Mor- 
ning Herald“ J. Wight, der seine Be¬ 
richte in Buchform erscheinen ließ 


(„Momings at Bow Street“, 1824, „More 
Momings at Bow Street“, 1827). Hier 
werden wir mitten hineingestellt in das 
schmutzige Londonmilieu der Drosch¬ 
kenkutscher und Scheuerfrauen, des 
Pfandhauses und des Speisehauses; wir 
machen Ausflüge am Sonntagnachmit¬ 
tag und werden Zeugen von Eifer¬ 
suchtsszenen, die in Prügeleien enden. 
Hier hat Dickens angesetzt, weitergear¬ 
beitet und die Gattung der Skizze auf 
ihren Höhepunkt geführt 

Auch die berühmten „Pick- 
wickier“ sind weiter nichts als die er¬ 
folgreiche Ausgestaltung einer damali¬ 
gen Modegattung, die der erwähnte 
Pierce Egan in „Life of London“ (1821 
bis 1828) und andere gepflegt hatten: 
die Literatur des Sportes, heraus¬ 
gewachsen aus den komischen Epen 
des Dichters William Combes vom ko¬ 
mischen Geistlichen Dr. Syntax (1812 
u. ff.). Mr. Pickwick ist eine Verschmel¬ 
zung des weltentrückten Syntax und 
des korpulenten Herrn und alten Jung¬ 
gesellen Sir John Blubber bei Egan, der 
auch schon den reisenden Klub und die 
vier Genossen kennt 
Die berühmte erste Weihnachts¬ 
geschichte ist ein realistisches Mär¬ 
chen. Dickens hat sie höchstwahrschein¬ 
lich einem alten Volksbuch von Robin 
Goodfellow entnommen, das 1840 ge¬ 
druckt wurde, und der Eingangsfabel 
von Lesages „Hinkendem Teufel“. Jenes 
lieferte ihm den alten Knauser mit 
seinen Visionen, dem Geist als Nachtra- 
ber und dem Geist mit der Fackel, und 
die Bekehrungsgeschichte, dieser die er¬ 
eignisreichen Fahrten durch die Nacht 
und die Episode von der herzlosen 
Freude des Erben des Geizhalses. 
Scrooge selber trägt die Züge eines 
Märchenbösewichts, und dies führt uns 
hinüber auf das literarische Gebiet 
dessen Schätze Dickens am allerhäufig- 


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633 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 634 


sten ausgegraben hat, die Volksdich¬ 
tung, wie sie uns im Märchen, in der 
Straßenballade, aber auch im Melo¬ 
drama und in der niedrigen Posse ent¬ 
gegentritt Eine Betrachtung dieser Ein¬ 
flüsse bringt uns auch das eigentliche, 
tiefinnerste Wesen Dickensscher Kunst 
näher. Allerdings lassen sich hier nur 
ganz allgemeine Angaben machen. Es 
ist unmöglich, im einzelnen Falle zu 
sagen, ob der Zug aus dem Märchen 
oder aus dem Volksdrama stammt weil 
sich beide gegenseitig beeinflußt haben 
und der alte Roman vieles aus der 
Volkskunst in sich aufgenommen, vieles 
aber auch ihr zurückgegeben hat. 

VIII. 

Märchenhaft ist schon Dickens* 
Auffassung der Belohnung der Tugend. 
Sein Held wird nach märchenhafter 
Vorstellung am besten dadurch belohnt 
daß er am Schluß ein schönes, edles, 
reiches Mädchen, die Märchenprinzes¬ 
sin, heimführen darf; ähnliche mär¬ 
chenhafte Züge finden wir auf Schritt 
und Tritt ;Quilp ist ein echtes, zwerghaf- 
tes Märchenungeheuer. Doch mischen 
sie sich stets mit den melodramati¬ 
schen. Dickens hat die Pseudokunst des 
Melodramas vollständig in sich auf- 
genommen. In seiner Jugend begeisterte 
er sich an Charles Mathews, einem 
berühmten Solospieler, der alle mög¬ 
lichen Typen des niedrigen Dramas, 
die komischen Ausländer, Franzosen, 
Iren, Schotten, die betrunkenen Bauern, 
Quäker, alten Jungfern, hilflosen Po¬ 
lizisten, Sonntagsjäger, improvisierte. 
Mathews hat uns noch seine Szenarien 
hinterlassen, die oft an Dickens* volks¬ 
tümliche Kunst erinnern. Die Motive 
des Melodramas sind den Stoffen, die 
wir von Dickens her kennen, sehr 
ähnlich. Unendlich edle Liebhaber und 
heroische Jungfrauen werden mit 


den schwärzesten Schurken kontrastiert, 
Freude und Leid wechseln mit über¬ 
raschender Schnelligkeit Sensationelle 
und sentimentale Szenen werden vor¬ 
geführt: Jagdfeste, Gefängnisszenen, 
Schiffbruch an felsiger Küste — man 
denke an die große Szene in „David 
Copperfield“ —, Mordtat im Gewitter. 
Der Stil ist geschraubt oft hohl und 
rhythmisch, genau so wie bei Dickens, 
dem das Pathos selten gelingt und der 
oft in Blankvers übergeht 0. Ludwig 
hat die dramatische Technik Dickens* 
schon längst erkannt er nennt seine 
Romane erzählte Dramen mit erzählter 
Zwischenmusik, aber — wir merken 
uns — Dramen der niedrigsten, volks¬ 
tümlichen Art Bösewichter werden be¬ 
lauscht, alte Freunde und Gegner tref¬ 
fen sich in unwahrscheinlichen Situa¬ 
tionen, Personen des entgegengesetzten 
Standes (wie die vornehme Rose May- 
lie und die Straßendirne Nancy in „Oli¬ 
ver Twist“) werden durch die Hand¬ 
lung zusammengebracht. Gegen den 
Schluß hin gipfelt sie gerne in einer 
mächtigen Anklageszene, in der der 
Bösewicht vor dem Guten sich verant¬ 
worten muß. Wie ein geschickter Re¬ 
gisseur schiebt dann Dickens alle 
nur aufzutreibenden Personen auf die 
Bühne, um der großen Szene eine stark 
theatralische Wirkung zu verleihen. Hier 
prägt sich uns die Micawber-Heepszene 
in „David Copperfield“ besonders deut¬ 
lich ein, und wir erinnern uns, wie Mi- 
cawber echt bühnenmäßig mit seinem 
Lineal aufHeep einschlägt und ihm den 
Unterarm zerknickt. Immer wieder fin¬ 
den wir bei Dickens solche melodra¬ 
matische Szenen, wie sie die neuzeit¬ 
liche volkstümliche und sogar bessere 
Bühne Englands auch noch aufweist 
und die der Durchschnittsengländer 
sich eigentlich ganz gern gefallen läßt. 
In „Dombey und Sohn“ stößt der Vater 


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635 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 636 


die Tochter brutal von sich, in „Martin 
Chuzzlewit“ wird der Böse durch den 
Stockhieb des Guten zu Boden ge¬ 
schmettert 

Eine ganze Reihe seltsamer Charak¬ 
tere geht auf die BQhnentradition zu¬ 
rück: die Pantoffelhelden Pott Snags- 
by und Wilfer, die komisch-ungeschick¬ 
ten Liebhaber Chivery, Moddle, Guppy, 
die polternden, guten Alten Meagles 
und Grimwig, die komische alte Jung¬ 
fer Betsy Trotwood, die abenteuern¬ 
den Picaros Trotter und Jingle, von 
denen der letztere mit seinen abge¬ 
brochenen Sätzen in Mathews Reper¬ 
toire schon vorkommt 

Die auffallendste Stilform, von der 
Dickens ausgiebigsten Gebrauch macht 
ist der immer wiederkehrende, über¬ 
trieben starkbetonte Einzelzug bei der 
Zeichnung der Person, ihrer örtlichen 
Umgebung und der Natur selber. Der 
Mensch trägt seine charakteristische 
Geste als ständiges Attribut gibt regel¬ 
mäßig bei seinem Auftreten seine ganz 
bestimmten, stehenden Sätze von sich, 
reduziert sich immer mehr vor unseren 
Augen auf diese stark markierten Ein¬ 
zellinien. Cuttle schwingt seinen Haken, 
Newman Noggs läßt die Knöchel seiner 
Hand knacken, Traddles wühlt in seinen 
Haaren, Casby zeigt immer seinen glän¬ 
zenden kahlen Schädel und Carker seine 
gleißenden Zähne. Dieser Carker ist 
eigentlich nur Kiefer und Zahn. „Geht 
er spazieren, so lüftet er die Zähne, 
spricht er zu jemandem, so wendet er 
ihm seine weißen Zähne zu, singt er, so 
vibrieren sie mit der Melodie, schaut er 
jemandem nach, so folgt er ihm mit den 
Gebiß ... Carker liest einen Brief lang¬ 
sam, wägt jedes einzelne Wort und läßt 
jeden einzelnen Zahn darauf wirken... 
Mr.Carker... erledigte eine Menge Ge¬ 
schäfte im Laufe des Tages und ließ 
seine Zähne auf eine Menge Menschen 


wirken. Im Kontor, auf dem Hofe, auf der 
Straße, auf der Börse glitzerten sie... 
Und als die sechste Stunde kam und 
mit ihr Mr. Carkers Brauner, da stiegen 
sie zu Pferde und ritten leuchtend die 
Straße herauf.“ Dies ist eine reichliche 
Ausbeute des alten Stilmittels der Volks¬ 
kunst in Märchen und Ballade, wo der 
König immer eine Krone trägt, Robin 
Hood immer guter Dinge ist, Bogen 
und Horn an seiner Seite hat, oder im 
Volksdrama, wo der Teufel immer 
brüllen muß, der Vater immer tyran¬ 
nisch, der Soldat immer prahlerisch ist. 
Dickens wiederholt die ständigen Züge 
und die stehenden Stichworte so häu¬ 
fig wie im Lustspiel, wo die folgerich¬ 
tige Wiederholung schließlich komisch 
wirkt Dickens geht noch weiter und 
dehnt den typischen Zug auf die ört¬ 
liche Umgebung aus. Der mathema¬ 
tische Tatsachenmensch Gradgrind hat 
ein rechteckiges, mathematisches Ge¬ 
sicht hat rechteckige Finger und recht¬ 
eckige Schultern. Vor ihm sitzen in 
einem rechteckigen Schulzimmer die 
Schulkinder gleich Gefäßen, in die er 
die Tatsachen gießen kann. Wir be¬ 
treten Gradgrinds Haus, das groß und 
rechteckig ist Säulenhallen verdunkeln 
die Fenster wie seine Brauen die Augen. 
Wir betrachten die Stadt Gradgrinds, 
die ebenso häßlich und mechanisch aus¬ 
sieht wie Gradgrind selber. Hier sind 
wir nun allerdings bei einer Verein¬ 
fachung und einseitigen Übertreibung 
der Zeichung angelangt von der die 
Volkskunst noch keine Ahnung hatte, 
bei einem komischen Symbolis¬ 
mus oder bet einer symbolischen 
Karikatur. 

Gelegentlich hat Dickens es verstan¬ 
den, durch die Wiederholung des typi¬ 
schen Zuges eine leitmotivartige 
Wirkung zu erzielen, die im Roman 
als Ganzem eine dekorativ-harmonische 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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Gliederung vomimmt In „Dombey und keit, unter den Cockneys der Neuzeit, 
Sohn“ flüstern die heisern Wellen, win- und doch ist die ganze Welt, in die 
ken weiße Anne im Mondlicht an drei wir hineinversetzt werden, etwas Phan- 
Stellen, jedesmal, wenn der Tod wieder tastisches. Menschen wie Mr. Pick¬ 
seinen Eintritt hält in der Familie. wick und Mr. Micawber, das Präch¬ 

tigste, was Dickens an Porträtierung 
IX. geleistet hat, sind Unmöglichkeiten, 

Dickens wähnte sich als ein Realist Und doch sind sie lebendig. Vielleicht 
Er gab vor, die Wirklichkeit darzustel- fehlt ihnen oft die Beziehung zu unse- 
len. Aber die ganze Fülle seiner rea- rer Welt Aber sie behaupten das Feld 
listischen Stoffe ist überall durchzogen der feenhaften kleinen Welt in die 
von romantischen Elementen, von mär- Dickens sie hineingestellt hat Dort im 
chenhaften, melodramatischen Zügen, Lande des Humors, wo das Feme und 
sein Werk ist ein Gemisch von Realistik das Nahe sich treffen, weht auch jener 
und Phantasie. Seine Romane können Geist, der Dickens noch lange Zeit als 
wie die Victor Hugos als reali- Liebling des englischen Volkes erhal- 
stische Märchen betrachtet werden, ten wird, der Glaube an die unsterbr 
Wir leben in dem London der Wirklich- liehe Freude. 

Nachrichten und Mitteilungen. 

Der Rbeia-Donau-Kanal und der alte Handelsweg großen Schäden, die das Gut durch die 
nach Indien. Fluten und Eisgänge des Winters erlitten. 

Die Anfrage unter obigem Titel im Sep- besonders noch vergrößert durch die fort- 

temberheft 1916 hat einen unerwarteten laufende Reihe der Altwasser (alter ver- 

Erfolg gehabt, weniger für die Geschichte lassener Flußbetten). Dies veranlaßte mich 
des Einsiedlers von Gauting als für die zu der Äußerung: daß diese lange Reihe 
Vorgeschichte des Ludwig-Kanals. Durch stehender kleiner Seen vielleicht bestimmt 
die GQte des Herrn Professor R. Fick in sein könnten, noch recht nutzbar gemacht 
Innsbruck bin ich in der Lage, von zwei zu werden, wenn dereinst der große Ge- 
Schriftstficken zu berichten, durch die sich danke Karls d. Gr. einer Verbindung des 

der Gedanke, den Plan Karls d. Gr. zur Mains mit der Donau mittels der Rezat 

Ausführung zu bringen, bis zum Jahre 1805 und Altmühl wieder aufgegriffen und zur 
zurückverfolgen läßt Danach ist dieser Ge- wirklichen Ausführung gebracht werde, 
danke von dem Professor der Geschichte woran er schon mit einem bedeutenden 
und Geographie in Erlangen Dr. Johann Heere gearbeitet habe, jedoch durch eine 
Christian Fick ausgegangen. Sein Sohn, in Pannonien ausgebrochene Empörung und 
der spätere Geheime Oberbaurat F. Fick Krieg unterbrochen worden sei, welche 
in Kassel, erzählt in der mir freundlichst deutliche Spuren dieser Arbeiten der Was- 
zur Verfügung gestellten Lebensbeschrei- sersefaeide zwischen Rezat und Altmühl 
bung seines Vaters: in der Gegend der Stadt Weißenburg und 

.Der selige Vater ging mit mir und dem nahe an dem Dorfe Graben — welches 

damaligen Adjunkt der philosophischen wahrscheinlich von diesen Arbeiten den 

Fakultät — nachmaligen Professor der Namen hatte — ich bei meinen Reisen als 
Staatswissenschaften zu Marburg — Lips Forstgeometer in den Fürstentümern Ans¬ 
spazieren nach Oberndorf, eine Stunde von bach und Eichstädt in Erfahrung brachte. 

Erlangen, um dem Bruder des letzteren Lips griff diesen Gedanken eines Donau¬ 

einen Besuch zu machen, der zu jener Zeit kanals mit vieler Wärme auf und gab 
freiherrlich von Egloffsteinischer Beamter mehreres Geschichtliche von diesem großen 
gewesen ist. Als wir, uns unterhaltend, Gedanken Karls d. Gr. — der nun zwischen 
auf Bauhölzern im Schloßhofe dasaßen, acht und neun Jahrhunderten wieder ein-, 
fiel unter anderem das Gespräch auf die geschlafen war — zum besten. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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„Der selige Vater, immer wärmer von 
diesem Gedanken durchdrungen, rief end¬ 
lich mit größter Lebhaftigkeit aus: .Hört 
einmall Ihr beiden müßt dar Aber etwas 
schreiben, um diesen Gedanken Karls des 
Großen dem gegenwärtigen Zeitalter wie¬ 
der zu erwecken!‘ So entstand das Schrift- 
chen ,Der Kanal in Franken usw.‘, in wel¬ 
chem Lips den geschichtlichen und staats¬ 
wissenschaftlichen Teil und ich, damaliger 
Kreisbaukondukteur in Erlangen, den tech¬ 
nischen Teil mit einem Kärtchen bearbei¬ 
tete, welches Schriftchen der königl. preußi¬ 
schen Regierung und dem Kurfürsten Maximi¬ 
lian Josef von Bayern übersendet wurde. 

„Besonders von diesem letzteren Fürsten 
wurde das Schriftchen mit ausnehmendem 
Anteile aufgenommen, so daß er sich be¬ 
wogen fand, den beiden Verfassern, die 
damals noch nicht in seinen Diensten waren, 
sehr huldvoll zu danken und jeden mit 
der großen goldenen akademischen Me¬ 
daille (25 Dukaten schwer, mit der Auf¬ 
schrift ,Bene merentibus* und auf dem 
Averse mit dem Brustbilde des Kurfürsten 
geziert) zu beglücken." 

Diese denkwürdige Schrift war 1805 er¬ 
schienen. 1819 verfaßte Chr. Fick eine an¬ 
dere, „an die hohe deutsche Bundesversamm¬ 
lung" gerichtete: „Welche Folgen hat die 
Unabhängigkeit Amerikas auf Europa, und 
was haben wir jetzt zu tun, um die Folgen, 
welche daraus entstehen, besonders für 
Deutschland, minder schädlich zu machen?" 
Hier behandelt er die damals wichtige Frage, 
durch welche Mittel man die große Kon¬ 
kurrenz Amerikas ausgleichen könne. Doch 
davon soll jetzt nicht die Rede sein; ich 
hebe daraus nur die für die Vorgeschichte 
des Ludwig-Kanals wichtigen Sätze hervor. 

„Bei den besten Kunststraßen und bei 
den besten Fuhrwerken wird der Trans¬ 
port zu Lande immer viel kostspieliger 
sein als der zu Wasser. Daher müssen die 
Flüsse schiffbar gemacht und durch Kanäle 
miteinander verbunden werden. Unendlich 
viel ist hierin für Deutschlands Gesamtwohl 
und der einzelnen Staaten zu tun. Man muß 
darüber staunen, daß eine Nation, die sich auf 
einen so hohen Standpunkt der geistigen 
Bildung und Beurteilungsgabe geschwun¬ 
gen hat, in diesem Gegenstände die Ge¬ 
schichte ganz für sich verloren gehen läßt. 


welche uns sagt, daß Staaten nur durch 
die Beförderung der Schiffahrt im Innern 
zu einer großen Blüte und ausgezeichne¬ 
tem Wohlstand gelangt sind. Karl ,<L Gr. 
in einem Zeitalter der Roheit und mit 
den damals äußerst geringen hydraulischen 
Kenntnissen entwarf den eines großen 
Mannes würdigen Plan, den Rhein mit der 
Donau vermittels der schwäbischen Rezat 
und der Altmühl zu verbinden', und schon 
weit war er in seinem unternommenen 
Werke vorgerückt, als neue Kriege sein 
ganzes Augenmerk fesselten. Die Legende 
sagt, daß jedesmal in der Nacht Teufel den 
Graben wieder zugefüllt hätten, welcher 
den Tag über aufgeworfen worden war. 
Wahrscheinlich ist dieses eine Mythe, und 
unter diesen Teufeln muß man diejenigen 
verstehen, welche sich wohltätigen Plänen 
widersetzen. Schon oben erwähnte ich des 
Vorhabens von Kaiser Karl d. Gr., den 
Rhein oder die Nordsee mit der Donau 
oder dem Schwarzen Meere zu verbinden. 
Dieser Plan, von einem guten Könige 
schon lange mit Wohlgefallen beehrt, muß 
wegen seiner großen Wichtigkeit zuerst 
vorgenommen werden. Allein auch die 
Schiffahrt auf der Donau von Regensburg 
bis Wien bedarf wichtiger Verbesserungen. 
— Doch die Verbindung der Donau mit 
dem Rhein, die Schiffbarmachung mehrerer 
Nebenflüsse usw., alle diese großen Ver¬ 
besserungen würden den Hauptzweck nicht 
erfüllen, würden den großen Nutzen nicht 
stiften, wenn man auf der Donau mit sei¬ 
nen Gütern und Handelswaren nicht ins 
Meer hinaus und von diesem den Strom 
herauf schiffen könnte. Denn eben der Zu¬ 
sammenhang eines schiffbaren Flusses mit 
einem oder dem anderen Meere schafft den 
Zusammenhang mit allen Völkern der Erde, 
folglich den Handel mit allen Nationen. 

„Ein großes durchaus notwendiges Un¬ 
ternehmen zur steigenden Industrie und 
Handel im Innern und ins Ausland ist eine 
Wasserverbindung des südlichen Deutsch¬ 
lands mit dem nördlichen oder der Donau 
und des Mains mit der Saale vermittels der 
Tettau und Lockwitz, ein Unternehmen, 
das in der Ausführung weniger Schwierig¬ 
keiten darbieten wird, als man anfänglich 
vermuten muß.“ 

Prof. Dr. H. Draheim. 


Für di« Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W30, Luitpoldstraße 4. 

Druck von B.O.Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


II. JAHRGANG HEFT 6 1. MÄRZ 1917 


Die Plünderung Roms durch Bonaparte. 

Von Emst Steinmann. 


L 

Nicht nur Taten vollbrachte der noch 
nicht dreißigjährige Feldherr in Italien, 
Taten von solcher Kraft und Kühnheit 
und Genialität, daß er sich ihrer noch 
auf St Helena mit stolzer Freude er¬ 
innerte, er verstand es auch, seinen 
Worten den reinen Glanz und den vol¬ 
len Klang des Goldes zu verleihen: 

„Völker Italiens, die französische Ar¬ 
mee kommt eure Ketten zu brechen! 
Kommt ihr mit Vertrauen entgegen. 
Euer Eigentum, eure Religion, eure Ge¬ 
bräuche sollen nicht angetastet werden 

Jeder soll zum allgemeinen Wohl bei¬ 
steuern, jeder soll in Sicherheit sich 
seines Besitzes freuen und unter dem 
Schutz der Tugend seine Rechte aus- 
flben. 

Die Völker sollen ruhig sein! Wir 
sind die Freunde aller Nationen und 
insbesondere der Nachkommen des Bru¬ 
tus, der Scipionen und der großen Män¬ 
ner, die wir uns selbst als Vorbilder 
gewählt haben. Das Kapitol wieder- 
herzustellen und dort die Statuen jener 
Heroen zu errichten, die es berühmt ge¬ 
macht haben, das römische Volk zu er¬ 
wecken, das erstarrt ist in Jahrhunder¬ 
ten der Knechtschaft — das sei die 
Frucht unse rer Siege!“ 1 ) 

1) Correspondance de Napoleon I", Paris 
1858. Proklamationen an die Armee. I S. 220 


Diese Worte erklangen in ganz Ita¬ 
lien so laut und hell, wie die Taten 
dunkel waren, die ihnen folgen sollten. 
„Die Herren Italiener“ — so belehrte 
man sie später — „waren sehr gütig, 
wenn sie geglaubt haben, wir seien 
nach Italien gegangen, um ihnen die 
Freiheit zu bringen oder die Einigung 
als Nation. Wir haben uns dieses Lan¬ 
des nur bemächtigt, um dort unsere 
Geschäfte zu machen. Was unsere Pro¬ 
klamationen und Versprechungen an¬ 
langt — schlimm genug, wenn sie sich 
von ihnen täuschen ließen.“*) 

Was diese „Geschäfte“ bedeuteten, 
das hat Barzoni freimütig in einem Be¬ 
richt an Bonaparte ausgesprochen, in 
dem er das „erneuerte Italien“ einer 
ungeheuren Totenbahre verglich, auf 
der eine ganze Generation hingeopfert 
liege. 3 ) Was diese Segnungen franzö¬ 
sischer Eroberungssucht bedeuteten. 


nr. 234 (26. April 1796) und I S. 369 nr. 461 
(20. Mai 1796). Es wird nach der Quartaus- 
gäbe zitiert 

2) Angeloni, Luigi, Dell' Italia uscente il 
settembre del 1818, Parigi 1818. II S. 199 
Anm. 10. Das Buch erschien 1826 in zwei¬ 
ter Auflage unter dem Titel: Deila forza 
delle cose politiche, ragionamenti quattro. 

3) Malamani, Vittorio, I francesi a Vene- 
zia e la satira. Venezia 1887. S. 64 ff. Tro- 
lard, Eugene, De Rivoli & Marengo et ä Sol- 
ferino. Paris 1893. II 2 S. 202. 


Dem Herrn Direktor Schnorr v. Carolsfeld gebührt mein uneingeschränkter Dank für 
das Wohlwollen, mit dem er meine Arbeit in der Hof- und Staatsbibliothek in München 
gefördert hat. E. St. 

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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


644 


643 

das haben Stadt und Land in Italien 
von Mailand und Venedig bis hinunter 
nach Rom erfahren. Und nirgends hat 
sich dies Verhängnis zu so tragischer 
Größe gestaltet, wie eben in Rom, wo 
der Papst seine tausendjährige Herr¬ 
schaft an den Sieger verlor und mit 
seinem Sturz den tausendjährigen Glanz 
seiner dreifachen Krone begrub. 

Wie einmal Italien die Welt regiert 
hatte, so sollte jetzt Frankreich die 
Welt regieren. Caput mundi — das war 
einmal der Ruhmestitel Roms gewesen; 
er sollte auf Paris übergehen. „Je me 
plais beaucoup ä voir Paris le rendez- 
vous de toute l’Europe“, schrieb Bona¬ 
parte bereits am 2. Juli 1796 an Carnot, 
mit dem er sich völlig eins wußte in 
der Absicht, Rom zu berauben, um Paris 
zu schmücken. 4 ) 

Das Direktorium hatte seinem sieg¬ 
reichen General in diesem Sinne schon 
einige Monate früher ganz bestimmte 
Anweisungen aus Paris zugehen lassen: 
„Italien verdankt den schönen Künsten 
zum großen Teil seine Reichtümer und 
seinen Ruhm. Aber die Zeit ist gekom¬ 
men, wo ihr Reich nach Frankreich 
übersiedeln muß, das Reich der Freiheit 
zu bestätigen und zu schmücken. Dieser 
glorreiche Feldzug, der unserer Repu¬ 
blik die Macht geben wird, den Feinden 
den Frieden zu diktieren, er muß uns 
auch für die Zerstörungen entschädigen, 
die der Vandalismus unter uns angerich¬ 
tet hat“ 5 ) Und gleichzeitig hatte Car¬ 
not in bezug auf Rom an Bonaparte ge¬ 
schrieben: „Einige seiner schönen Mo¬ 
numente, seiner Statuen, seiner Ge¬ 
mälde, seiner Medaillen, seiner Biblio¬ 
theken, seiner Bronzen, seiner silbernen 


4) Correspondance I 561 nr. 715. 

5) Brief Camots vom 7. Mai 1796 in Cor¬ 

respondance inödite officielle et confiden- 

tielle de Napoleon Bonaparte en Italie. Pa¬ 

ris 1819. 1155. 


Madonnen und selbst seiner Glocken 
werden uns ja für den Aufwand ent¬ 
schädigen, den ein Besuch in Rom Euch 
kosten würde.“ 6 ) 

Dies Schreiben Carnots, in dem zum 
erstenmal mit zynischer Offenheit die 
Absicht ausgesprochen wird, die Stadt 
der Päpste aufs schändlichste zu plün¬ 
dern, trägt das Datum des 7. Mai 1796. 
Wenige Tage später — am 9. und am 
17. desselben Monats — wurden bereits 
mit den Herzögen von Parma und Mo¬ 
dena die Verträge abgeschlossen, die 
ihnen je zwanzig Meisterwerke ihrer 
Gemäldegalerien kosten sollten. 7 ) 

In Paris war die Frage, ob man 
mit Recht einen besiegten Feind seiner 
Kunstdenkmäler berauben könne, aufs 
eifrigste diskutiert worden. Bonaparte 
der wie jeder Usurpator auf die Öffent¬ 
liche Meinung das größte Gewicht legte, 
mußte mit Verdruß erkennen, daß es 
unter den Franzosen Leute gab, die 
sein Raubsystem rückhaltlos verurteil¬ 
ten. Der Architekt Quatremöre de Quin- 
cy stand mit seiner Meinung keines¬ 
wegs allein da, als er noch als politi¬ 
scher Gefangener im „Redacteur“ seine 
warnende Stimme erhob. 8 ) Im Som¬ 
mer 1796 erschienen seine gesammelten 
Briefe an Miranda, in denen sich der 
Autor nur mit den Anfangsbuchstaben 
seines Namens A. Q. bezeichnet hatte.*) 

6) Correspondance in6dite I 153. 

7) Correspondance I 303 nr. 368 und 305 
nr. 439. 

8) J. Guiffrey, L’acadömie de France ä 
Rome 1793—1804 in Journal des savants 1906 
S. 658 Anm. 7, und R. Schneider, Quatre- 
möre de Quincy et son Intervention dans 
les arts (1788-1830) S. 164 ff. 

9) Lettres sur le pröjudice qu’occasion- 
neroient aux Arts et ä la Science le döpla- 
cement des monuments de l'art de l’Italieetc.; 
eine zweite Ausgabe des Buches wurde 
mit dem Protest der französischen Künstler 
gegen den Raub i. J. 1815 in Rom gedruckt 
Ein dritte Ausgabe erschien nach Guiffrey 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


646 


Ja, Quatremöre fand den Mut, seine 
Schrift dem ruhmgekrönten Heerführer 
nach Italien zu senden. Zwischen den 
tönenden Reden und schwülstigen 
Schriften innerer Unwahrhaftigkeit, 
heuchlerischer Lüge, frevelhaften Über¬ 
mutes, übelriechender Selbstverherr¬ 
lichung, mit denen Frankreich damals 
Europa überschwemmte, wirken die 
Briefe von Quatremfere wie das Licht 
in der Finsternis. Mit einem Ernst, 
einer Ehrlichkeit, einem Freimut, einer 
Wörme, die Sympathie und Bewunde¬ 
rung wecken, beschwört Quatremöre 
den damals schon allmächtigen und un¬ 
besiegbaren Genius Frankreichs, an 
sich selbst und an anderen, an Italien 
und an Frankreich nicht unsühnbares 
Unrecht zu begehen. 

Er beginnt von einer Republik in 
Europa zu sprechen, die von den Kün¬ 
sten und Wissenschaften gegründet sei 
und alle Menschen zu Brüdern mache. 
„Diese glückliche Gesinnung", schreibt 
er, „kann selbst nicht durch die blutigen 
Uneinigkeiten erstickt werden, welche 
die Nationen verleiten, sich untereinan¬ 
der zu zerfleischen. Fluch über den 
Grausamen, den Toren, der die hei¬ 
lige Flamme der Menschenliebe und 
der Menschlichkeit auslöschen wollte, 
welche die Liebe zu Kunst und Wissen¬ 
schaft noch in einigen Menschen unter¬ 
halt. Die Aufklärung allein hat Europa 
diesen unschätzbaren Dienst geleistet, 
daß es heute keine Nation mehr gibt, 
die einer anderen Nation den erniedri¬ 
genden Namen des Barbaren zurufen 
könnte. Als Bürger einer allgemeinen 
Republik der Künste und Wissenschaf¬ 
ten und nicht als Angehöriger dieser 
oder jener Nation werde ich das Inter- 


i. J. 1836. Eine Übersetzung der sechs ersten 
Briete brachte Archenholz in seiner Minerva 
schon 1796. VIII 87—120 und 271-309. 

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esse untersuchen, das alle Parteien zur 
Erhaltung des Ganzen verbindet“ 
„Tausend Dinge," so beginnt der 
zweite Brief, „haben dazu beigetragen, 
Italien zum großen Museum Europas zu 
machen." Er schildert das Verantwor¬ 
tungsgefühl der Päpste, die jahrhun¬ 
dertelang bemüht gewesen sind, die hei¬ 
ligen Reliquien ihrer Stadt zu sammeln, 
zu erhalten, wiederherzustellen. Er ist 
erstaunt, daß man nicht mehr in Eu¬ 
ropa getan habe, die Päpste zu unter¬ 
stützen, wo doch Europa vollen Anteil 
hatte an den Segnungen der Kultur, die 
von Rom über die Welt verbreitet wur¬ 
den. „Was würde man aber von einer 
Nation sagen," ruft er aus, „die, statt 
solche Bestrebungen zu fördern, es 
wagen wollte, die Quellen auszutrock¬ 
nen, durch die die Welt befruchtet 
wird?“ Und mit dem Namen Roms 
werden tausend Bilder und Vorstellun¬ 
gen in Quatremöres Seele lebendig, und 
die Erinnerung an glückliche Jahre, in 
denen er selbst an diesem Quell der 
Weisheit getrunken hatte, leiht seiner 
Feder Begeisterung und Kraft Er 
schaudert förmlich bei dem Gedanken, 
die Statu$n und Gemälde, die nur im 
hellen Licht am Tiber verstanden und 
genossen werden können, im grauen 
Tag von Paris Wiedersehen zu müssen, 
wo jene große Voraussetzung beschau¬ 
licher Ruhe fehlt, die Rom besitzt „Ist 
nicht die Antike Roms ein großes Buch, 
dessen Blätter die Zeit zerstreut hat 
und das wir jeden Tag bestrebt sind 
wiederherzustellen ? Andere Museen ließ 
ein Zufall entstehen. Rom allein ist 
durch Naturgesetz entstanden. Unteil¬ 
bar ist dies Museum, ob es sich gleich 
aus zahllosen Statuen und Tempeln, 
Thermen und Amphitheatern, Gräbern 
und Inschriften zusammensetzt“ 

„Der gelehrte Winckelmann hat zu¬ 
erst in dieses Chaos Ordnung gebracht 

21 * 

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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


648 


Er hat den Geist der Beobachtung ge¬ 
weckt. Er hat Kritik und Methode an¬ 
gewandt Aber hätte Winckelmann tun 
können, was er getan hat ohne die 
Fülle des Materials, das ihm zur Ver¬ 
fügung stand? Man stelle sich vor, er 
hätte statt der Galerien Roms die Gale¬ 
rien Europas durchwandern müssen, 
würde ihm überhaupt der Gedanke ge¬ 
kommen sein, ein Werk wie das seinige 
zu unternehmen? 

Es würde heißen, die Sonne in Sterne 
zersplittern zu wollen, wollte man die 
Schätze Roms aus Rom entwenden- Un¬ 
wissende Freundschaft ist schlimmer als 
Feindschaft Aber was in Europa den 
Künsten und Wissenschaften angehört 
ist den Gesetzen von Krieg und Sieg 
nicht untertan. Friedrich der Große be¬ 
gnügte sich damit zweimal als Sieger 
in Dresden einziehend, die prächtigen 
Gemälde seiner Galerie zu bewundern.“ 

Und immer dringender, immer be¬ 
redter werden seine Beschwörungen in 
den nächsten Briefen. Er fleht Minerva 
und Apollo an, den Raub nicht zu- 
zulassen- Er besteht darauf, daß es 
außer Rom keine Stadt in der Welt 
gäbe, die würdig sei, ein Tem¬ 
pel jener Heiligtümer zu sein, die 
zu ihr gehörten wie das Lidit zur 
Sonne: Rom ist eine Welt! Nach Rom 
wird jeder pilgern müssen, der seine 
Augen öffnen will für Natur und Kunst 
denn das Kolosseum, die Säulen Tra- 
jans und Antonins, die Kolonnaden von 
St. Peter, die Tore und die Brunnen 
kann kein Eroberer ihm rauben. Er 
schildert seine Enttäuschung, als Kastor 
und Pollux — die berühmte Gruppe von 
San Idelfonso — nach Spanien gebracht 
wurden, er beklagt die Entführung von 
Raffaels Kartons nach London. Teilen 
ist Zerstören! Zur Freude der Mensch¬ 
heit, zur höchsten Belehrung aller derer, 
die hören wollen, will er Rom unver¬ 


sehrt erhalten wissen als große Schale 
der Menschheit — jene Stadt von der 
schon Montaigne gesagt hat sie sei die 
gemeinsamste der Welt wo der Unter¬ 
schied der Nationen sich am wenigsten 
bemerkbar mache, wo alle Welt ein Zn- 
Hause suche, weil alle Welt hier zu 
Hause sei. 

Hätte die Sache Roms einen besseren 
Anwalt finden können? Konnte es mög¬ 
lich sein, die Stimme eines solchen Pre¬ 
digers in der Wüste gänzlich zu über¬ 
hören? Die Bittschrift die Frankreichs 
beste Künstler — unter ihnen David 
und die beiden Moreau, Lesueur und 
Pajou, Fontaine und Perder, Girodet 
Robert ja selbst Vivant Denon — da¬ 
mals an das Direktorium richteten, sind 
ein Echo der Briefe Quatremöres an 
Miranda. 10 ) Die Bitte war bescheiden: 
Nehmt nichts fort aus Rom, bis sach¬ 
kundige Männer euch ihren Rat erteilt 
haben! Aber die Bitte kam zu spät Sie 
blieb unbeantwortet Die Helden der 
Rhetorik und der Phrase hatten den Un¬ 
wissenden längst andere Wünsche ins 
Herz gesenkt una nicht den Unwissen¬ 
den allein. 

„Nicht mehr Blut verlangt der Fran¬ 
zose,“ schrie einer dieser Maulhelden, 
der während der Revolution gelernt 
haben mochte, wie man zum Volke 
reden müsse, „es sind nicht Sklaven, 
nicht einmal Könige, die er an seinen 
Wagen fesseln will. Mit den glor¬ 
reichen Trophäen der Künste will er 
seine Triumphe schmücken! Dieser hei¬ 
ßen Leidenschaft der großen Seelen, 
dieser Ruhmessehnsucht, dieser Begei- 

10) Die Bittschrift ist vielfach gedruckt 
worden. Archenholz gibt in der Minerva 
(1796) VII S. 500 eine Übersetzung. Vgl. 
Schoell, Recueil de pteces officielles pour 
detromper les frangais IX (1816) S. 318, 
Toumeux, Bibliographie de l’histoire de 
Paris I (1890) 473 nr. 4955, und Müntz in der 
Revue d’histoire diplomatique IX(1895)S.379. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Sterling für große Talente verdanken 
die Griechen ihre erstaunlichen Er¬ 
folge. Ihre Tempel, ihre Statuen, ihre 
Denkmäler verteidigten sie bei Sala¬ 
mis und Marathon! Und so gehen 
unsere siegreichen Kämpferscharen vor¬ 
an, begleitet vom Genius der Kunst, ge¬ 
folgt vom Genius des Friedens, und 
bald werden sie am Fuß der stolzen Ba¬ 
silika von St Peter angelangt sein!“ 11 ) 

Tosender Beifall belohnte den Red¬ 
ner, und er konnte sich einbilden, das 
Schicksal Roms besiegelt zu haben. Von 
allen Seiten wurden beifällige Stimmen 
laut Lebreton, der Sekretär des In¬ 
stituts, erklärte feierlich, das römische 
Volk sei nicht länger würdig, der Be¬ 
wahrer der von den Griechen erbeute¬ 
ten Schätze zu sein. 12 ) Des Gegenpro¬ 
testes, den Isabey, Regnault, Ggrard 
Lenoir und viele andere Künstler und 
Gelehrte zugunsten der Raubabsichten 
Bonapartes ergehen ließen, und der erst 
am 5. Oktober 1796 im „Moniteur“ er¬ 
schien, hätte es gar nicht mehr be¬ 
durft 18 ) Aber der Geist Quatremöres 
blieb lebendig wie Bankos Geist und 
nach der Schlacht von Belle-Alliance 
standen die Toten wieder auf. 

In Italien selbst sah man dem Raube 
mit gemischten Empfindungen zu. 14 ) 
„Die Republikaner,“ so berichtet Botta, 
„nicht die guten, sondern der Auswurf 
derselben, zeigten die Kunstschatze den 
Räubern an, die mäßigeren trösteten 
sich mit der Hoffnung, daß Italien zur 
Hervorbringung anderer, ebenso kost- 

11) Moniteur universel (6. Juni 1796) Tome 
XIV S. 1030. 

12) Archenholz, Minerva (1796) VIII466«. 

13) Vgl. Toumeux, Maurice, Bibliographie 
de l’histoire de Paris. Paris 1900. III 896 
nr. 19968. Übersetzung bei Archenholz, Mi¬ 
nerva (1796) VIII 476«. 

14) Silvagni, U., Napoleone Bonaparte e 
i suoi tempi, Roma 1895, II350«., verteidigt 
die Beraubung seines Vaterlandes. 


barer Schätze noch fruchtbar genug sei; 
die strengen dagegen freuten sich über 
den Raub, indem sie sagten, die Frei¬ 
heit bedürfe dieser Pracht nicht, Brot 
und Eisen sei für den Republikaner ge¬ 
nug.“ Alle aber, die in Bonapartes Er¬ 
oberungsgelüsten ein furchtbares Ver¬ 
hängnis für ihr Vaterland erkannten, 
und die durchschauten, welch ein Un¬ 
heil die trügerische Botschaft von Frei¬ 
heit und Gleichheit über ihr unglück¬ 
liches Vaterland heraufbeschwor, alle 
die, welche Italiener blieben und nicht 
Franzosen wurden, waren von tiefer 
Trauer erfüllt und teilten die Erbitte¬ 
rung des Volkes gegen seine Bedrücker. 
Aber die eiserne Faust des Siegers er¬ 
stickte jeden Laut der Klage. Anonyme 
Anklagen, die meistens in der Schweiz 
gedruckt wurden, verhallten ungehöru 
Barzoni, der damals sein berühmtes 
Buch „Die Römer in Griechenland“ ver¬ 
faßte und damit die Franzosen in Ita¬ 
lien meinte, mußte flüchtig werden. 15 ) 
Aber es gab Italiener in Paris, die das 
Mus6e Napoleon nicht betreten haben, 
solange es ihre vaterländischen Heilig- 


15) Im Jahre 1799 erschienen auch an¬ 
onym die Briefe von Francesco Becatini voll 
fürchterlicher Anklagen und bitterer Ironie: 
Storia del memorabile triennale govemo 
Francese e sedicente Cisalpino nella Lom- 
bardia. Zwei anonym erschienene Schrif¬ 
ten, die sich mit den furchtbaren Verlusten 
Italiens beschäftigen, führt Trolard a. a. O. 
II 2 S. 310 u. 312 auf: Le richezze dell’ Italia 
passate in Francia, ossia prospetto delle 
spoglie fatte dalla Republica francese, Ita- 
lia 1800, und Quadri sulla democratizzione 
nel secolo XVIII, Zürich 1799. 

Trolard II2 S. 310 gibt eine Inhaltsangabe 
des Buches: Le richezze dell’Italia. Schon die 
Überschriften geben eine Vorstellung von 
dem, was Italien damals an Qold, Silber, Geld 
und Kunstschätzen aller Art verloren hat. 
Die Angaben sind keineswegs so übertrie¬ 
ben, wie Trolard behauptet, und werden, 
was die gezahlten Millionen anlangt, durch 
Bonapartes Friedensabschlüsse bestätigt. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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tümer barg, und eine vornehme Röme¬ 
rin, die sich doch entschlossen hatte, 
Napoleons Raub- und Ruhmestempel zu 
betreten, brach beim Anblick der römi¬ 
schen Götter und Kaiserbilder vor 
Schmerz über die Schande ihres Vater¬ 
landes ohnmächtig zusammen. 16 ) 

Rückhaltlos nahm man in Deutsch¬ 
land Partei für das unglückliche Land. 
Wie hätte das Vaterland von Winckel- 
mann und Goethe, die eben erst in 
Deutschland mit lauter Stimme das Evan¬ 
gelium von Italiens versunkener Größe 
und unsterblicher Schönheit gepredigt 
hatten, diese schmachvolle Beraubung 
nicht als einen Frevel an Kultur und 
Gesittung empfinden sollen? Schiller 
geißelte den Kunstraub Bonapartes in 
den berühmten Strophen: „Die Antiken 
zu Paris“, und in seinen „Horen“ er¬ 
schienen im Jahre 1797 die zornigen 
Verse von Gries über die Gallier in 
Rom. 17 ) Am ergreifendsten aber hat 
August v.Platen noch viele Jahre später 
in seinem „Alten Gondolier“ tiefe Trauer 
und verhaltene Empörung zum Aus¬ 
druck gebracht: 

16) Der Vorgang wird ausführlich ge¬ 
schildert bei Angeloni a. a. 0. II194 Anm. 7. 

17) Die Horen, Jahrgang 1797 (Tübingen) 
Neuntes Stück S. 79ff.: 

Ihr droht umsonst; denn Jovis Donner 

schweigen 

Und seine Blitze sind entflohn. 

Die Götter selbst, die stolzen Götter steigen 
Herab von ihrem Thron 

Und folgen willig dem erhabnen Sieger 
Bis in den rauhen Norden nach. 

Vergebens flehen Roms entnervte Krieger, 
Zum Widerstand zu schwach. 

Die Rüdekehr der Antiken nach Rom am 
4. Januar 1816 hat Reinhold in ziemlich 
schwachen Versen in ähnlicher Weise be¬ 
sungen: 

Sie kehren heim, die göttlichen Heroen, 
Die ew’gen Wunder in die ew’ge Stadt usw. 

(Morgenblatt für gebildete Stände. 26. März 
1816 Nr. 74 S. 293/94.) 


Wir sahen den Marcuslöwen 
Zum fernen Strand entführen. 

Wir sahen, wie man mit Schwüren 
Und mit Besiegten scherzt! 

Wir sahn zerstört von Frevlem, 

Was würdig schien der Dauer. 

Wir sahn an Tor und Mauer 
Die Wappen ausgemerzt. 

i 

Das Verzeichnis der hundert Kunst¬ 
werke, die Rom kraft der Verträge von 
Bologna und Tolentino verlieren sollte, 
wurde mit und ohne Kommentar in den 
besten deutschen Zeitschriften abge¬ 
druckt: in Wielands „Teutschem Mer¬ 
kur“ 18 ), in Posselts „Europäischen An¬ 
nalen" 19 ), in Archenholz’ „Minerva“* 0 ), 
in den „Neuesten Staatsanzeigen“ 21 ), 
im „Politischen Journal“. 22 ) Es ist er¬ 
staunlich, wie allgemein das Interesse 
an den Vorgängen in Italien war, und 
wenn es auch an Bewunderung nicht 
fehlte für das Genie des jugendlichen 
Eroberers, so fand er für seinen Kunst¬ 
raub doch kaum eine Entschuldigung. 

Der Maler Fernow, der sich auch in 
der Kunstgeschichte einen Namen ge¬ 
macht hat, war damals in Rom ansässig. 
Ihm verdanken wir nicht nur die zuver¬ 
lässigsten Listen aller in Italien ge¬ 
raubten Kunstwerke, Manuskripte und 
Naturalien, er hat auch im „Teutschen 
Merkur“ über Beginn, Verlauf und 
Schluß des Raubgeschäftes getreulich 
Bericht erstattet. Überall wurden Stim- 


18) Über die Kunstplünderungen in Ita¬ 
lien und Rom in: Der neue Teutsche Mer¬ 
kur (Weimar 1796) III 249-279. Vgl. eben¬ 
dort 1797 II59ff. D. Vogel, Rom behalte sei¬ 
nen Apollon und Laokoon. 

19) II (1796) S. 236-240 Posselt bringt 
schon früher (I 261 ff.) die Verzeichnisse des 
Kunstraubes aus Mailand und Parma. 

20) XIII (1796) S. 77—86. 

21) IV (1798) S. 535-39. 

22) 1796 II1012—14 (abweichend und feh¬ 
lerhaft). Vgl. auch den Leipziger Gemein¬ 
nützigen Zeitungsmann vom 9. Juli 1796 und 
endlich das unvollständige Verzeichnis im 
Rheinischen Merkur vom 17. Juli 1815(Nr.269). 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte 


054 


men laut, daß Apollo und Laokoon nach 
Rom gehörten und nicht nach Paris. 
Jeder wußte ffir diese Behauptung 
andere Gründe anzufflhren. 

In Leipzig wurde im Jahre 1803 das 
von Rinaldo Santalone verfaßte Ver¬ 
zeichnis der 500 Codices gedruckt die 
der Vatikan verlor. 28 ) In Hamburg hat 
Archenholz in der „Minerva“ eine 
Anzahl merkwürdiger Dokumente ge¬ 
sammelt, die sich auf den Kunstraub 
nicht nur in Italien, sondern auch in 
Ägypten beziehen. Archenholz selbst 
suchte in seiner Abhandlung zu bewei¬ 
sen, daß Rom und Rom allein das Va¬ 
terland für große Künstler sei. 24 ) Ja, 
er ließ die Franzosen sich selbst be¬ 
kämpfen, und obwohl die Beraubung 
Roms längst eine beschlossene Sache 
war, druckte er einen Protest von Roe- 
derer ab, des bekannten Herausgebers 
des „Journal de Paris", der später als 
Minister und Staatsrat Napoleons eine 
große Rolle spielen sollte. * 6 ) Mit weni- 

23) Recensio manuscriptorum codicum qui 
ez universa bibliotheca vaticana selecti 
iussu dnr. nri. Pii VI. Pont. M. prid. id. iul 
an 1797 procuratoribus gallorum iure belli 
seu pactarum induciarum ergo et initae 
pacis traditi fuere. Lipsiae 1803. Als Ver¬ 
fasser dieser anonym erschienenen Schrift 
wird im Teutsdien Merkur (1802 II 221) Ri- 
naldo Santalone genannt Im Anhang ist 
der zweite Raub v. J. 1798 von Büchern, 
Manuskripten, Vasen und Medaillen ver¬ 
zeichnet, die dem Maler Wicar ausgehän- 
digt werden mußten. 

24) Minerva VII (1796) S. 201: Ober die 
Verpflanzung großer Kunstwerke aus Italien 
nach Frankreich. 

25) Minerva X (1797) S. 126: Ober Buona- 
partes Zug nach Rom und über die Gemälde 
und Statuen Italiens. In Roederers gesam¬ 
melten Werken — CEuvres du comte P. S. 
Roederer I -VI, Paris 1853—57 — habe ich 
diesen Aufsatz nicht zu finden vermocht 
Gegen Roederer, den Franzosen, versuchte 
Stegmann, der Deutsche, Frankreichs Kunst¬ 
raub zu entschuldigen. Er behauptet, in Ita¬ 
lien sei am wenigsten, in Paris am meisten 


ger Rhetorik, aber mit demselben Frei¬ 
mut und der gleichen Wärme wie Qua- 
tremöre vertrat auch Roederer den 
Raubgelüsten Bonapartes gegenüber die 
Gesetze von Recht und Billigkeit „Die 
Kriegsgesetze", führt er aus, „erlauben 
weder herabwürdigende Beraubungen, 
die dem besiegten Lande alle Achtung 
entziehen, noch unersetzbare Ver¬ 
schlechterungen, die, da sie täglich fühl¬ 
bar sind, ewige Rachsucht veranlassen. 
Haben Correggio, Carracci, Domini- 
chino ihre Meisterwerke für euch her¬ 
vorgebracht?“ fragt er seine Lands¬ 
leute. „Römer, laßt keine Bildsäule, 
sondern Bildhauer kommen,“ sagte Cy- 
neas zu den Siegern in Afrika; „nehmt 
keine Gemälde, sondern unterrichtet die 
Maler. Nicht der Genuß dessen, was 
man genommen, sondern dessen, was 
man gemacht hat ist süß und glor¬ 
reich!" 

Die völkerrechtliche Frage wurde von 
K. H. Heydenreich in der „Deutschen 
Monatsschrift“ erörtert 26 ) Er fragt ob 

gegen den Kunstraub geschrieben worden. 
Vgl. Fragmente über Italien aus dem Tage¬ 
buche eines jungen Deutschen (s. I. 1798 
anonym erschienen). I S. 322ff. In Cottas 
neuester Weltkunde (13. Januar 1798) findet 
sich der klassische Satz: .Gerne opferten 
die Italiener die Reichtümer der Kunst und 
des Kunstfleißes, um den ersten Schritt in 
das Heiligtum der Freiheit zu tun.“ .Diese 
Göttin“ — schrieb Woyda in seinen Briefen 
über Italien III 242 — .existiert nirgend an¬ 
ders als in der Vignette auf den Stempeln 
oder dem Briefpapier; wer sie in den Ver¬ 
ordnungen selbst sucht, erstaunt nicht wenig, 
statt ihrer den mit schweren Ketten belaste¬ 
ten Despotismus zu finden.“ Vgl. Briefe über 
Italien, geschrieben in den Jahren 1798 und 
1799 vom Verfasser der Vertraulichen Briefe 
über Frankreich und Paris. Anonym erschie¬ 
nen i. J. 1802 in Leipzig. Ober den Haupt¬ 
mann Woyda, den „freimütigen polischen 
Schriftsteller“, derl798in französische Kriegs¬ 
dienste trat, finden sich einige Notizen in 
Wielands Teutschem Merkur 1800III316—18. 

26) Darf der Sieger einem überwundenen 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte 


656 


es dem Sieger rechtlich zu stehe, einem 
überwundenen Volke Werke der Lite¬ 
ratur und Kunst zu entreißen, und er 
richtet die Gegenfrage an die Franzo¬ 
sen, ob sie mit dem menschlichen Geiste 
Krieg führen wollten, ob sie von dem 
Genius der großen Kunst Italiens an¬ 
gefeindet worden seien. Und er kommt 
zu dem Schluß, daß Güter, die der 
Menschheit angehören, auch dem Feinde 
heilig sein müßten, ja daß es ein Ver¬ 
brechen gegen die Menschheit bedeute, 
einer besiegten Nation nationale Mei¬ 
sterwerke zu rauben. Und wie auch 
Roederer sieht er in solchem Akt die 
Verewigung des Hasses und der Rache: 
denn solange die besiegte Nation dauert, 
wird auch die Kränkung dauern über 
ihren Verlust. 27 ) 

Vor allem aber wendet sich Heyden¬ 
reich mit Empörung gegen die Schän¬ 
dung der italienischen Kirchen durch 
die französischen Apostel eines neuen 
Glaubens, eines neuen sittlichen Ideals. 
Niemand habe das Recht, die Religion 
eines anderen Volkes für Aberglauben 
zu erklären; über die Denkart und den 
Glauben einer Nation könne niemand 
Schiedsrichter sein. Die Franzosen be¬ 
haupteten, die Sache der Menschheit zu 
führen. Freiheit, Kultur und Glück 
hätten sie den Völkern verheißen, denen 
sie alle geistigen und materiellen Güter 
auf die schonungsloseste Weise raub¬ 
ten. Diesen Widerspruch würden sie 
niemals lösen können. „Wahrlich," so 
schließt der Verfasser, „soviel Ehre 


Volke Werke der Literatur und Kunst ent¬ 
reißen? Eine völkerrechtliche Quästion in 
der Deutschen Monatsschrift August 1798 
S. 290-295. 

27) Die gleiche Ansicht findet sich im 
Journal des Luxus und der Moden (Weimar 
1802) S. 246/7 vertreten. Vgl. auch Friedrich 
J. L. Meyer, Fragmente aus Paris im IV. 
Jahre der Französischen Republik (Hamburg 
1797). II 194—199. 


ihnen auch die zahllosen Fahnen machen, 
die sie ihren Feinden entrissen haben: 
die geraubten Meisterwerke Italiens 
wird gewiß kein edlerer Fremdling 
ohne ein Gefühl von Entrüstung in den 
Pariser Kunstsälen erblicken können." 

Bonaparte hat im Waffenlärm, der 
ihn in Italien umklirrte, diese Stimmen 
entweder gar nicht gehört oder nicht 
hören wollen. Gegen Raub und Plün¬ 
derung wendete er sich mit hochtönen¬ 
den, mehr oder weniger heuchlerischen 
Worten mehr als einmal in seinen Ar¬ 
meebefehlen; daß ihm die Wegführung 
der Kunstschätze aus Italien Gewissens¬ 
skrupel verursacht hätte, deutet nicht ein 
einziges Wort in seinen Berichten ein 
das Direktorium an. Im Gegenteil I er 
verweilt mit besonderer Vorliebe bei 
diesem Thema, und bei den glänzen¬ 
den Berichten über seine glorreichen 
Waffentaten veigißt er nicht hinzuzu¬ 
fügen, daß man den heiligen Hierony¬ 
mus des Correggio gerne für eine Mil¬ 
lion zurückkaufen würde, und daß er 
bedaure, daß der Heilige die Reise nach 
Paris in einer so schlechten Jahreszeit 
antreten müsse. 28 ) 

Der Geist des Raubes war in der 
französischen Armee, seit sie die Alpen 
überschritten hatte, mit neuen Siegen 
neu erwacht. „Ein schmutzigeres und 
habgierigeres Heer ist seit den Tagen 
der Landsknechte nicht mehr in die Ge¬ 
filde Italiens herabgestiegen“, klagte 
Francesco Melzi, ein erklärter Freund 
Bonapartes, der zukünftige Herzog von 
Lodi von Napoleons Gnaden. 2# ) „Die 
französische Invasion zerstörte wie ein 
Feuer der Hölle Italiens Wohlfahrt 
überall und auf allen Gebieten," schreibt 
ein Engländer, der all das Unglück mit 

28) Correspondance I 302 nr. 367 und 517 
nr. 663. 

29) Memorie, documenti. Milano 1865 
S. 152. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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eigenen Augen gesehen hatte. 30 ) Aber 
was konnte von den Soldaten erwartet 
werden, wenn sich die Heerführer selbst 
auf die schamloseste Weise zu berei¬ 
chern suchten? Was konnte schließlich 
Bonaparte selbst verlangen, wenn seine 
eigenen Hände nicht rein waren? 

In Italien wollte man wissen, daß sich 
der Generalissimus selbst mit 20 Mil¬ 
lionen bereichert habe, und man er¬ 
zählte sich, daß selbst Berthier, sein 
bester General und sein vertrauter 
Freund, nicht gewagt habe, ihn von 
dem Vorwurf der Raubgier freizu¬ 
sprechen. 31 ) Und war nicht Josephine, 
dem Sieger auf den Spuren folgend, in 
Mailand und Venedig erschienen, um 
sich wie einer Königin huldigen zu 
lassen? Jedermann wußte, wie sehr die 
schöne Frau Gold und Perlen, Gemälde 
und Bronzen und andere Köstlichkeiten 
liebte. Man wußte sich seltsame Dinge 
zu erzählen, wie sie sich gelegentlich 
selbst diese Dinge angeeignet hatte, wie 
leicht es war, ihre Gunst und Für¬ 
sprache durch kostbare Geschenke zu 
erwerben, wie selbstverständlich sie es 
fand, daß von der großen Siegesbeute 
Bonapartes ihr die Kleinigkeiten in den 
Schoß fielen. 33 ) 

30) Rev. John Chetwode Eustace, A clas- 
äcal tour through Italie an. 1802. 4. Aufl. 
London 1817. Vol. II 58. 

31) Sala, Giuseppe Antonio, Diario Ro¬ 
mano I 45, erschienen in Miscellanea della 
R. Societä Romana di Storia Patria. Roma 
1886. 

32) Für Josephinens gänzliche Skrupel¬ 
losigkeit lassen sich zahllose Beispiele an- 
lflhren, und über Malmaison haben nicht 
nur die Gemälde der Kasseler Galerie, son¬ 
dern z. B. auch eine der herrlichsten Ka¬ 
meen aus dem päpstlichen Schatz im Vati¬ 
kan, Tolomeus II. und Arsinoe darstellend, 
den Weg nach Petersburg genommen. Vgl. 
n. a. Trolard a. a. O. I 385, Lanzac de Labo- 
rie, Paris sous Napoleon Bd. VIII (1913) S. 316 
Anm. 3 und Marion du Mersan, Notice des 
monuments, Paris 1840, S. 181. Besonders 


Französische Offiziere sprachen es 
gelegentlich selbst aus, der Krieg in Ita¬ 
lien werde nur um des Raubes willen 
geführt: guerra degli assassini!“ 3S ) 
Ein Brigadechef, Dupuy, schrieb aus 
Mailand an einen Freund: „Ici tout ce 
monde volel“ Garreau berichtete an das 
Direktorium nach Paris: „Das Prinzip 
aller höheren Beamten bei der Armee in 
Italien ist, daß man in sechs Monaten 
ein reicher Mann werden muß.“ 34 ) 
„Pour se faire un sort“ ging man über 
die Alpen zur Armee Bonapartes. „Gag- 
ner“ war der technische Ausdrude, mit 
dem Generale, Offiziere und Kommis¬ 
sare ihren schnellen Erwerb von Gütern 
belegten,“ schreibt Woyda 35 ), der bald 
als Zuschauer, bald als Offizier und Ad¬ 
jutant am Feldzuge in Italien teilgenom- 
men hatte. „Ich hörte eines Abends 
zwei Soldaten sich auf der Straße über 
das Thema unterhalten: ,Voler,‘ sagte 
einer zum andern, ,c’est malhonnöte; le 
soldat trouvel“ 

Ober das Raubsystem in der franzö¬ 
sischen Armee berichtet Woyda 36 ) mit 
einer Aufrichtigkeit und Selbstverständ¬ 
lichkeit, als hätte es gar nicht anders sein 
können. Und da er gleichsam als Fran¬ 
zose unter Franzosen lebte und die Dinge 
sehen konnte, wie sie wirklich waren, 
haben wir keinen Grund, seine Angaben 


charakteristisch ist in diesem Sinne ein 
Schreiben von Denon an Daru aus Braun- 
schweig, datiert vom 14. Februar 1807: J'ai 
eu l’honneur de lui röpondre (ä Josephine), 
que mon dfesir de la servir m’avait fait tou- 
jours joindre aux tableaux que j’gtais Charge 
d’enlever (ä l’gtranger) nombre de petits 
objets charmants qui pourraient ötre extraits 
de ceux destings au Musge et que S. M. 
l'empereur serait sürement ravie de lui don- 
ner. Vgl. Lanzac de Laborie, Paris sous 
Napoleon Bd. VIII (1913) S. 316 Anm. 3. 

33) Sala, Diario 145. 

34) Trolard a. a. O. II 2 S. 396 u. I 269. 

35) Briefe über Italien III134. 

36) A. a. O. UI 261. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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zu bezweifeln: „Was Bonaparte im 
großen trieb,“ schreibt er, „übten die 
ihm untergeordneten Generale, Offiziere 
und Kommissare im kleinen. Italien war 
dazumal noch nicht erschöpft und so 
ward es einem jeden, der sich nur 
irgend zu benehmen wußte, sehr leicht 
ein ansehnliches Vermögen zu gewin¬ 
nen. Überdies hatte man in Italien nicht 
die Schwierigkeiten der Sprache zu 
überwinden, wie am Rhein und in Hol¬ 
land. Mit den gewonnenen Schätzen 
eilten dann viele nach Paris, um sie 
dort durchzubringen. Dieses erregte die 
Aufmerksamkeit der Nation. Man er¬ 
fuhr, daß die Armee bis über die Ohren 
im Golde stecke. Mailand wurde als 
ein Klein-Paris ausposaunt und ganz 
Italien als das gelobte Land. Es ward 
Mode, nach Italien zu gehen. Wer sein 
Vermögen verloren oder verjubelt hatte, 
glaubte nur nach Mailand reisen zu 
dürfen, um sich dort ein neues zu er¬ 
werben. Um einander aber keinen Ab¬ 
bruch zu tun und das Land recht syste¬ 
matisch auszusaugen, wurde schließlich 
einem jeden eine besondere Stadt zu 
seiner Bereicherung zugewiesen. Aber 
die Zahl dieser Leute nahm fortwäh¬ 
rend zu. Man mußte auf Mittel sinnen, 
der Habsucht neue Quellen zu er¬ 
schließen. Rom, das reiche, das präch¬ 
tige, wurde dazu bestimmt Berthier 
erhielt die Ausführung dieser Expedi¬ 
tion, und ihn begleitete ein unsäglicher 
Schwann von hungrigen Kommissaren. 
Solange dieser General an der Spitze 
der Armee stand, ging alles nach 
Wunsch. Ein jeder nahm, was ihm an- 
stand, man plünderte Kirchen, Klöster 
und Paläste, teilte sich ehrlich in den 
Gewinn und erreichte vollkommen sei¬ 
nen Zweck.“ 

Was immer auch Bonaparte bestimmt 
haben mag, sein Programm in Italien 
auf Rom auszudehnen, Tatsache ist, 


daß es ihm zunächst darauf ankam, 
sich die Schätze, die in der Engels¬ 
burg am Tiber bewahrt wurden, zur Un¬ 
terhaltung seiner Armee und zur weite¬ 
ren Verwirklichung seiner gigantischen 
Pläne zu eigen zu machen. Die Verträge 
von Bologna und Tolentino haben wohl 
nicht nur die Italiener infame Schrift¬ 
stücke genannt. 

Im Waffenstillstand von Bologna 
vom 23. Juni 1796 verzichtete der Papst, 
der nie die Absicht gehabt hatte, mit 
Frankreich Krieg zu führen, auf die 
Legationen in Bologna und Ferrara, er 
gab dieRomagna preis, er zahlte 21 Mil¬ 
lionen in Gold, Silber, Edelsteinen und 
Kriegslieferungen, und er verpflichtete 
sich endlich, hundert Gemälde, Büsten, 
Vasen oder Statuen nach Auswahl be¬ 
sonders zu ernennender Kommissare 
dem Sieger auszuliefem. 37 ) 

Bereits am 19. Mai war in Mailand 
ein von Bonaparte und Saliceti unter- 
zeichnetes Dekret erschienen, in dem 
Jacques Pierre Tinet zum Agenten der 
französischen Armee in Italien ernannt 
worden war mit der Befugnis, die Ob¬ 
jekte von Kunst und Wissenschaft zu be¬ 
zeichnen, die aus Italien nach Frankreich 
übergeführt werden sollten. 38 ) Aber 
Monsieur Tinet scheint die Erwartun¬ 
gen, die man in seine Kunstkennerschaft 


37) Art. 8, die Auslieferung der Kunst¬ 
werke betreffend, lautet: Le Pape livrera ä 
la R6publique frangaise cent tableaux, bu- 
stes, vases ou statues, au choix des com- 
missaires qui seront envoyfes ä Rome, parmi 
lesquels objets seront notamment compris 
le buste en bronze de Junius Brutus et ce- 
lui en marbre de Marcus Brutus, tous les 
deux place s au Capitole et cinq Cents ma- 
nuscrits au choix des dits commissaires. Cor- 
respondance de Napoleon I. Tome I 529 
nr. 676. 

38) Dieses wichtige Dekret regelte in 8 
Artikeln die Tätigkeit der Kunstkommissare. 
Correspondance I 363 nr. 455. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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gesetzt hatte, nicht gerechtfertigt zu 
haben. Als die erste Sendung des Raubes 
aus Mailand mit Büchern, Gemälden und 
Manuskripten in Paris anlangte, stellte 
sich heraus, daß überhaupt nur fünf 
etruskische Vasen Museumsstücke waren. 
Von den Gemälden und übrigen Kunst* 
Objekten aber las man im „Magasin 
encyclop&dique", sei nichts wert ge¬ 
wesen, der Republik dargebracht zu wer¬ 
den. 59 ) 

Bonaparte hatte auch selbst schon am. 
6. Mai aus Tortona um die Entsendung 
einiger Künstler gebeten, die die Aus¬ 
wahl unter den Schützen Italiens zu 
überwachen hütten. 40 ) Im Juni waren 
bereits Barthölemy in Bologna, Monge, 
Berthollet und Thouin mit Eifer und Er¬ 
folg in Pavia tütig. 41 ) Noch niemals 
war es geschehen, daß sich Gelehrte 
von Ruf ohne weiteres bereitgefunden 
hatten, ihr Wissen in den Dienst der 
Beraubung eines besiegten Volkes zu 
stellen. Bonaparte aber war zufrieden. 
Am 2. Juli berichtete er nach Paris, daß 
in Parma, Modena, Mailand, Bologna 
und Ferrara 110 Gemülde aufgebracht 
worden seien. 42 ) 

Nun stürzten sich diese und andere 
Kommissare — der Schrecken Italiens 
— auf die Residenz des Papstes. Ende 
Juli meldeten Cacault, der Agent der 
Französischen Republik, und Azara, der 
spanische Botschafter am päpstlichen 
Stuhl, daß die Gelehrten und Künstler, 
die die Auswahl der hundert Kunst- 
Objekte und der fünfhundert Handschrif¬ 
ten zu treffen hätten, am Tiber angelangt 
seien: „Ich werde mein möglichstes 
tun,“ schrieb Azara an Bonaparte, 
»ihnen die Aufgabe zu erleichtern und 


39) II 4 (1796) S. 411. 

40) Correspondance I 283 nr. 337. 

41) Correspondance 1517 nr. 663 Brief ans 
Directoire vom 21. Juni 1796. 

42) Correspondance I 557 nr. 710. 


den Aufenthalt so angenehm zu machen 
wie möglich.“ 4 ®) 

Beneidenswert allerdings konnte die 
Mission bei der erregten Stimmung in 
Rom gegen die Franzosen nicht genannt 
werden, ja, man zweifelte selbst in 
Paris daran, ob der Abtransport des ge¬ 
waltigen Raubes überhaupt ohne weite¬ 
res gelingen werde. Cacault mußte be¬ 
richten, daß man in Rom die noch übri¬ 
gen Herrschaftsgebiete des Papstes lie¬ 
ber an Frankreich abgetreten haben 
würde, als die heiligsten Reliquien des 
alten und des neuen Rom. 44 ) Tatsäch¬ 
lich hatten die päpstlichen Soldaten ge¬ 
nug zu tun, die Franzosen in den 
Straßen Roms vor Beleidigungen zu 
schützen, und zwei Sekretäre der Kunst¬ 
kommission sahen bei einem Aufstande 
ihr Leben ernstlich gefährdet 45 ) 

Polybios erklärte den Römern, die 
sein Vaterland erobert und geplündert 
hatten, niemand würde den Besitzer an¬ 
gesichts seiner geraubten Güter glück¬ 
lich preisen können, denn man würde 
immer Mitleid haben mit dem, der einst 
dies Gut besessen hatte. Auch in Paris 
war man sich dieser Wahrheit bewußt 
und um solch Mitleid in der Wurzel zu 
ersticken, wurden über Sitten und Cha¬ 
rakter Pius’ VI. die unglaublichsten Ge¬ 
rüchte verbreitet Man lese nur, was die 
„Döcade philosophique“ über den grei¬ 
sen Papst zu sagen wußte 46 ), und man 
wird erkennen, daß der Geist wilder 


43) Correspondance inGdite I 412. 

44) L’Italie nous verrait cGder sans regret 
par le Pape toutes les terres domaniales ap- 
partenantes ä la Chambre apostolique, si 
nous voulions les prendre en Gehänge des 
monuments. Vgl. Journal des savants 1906 
S. 660. 

45) Cacault an Bonaparte am 10. August 
1796 in Correspondance ingdite I 471. 

46) Abgedruckt bei G.Fr. Rebmann, Zeich¬ 
nungen zu einem Gemälde des jetzigen Zu¬ 
standes von Paris. Altona 1798. II173. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Grausamkeit, den die Revolution ge¬ 
boren hatte, noch immer unter den Söh¬ 
nen Frankreichs lebendig war. Mit der 
größten Kaltblütigkeit ging man daran, 
den Papst politisch und moralisch zu¬ 
grunde zu richten, um sich seiner 
Schatze ungestraft zu bemächtigen? 
„Eure Märsche nach dem Süden Ita¬ 
liens“, schrieb das Direktorium am 
18. Mai 1796 an Bonaparte, „müssen 
schnell und unwiderstehlich vor sich 
gehen; die ungeheuren Hilfsquellen, die 
sich euch erschließen werden, sind ohne 
Verzug nach Frankreich abzuführen. 
Laßt nichts in Italien zurück, das uns 
nützlich sein könnte und das unsere 
politische Lage uns mitzunehmen er¬ 
laubt. 47 ) 

Beschützt vom Waffenruhm Bona¬ 
partes, getragen vom Machtgefühl der 
Sieger, gingen die Abgesandten der Re¬ 
publik unentwegt ihrem Ziele entgegen. 
Geschmückt mit ihren dreifarbigen Ko¬ 
karden, sah man sie durch die Straßen 
Roms spazieren. Bereits am 14. August 
konnte die Liste der zu wählenden 
Kunstobjekte in letzter Fassung nach 
Paris gesandt werden: 54 Statuen, 
12 Büsten, Vasen, Altäre, Grabreliefs 
und endlich 16 Gemälde. 48 ) 

Der Apollo, den einst Julius II. in 
seinem Viridarium aufgestellt hatte, der 

47) Correspondance inödite 1198. 

48) Die offizielle Liste der hundert Kunst¬ 
werke des Tolentino-Vertrages brachte das 
Magasin encyclopödique II 3 S. 424. Sie 
wurde später u. a. auch in den Misceilanea 
della R. Societä Romana III S. 213 (Sala, 
Diario Romano) wieder abgedruckt. Die 
Liste wurde vorher in Paris genau geprüft 
und mehrfach umgeändert. Vgl. Mag. enc. II 
3 (1796) S. 272-277. Unvollständige Ge¬ 
samtlisten des Raubes wurden von Pomme- 
reul. De l’art de voir dans les Beaux-Arts 
traduit de l’italien de Milizia Paris 1798 
S. 275—314 und in Venedig gedruckt: Cata- 
logo de’ capi d’opera etc. trasportati dall’ 
Italia in Francia. Venezia 1799. 


Laokoon, durch dessen Auffindung in 
den Titusthermen einst ganz Rom in Auf¬ 
regung geraten war, der Torso des Bel¬ 
vedere, auf dem ein Abglanz des 
unsterblichen Ruhmes Michelangelos 
ruhte, die Flußgötter Tiber und Nil, die 
schlafende Ariadne, damals Kleopatra 
genannt, die Statuen der römischen Kai¬ 
ser Augustus, Tiberius und Trajan, die 
Büsten des Marcus und des Junius Bru¬ 
tus, der Antinous’, der Grabstein von 
„Cato und Porzia“, der Dornauszieher 
und der sterbende Gallier — kurz, das 
Köstlichste, was der* kunstsinnige Pius 
eben mit neuer Pracht im Museo Pio 
Clementino, im Konservatorenpalast und 
im Kapitolinischen Museum hatte auf¬ 
stellen lassen — alles, alles wanderte 
nach Paris. Es war, als ob man zugleich 
mit dem Papsttum auch die historische 
Vergangenheit Roms zerstören wollte. 

Aus dem Vatikan aber schleppte man 
von eben den Altären die Altarbil¬ 
der fort, für die sie Guercino, Andrea 
Sacchi, Guido Reni, Poussin und andere 
gemalt hatten; aus dem Quirinal raubte 
man Guerdnos Meisterwerk, die hei¬ 
lige Petronilla, aus S. Girolamo Domi- 
nichinos Kolossalgemälde, die Kommu¬ 
nion des heiligen Hieronymus, aus S. 
Pietro in Montorio Raffaels Verklärung 
Christi. Auch Annibale Carracd und 
Michelangelo daCaravaggio mußten das 
Beste hergeben, was sie in Rom gemalt 
hatten, und Carracds Grablegung Christi 
aus S. Francesco a Ripa ist noch heute 
nicht aus Paris zurückgekehrt. 

Zunächst allerdings mußte die wei¬ 
tere Entwicklung der politischen Lage 
den Bevollmächtigten der Republik 
einen argen Strich durch die Rechnung 
machen. „Noch schließt der Vatikan alle 
seine Bewohner ein“, schrieb W. Uhden 
am 12. November 1796 aus Rom an den 
„Teutschen Merkur“. 49 ) „Einige nur sind 

49) 1797 I S. 56. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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von den französischen Kommissärs von 
ihren Sitzen gestoßen worden, stehen 
und liegen auf dem Boden und r— 
lassen sich so von den Antiquaren um 
so genauer beschauen. Der Apoll und 
Laokoon sind indes noch um keine Hand 
breit gewichen. Auch die Handschriften 
sind unangetastet Die Kommissärs 
haben sich von Rom entfernt und nur 
der Agent der Republik ist noch hier. 
— Merkwürdig war es, daß unter den 
Kommissarien kein Philolog zur Aus- 
suchung der Handschriften befindlich 
war, und ebenso auffallend, daß die 
Auswahl der Statuen einem alten Bild¬ 
hauer überlassen war, der nie in Italien 
gewesen ist Wenn es auch wirklich 
ernst geworden wäre, so scheint es doch 
wahrscheinlich, daß die Werke der alten 
Skulptur Rom nicht verlassen, sondern 
einen von französischen Künstlern an¬ 
gekauften Platz geschmückt hätten. Die 
Kommissarien sollen aber Noten der zu 
fordernden Kunstwerke und Handschrif¬ 
ten bei sich gehabt haben, die von 
sehr kundigen Männern aufgesetzt sein 
mußten.“ 

So dachte und hoffte man noch in 
Rom im November, aber diese Hoffnun¬ 
gen sollten sich als trügerisch erweisen. 
Zunächst hatte es sich Pius VI. ange¬ 
legen sein lassen, alles Gold, das in 
Rom flüssig war, in Papier umzusetzen 
und so die ersten 5 Millionen der Kriegs¬ 
kontribution abzuliefern. Dann aber 
hatte das ungebührliche Verlangen des 
Direktoriums, der Heilige Stuhl solle 
alle Bullen und Breven widerrufen, die 
seit 1787 in bezug auf Frankreich er¬ 
lassen worden waren, die Verhandlun¬ 
gen zum Stillstand gebracht Der Papst 
■weigerte sich entschieden, dies Ansin¬ 
nen zu erfüllen, und, unsicher tastend, 
suchte er erst bei Neapel, dann bei 
Österreich Schutz zu gewinnen. Aber 
bald sah er sich auch hier von Bona¬ 


parte überlistet und endlich, von den 
französischen Truppen hart bedrängt 
am 19. Februar 1797 zu dem demüti¬ 
genden Frieden von Tolentino gezwun¬ 
gen. 60 ). Das Lösegeld, das Rom zu zah¬ 
len hatte, wurde auf 30 Millionen er¬ 
höht und die Ablieferung der hundert 
Kunstwerke sollte nun ohne Verzug zur 
Ausführung gebracht werden. „Die Zah¬ 
lung von 30 Millionen,“ schrieb Cacault 
wenige Monate später aus Rom nach 
Paris, „nach all den früheren Verlusten, 
hat aus den Adern dieses alten Leich¬ 
nams alles Blut gesogen. Wir lassen ihn 
im kleinen Feuer sterben; er wird von 
selbst Umfallen.“ 61 ) 

Der Friede von Tolentino hat Rom 
damals nicht nur seiner größten Kunst¬ 
werke beraubt — er zwang auch den 
Papst um die ungeheure Kontribution 
zu zahlen, alle Schätze zu opfern, die 
seine Vorgänger in der Engelsburg und 
in den päpstlichen Palästen aufgehäuft 
hatten. Die Tiaren Julius’ II„ Pauls III., 
Clemens’VIII. und Urbans VIII. sind da¬ 
mals ihrer Steine beraubt und ein¬ 
geschmolzen worden. 62 ) Die Mantel¬ 
schnallen, die Caradosso für Julius II. 
und Benvenuto Cellini für Clemens VII. 
gearbeitet hatten, Meisterwerke der 
Goldschmiedekunst wie sie alle späte¬ 
ren Jahrhunderte nicht wieder hervor¬ 
zubringen vermochten, sind damals 
gleichfalls den Raubgelüsten der Fran¬ 
zosen zum Opfer gefallen. „Wir haben 
alle Einzelheiten dieser traurigen Exe- 


50) Correspondance II446 Nr. 1511, wo es 
in bezug auf die Auslieferung der 100 Kunst¬ 
werke heißt: Art. 13. L’article du trait& d ar- 
mistice sign£ ä Bologne, concemant les 
manuscrits et objets d’art aura son ex£cu- 
tion enttere, et la plus prompte possible. 

51) Brief vom 5. August 1797. Correspon¬ 
dance in£dite II 516. 

52) Vgl. Moroni, Dizionano di erudizione 
storico-ecclesiastica vol. LXXXI S. 57ff. Un¬ 
ter Triregno. 


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kution, der noch viele andere Wunder¬ 
werke der Goldschmiedekunst zuip 
Opfer fielen, vom letzten Goldschmied 
des Vatikans, Spagna, erzählen hören“, 
schreibt Eugöne Piot im „Cabinet de 
l’Amateur“. „Ihm war ein unauslösch¬ 
licher Eindruck von dieser entsetzlichen 
Zerstörung haften geblieben, an der er 
einst als junger Arbeiter teilgenommen 
hatte.“ 53 ) Man kann einen Menschen 
nicht mehr quälen, wie Pius VL damals 
von den französischen Säckelmeistem ge¬ 
quält worden ist In der Tragödie dieses 
Greises ist die Zerstörung des wunder¬ 
barsten Schatzes, den je ein Souverän 
der Erde besessen hat ein Akt für sich. 
Aber was bedeutete selbst dieser Raub 
im Vergleich zu dem, was noch kommen 
sollte? 

Wie sehr Bonaparte darauf bedacht 
war, daß nun auch die Kunstwerke 
schnell nach Paris geschafft würden, 
beweist ein Erlaß, der gleichfalls aus 
Tolentino datiert ist und einen Tag vor 
dem Friedensschluß mit dem Papst er¬ 
ging. Auf Ansuchen des Kommissars 
Monge traten die Maler Wicar, Gros, 
Gerli, der Komponist Kreutzer, der Bild¬ 
hauer Marin, ein Sekretär und ein Agent 
der Kommission in Rom mit einem Mo¬ 
natsgehalt von 250 Livres bei. 54 ) 

Und nun scheint sich in der Tat das 


53) Müntz, Les annexions de collections 
etc. in Revue d’histoire diplomatique X 
(1896) S. 496. Müntz, Trolard, Chevenniöres, 
Saulnier und alle übrigen modernen Fran¬ 
zosen, die den Kunstraub Napoleons behan¬ 
delt haben, suchen ihn — häufig auf Kosten 
der Wahrheit — zu beschönigen und seine 
furchtbaren Wirkungen abzuschwächen. Nie¬ 
mand hat den Mut gefunden, die Wahrheit 
zu sagen wie s. Z. Quatremöre de Quincy 
und Roederer. Mit rühmenswerter Offenheit 
behandelt Lanzac de Laborie das heikle 
Thema, sooft er es in seinem ausgezeich¬ 
neten Buch Paris sous Napoleon berührt. 

54) Schreiben an den General Berthier in 
Correspondance II 440 Nr. 1506. 


Weitere in Rom ziemlich schnell und 
ohne Zwischenfälle entwickelt zu haben. 
Wir können uns von der Arbeit der 
Kommissare dank eines Überflusses von 
Dokumenten eine sehr deutliche Vor¬ 
stellung bilden. Die Transporte ver¬ 
ließen Rom — um kein Aufsehen zu er¬ 
regen bei nächtlicher Stunde — am 
9. April, am 9. Mai, am 10. Juni und am 
8.Juli. 55 ) Schon am 3.Juni 1797 glaubte 
Cacault nach Paris berichten zu können, 
daß der § 13 des Vertrages von Tolen¬ 
tino so gut wie erfüllt sei 56 ): „Die 
Kunstwerke sind abgeliefert und ein¬ 
gepackt. Zwei große Wagenzüge mit 
den größten Kostbarkeiten befinden sich 
bereits außerhalb der päpstlichen Staa¬ 
ten; ein dritter Zug geht in drei Tagen 
ab. Aber zwei andere Transporte 
können erst später abgehen, da die 
Wagen noch nicht fertig sind. Das 
Eisen fehlt 1 Oberhaupt müssen wir uns 
hier mit einer Bettelhaftigkeit abfinden, 
von der man sich keine Vorstellung 
machen kann. Die römische Kurie hat 
den ganzen Aufwand für die Verpackung 
zu tragen, der enorm ist; sie zahlt die 
Wagen, sie zahlt die Transportkosten 
bis Livorno. Man schätzt die Ausgabe 
auf 800000 Livres. Es sollte Rom eine 
Million erlassen werden, um diese Sum¬ 
men zu zahlen, und alles, was sich sonst 
auf Kunst und Wissenschaft und die 
Agenten bezieht.“ Und daß auch diese 
letzten Ausgaben nicht gering gewesen 
waren, beweist die Rechnungsablage von 
Thouin. Reisen und Gratifikationen, die 
sich auch auf den Architekten Valadier 
und den Präfekten des Vatikans er¬ 
streckten, hatten mehr als 50000 Livres 
verschlungen. 67 ) 


55) Guiffrey, Journal des savants 1906 
S. 658-662. 

56) Correspondance in&dite II 272. 

57) Correspondance ingdite II 444 —447. 
Das Benehmen des Präfekten des Vatikans 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


Thouin verdanken wir auch die 
äußerst lebendige Schilderung eines sol¬ 
chen Wagenzuges, wie sie damals in 
kurzer Aufeinanderfolge viermal von 
Rom nach Livorno gingen. 58 ) Nachdem 
die ganze Route sorgfältig festgelegt 
und Straß^i und Brücken hergerichtet 
waren, setzte sich der Zug in Bewe¬ 
gung, Rom durch die Porta Angelica 
verlassend. „Man kann sich das Auf¬ 
sehen nicht vorstellen, das diese Wagen¬ 
züge erregt haben“, schreibt Thouin, 
nachdem er mit dem zweiten Wagen¬ 
zug in Livorno angekommen war. „Zwölf 
Wagen von besonderer Struktur, alle 
neu, rot angestrichen, mit riesigen Bal¬ 
len beladen, die die Aufschrift trugen: 
A la Rgpublique Franchise, au Ministre 
des Relations extörieurs, fuhren voraus, 
und ihnen folgte ein dreizehnter, der 
die ungeheuren Kisten trug mit den Ge¬ 
mälden Raffaels und der übrigen ita¬ 
lienischen Meister. Es folgten vier klei¬ 
nere Wagen, die mit Reisegeräten und 
einer Kiste beladen waren, die alle Uten¬ 
silien und Handwerkszeuge zur Aus¬ 
besserung der Wagen, der Kisten und 
auch der Wege barg. Alle diese Wagen 
wurden gezogen von 120 Büffeln und 
60 riesigen Ochsen mit mächtigen Hör- 

bei dieser Gelegenheit berechtigt zu den 
schwersten Vorwürfen. Ein gleichzeitiges 
Dokument sagt über ihn: Mons. Reggi in- 
vece di attendere esso alla scelta de’ 500 
codici vaticani, che il commissario Monge 
venne per fare secondo il trattato di Tölen- 
tino, deputö a tal cosa il Santoioni, sco- 
patore della Biblioteca, e questi si portö in 
modo che si acquistö la benevolenza del 
commissario ed in fine parecchie centinaie 
di piastre. Vgl. Le Grelle, Saggio storico 
delle Collezioni numismatiche Vaticane 
S. XLVIII Anm. 3 in Camillo Serafini, Le Mo- 
nete e le bolle plumbee Pontificie del Me- 
dagliere Vaticano. Milano 1910. 

58) Magasin encyclop6dique III 2 (1797) 
S. 411—415: Schreiben an das Direktorium 
aus Livorno vom 28 prairial an 5 (16. Juni 
1797). 


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nem. Einige Pferde, etwa 100 Römer, Ar¬ 
beiter, Handwerker, Soldaten und end¬ 
lich ein französischer Kommissar beglei¬ 
teten den Zug, der sich langsam feist über 
eine Viertelmeile dahinbewegte. Näherte 
man sich den Städten, oder mußte man 
durch sie hindurch, so entstand regel¬ 
mäßig ein großer Volksauflauf, und be¬ 
sonders aus Livorno hatte sich die ganze 
Stadt aufgemacht, den Wagenzug an¬ 
kommen zu sehen. Alle diese Zu¬ 
schauer waren ergriffen von der Macht 
der Nation, die hundert Meilen von der 
Heimat entfernt auf Befehl eines der 
12 Generale ihrer Armee solche Schätze 
aus Rom entführt hatte und sie über die 
Gebirge des Apennin führte, um da¬ 
mit die Hauptstadt ihres Reiches zu 
schmücken. Was für eine Nation, sag¬ 
ten sie, sind die Franzosen 1 Sie haben 
eine so hohe Meinung von uns, daß sie 
gar kein anderes Wort hinzufügten und 
uns schlechtweg die Nation nannten, 
als wenn es gar keine andere Nationen 
gäbe.“ 

Nichts kann besser den naiven Stolz 
des machtbewußten Eroberers veran¬ 
schaulichen als diese Beschreibung. 
Nichts beweist besser, wie gut Bona¬ 
parte seine Landsleute kannte, wenn er 
den Raub der Kunstschätze Italiens als 
ein besonders wirkungsvolles Betäu¬ 
bungsmittel auswählte. Was würde es 
erst bedeuten, wenn alle diese Herr¬ 
lichkeiten in Frankreich angelangt, dort 
in feierlichem Triumphzuge durch Stadt 
und Land dem Bürger und Bauern von 
den Ruhmestaten Frankreichs in Italien 
berichten würden! Thouin konnte sich 
von einer solchen Vorstellung nicht wie¬ 
der losreißen. „Ein Zug von 50 Wagen,“ 
schreibt er, „beladen mit den Trophäen 
Italiens, geführt von mehr als 700 Zug¬ 
tieren, gefolgt von Kamelen, von den 
schönen Eseln Toskanas, den römischen 
Ochsen mit den großen Hörnern, den 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Bflffeln der Pontinischen Sümpfe, das 
wäre ein Triumphzug, der den Einwoh¬ 
nern Frankreichs einen hohen Begriff 
von den Siegen seiner Armeen, von der 
Energie seiner Regierung und der All¬ 
macht seiner Nation geben würde.“ 69 ) 

Am 8. Juli endlich konnten Monge, 
Barth61emy, Tinet und Moitte nach Paris 
berichten, daß der vierte und vorläufig 
letzte Transport nach Livorno abgegan¬ 
gen sei. 60 ) Er enthielt nicht nur die Sta¬ 
tuen der schlummernden Ariadne, der 
Urania, des Diskoboi, der Musen Mel- 
pomene und Terpsichore, sondern auch 
drei Kisten für die Citoyenne Bona¬ 
parte mit Geschenken des unglücklichen 
Papstes, der nichts mehr besaß. 61 ) Auch 
die Auswahl der 500 Manuskripte aus 
der vatikanischen Bibliothek war be¬ 
endet; zwei Fuhrleute sollten die wohl¬ 
versiegelten Kisten sofort nach Livorno 
schaffen. Mit der Auswahl der Typen 
der Propaganda, auf deren Besitz man 
in Paris besonderen Wert legte, wollte 
sich der gelehrte Monge die letzten 
Tage vor seiner Abreise noch besonders 
beschäftigen. Nur die Marmorstücke, 
die so groß und so schwer waren, daß 
es unmöglich erschien, sie auf dem Land- 

59) Ähnlich äußerte sich Belleville, der 
französische Generalkonsul in Livorno, in 
einem langen Schreiben an Bonaparte vom 
17. Juli 1797, das besonders lesenswert ist 
Correspondance in&dite II 476—480. Der 
Brie! Thouins ist von Archenholz in der Mi¬ 
nerva XI (1797) S. 447—453 übersetzt worden. 

60) Correspondance inödite II 447—451. 

61) Cacault berichtete über diese Ge¬ 
schenke an Bonaparte in einem Schreiben 
vom 8. Juli 1797 (Correspondance in£dite II 
443). Ober ein kostbares Halsband schreibt 
er folgendes: Je sais, qu’on pröpare un Col¬ 
lier de camöes, qui sera pr£sent£ ä Mada¬ 
me Bonaparte de la pari du pape. De tel- 
les attentions et hommages, noblem ent Of¬ 
ferts ä l’6poque, oü tout est ä peu prös Jini 
ici, ne sauraient döplaire ä votre grande 
ame, et j’espöre, que vous ne me blämerez 
pas d’en remercier le saint-pöre. 


wege zu transportieren, waren unter 
dem Schutze Cacaults gleichfalls ver¬ 
siegelt und verpackt in einem Magazin 
des Vatikans zurückgeblieben: die rie¬ 
sige Melpomene, der Nil, Apollo mit 
dem Greifen, ein Sarkophag, eine Ba¬ 
saltvase und jener Tiber, den tausend 
Erinnerungen mit Rom verbanden, der 
im Januar 1512 bei S. Maria sopra Mi¬ 
nerva ausgegraben worden war, den 
Julius II. sofort für sein Viridarium er¬ 
worben hatte, und den Canova unbe¬ 
greiflicherweise im Jahre 1815 in Paris 
zurückgelassen hat* Diese Schätze soll¬ 
ten auf dem Tiber eingeschifft werden 
und, sobald es die Sicherheit der Meere 
gestattete, zur See ihren Weg nach 
Frankreich nehmen. 

Wenn man den Bericht liest, den die 
Kommissare schon früher an die Ver¬ 
waltung des Mus6e National nach Paris 
gesandt hatten, ein Bericht, der genaue 
Rechenschaft ablegt über Verpackung 
und Transport der Statuen und Gemälde, 
so wird man zugeben müssen, daß sich 
diese Männer der furchtbaren Verant¬ 
wortung bewußt gewesen sind, die auf 
ihnen ruhte. 62 ) Die hundert Kunstwerke 
des Tolentino-Vertrages wurden als 
Krone des ganzen Kunstraubes aus Ita¬ 
lien angesehen; sie wurden angesichts 
Europas aus Paris entführt, man fühlte 
sich Europa verantwortlich für den 
Schaden, den sie erleiden würden. 
Trotzdem wurde schon damals in Rom 
an der Verpackung der Gemälde wenig¬ 
stens eine scharfe und gerechte Kritik 
geübt: „Unbegreiflich bleibt es mir,“ 
schreibt Böttiger, nachdem er seiner 
Verwunderung Ausdruck gegeben über 
so manches Kunstwerk, das die Fran- 


62) Dieser undatierte von Monge, Bar- 
th61emy und Moitte Unterzeichnete Bericht 
ist mir nur aus der Übersetzung bei Archen- 
holz (Minerva XI [1797] S. 429—447) bekannt 
geworden. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


zosen ihrer Auswahl würdig befunden 
hatten 83 ), „unbegreiflich bleibt es mir, 
wie die französischen Kommissairs das 
ungeschickte Obereinanderrollen der Ge¬ 
mälde auf Leinwand gestatteten und 
so die herrlichsten Meisterstücke einem 
fast unvermeidlichen Verderben über¬ 
geben konnten. Es wurden immer sechs 
Stück solcher Gemälde in- und über- 
einandergerollt und dann zum Versen¬ 
den emballiert Es ist gar nicht zu be¬ 
rechnen, was dies bei Ölgemälden, wo¬ 
von die meisten mehr als einhundert 
Jahre zählen, zum Teil durch Restau¬ 
ration stark inkrustiert und überall zu 
einer solchen Behandlung viel zu spröde 
sind, für nachteilige Folgen gehabt haben 
muß. Ich möchte bei ihrem Auspacken 
in Paris nicht zugegen sein. Doch dies 
kümmert die Herren wenig, sie können 
ja frisch anpinseln.“ 

Bonaparte selbst war mit der Tätig¬ 
keit seiner Abgesandten wohl zufrieden, 
und das war die Hauptsache. Wenige 
Wochen später bereitete er seinen Die¬ 
nern im Hauptquartier von Passariano 
einen überaus gnädigen Empfang. „Die 
Regierungskommissare für Kunst und 
Wissenschaft in Italien haben ihre Mis¬ 
sion beendet“, schrieb er am 13. Sep¬ 
tember 1797 nach Paris. 64 ) 

„Ich behalte die Bürger Berthollet 
und Monge noch zurück. Die Bürger 
Tinet und BarthElemy reisen nach Paris 
ab. Die Bürger Moitte undThouin haben 
die Transporte von Rom aus begleitet 
und sind bereits in Marseille angelangt 

Diese ausgezeichneten Männer haben 
der Republik mit einem Eifer, einer 
Arbeitsfreudigkeit, einer Bescheidenheit 
und einer Selbstverleugnung ohneglei¬ 
chen gedient Ausschließlich mit dem 

63) Auszug aus dem Briefe eines teutschen 
Künstlers in Wielands Teutschem Merkur 
1798 1167. 

64) Correspondance III S. 389 nr. 2192. 

Internationale Monatsschrift 


Erfolg ihrer Mission beschäftigt, haben 
sie sich die Achtung der ganzen Armee 
erworben. Sie haben Italien in der heik¬ 
len Angelegenheit, die ihnen oblag, ein 
Beispiel jener Tugenden gegeben, die 
fast immer große Talente begleiten.“ 
Hätte man, um das Gelingen einer 
häßlichen Tat zu preisen, schönere 
Worte finden können? Hat es jemals 
eine Hand gegeben, die so sicher 
wie diese die Feder zu führen ver¬ 
stand und das Schwert? Das war der 
Kirchenräuber, der von Mailand bis 
Rom nicht einen Kirchenschatz un¬ 
berührt gelassen hatte. Das war der 
Städteplünderer, der nach Paris be¬ 
richtete, die Disziplin seines Heeres und 
die Achtung vor Religion und Ge¬ 
rechtigkeit hätten ihm in Italien den 
Sieg verschafft Das war derselbe Bona¬ 
parte, der erklärte, man könne nur mit 
Weisheit und Gerechtigkeit große Taten 
vollbringen. 66 ) Das war der dunkle Ge¬ 
nius, dessen schreckliches Geheimnis 
niemand zu ergründen vermochte. Und 
wer es erfaßt zu haben glaubte, der 
mußte die Erkenntnis teuer zahlen: „Es 
vereinigten sich in seinem Charakter“, 
schrieb der General Landrieux in seinen 
zum Teil noch ungedruckten Memoi¬ 
ren 66 ), „die Kühnheit der unverschäm- 


65) Correspondance III 490 nr. 2292: „Ce 
n’est qu'avec de la prudence, de la sagesse, 
beaucoup de dextEritE, que l'on parvient ä 
de grands buts, et que l’on surmonte tous 
les obstacles: autrement on ne rEussira en 
rien. Du triomphe ä la chute il n’est qu’un 
pas. J’ai vu dans les plus grandes circon- 
stances, qu’un rien a toujours dEcidE les 
plus grands EvEnements.“ Vorher spricht er 
von der Disziplin, der Gerechtigkeit und 
dem großen Respekt, que nous avons tous 
eu pour la religion! Bekanntlich war Fried¬ 
rich der Große derselben Ansicht, daß oft 
das Schicksal der Schlachten und folglich 
der Völker an Bagatellen hänge. 

66) Landrieux, MEmoires ed. LEon Grasi- 
lier. Paris 1893. 120. 

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Paul Herre, Die Großmacht 


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testen Lügenhaftigkeit mit einer unbe- 
zwinglichen Gier nach Reichtum und 
Macht und die durchtriebenste Heuche¬ 
lei mit einer tätigen Kraft, wie man sie 
nur noch bei den Soldaten fand, die 
ihm folgten.“ 

Das war der spiritus rector der fran¬ 
zösischen Armeei Das war der Mann, 
dem ein hinfälliger Greis im Frieden 


von Tolentino alle Mittel überantwor¬ 
tete, die zur Erhaltung eines Staats- 
wesens notwendig sind. Pius VI. mochte 
damals glauben, der Erbarmungslose 
habe ihm den Kelch seiner Leiden bis 
an den Rand gefüllt Er sollte bald er¬ 
kennen, wie furchtbar er getäuscht wor¬ 
den war. 

(Schluß folgt) 


Die Großmacht 

Deutsche Betrachtungen über Ausdruck, Begriff und Wesen. 

Von Paul Herre.*) 


V. 

Der alte Boden war wiedergewonnen 
und neues Gebiet hinzuerobert Mit der 
Klarstellung des Begriffs der Großmacht 
konnten auch die handelnden Politiker 
neue Wege beschreiten. Aber allzusehr 
hatten sich die Menschen der Restau¬ 
rationszeit in dem feinmaschigen Netze 
der Romantik verstrickt, als daß es ihnen 
möglich war, die ihnen ans Herz gewach¬ 
sene gefühlsmäßige oder von unpoliti¬ 
schen Grundsätzen bestimmte Betrach¬ 
tungsweise aufzugeben. Allzutief hatte 
sich die liberale Opposition in die Ideen 
der Französischen Revolution versenkt, 
als daß sie für etwas anderes Sinn hatte 
als Verwirklichung des konstitutionel¬ 
len Prinzips. Rankes Stimme verhallte 
ungehört, weil die ganze Fragestellung 
unverstanden blieb. Gewiß erstrebten 
Konservative und Liberale in Preußen 
wie im übrigen Deutschland einen 
deutschen Einheitsstaat, den sie sich 
als eine ähnliche Großmachterscheinung 
vorstellten, wie sie in Frankreich, Eng¬ 
land und Rußland bestand. Aber es war 
das tragische Verhängnis, daß sie alle 
die politische Einheit der deutschen Na¬ 
tion herbeiführen wollten, ohne darüber 


*) Siehe Heft 5. 


klar zu sein, daß sich diese auf 
einer vom Machtgedanken beherrschten 
Staatspersönlichkeit gründen müsse. 
Das deutsche Volk hatte es in seiner 
geschichtlichen Entwicklung zu tragen, 
daß man einen Großmachtstaat er¬ 
strebte, ohne dessen Natur zu kennen. 

Alle Parteien, die sich in den dreißiger 
bis fünfziger Jahren um die Schaffung 
des Einheitsstaates bemühten, waren an 
diesem politischen Grundirrtum betei¬ 
ligt, mochten ihre Wege noch soweit 
auseinandergehen. Liberale Historiker 
wie Rotteck und Schlosser, deren Werke 
in den Händen des großen Publikums 
waren, blieben in der Beurteilung des 
Machtstaats ganz auf dem Boden der 
Humanitätsauffassung der älteren Ge¬ 
neration stehen. Sie sahen die Mächte, 
auch „die Hauptmächte“, durchaus 
äußerlich in der Art des 18. Jahrhun¬ 
derts und würdigten sie allein unter 
dem Gesichtspunkt der Erhaltung und 
Förderung des liberalen Prinzips. Ober¬ 
haupt traten die machtpolitischen Fra¬ 
gen in ihrer Betrachtung bei weitem 
vor den Problemen innerstaatlicherEnt- 
wicklung zurück; dem Verfassungsleben 
und den ständischen Verhältnissen der 
Völker war ihr eigentliches Interesse 
gewidmet Männer wie Gervinus, Dahl- 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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mann, Droysen, Duncker, Heinrich 
v. Gagern und all die sonstigen Re¬ 
präsentanten der konstitutionellen und 
nationalen Bestrebungen der Revolu¬ 
tionszeit waren zwar erhaben Ober die 
hohlen Anschauungen der Aufklärung 
und kamen hinsichtlich der Bewertung 
der nationalen Kräfte für den Staat 
Ranke nahe. Aber in dem leidenschaft¬ 
lichen Bemühen, ihr Ideal zu verwirk¬ 
lichen und der deutschen Kultumation 
den ersehnten Einheitsstaat zu erkämp¬ 
fen, verloren auch sie den rechten 
Standpunkt gegenüber den Fragen 
machtstaatlichen Daseins. Es ist cha¬ 
rakteristisch, daß Dahlmann den zwei¬ 
ten Teil seines vielgelesenen Lehrbuchs 
über „Politik“ 63 ), der die auswärtigen 
Verhältnisse und das internationale Zu¬ 
sammenleben der Staaten behandeln 
sollte, niemals geschrieben hat, und 
noch bezeichnender ist es, daß Droysen 
die preußische Monarchie schwanken 
läßt ob sie „Staat“ oder „Macht“ sein 
wolle 64 ), daß er die beiden Begriffe 
einander gegenüberstellt statt sie zu 
identifizieren. Kaum daß sich einmal die 
Publizistik grundsätzlich mit den Fragen 
der internationalen Politik beschäftigte; 
die v. Goldmann zugeschriebene Schrift 
über „Die europäische Pentarchie“ 66 ), 
die zu bemerkenswerten Erkenntnissen 
über die fünf Hauptmächte und das 
durch diese bestimmte Staatsleben auf¬ 
steigt ohne schließlich doch die prin¬ 
zipielle Gebundenheit abstreifen zu kön¬ 
nen. blieb eine seltene Ausnahme. Die 
Romantiker aber erwärmten sich für die 
Idee der christlichen Gemeinschaft und 
entfremdeten sich mehr noch als ihre 


53) Teil 1 (Göttingen 1835) erschien 1847 
sogar in zweiter Auflage. 

54) Vgl. G. Droysen, J. G. Droysen. 
Leipzig 1910. Band 1 S. 274. 

55) Leipzig, Otto Wigand, 1839. — Vgl. 
Anm. 16. 


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liberalen Widersacher der realen Er¬ 
kenntnis staatlichen Daseins. 

Friedrich Meinecke hat in seinem 
Werke die Ursachen dieser Erschei¬ 
nung dargelegt Die Einwirkung univer¬ 
saler und unpolitischer Ideale, die im 
18. Jahrhundert die gebildeten Schich¬ 
ten des Volkes erfaßt und in der um¬ 
wälzenden Entwicklung der Französi¬ 
schen Revolution und der Befreiungs¬ 
kriege Zugang zum Staatenleben ge¬ 
funden hatten, trug die Schuld daran. 
Sicherlich aber waren darüber hinaus 
die neue Anschauung von den staat¬ 
lichen Grundlagen und das Bemühen, 
ihr in der Praxis Rechnung zu tragen, 
in hohem Maße mitbestimmend. Voll¬ 
ends seitdem man den Staat vom Volke 
her sah, machte sich die alte Abnei¬ 
gung gegen den Egoismus und Macht¬ 
charakter geltend, die man bereits dem 
fürstlichen Staate entgegengebracht 
hatte. Die Völker als Träger der Staa¬ 
ten, so nahm man instinktiv Stellung, 
müßten ein neues staatliches Zusam¬ 
menleben heraufführen können, und so 
wie Kant bereits der Erwartung Aus¬ 
drude gegeben hatte, die „Republikani- 
sierung“ der Staaten werde die Kriege 
vermindern und zuletzt verschwinden 
machen, rechnete nun die jüngere Ge¬ 
neration, Grundsätze des Rechts und 
der Moral würden künftig das Verhält¬ 
nis der Staaten untereinander regeln. 
Die unbestreitbare Wahrheit, daß poli¬ 
tische Sittlichkeit niemals mit privater 
Moral und volksmäßiger Sittlichkeit 
übereinstimmt, machte sich, zumal in 
der Frühzeit volksstaatlichen Wirkens, 
zum Schaden der politischen Anschau¬ 
ung geltend. 

Auch zum Schaden der politischen 
Praxis. Denn es wurde nicht nur ge¬ 
fühlsmäßig geurteilt, sondern auch so 
gehandelt Während die Großmacht 
ihrem Wesen entsprechend, draußen in 

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Paul Herre, Die Großmacht 


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der Welt ihre Rolle weiterspielte, nah¬ 
men Friedrich Wilhelm IV.und sein 
Kreis das Interesse Preußens, das doch 
auch den Großmächten zugehörte, im 
Sinne romantischer Auffassung wahr. 
Unbelehrbar hielten sie an dem Stand¬ 
punkt fest, daß der Staat nicht allein 
den Geboten seiner eigensten Lebens¬ 
bedingungen unterworfen sei, sondern 
auch noch bestimmten sittlichen Ge¬ 
boten. Es entging ihnen, daß sie damit 
der unvoreingenommenen Betätigung 
eines gesunden staatlichen Egoismus 
und berechtigter staatlicher Machtziele 
den Boden entzogen, und so war denn 
die Regierung des romantischen Königs 
eine ununterbrochene Kette von Ver¬ 
sündigungen am preußischen Macht¬ 
gedanken. Weltenfern standen diese 
christlichen Weltbürger dem Verständ¬ 
nis großstaatlichen Daseins, und noch 
am Ende der Epoche, da die Stürme 
der Revolution und des Krimkriegs 
über Europa hingebraust waren, vertei¬ 
digte Leopold v. Gerlach diese Art 
„realpolitischer" Staatskunst mit den 
bezeichnenden Worten: „Es ist doch 
nicht zu verkennen, daß nur der zuver¬ 
lässig ist, welcher nach bestimmten 
Grundsätzen und nicht nach schwan¬ 
kenden Begriffen von Interessen usw. 
handelt.“ 66 ) Friedrich Wilhelm selbst 
aber begnügte sich mit dem Ehrentitel 
eines christlichen Herrschers und wies 
es mit sittlichem Abscheu von sich, 
die Hand nach fremdem Gut auszu¬ 
strecken ! 57 ) 

Anders sah es im österreichischen La¬ 
ger aus. Wohl berührte sich Fürst Met¬ 
ternichin der Hochschätzung der Prin¬ 
zipien für das staatliche Handeln mit 


56) Gerlach an Bismarck. Berlin, 6. Mai 
1857. Briefe (Ausgabe von H. Kohl. 1912) 
S. 212. 

57) Radowitz, Neue Gespräche aus der 
Gegenwart. Erfurt 1851. Teil 1 S. 206. 


den Anschauungen, wie sie am preußi¬ 
schen Hofe herrschten. Von ihm stammt 
der Ausspruch: „Grundsätze werden zu 
allen Zeiten die unverwüstliche Grund¬ 
lage der Politik bilden; die Anwendung 
derselben kann allein wechseln, und der 
Wechsel muß seinerseits die Grundsätze 
nicht beseitigen.“ 68 ) Aber bei aller 
Gebundenheit seiner staatsmännischen 
Theorien war der Staatskanzler der 
überlegene Diplomat, der in das Ge¬ 
triebe staatlicher Praxis klaren Einblick 
hatte, und als Verkörperer einer jahr¬ 
hundertealten Tradition blieb er auf dem 
Boden der Wirklichkeit Wenn seine 
Staatskunst schließlich Schiffbruch er¬ 
litt, so war das mehr im Charakter des 
österreichischen Staatswesens selbst be¬ 
gründet als im Regierungssystem Met¬ 
ternichs. 

Die politische Verständnislosigkeit 
Friedrich Wilhelms IV. drohte Preußen 
aus der Reihe der Großmächte hin¬ 
auszuwerfen, und die Prinzipienpoli¬ 
tik des Liberalismus schuf kein Gegen¬ 
gewicht dazu. Diese Gefahr war es, 
die den politischen Realismus in die 
Schranken rief zum Kampfe gegen jene 
nebelhafte Ideenwelt, die den Dingen 
des Staates Gewalt antat Was der be¬ 
trachtende Historiker erkannt und aus¬ 
gesprochen hatte, nahm der handelnde 
Staatsmann jetzt auf, um es in die Tat 
umzusetzen. 69 ) Otto v. Bismarck 
war als überzeugter Anhänger der stän¬ 
disch-konservativen Partei zum Politi¬ 
ker geworden; in den Nöten seines 
Staates weiterwachsend, wurde er zum 
Staatsmann, dem sich das Auge inwun- 

58) Metternich an Prokesch-Osten. Wien, 
24. April 1852. Aus dem Nachlaß des Grafen 
Prokesch-Osten, Band 2 S. 402. 

59) Für die geistige Verwandtschaft zwi¬ 
schen Ranke und Bismarck vgl. neben Mei¬ 
neckes Buch den schönen Aufsatz von Max 
Lenz, Bismarck und Ranke. (Kleine histo¬ 
rische Schriften Nr. 21.) 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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derbarer Klarheit für das Wesen des 
Staates öffnete. Der junkerliche Partei¬ 
mann, der eben noch in heißer Fehde 
gegen die liberalen Betreiber der deut¬ 
schen Einheit gestanden hatte, wandte 
sich seit den Tagen der OlmQtzer De¬ 
mütigung mit der gleichen Entschieden¬ 
heit gegen seine bisherigen Freunde. 
Indem er sich mit dem preußischen 
Staate gleichsetzte, dessen Dasein ihn 
erfüllte, gewann er den rechten Blick 
für das, was Preußen nottat, was ihm 
die Stellung unter den Großmächten 
wiederschenken konnte. Und so zeich¬ 
nete er mit den großen und einfachen 
Worten seiner berühmten Rede vom 
3. Dezember 1850 das Bild der Gro߬ 
macht mit ihren besonderen Daseins¬ 
bedingungen und Aufgaben: „Die ein¬ 
zig gesunde Grundlage eines gro¬ 
ßen Staates, und dadurch unterschei¬ 
det er sich wesentlich von einem 
kleinen Staate, ist der staatliche Egois¬ 
mus und nicht die Romantik, und es ist 
eines großen Staates nicht würdig, für 
eine Sache zu streiten, die nicht seinem 
eigenen Interesse angehört“ 60 ) In immer 
neuen Wendungen verteidigte Bismarck 
während der folgenden Jahre staats- 
männischer Praxis diese Lehre vom 
Recht und von der Pflicht selbstsüch¬ 
tigen staatlichen Handelns und vom 
Machtcharakter des Staates. Man wird 
an Friedrich den Großen erinnert wenn 
man die von genialer Unbefangenheit 
getragene Darlegung liest die er seinem 
Vorgesetzten Minister unterbreitete: „Die 
großen Krisen bilden das Wetter, wel¬ 
ches Preußens Wachstum fördert, indem 
sie furchtlos, vielleicht auch sehr rück¬ 
sichtslos von uns benutzt werden.“ 61 ) 
Vollends großartig offenbart sich der 
staatsmännische Genius Bismarcks in 

60) Reden (Ausg. Kohl) Band 1 S. 264. 

61) Bismarck an Manteuffel. Frankfurt 
15. Februar 1854. Poschinger, Band 4 S. 177. 

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dem Briefwechsel mit dem einstigen 
Parteifreunde Leopold v. Gerlach, gegen 
dessen äußere Politik er den berechtig¬ 
ten Vorwurf richtete, daß sie die Rea¬ 
litäten ignoriere. 68 ) Die unmittelbare 
tiefste Erfassung staatlichen Seins und 
Handelns war die Frucht dieser Lehr- 
und Kampfjahre des großen Mannes, 
und die Klarheit die er selbst gewann, 
wurde zum Gewinn für sein Volk. 

Denn das eigentlich Bedeutungsvolle 
des politischen Aufklärungswerkes Bis¬ 
marcks war, daß es nicht theoretische 
Erkenntnis blieb, sondern die Grundlage 
der eigenen staatsmännischen Leistung 
wurde. Als der gehaßte und befehdete 
Träger der Anschauung vom Egoismus 
und Machtstreben des Großstaates von 
Sieg zu Sieg schritt, zerteilten sich wie 
von selbst die Nebel, die sich auf die 
Geister gelegt hatten, und faßbar für 
jedermann erhob sich nun aus der Dun¬ 
kelheit politischer Verständnislosigkeit 
die gebieterische Erscheinung der Gro߬ 
macht Bismarck allein gebührt das Ver¬ 
dienst Indessen darf darüber nicht die 
gedankliche Mitarbeit vergessen’ wer¬ 
den, die neben ihm in den weiteren Krei¬ 
sen des Volkes geleistet wurde und die 
seiner entscheidenden Wirkung den Bo¬ 
den bereitete. In denselben Jahren, da, 
zunächst nur für wenige Menschen be¬ 
merkbar, der Staatsmann sich zur Klar¬ 
heit durchrang, vertrat ein Anhänger des 
politischen Radikalismus bereits in der 
Öffentlichkeit die gleichen Anschauun¬ 
gen. Der völlig in Vergessenheit geratene 
August Ludwig v. Rochau führte 
mit seinen „Grundsätzen der Realpoli¬ 
tik“ dieses Wort in die deutsche Sprache 
ein und ließ mit seinem erbitterten 
Kampf gegen die Phrase die junge Ge- 


62) Bismarck an Gerladi. Frankfurt, 2. Mai 
1857. Briefe (Ausgabe von H. Kohl 1896) 
S. 315. 


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«83 


Paul Herre, Die Großmacht 


684 


neration aufhorchen. 6S ) Kein Geringe¬ 
rer als Heinrich v. Treitschke hat es be¬ 
zeugt, welchen tiefen Eindruck diese 
Schrift in seinen Kreisen machte.® 4 ) Es 
war aus der klaren Einsicht in das 
Wesen der Großmacht gesprochen, man 
darf sagen: es war bismarckisch, wenn 
Rochau mit der Sicherheit des großen 
Politikers den Satz auf stellte: „Weder 
ein Prinzip noch eine Idee noch ein Ver¬ 
trag wird die zersplitterten deutschen 
Kräfte einigen, sondern nur eine über¬ 
legene Kraft, welche die übrigen ver¬ 
schlingt“ 

Durch Bismarcks staatsmännisches 
Werk war Rankes Erkenntnis der gro߬ 
staatlichen Natur für die praktische Po¬ 
litik gewonnen. Es konnte nicht aus- 
bleiben, daß sie sich in der ständigen 
politischen Handhabung Schritt für 
Schritt konkretisierte. Der Historiker 
hatte sich darauf beschränkt das Grund¬ 
sätzliche staatlichen Daseins zu erken¬ 
nen und zu erläutern. Der Staatsmann 
und Politiker bemühte sich darüber hin¬ 
aus, die gesicherte allgemeine Erkennt¬ 
nis auf Grund der Erfahrungen noch 
bestimmter zu fassen. Von der fest¬ 
stehenden Sonne der „geborenen und 
natürlichen Interessen“ strahlten plötz¬ 
lich helle Lichter auf das Getriebe der 
einzelnen politischen Welten. Mit dem 
geschärften Blick des um die Gro߬ 
machtstellung seines Staates besorgten 
Patrioten sah Bismarck als „die Basis 
des Einflusses, den ein Staat heute zu 


63) Grundsätze der Realpolitik, ange¬ 
wendet auf die staatlichen Zustände Deutsch¬ 
lands. Stuttgart 1853. Eine zweite Auflage 
erschien 1859; ein zweiter Teil, der in der 
völlig veränderten Welt bezeichnenderweise 
ganz unbeachtet blieb, erschien Heidelberg 
1869. 

64) Nekrolog für Rochau in den Preußi¬ 
schen Jahrbüchern. Band 32 S. 585—591. 
Neu gedruckt in den Histor. u. Polit Auf¬ 
sätzen Band 4. 


Friedenszeiten üben kann“: „alle die 
Nuancen von Möglichkeit, Wahrschein¬ 
lichkeit oder Absicht für den Fall eines 
Krieges dieses oder jenes Bündnis 
schließen, zu dieser oder jener Gruppe 
gehören zu können.“ 66 ) Die prinzipien¬ 
lose Technik des politisch-diplomati¬ 
schen Handwerks, die alle Bindungen, 
wie „Antipathien oder Sympathien für 
Zustände und Personen“ 86 ), über Bord 
warf, allein im klar erfaßten Staats¬ 
interesse ihren Augenpunkt hatte, kam 
zu neuen Ehren. Aber sie erstand nicht 
wieder in der alten Gestalt der Ränke. 
Schleichmittel und geheimen Machen¬ 
schaften, sondern bei Anwendung aller 
menschlichen List und Verschlagenheit 
in der neuen Gestellt einer großartigen 
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit Wenn 
Bismarck sich immer als Gegner der 
„Feinspinnerei früherer Zeiten“ 67 ) zeigte, 
so war das nicht nur in der Erfahrung 
begründet daß eine offene Politik eher 
zum Ziele führe als eine versteckte, son¬ 
dern mehr noch in den neuen Verhält¬ 
nissen der vom Volke getragenen Gro߬ 
macht die sich der einstigen Kleinmit- 
tel nicht mehr bedienen mochte. Der 
Italiener Francesco Crispi, der warme 
Freund Deutschlands und der bewun¬ 
dernde Schüler des deutschen Kanzlers, 
faßte einmal die von Bismarck begrün¬ 
dete und betätigte, ganz unitalienische 
Anschauung in Worte, als er eine seiner 
Reden mit dem Satze einleitete: „Ich 
werde gemäß den Regeln der modernen 
Diplomatie, welche die alten Künste der 
Täuschung und der Lüge verachtet klar 
und aufrichtig sprechen.“ 68 ) 


65) Bismarck an Gerlach. Frankfurt, 2. Mai 
1857. A. a. O. S. 316. 

66) Eb. S. 321. 

67) Gedanken und Erinnerungen (Volks¬ 
ausgabe) Band 2 S. 282. 

68) Memoiren Crispis. Deutsche Bearbei¬ 
tung S. 237. 


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Paul Herre, Die Qroßmacht 


686 


Aus dem gleichen Verantwortungs¬ 
gefühl des großen Staatsmannes an 
der Spitze der großen Nation erwuchs 
das von wahrhaft geschichtlichen Er¬ 
wägungen bestimmte Maßhalten, das 
im Augenblick des Sieges Trümpfe aus 
der Hand zu geben schien und doch um 
so dauernder den Enderfolg sicherte. 
Auf ihm gründete sich das ruhige Vor- 
schreiten auf einmal eingeschlagener 
Bahn, das vorsichtige Verzichten auf ver- 
lockende Sprünge, die das gemessene 
Weiterwachsen des geschichtlich Ge¬ 
wordenen stören konnten. Manche die¬ 
ser Errungenschaften großmachtlieher 
Staatskunst waren nur individuelle Äuße¬ 
rungen des politischen Genies, das in 
der Geburtsstunde der deutschen Gro߬ 
macht an deren Spitze stand. Aber als 
ein unvergleichliches Gnadengeschenk 
hat der große Kanzler dem neugeeinten 
Volke sein Selbst mit in die Wiege ge¬ 
legt, und es ist Deutschlands Vorrang, 
wenn auch nicht leichte Aufgabe, diesen 
kostbaren Besitz in seiner großartigen 
Besonderheit zu erhalten und zu pfle¬ 
gen. 

So gewann der Begriff der Gro߬ 
macht mit allen seinen Ausstrahlungen 
lebendige Gestalt im deutschen Volke, 
und Bismarcks staatsmünnisches Werk 
verrichtete eine wunderbare Erziehungs¬ 
arbeit Ihre entscheidende Wirkung war 
doch die gesicherte Anschauung von 
der Großmacht unmittelbar. Sie durch¬ 
drang die Nation und schuf einen neuen 
nationalen Geist. Was Ranke einmal 
von der werdenden Großmacht Preu¬ 
ßen gesagt hatte, wollte man nun mit 
dem neuen Reich sein: „eine selbstän¬ 
dige, keines Bundes bedürftige, auf sich 
selber gestellte Macht“ 69 ) Mit starkem 
Willen handelte Deutschland nun nach 
dem Worte Bismarcks, „daß eine Groß- 

60) Preußische Geschichte. Sämtl. Werke 
Band 27-28 S. 250. 

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macht zu ihrer Anerkennung vor allen 
Dingen der Überzeugung und des Mutes, 
eine solche zu sein, bedarf.“ 70 ) Deutscher 
Art gemäß spann man diesen Gedanken 
weiter aus und bemühte sich, den groß- 
staatlichen Charakter in engeren For¬ 
meln und Regeln zu umschreiben. So 
suchte noch Rochau die allgemeine hi¬ 
storische Erkenntnis politisch auszumün¬ 
zen, indem er demjenigen Staat den 
Rang einer Großmacht zuerkannte, der 
„alierwenjgstens auf das Recht einer selb¬ 
ständigen Politik Anspruch macht“. 71 ) 
So erörterte Treitschke den ungeschrie¬ 
benen Gegensatz zwischen der Gro߬ 
macht und den Staaten zweiten und 
dritten Ranges und bezeichnete als die 
erste den „Staat, der im gegebenen Falle 
nicht durch einen einzigen Staat völlig 
vernichtet werden könnte, sondern nur 
durch eine Koalition“. 78 ) So folgerte 
Julius Froebel aus der geographischen 
Lage, aus der Natur und Kultur des 
Landes und Volkes sowie aus dem ge¬ 
schichtlich bedingten kulturhistorischen 
Beruf für den Großstaat einen bestimm¬ 
ten Machtbedarf, der zugleich das ent¬ 
sprechende Recht auf Machterwerbung 
gibt: „Von dieser Berechtigung muß er 
Gebrauch machen, um den Beruf erfül¬ 
len zu können, wenn er sich auf seiner 
Höhe erhalten oder es vermeiden will, 
historisch überflüssig zu werden.“ 73 ) 
Überhaupt wandte man sein Augenmerk 
jetzt wieder den Fragen des staatlichen 
Zusammenlebens zu, und während die 
politischen Handbücher der Jahrzehnte 
zuvor sich vorwiegend mit den inner¬ 
staatlichen Problemen beschäftigt hatten, 
trat das außerstaatliche Interesse nun- 


70) Gedanken und Erinnerungen, Band 2 
S. 305. 

71) »Realpolitik* S. 194. 

72) .Politik“, Band 2 S. 562. 

73) .Die Gesichtspunkte und Aufgaben 
der Politik“. Leipzig 1878. S. 452-453. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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mehr entscheidend in den Vorder- 
grund. 74 ) Ja, man dehnte diese Betrach¬ 
tung auf die geo- und ethnographischen 
Vorbedingungen des staatlichen Daseins 
aus. und ein Friedrich Ratzel entwickelte 
in gedankenreichen Arbeiten eine Lehre 
von der Wechselwirkung ethnischer, 
geographischer und staatlicher Verhält¬ 
nisse. Mochten solche Formulierungen 
mitunter zu weit gehen und einer so 
komplizierten Erscheinung wie der 
Großmacht allzu enge Grenzen ziehen, 
ohne doch zugleich das politische Ver¬ 
ständnis und die politische Nutzanwen¬ 
dung recht zu fördern, so lassen diese Er¬ 
örterungen doch erkennen, daß Deutsch¬ 
lands politische Führer endlich den festen 
Boden staatlichen Denkens und Han¬ 
delns gewonnen hatten. Im wesentlichen 
hatten sie den Begriff „Großmacht“ er¬ 
faßt und sich zu eigen gemacht 
In unsern Tagen hat Rudolf Kjel- 
16n am Schlüsse seines eingangs er¬ 
wähnten Werkes mit plastischen Wor¬ 
ten Begriff und Wesen der Großmacht 
gekennzeichnet Er definiert sie folgen¬ 
dermaßen: „Die Großmacht ist kein 
mathematischer, kein ethnischer oder 
kultureller, sondern ein psychologischer 
Begriff. Die großen Maße sind nötig, 
ebenso hohe Kultur und eine gewisse 
Verfassungsharmonie, aber sie konsti¬ 
tuieren eine Großmacht erst wenn ihnen 
eine starke Seele eingeflößt wird. Die 
Großmacht ist prinzipiell ein mit reich¬ 
lichen Machtmitteln ausgestatteter Wille, 
der sich in Ansprüchen und Einflüssen 
der äußeren Welt abspiegelt“ 76 ) Die 
voranstehenden Betrachtungen zeigen, 
daß der schwedische Forscher damit 
nur die Erkenntnisse wiedergibt, die auf 


74) Es sei nur auf die politischen Lehr¬ 
bücher Dahlmanns, Waitz', Mohls und 
Roschers gegenüber denen Froebels und 
Treitsdikes hingewiesen. 

75) A. a. O. S. 195. 


deutschem Boden gewonnen worden 
waren. 76 ) Eben die verhängnisvollen Ir¬ 
rungen, die die staatliche Entwicklung 
Deutschlands jahrzehntelang belastet 
hatten, brachten die Anschauungen von 
der Großmachterscheinung in dem ver¬ 
rufen unpolitischen Volke schließlich zu 
besonders bewußtem Ausdruck. Auch 
die Franzosen und Engländer besitzen 
sie, aber da sie sich die Vorstellung 
vom Machtcharakter der Großmacht 
nicht mühsam zu erkämpfen brauchten, 
sondern unter der glücklichen Einwir¬ 
kung einer langen, von nationalem Gel¬ 
tungswillen getragenen geschichtlichen 
Entwicklung wie einen selbstverständ¬ 
lichen Besitz in sich trugen, so äußert 
sie sich bei ihnen mehr instinktiv. Ein 
Buch, das, wie das Werk Friedrich Mei¬ 
neckes, dem Problem der Auseinander¬ 
setzung zwischen Weltbürgertum und 
Nationalstaat für die deutsche Ge¬ 
schichte nachgeht, ist für die franzö¬ 
sische und englische Geschichte un¬ 
denkbar oder würde wenigstens nur in 
geringem Maße das staatlich-politische 
Leben in Rechnung ziehen. 77 ) Der Gro߬ 
machtsbegriff spielt im Bereich der 
westeuropäischen Nationalstaaten eine 
vorwiegend tat sä ch liehe Rolle. Unser 
Volk hingegen hat ihn bisher mehr ge¬ 
sehen als erlebt Gewiß war er seit den 
Zeiten des Großen Kurfürsten im preu¬ 
ßischen Staate als lebendige Kraft wirk- 

76) Das gilt auch von der andern Haupt¬ 
seite Kjeilönscher Betrachtungsweise, der 
geopolitisch-ethnographischen, in der er sich 
in ähnlicher Weise von Ratzel beeinflußt 
zeigt wie in der historisch-politischen von 
Ranke. Diesen Zusammenhängen weiter 
nachzugehen, liegt außerhalb der Absicht 
meiner Untersuchung. 

77) Bezeichnend für die besonderen An¬ 
schauungen der Franzosen ist beispielsweise 
die weite Auslegung, die Emest Seilliöre 
auf philosophischer Grundlage dem Begriff 
des Imperialismus gibt, worauf hier nicht 
näher einzugehen ist 


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Paul Herre, Die Großmacht 


690 


sam, und in der Verkörperung großer 
Männer hat er Großes geleistet, aber 
als nationale Kraft ist er jung, steht er 
erst am Anfang einer geschichtlichen 
Entwicklung. Gerade das freilich be¬ 
rechtigt zu hohen Erwartungen für die 
deutsche Zukunft 

VI. 

Der zum politischen Axiom gewor¬ 
dene Großmachtsbegriff gründete sich 
auf der Idee des nationalen Staates. Das 
war der selbstverständliche Ausdruck 
der tatsächlichen geschichtlichen Ent¬ 
wicklung, die die abschließende Bildung 
nationaler Einheitsstaaten zum Inhalt 
hatte, und an der nicht nur die großen 
Nationen, sondern auch die kleinen Völ¬ 
ker Anteil hatten. Wie aber vertrug sich 
die Anschauung von der nationalen 
Grundlage der Großmacht mit dem klar 
erkannten Gesetz, daß der große Staat 
und das große Volk das Recht besitzen, 
weiterzuwachsen? Das ist das beherr¬ 
schende Problem unserer Tage. 

In seinem Buch über die Großmächte 
läßt Rudolf Kjell6n der Feststellung, 
daß die Großmacht ein mit reichlichen 
Machtmitteln ausgestatteter Wille sei, 
den vielsagenden Zusatz folgen: „Ein 
Wille zugrößererMacht. Keine Gro߬ 
macht ist im Grunde .saturiert*. Gro߬ 
mächte sind .Expansionsstaaten*. 78 ) Des¬ 
halb sehen wir sie alle mit einem größe¬ 
ren oder geringeren Anhängsel von In¬ 
teressensphären auftreten; die Interes¬ 
sensphäre gehört zum Begriff der Gro߬ 
macht — wir möchten sagen, wie der 
Schwanz zu dem des Kometen.“ 79 ) 

Ober die allgemeine Charakterisie¬ 
rung hinaus definiert Kjellön in diesen 


78) Hier bezieht sich Kjellön auf die Aus¬ 
führungen Karl Lamprechts. Deutsche Ge¬ 
schichte, 2. Ergänzungsband, 2. Hälfte S.613H. 

79) A. a. O. S. 195—196. 

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Sätzen die zur Weltmacht gewordene 
Großmacht In der Tat ist unter dem 
Anstoß imperialistischer Bestrebungen 
die Entwicklung diesen Weg gegangen: 
durch kriegerische Eroberung und wirt¬ 
schaftliche Ausdehnung hat die Gro߬ 
macht es unternommen, sich einen wei¬ 
teren Raum für ihren Geltungswillen zu 
schaffen. Aber im Gegensatz zur vor¬ 
angehenden Epoche vollzog sich diese 
Expansion nicht auf festländischer 
Grundlage—von Rußland ist in diesem 
Zusammenhänge nicht zu sprechen —, 
sondern über die Meere in kolonialer 
Richtung. Dieses Hinausgreifen der 
Großmächte in Gebiete, die nicht von 
gleichwertigen Kulturnationen bewohnt 
werden, hat das Festhalten am national¬ 
staatlichen Prinzip zur Voraussetzung, 
Weil man das nationale Daseinsrecht 
der kleinen Staaten anerkannte, wandte 
sich die Expansion den überseeischen 
Räumen zu. So fanden sich Machtstre¬ 
ben und nationalstaatliche Idee mitein¬ 
ander ab, und erst die großen Umwäl¬ 
zungen des Weltkrieges im kontinenta¬ 
len Bereiche Europas lassen das Problem 
in neuer Gestalt vor unser Auge treten. 

Um was es sich dabei handelt, wird 
uns deutlich, wenn wir den Blick auf 
Bismarcks politische Gedankenwelt zu¬ 
rücklenken. Es ist mit besonderem 
Nachdruck zu betonen, daß die Begriffe 
Ausdehnung und Expansion keinerlei 
Rolle in seinem Sprachgebrauch ge¬ 
spielthaben. Der Reichsgründer wurzelte 
völlig im nationalstaatlichen Boden, 
und da seine Anschauungen stets von 
den Gesichtspunkten der praktischen 
Politik bestimmt waren, schwebte ihm 
insbesondere der deutsche Einheitsstaat 
als richtunggebendes Ziel vor. Wenn er 
es nach dem Frankfurter Frieden immer 
wieder aussprach, daß Deutschland „sa¬ 
turiert“ sei, so war das nicht nur eine 
politisch zu verstehende Äußerung, die 

Original fro-m 

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Paul Herre, Die Großmacht 


692 


von den tatsächlichen Verhältnissen 
ausging, sondern der Ausdruck einer 
wirklichen Überzeugung. Mit dem 
grundsätzlich einschränkenden nationa¬ 
len Standpunkt Bismarcks hängt auch 
die Deutung zusammen, die er trotz 
aller Einsicht in den Machtcharakter 
des Staates dem Begriff „Machtpolitik” 
gab. Höchst bezeichnend dafür sind die 
Worte, mit denen er auf der höchsten 
Höhe seiner Machtstellung die Notwen¬ 
digkeit des Fernbleibens Deutschlands 
von den orientalischen Wirren begrün¬ 
dete. „Jede Großmacht," so führte er 
damals aus, „die außerhalb ihrer Inter¬ 
essensphäre auf die Politik der anderen 
Länder zu drücken und einzuwirken 
und die Dinge zu leiten sucht, die pe- 
riklitiert außerhalb ihres Gebietes, wel¬ 
ches Gott ihr angewiesen hat, die treibt 
Machtpolitik und nicht Interessenpoli- 
tik, die wirtschaftet auf Prestige hin." 80 ) 
Das heißt nichts anderes, als daß 
Machtpolitik, identisch mit Prestigepoli¬ 
tik, als eine ungesunde Äußerung staat¬ 
lichen Wollens der allein berechtigten 
Interessenpolitik gegenübergestellt wird. 

Vergegenwärtigen wir uns, unter 
welchen Voraussetzungen Bismarck zu 
seiner realpolitischen Betrachtungsweise 
gelangte, so erscheint uns diese Auf¬ 
fassung weniger auffällig. War es doch 
nur sein Ziel, die politische Ideenwelt 
der Zeit Friedrich Wilhelms IV. von den 
gefährlichen Grundsätzen zu befreien, 
die wahres staatliches Handeln unmög¬ 
lich machten. Fürst Bülow hatte durch¬ 
aus recht, wenn er in einer seiner 
Reichstagsreden diese Anschauung, die 
allein vom Staatsinteresse ausging und 
sich der Prinzipienpolitik der Fran¬ 
zösischen Revolution und der Legiti¬ 
mitätsauffassung der Romantik ent- 
gegenstellte, als den wertvollen In- 

80) Rede vom 6. Februar 1888. Reden, 
Band 12 S. 447. 


halt der Lehre und des Werkes Bis¬ 
marcks rühmte. 81 ) Ein weiteres Macht¬ 
ziel lag außerhalb der Vorstellung, die 
sich der Reichsgründer vom deutschen 
Großstaat machte. Dem entsprach das 
innere Zögern, mit dem .Bismarck die 
neuen kolonialen Bahnen beschritt. Am 
Beginne der weltpolitischen Entwick¬ 
lung beobachtete er den neuen Ausbrei- 
tungstendenzen gegenüber eine seinem 
sonstigen Wesen nicht entsprechende 
Zurückhaltung. Sie schienen ihm nicht 
unbedingt im Staatsinteresse begründet: 
die nationale Selbstbehauptung über¬ 
wog in seinem politischen Urteil und 
Wollen durchaus die staatliche Expan¬ 
sion. 

Indessen die tatsächliche weltpoli¬ 
tische Entwicklung, die in steigendem 
Maße auch Deutschland in ihren Bann¬ 
kreis zog, schuf allmählich eine erwei¬ 
terte Auffassung der Großmacht In 
sehr viel bewußterer Weise machte sich 
nunmehr neben dem nationalen Selbst¬ 
behauptungsdrange der Expansionstrieb 
geltend. Immer entschiedener wurde die 
Lehre in den Vordergrund gerückt, daß 
der nationale Lebens- und Machtwille 
über die Selbsterhaltung hinaus Entfal¬ 
tung und Ausbreitung bedeute, und es 
wurde mit Nachdruck als das Wesen 
der zur Weltmacht gewordenen Gro߬ 
macht hingestellt daß sich das große 
Volk nicht mit dem begnügen dürfe, 
was es besitzt sondern nach weiterem 
Wachstum streben müsse. Aus dem 
ungeheuren Erstarken der Volkskräfte 
und aus der Erweiterung des Macht¬ 
bereichs aber ergab sich in auffälliger 
Folge eine neue Steigerung des Natio¬ 
nalgefühls, die sich unter dem Ein¬ 
wirken der politischen Unreife vielfach 
im einem übertreibenden Machtkultus 
äußerte. Mit derselben Unreife und Ein- 

81) Rede vom 26. Februar 1906. Reden, 
Band 3 S. 107-108. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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seitigkeit nahmen die Unbelehrbaren 
Stellung, die unter dem zunehmenden 
Einfluß internationaler Strömungen ide¬ 
eller und materieller Art Geltung such¬ 
ten und mehr oder weniger den Macht¬ 
charakter des Staates grundsätzlich 
leugneten. Während die breiten Schich¬ 
ten des Volkes sich, dem unpolitischen 
Nationalcharakter entsprechend, zurück- 
hielten, fiel der verantwortlichen Regie¬ 
rung die undankbare Aufgabe zu, in 
Kundgebungen und Handlungen die 
rechte Mitte zu halten. Die Kritik mag 
an der Durchführung des weltpoliti¬ 
schen Programms nicht wenig aussetzen: 
für den Beurteiler, der es in seinen be¬ 
stimmenden Zügen überblickt, kann kein 
Zweifel bestehen, daß es im letzten von 
der rechten Anschauung des Groß- 
machtbegriffes getragen war. Berechtig¬ 
tes Machtstreben weltpolitischen Cha¬ 
rakters, geschichtliches Verständnis der 
besonderen nationalen Daseinsbedin¬ 
gungen des deutschen Volkes und Wür¬ 
digung der geographischen Gegebenhei¬ 
ten scheinen in den Anschauungen Wil¬ 
helms II. und seiner Helfer zu einer 
wirklichen Einheit innerlich verknüpft 89 ) 
Ober alle Parteimeinung hinweg wird 
man geschichtswissenschaftlich nicht 
anders Stellung nehmen können. 

Bedauerlicherweise wurde jedoch in 
dem verwirrenden Kampf um die neuen 
politischen Erfordernisse des Tages die 
Einheit der Anschauungen nicht wieder¬ 
gewonnen, die sich unter der zielsiche¬ 
ren Leitung Bismarcks gebildet hatte. 
Bei Ausbruch des Weltkrieges gab es in 
Deutschland keine einheitliche Vorstel- 

82) Es ist bezeichnend, daß der Kaiser 
dem feindlichen Ausland als der eigentliche 
Verkörperer des deutschen Machtkultus gilt 
während ihm von anderer Seite Vorstellun¬ 
gen von einer universalen Kulturaufgabe 
des deutschen Volkes vorgeworfen werden, 
die an das einstige Humanitätsideal er¬ 
innerten. 

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lung davon, was Welt-Großmacht sei 
oder nicht sei. In dem aus der voran¬ 
gehenden Epoche fortwirkenden Stre¬ 
ben, die großstaatliche Erscheinung in 
einen gleichmäßigen Begriff zu fassen, 
gab man vielfach die längst gesicherte 
Erkenntnis preis, daß ein jeder Staat 
eine Besonderheit darstelit deren Ent¬ 
wicklungsgesetze unvergleichbar sind. 
Die erfolgreiche Expansion des insu¬ 
laren England, das sich, wie Rußland in 
seinem asiatischen Bereiche, von uner¬ 
sättlichen Machtinstinkten vorwärtstra¬ 
gen ließ, wurde für eine ungestüme 
patriotische Richtung der Maßstab 
für Großmachtsbetätigung schlechthin 83 ), 
und die in unserer geographischen Lage 
ruhende Bedingtheit wurde nicht selten 
außer acht gelassen. 

Demgegenüber erteilt uns das große 
Ringen, das über uns hereingebrochen 
ist, eine heilsame Lehre. In aller Unmit¬ 
telbarkeit tritt uns die Ungleichartig¬ 
keit großstaatlicher Grundlagen wieder 
entgegen. Schon beginnt das Schlag¬ 
wort „Imperialismus", das die großen 
Nationen blendete und in dem sich aller 
Großmachtswille zusammenfaßte, in dem 
ihm beigelegten Sinne des Weltherr- 
schaftsstrebens zu verblassen. 83 ) Die 
besonderen kontinentalen Voraussetzun¬ 
gen, denen zumal Deutschlands Gro߬ 
machtstellung unterliegt, fordern wie¬ 
der mehr ihr Recht und rücken all¬ 
mählich das wieder in den Vorder¬ 
grund, was vor der kolonialen Ära der 


83) Auch Kjell6n hat in seiner zusam¬ 
menfassenden Charakteristik der Großmacht 
etwas einseitig die englische Weltmacht 
vor Augen und mißt nach deren Maßen. 

84) Es ist von Interesse, daß Fürst Bülow 
in seiner .Deutschen Politik" (selbständige 
Ausgabe, Berlin 1916 S. 255) von .derjenigen 
Form der Kolonialpolitik* spricht, .die mit 
einem nicht ganz zutreffenden und biswei¬ 
len falsch angewandten Schlagwort Impe¬ 
rialismus genannt wird. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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Anblick der GroBmachterscheinung im 
unmittelbaren Zusammenleben der staat¬ 
lich organisierten Nationen gelehrt hatte. 
Nicht als ob damit der hohe Wert der 
Errungenschaften des kolonialen Zeit¬ 
alters irgendwie in Zweifel gezogen 
werden soll: „Die Interessensphäre 
gehört zum Begriff der Großmacht“ 
Kein großes Volk kann in dem neuen 
Zeitalter der Weltwirtschaft kolonia¬ 
len Besitz entbehren, und ihn ihm 
vorenthalten wollen hieße, seinen Le¬ 
bensnerv treffen. Aber der Wille zur 
Ausbreitung schließt die Gefahr in 
sich, allzusehr in die Weite zu schwei¬ 
fen und die eigentlichsten Grund¬ 
lagen des nationalen Daseins aus dem 
Auge zu verlieren. Nicht umsonst macht 
die Expansionspolitik unsrer Gegner den 
Eindruck des Ungesunden auf uns, und 
gerade die Verurteilung dieser Macht¬ 
überspannung, die dem Leben der Völker 
Gewalt antut, kann uns die Gewißheit 
geben, daß hier staatliche Kräfte wirk¬ 
sam sind, die mit dem wahren Wesen 
der Großmacht nichts zu tun haben. 
Denn das Ziel des Staates, auch des 
Staates als Macht, beschränkt sich auf 
die Erhaltung und Entfaltung der tra¬ 
genden Nation, und ein Staat, der um 
hohler Machtgelüste willen gegen dieses 
Grundgesetz verstößt, macht sich der 
Unsittlichkeit schuldig, die dem Welt¬ 
herrschaftsstreben mit Recht immer wie¬ 
der vorgeworfen worden ist Rankes 
klassischer Satz von der obersten Auf¬ 
gabe des Staates, sich selbst zu behaup¬ 
ten, erstreckt sich nicht nur auf das Ge¬ 
bot, nach außen Macht zu sein, sondern 
auch auf die Pflicht den nationalen Da¬ 
seinsbedingungen Rechnung zu tragen. 

Die ungeheuren Schwierigkeiten, die 
in unseren Tagen dem versöhnlichen 
Ausgleich des Macht- und Ausdeh- 
nungsstrebens auf der einen Seite 
und der nationalen Sicherung auf der 


anderen entgegenstehen, zeigen aufs 
klarste, daß man sich über den beherr¬ 
schenden Machttendenzen der Zeit dem 
Problem der staatlichen Weiterbildung 
auch in Deutschland entfremdet hat 
und es erwächst uns die Notwendig¬ 
keit ihm in gesteigertem Maße wieder 
unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. 
Denn in der fortschreitenden Entwick¬ 
lung besteht ein enger Zusammenhang 
zwischen der internationalen Machtstel¬ 
lung und der innerstaatlichen Gestal¬ 
tung. Alles äußere Wachstum stellt die 
Großmacht immer von neuem vor die 
Aufgabe, den bestehenden staatlichen 
Organismus mit den mehr oder weniger 
anders gearteten Erfordernissen eines 
neuen größeren Bereiches in Einklang 
zu bringen, wenn nicht lediglich rohe 
Unterwerfung angestrebt wird. Nur so 
behält das große Staatswesen seine 
innere Fühlung zu den Kräften des ge¬ 
schichtlichen Fortschritts, nur so den 
Adel seiner von hoher Kultur getrage¬ 
nen Eigenart In diesem Zusammenhang 
aber kommt der Elastizität der Staats- 
idee eine große Bedeutung zu. 86 ) 

Es ist sicher, daß die Staatsidee unter 
der Einwirkung des Nationalitätsprin¬ 
zips viel von ihrer Anpassungsfähigkeit 
verloren hat, aber zumal auf dem euro¬ 
päischen Kontinent drängt die Entwick¬ 
lung dahin, hemmende Fesseln abzu¬ 
streifen. Was die koloniale Ausbreitung 
nicht bewirkt hat das werden die gro¬ 
ßen zu erwartenden Umwälzungen in 


85) Auf die hohe Bedeutung dieses Ge¬ 
sichtspunktes hat in geschichts-philosophi- 
schem Sinne Kurt Riezler hingewiesen. Vgl. 
seine Schritt: Die Erforderlichkeit des Un¬ 
möglichen. Prolegomena zu einer Theorie 
der Politik und zu anderen Theorien. Mfln- 
chen 1913. Dieses Buch ist gegenüber dem 
späteren, pseudonym (J. J. Ruedorffer) er¬ 
schienenen Werke desselben Verfassers 
.Grundzüge der Weltpolitik* merkwürdig 
unbeachtet geblieben. 


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Paul Herre, Die Großmacht 


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Europa selbst hervorrufen: die Aus¬ 
breitung des Staates Aber die nationale 
Grundlage hinaus ist das Problem der 
Zukunft Wie starr der nationalstaat- 
liche Begriff geworden war, lehrt die 
Beurteilung, die der Nationalitätenstaat 
Österreich-Ungarn in den letzten Jahr¬ 
zehnten bei uns und im Auslande, ja 
vielfach in der Donaumonarchie selbst 
erfahren hat. Er war das „Monstrum“ 
im Zeitalter der nationalstaatlichen Ent¬ 
wicklung, und vom nationalen Stand¬ 
punkt wurde ihm bis in unsere Tage 
hinein das Daseinsrecht abgesprochen, 
sein Untergang vorausgesagt Sicherlich 
wäre Österreich-Ungarn, allein geblie¬ 
ben, dem Ansturm der eroberungsgieri¬ 
gen Gegner zum Opfer gefallen; es ver¬ 
dankt seine Erhaltung der engen Gemein¬ 
schaft mit Deutschland. Der deutsche 
Nationalstaat hat sich mit seinem Da¬ 
sein für den Fortbestand des österrei¬ 
chisch-ungarischen Nationalitätenstaates 
eingesetzt. Dieses Eintreten aber hat 
seinen tiefen geschichtlichen Sinn. Hal¬ 
ten wir ihn uns wohl vor Augen! 
Hätte die nationale Idee schlechthin gel¬ 
tende Kraft, würde Deutschland der ge¬ 
schichtlichen Entwicklung und damit 
seinem eigensten Lebensprinzip ent¬ 
gegengehandelt haben, würde es für 
ein dem Tode verfallenes Staatswesen 
sein Blut geopfert haben, indem es sich 
der verbündeten Macht zur Seite stellte. 
Die Geschichte hat es eingerichtet, 
daß die Erhaltung des nichtnationalen 
Österreich-Ungarns zu einem natio- 
nalstaatlichen Interesse Deutschlands 
wurde, und es ist eine eigentümliche 
geschichtliche Verflechtung, daß kein 
anderer als der Begründer des deutschen 
Nationalstaats selbst mit großartigem po¬ 
litischen Instinkt den Grund dieser Ge¬ 
meinschaft gelegt und die Erhaltung der 
Donaumonarchie als eine Notwendigkeit 
für Deutschlands Dasein bezeichnet hat 


Wie von einer geheimen Kraft be¬ 
stimmt hat Deutschland diese Stel¬ 
lung genommen, und es muß nun auf 
dem Schicksalswege weiterschreiten. Aus 
jener Verkettung, die zur weltgeschicht¬ 
lichen Tatsache geworden ist, muß es, 
seiner neuen großen Aufgabe sich 
bewußt werdend, nun die Folgerung 
ziehen. Die deutsche Großmacht der Zu¬ 
kunft wird sich, wenn die Entwicklung 
der letzten Jahrzehnte Sinn haben soll, 
nicht auf dem starren nationalen Staats¬ 
begriff des 19. Jahrhunderts aufbauen, 
sondern auf einer Staatsidee, die das 
engere Nationalitätsprinzip überwölbt 
und den Zusammenschluß verschiede¬ 
ner Nationen auf der Basis übereinstim¬ 
mender Interessen und auf der Grund¬ 
lage annähernd gemeinsamer oder we¬ 
nigstens verwandter Kultur möglich 
macht. Gewiß nicht in der Weise, daß 
die geschlossene Besonderheit der ein¬ 
zelnen Nation und ihres Staates auf¬ 
gegeben wird, die die unentbehrliche 
Vorbedingung alles selbständigen Kul¬ 
turschaffens bleibt 88 ) Wohl aber so, 
daß die zusammenzuschließenden Na¬ 
tionen sich zu einer Einheit verbinden, 
die in der Gemeinsamkeit politischer 
und wirtschaftlicher Funktionen zum 
Ausdruck kommt und in der gemein¬ 
samen Entfaltung schirmender Macht 
gipfelt 

Es ist nicht wertlos, zu bemerken, 
daß wir mit dieser Betrachtung wieder 
ganz auf dem Boden Rankescher Auf¬ 
fassung stehen. Weder der Machtcha¬ 
rakter noch die Individualität der Gro߬ 
machterscheinung sind aus dem Bilde 
verschwunden, das wir für die Zukunft 

86) In diesem wichtigen, vielleicht ent¬ 
scheidenden Punkte verläßt Friedrich Nau¬ 
manns „Mitteleuropa“, dem sich die oben 
vertretene Auffassung in einzelnen Punkten 
nähert, den realen Boden, während Rue- 
dorffer, mit dem sich meine Darstellung 
ebenfalls berührt, ganz auf ihm stehen bleibt. 


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0. Walzel, Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe' 


700 


sehen. Auch der Nationalitätsbegriff, 
den Ranke in der ihm eigentümlichen 
geschichtlichen Vielseitigkeit vor Augen 
hatte, ist ihm keineswegs verloren¬ 
gegangen, denn die zukünftige Gro߬ 
macht mag sich auf einer Mehrzahl von 
Einzelnationen aufbauen: als handeln¬ 
des Machtindividuum wird sie durch 
eine neue Art von Staatsnation getragen 
sein, deren Charakter durch die richtung¬ 
gebende Einzelnation bestimmt wird. 
Und diese Großmacht ist vor der Ge¬ 
schichte um so mehr daseinsberechtigt, 
als sich in ihr lebensstarke Kräfte auswir¬ 
ken können, die einen neuen geschicht¬ 
lichen Fortschritt verbürgen. Denn ver¬ 
gessen wir nicht, daß sich die Geschichte 


nicht im nationalen Entwicklungsprozeß 
erschöpft, sondern daß dieser nur ein 
Teil des allgemeinen historischen Ver¬ 
laufs ist Wie es wiederum Ranke ein¬ 
mal in klassischen Worten formuliert 
hat: „Große Völker und Staaten haben 
einen doppelten Beruf: einen nationalen 
und einen weltgeschichtlichen.“ 87 ) Der 
starke Glauben unseres deutschen Ge¬ 
schichtsforschers an das dauernde Leben 
der großen Nation, die sich mit aller 
nationalen Selbstsucht dem großen Gan¬ 
zen geschichtlicher Entwicklung einord- 
net, kann uns auch in diesen Tagen 
Wegweiser sein. 

87) Französische Geschichte, Vorrede. 
Sämtliche Werke Band 8 S. V. 


Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“. 

Von O. Walzet 


Botticelli und Lorenzo di Credi sind 
zeit- und stammverwandte Künstler, 
beides Florentiner des späteren Quat¬ 
trocento; aber wenn Botticelli einen 
weiblichen Körper zeichnet, so ist es 
nach Gewächs und Formenauffassung 
etwas, das nur ihm eigentümlich ist 
und was von jedem Frauenakt des Lo¬ 
renzo sich so grundsätzlich und unver¬ 
wechselbar unterscheidet wie eine Eiche 
von einer Linde. 

Kein holländischer Baumstamm hat 
das Pathos der flämischen Bewegung, 
und selbst die mächtigen Eichen Ruis- 
daels erscheinen noch feingliedrig neben 
den Bäumen des Rubens. Rubens geht 
mit dem Horizont hoch hinauf und 
macht das Bild schwer, indem er es mit 
viel Materie belastet, bei den Hollän¬ 
dern ist das Verhältnis von Himmel 
und Erde grundsätzlich anders: der Ho¬ 
rizont liegt tief, und es kann Vorkom¬ 
men, daß vier Fünftel des Bildes der 
Luft überlassen sind. 


Der Zentralbegriff der italienischen 
Renaissance ist der Begriff der voll¬ 
kommenen Proportion. Die Säule, der 
Flächenausschnitt an der Wand, das 
Volumen eines einzelnen Raumgliedes 
wie des Raumganzen, die Massen des 
Aufbaues insgesamt — es sind lauter 
Gestaltungen, die den Menschen ein in 
sich befriedigtes Dasein finden lassen. 
Barock bedient sich des gleichen For- 
mensystems, gibt aber nicht mehr das 
Vollkommene und Vollendete, sondern 
das Bewegte und Werdende, nicht das 
Begrenzte und Faßbare, sondern das 
Unbegrenzte und Kolossale. — 

Drei Möglichkeiten der Stilbetrach- 
tung prägen sich in diesen drei Bei¬ 
spielen aus. Der erste Fall geht auf in¬ 
dividuellen Stil, der zweite auf Volks¬ 
stil, der dritte auf Zeitstil. Nicht 
alles, was von Heinrich Wölfflin 

in seinen „Kunstgeschichtlichen 
Grundbegriffen“ (München,F.Bruck- 
mann A.-G„ 1915) zur Beschreibung der 


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O. Walzel, Wölfflins „Kunstgeschichtiiche Grundbegriffe' 


702 


drei Falle vorgebracht wird, führte ich 
an. Aber ich hielt mich möglichst an 
seinen Wortlaut in den Sätzen, die ich 
vorlegte. 

Wölfflin will durch die Skizzierung 
der drei Falle die Ziele einer Kunst¬ 
geschichte bezeichnen, die den Stil in 
erster Linie als Ausdrude faßt, sei es 
eines persönlichen Temperaments, sei 
es einer Volks-, sei es einer Zeitstim¬ 
mung. Solcher kunstgeschichtlichen Be¬ 
trachtungsweise stellt Wölfflin die Fra¬ 
gen gegenüber, die der Künstler auf¬ 
wirft: ob das einzelne Werk gut, ob es 
in sich geschlossen sei, ob die Natur zu 
einer starken und klaren Darstellung 
komme. Geht es dort auf Ausdruck, so 
geht es hier auf Qualität 

Wölfflin aber behauptet daß weder 
die Prüfung des Ausdrucks noch der 
Qualität den Tatbestand erschöpfe. Als 
drittes komme die Darstellungsart hin¬ 
zu. Jeder Künstler finde bestimmte op¬ 
tische Möglichkeiten vor, an die er ge¬ 
bunden ist Nicht alles sei zu allen Zei¬ 
ten möglich. Das Sehen habe seine Ge¬ 
schichte. Wölfflin erkennt in der Auf¬ 
deckung dieser „optischen Schichten“ 
die elementarste Aufgabe der Kunst¬ 
geschichte. 

Abermals verdeutlichen einzelne Falle 
den Gedanken Wölfflins. Obwohl Zeit¬ 
genossen, stehen der Italiener Bernini 
und der Holländer Terborch nach ihrem 
Temperament weit auseinander. Allein 
mögen auch die stürmischen Figuren 
Beminis und die stillen, feinen Bildchen 
Terborchs noch so weit voneinander ab¬ 
liegen, so weisen doch die Zeichnungen 
beider die gleiche Manier eines Sehens in 
Flecken statt in Linien auf, etwas, was 
wir malerisch nennen und was ein 
unterscheidendes Merkmal des 17. Jahr¬ 
hunderts ist gegen das 16. Jahrhundert 
Es ist nach Wölfflin etwas ganz ande¬ 
res, als wenn man von dem Schwung 


barocker Massenbehandlung im Gegen¬ 
satz zu der Ruhe und Gehaltenheit der 
Hochrenaissance spricht. „Größere oder 
geringere Bewegtheit sind Ausdrucks¬ 
momente, die mit einheitlichem Maßstab 
gemessen werden können: malerisch 
und linear aber sind wie zwei verschie¬ 
dene Sprachen, in denen man alles mög¬ 
liche sagen kann, wenn auch jede nach 
einer gewissen Seite hin ihre Stärke 
haben und aus einer besonderen Orien¬ 
tierung zur Sichtbarkeit hervoigegan- 
gen sein mag.“ 

Wölfflin reiht noch andere Falle an. 
Er verwahrt sich dagegen, alle die Un¬ 
terschiede auf den Ausdruck zu be¬ 
ziehen. Nicht jeder Stimmung hätten 
jederzeit die gleichen Ausdrucksmittel 
zur Verfügung gestanden. Auch von 
neuer Naturbeobachtung solle man nicht 
schlechtweg reden. Die Beobachtungen 
des 17. Jahrhunderts seien nicht einfach 
in das Gewebe der cinquecentistischen 
Kunst eingetragen worden; die Gesamt¬ 
unterlage war nach Wölfflin vielmehr 
eine andere geworden. „Alle Steigerung 
in der .Hingabe an die Natur' erklärt 
nicht die Art, wie sich eine Landschaft 
des Ruisdael von einer Landschaft des 
Patenier unterscheidet, und die 1 .fort¬ 
geschrittene Bewältigung des Wirk¬ 
lichen' macht den Gegensatz zwischen 
einem Kopf des Frans Hals und einem 
Kopf Albrecht Dürers noch nicht ver¬ 
ständlich.“ Ein anderes optisches Sche¬ 
ma liegt zugrunde, das tiefer ver¬ 
ankert sei als in den bloß imitativen Ent¬ 
wicklungsproblemen. Es bedinge ebenso 
die Erscheinung der Architektur wie die 
Erscheinung der darstellenden Kunst. 
Eine römische Barockfassade hat nach 
Wölfflin den gleichen optischen Nenner 
wie eine Landschaft des van Goyen. 

Bei dem Gegensatz des Linearen und 
des Malerischen, wie er an einem Ver¬ 
gleich der Kunst Beminis oder Ter- 


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O. Walzel, Wölfllins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe' 


704 


borchs mit der Kunst der Hochrenais¬ 
sance sich ergibt, bleibt Wölfflin nicht 
stehen. Er kennt noch vier andere Paare 
von Gegensätzen allgemeinster Darstel¬ 
lungsformen; sie entsprechen abermals 
der Entwicklung, die sich vom 16. zum 
17. Jahrhundert in der bildenden Kunst 
vollzieht. In knapper Zusammenfassung 
will ich wiedergeben, wie Wölfflin die 
fünf Begriffspaare „provisorisch formu¬ 
liert“; so nämlich drückt er selbst sich 
aus. 

1. Entwicklung vom Linearen zum 
Malerischen, d. h. Ausbildung der Linie 
als Blickbahn und Führerin des Auges 
und — im Gegensatz dazu — allmäh¬ 
liche Entwertung der Linie. Einmal wer¬ 
den die Körper nach ihrem tastbaren 
Charakter in Umriß und Flächen begrif¬ 
fen, das andere Mal überläßt man sich 
dem bloßen optischen Schein und ver¬ 
zichtet auf greifbare Zeichnung. Das 
konstruierende Sehen isoliert die Dinge, 
das malerische schließt sie zusammen. 

2. Entwicklung vom Flächenhaften 
zum Tiefenhaften, von flächiger Schich¬ 
tung zum Hintereinander. Dabei ist Flä¬ 
chenstil nicht Folge einer geringeren 
Fähigkeit, räumliche Tiefe darzustellen, 
sondern nur möglich bei einer Beherr¬ 
schung des Verkürzens und des Raum¬ 
eindrucks, die den Primitiven fehlt 

3. Entwicklung von der geschlosse¬ 
nen zur offenen Form. Die Lockerung 
der Regel, die Entspannung der tekto¬ 
nischen Strenge bedeutet nicht eine 
bloße Reizsteigerung, sondern ist eine 
folgerichtig durchgeführte neue Dar¬ 
stellungsweise. 

4. Entwicklung vom Vielheitlichen zum 
Einheitlichen. Einmal hat der Betrachter 
von Glied zu Glied fortzuschreiten, das 
andere Mal im ganzen aufzufassen. Dort 
ist Einheit eine Harmonie freier Teile, 
hier ruht sie auf einem Zusammen¬ 
ziehen der Glieder zu einem einzigen 


Motiv oder auf einer Unterordnung der 
übrigen Elemente unter ein führendes. 

5. Entwicklung von absoluter zu rela¬ 
tiver Klarheit des Gegenständlichen. 
Klarheit des Motivs verliert den An¬ 
spruch, Selbstzweck der Darstellung zu 
sein. Die Form wird nicht mehr in ihrer 
Vollständigkeit vor dem Auge ausge¬ 
breitet, man gibt nur noch wesentliche 
Anhaltspunkte. Komposition, Licht und 
Farbe stehen nicht mehr unbedingt im 
Dienste der Formaufklärung, sondern 
führen ihr eigenes Leben. 

Nur flüchtig andeuten kann ich, wie 
Wölfflin an der Hemd einer überzeugen¬ 
den Reihe schlagender Belege, in dau¬ 
ernder Gegenüberstellung eines Paares 
von zeichnerischen, malerischen, plasti¬ 
schen und architektonischen Werken die 
lineare, auf Fläche, geschlossene Form, 
Vielheit und Klarheit eingestellte Kunst 
des 16. Jahrhunderts entgegenhält der 
malerischen, auf Tiefe, offene Form, 
Einheit und Unklarheit zielende Kunst 
des 17. Jahrhunderts. Die Feinheit und 
Schärfe von Wölfflins Darlegung kann 
nur an seinem Buch selbst gewürdigt 
werden, nicht durch irgendeine kür¬ 
zende Wiedergabe zur rechten Wirkung 
gelangen. Unentbehrlich sind ferner die 
Bilder, an denen die Scheidung dar¬ 
getan wird. Sie sind so glücklich ge¬ 
wählt und so trefflich angeordnet, daß 
schon, wer nur Wölfflins Hauptgesichts¬ 
punkte kennt und die fünf Gruppen von 
Gegensätzen erfaßt hat, an den Bildern 
allein die Berechtigung seiner Typen 
von Darstellungsformen erkennt Geht 
man freilich vom Beschauen der Bilder 
weiter zum Lesen von Wölfflins Aus¬ 
führungen, so staunt man immer wieder 
von neuem über die zarte Sorgfalt, mit 
der er die nicht ungefährliche Aufgabe 
löst, das einzelne Kunstwerk einem Ty¬ 
pus einzuordnen und ihm doch gerecht 


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O. Walzel, Wölfflins »Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ 


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zu werden, soweit es noch anderes will, 
als der Typus zu wünschen scheint. Er 
beherzigt, daß die Merkmale, um derent¬ 
willen er ein Kunstwerk für seine Ab¬ 
sichten verwertet, auch noch aus künst¬ 
lerischen Absichten stammen können, 
die mit seinen fünf gegensätzlichen Be¬ 
griffspaaren nichts zu tun haben. Er er¬ 
innert etwa einmal ausdrücklich daran, 
daß die durchgreifenden Veränderun¬ 
gen der Auffassung, die sich im Laufe 
der Zeit an der Darstellung der alt¬ 
testamentarischen Susanna oder Sim- 
sons ergeben, nie von einem einzelnen 
Begriff aus dargelegt werden können. 
Die ältere Gestalt der Geschichte von 
Susanna sei nicht eigentlich das Be¬ 
drängen der Frau, sondern wie die 
Alten ihr Opfer von weitem beobachten 
oder darauf zulaufen. Erst allmählich, 
mit der Schärfung des Gefühls für das 
Dramatische, komme der Augenblick, wo 
der Feind der Badenden an den Nacken 
gesprungen ist und ihr die heiße Rede 
ins Ohr raunt. Die spannende Szene der 
Überwältigung Simsons habe sich ebenso 
nur nach und nach aus dem Schema des 
Schläfers herausgewickelt, der ruhig im 
Schoß der Dalila liegt und von ihr der 
Locken beraubt wird. Allein darum ver¬ 
zichtet Wölfflin nicht darauf, solche 
Werke für seine Gesichtspunkte in An¬ 
spruch zu nehmen, wohl bewußt, daß 
nur ein Teil des Phänomens, nicht aber 
das ganze bezeichnet wird durch seine 
Gesichtspunkte. 

Wölfflin bleibt auch nicht bei den Be¬ 
legen stehen, die mit überwältigender 
Schlagkraft für seine Ansicht zeugen, 
fm Gegenteil beschäftigt er sich vorzüg¬ 
lich mit Fällen, die ihm zu wider¬ 
sprechen scheinen. Vielleicht verspürt 
der eine oder der andere, daß in so 
schwieriger Lage Wölfflin hier und da 
nicht ganz ohne Sophismen auskommt. 
Tatsächlich liegt ihm daran, bei die- 

Internationale Monatsschrift 

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sen Grenzfällen die eine entscheidende 
Wendung nachzuweisen, die ein Werk 
den Darstellungsformen des einen oder 
des anderen Jahrhunderts zuweist. 

Wölfflins Typen gelten für alle Län¬ 
der, die an der Kunst des 16. und 17. 
Jahrhunderts beteiligt sind. Sein Aus¬ 
gangspunkt ist ja die enge Verwandt¬ 
schaft der Darstellungsformen des Ita¬ 
lieners Bemini und des Holländers Ter- 
borch. Indes hebt er selbst hervor, daß 
dem italienischen Süden die lineare, tek¬ 
tonische, klare Darstellung weit näher 
liegt als dem deutschen Norden. Schon 
sehr früh im Ablauf der Darlegungen 
Wölfflins erscheint der Satz, daß dem 
plastischen Gefühl der Italiener die Linie 
immer mehr oder weniger das Element 
war, in dem sich alle künstlerische Ge¬ 
stalt formte. Gleiches sei von der Hei¬ 
mat Dürers nicht zu sagen, wenngleich 
wir gewöhnt sind, in der festen Zeich¬ 
nung die eigentümliche Kraft der alten 
deutschen Kunst zu erkennen. Allein die 
klassische deutsche Zeichnung, die sich 
nur langsam und mühsam spätgoti¬ 
schem malerischen Knäuelwerk entwin¬ 
det, könne wohl auf Augenblicke am ita¬ 
lienischen Lineament ihr Muster suchen, 
im Grunde aber sei sie der isolierten 
reinen Linie abhold. „Die deutsche Phan¬ 
tasie läßt alsbald Linie mit Linie sich 
verflechten, statt der klaren, einfachen 
Bahn erscheint der Linienbündel, das 
Liniengewebe; Hell und Dunkel treten 
früh zu einem malerischen Eigenleben 
zusammen, und die einzelne Form geht 
unter im Wogenschlag derGesamtbewe- 
gung.“ 

Nicht seien weitere Belege heran¬ 
geholt für die Fähigkeit Wölfflins, den 
Gefahren zu entgehen, die sich einer 
typisierenden Betrachtung geschicht¬ 
licher Erscheinungen entgegenstellen. 
Allerdings mag hier wie sonst der Le¬ 
ser und Beurteiler sich bewußt bleiben, 

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O. Walzel, Wölfllins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe' 


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daß jeder Versuch, die einzelne Er¬ 
scheinung einem Typus zuzuweisen, 
allen den Schwierigkeiten ausgesetzt 
ist, die einer Umsetzung von Ideellem in 
Anschauung drohen. Die Idee mag noch 
so einleuchtend und förderlich sein, 
gleichwohl kann ihre Anwendung Wi¬ 
derspruch erwecken. Immerhin sollte 
niemals als berechtigter Einwand gegen 
eine Idee gefaßt werden, was lediglich 
vereinzelte unrichtige Anwendung oder 
gar nur bestreitbare Exemplifikation ist. 
Vollends sollte der Widerspruch, den 
durch diese oder eine andere Zuteilung 
Wölfflin erweckt, nicht ins Gewicht fal¬ 
len neben den beträchtlichen Gewinnen, 
die sich für jeden Empfänglichen aus 
seinen Erkenntnissen ergeben. Ich zweifle 
nicht, daß die große Mehrzahl aus dem 
Buch den Eindruck empfängt, jetzt erst 
Bilder sehen und ihre künstlerischen 
Wesenszüge erfassen zu können. 

Neidenswert ist Wölfflins Befähi¬ 
gung, den künstlerischen Sinn einzelner 
Züge der Darstellung zu erfassen, mag 
er vom Standpunkt seiner fünf .Typen¬ 
paare oder von irgendeinem anderen 
ein Werk bildender Kunst betrachten. 
Mit unentwegter Energie und doch nie 
aufdringlich oder gar pedantisch, immer 
geschmackvoll sagt er von jedem ein¬ 
zelnen Werk, das er nennt, warum die 
Gestalten, ihre Gewandung, ihre Stel¬ 
lung an sich und zu anderen, ihr Hin¬ 
tergrund, warum Farben und Belichtung 
die Darstellung gefunden haben, die 
dem Kunstwerk eigen ist. Er arbeitet 
gern und stets erfolgreich mit dem Ver¬ 
gleich zweier oder mehrerer verwandter 
Leistungen und kann darum eindring¬ 
lich versinnlichen, welche besonderen 
Darstellungseigenheiten bei gleichem 
Stoff und übereinstimmender künst¬ 
lerischer Aufgabe sich dem einzelnen 
Künstler im Gegensatz zu seinem Mit¬ 
bewerber ergeben. Soll ich abermals 


beklagen, wie weit von solcher Meister¬ 
schaft, künstlerische Züge mit Worten 
festzuhalten, die wissenschaftliche Be¬ 
trachtung von Dichtung entfernt ist? 
Wenige wissen an einem Dichtwerk 
auch nur die selbstverständlichsten Züge 
zu beobachten, die von Wölfflin an 
Werken der bildenden Kunst schier 
mühelos erschaut werden. 

Doch ihm liegt diesmal augenschein¬ 
lich gar nicht viel an einer neuen Probe 
seiner Fähigkeit, das Künstlerische zu 
sehen und auszusprechen. Er möchte 
auch über den bloßen Nachweis 
gegensätzlicher Darstellungsmöglichkei¬ 
ten hinauskommen zu einer entwick¬ 
lungsgeschichtlichen Verwertung des 
Nachweises. Ohne Zweifel hätte er sich 
eine Menge Einwände erspart, wenn er 
stehengeblieben wäre bei dem gesicher¬ 
ten Ergebnis, daß zwei gegensätzliche 
Reihen der Darstellungsform bestehen, 
die sich von selbst zu geschichtlicher 
Verwertung anbieten, diese geschicht¬ 
liche Verwertung indes vorläufig in den 
Hintergrund geschoben hätte. 

Wölfflin nimmt für seine fünf Be¬ 
griffspaare den Namen „Kategorien der 
Anschauung“ in Anspruch. Die Gefahr, 
daß sie mit Kants Kategorien auf eine 
und die gleiche Höhe gestellt würden, 
besteht nach seiner Oberzeugung nicht. 
Seien sie doch nicht aus einem Prinzip 
abgeleitet. Mit leiser Ironie sagt er, für 
eine kantische Denkart müßten diese 
Kategorien der Anschauung als bloß 
„aufgerafft“ erscheinen. Er gesteht die 
Möglichkeit zu, daß noch andere Kate¬ 
gorien sich aufstellen lassen; erkenn¬ 
bar seien ihm keine anderen geworden. 
Auch seien die fünf Kategorien nicht 
so unter sich verwandt, daß sie in 
teilweise anderer Verbindung undenk¬ 
bar wären. Aber er hält fest daß sie 
sich bis zu einem gewissen Grade be- 


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O. Walzel, Wölfllins »Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ 


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dingen, ja als fünf verschiedene An¬ 
sichten einer und derselben Sache gel¬ 
ten dürfen. 

Wölfflin verdeutlicht das: Das Li¬ 
near-Plastische hängt ebenso zusammen 
mit den kompakten Raumschichten des 
Flächenstils wie das Tektonisch-Ge¬ 
schlossene eine natürliche Verwandt¬ 
schaft mit der Selbständigkeit der Teil¬ 
glieder und mit der durchgeführten 
Klarheit besitzt Anderseits verbindet 
sich die unvollständige Formklarheit 
und die Einheitswirkung bei entwerte¬ 
tem Einzelteil von selbst mit dem Atek- 
tonisch-Fließenden und kommt im 
Bereich einer impressionistisch-maleri¬ 
schen Auffassung am besten unter. Auch 
der Tiefenstil gehört notwendig zu die¬ 
ser Gruppe, da seine Tiefenspannungen 
ausschließlich auf optische Wirkungen 
aufgebaut sind, die nur für das Auge, 
nicht aber für das plastische Gefühl 
eine Bedeutung haben. 

Auch diese Steigerung mag man gern 
zugeben. Die fünf Typenpaare wären 
dann nicht nur jedes für sich wertvolle 
Mittel zur Erfassung einer Darstellung, 
vielmehr dürfte angenommen werden, 
daß vielfach die sämtlichen Glieder der 
einen Reihe sich an einem Kunstwerk zu¬ 
sammenfinden können, wenn auch nur 
eines dieser Glieder an dem Kunstwerk 
nachgewiesen ist. Alles das ist wie 
selbstverständlich. 

Ferner dürfte ein haltbares Ergebnis 
von Wölfflins Buch sein, daß die eine 
Reihe der Darstellungsmöglichkeiten, 
nach ihrem ganzen Umfang, der Hoch¬ 
renaissance des 16. Jahrhunderts, die 
andere ebenso dem Barock des 17. Jahr¬ 
hunderts zukomme. Da geht die Be¬ 
trachtung zwar schon aus der Welt 
bloßer Feststellung von verschiedenen, 
ja gegensätzlichen Möglichkeiten der 
Darstellungsform weiter zu geschicht¬ 
licher Verwertung der Typen. Aber noch 

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weckt das nicht Bedenken. Wer indes 
stutzt nicht, wenn Wölfflin in der Reihe, 
zu der das Lineare zählt, ein für alle¬ 
mal eine Vorstufe der Reihe des Male¬ 
rischen erkennen will? Er sagt: der 
Fortgang von der handgreiflichen, pla¬ 
stischen Auffassung zu einer rein op¬ 
tisch-malerischen hat eine natürliche 
Logik und könnte nicht umgekehrt wer¬ 
den, und ebensowenig der Fortgang 
vom Tektonischen zum Atektonischen, 
vom Streng-Gesetzlichen zum Frei-Ge¬ 
setzlichen, vom Vielheitlichen zum Ein¬ 
heitlichen. Wölfflin meint in diesem 
Vorgang etwas Notwendiges zu er¬ 
blicken, ebenso notwendig wie das phy¬ 
siologische Wachstum. 

Es ist etwas ganz anderes, wenn 
Wölfflin sonst die Ansicht verficht, daß 
lineare und tektonische Malerei nicht 
in dem strengen Sinn Malerei sei, wie 
malerische, atektonische, daß also auf 
dem Weg von der Hochrenaissance zum 
Barock die Malerei sich ihrer eigenen 
und eigentümlichen Kraft bewußt wird. 
Er hat durchaus recht, daß in der Ma¬ 
lerei der Übergang vom Tastbild der 
linearen Art zum Sehbild der maleri¬ 
schen Art die „kapitalste Umorientie¬ 
rung“ sei, die in der Kunstgeschichte er¬ 
scheint 

Aber gerät Wölfflin nicht schon durch 
diese Wendung mit sich selbst in Wider¬ 
spruch und mit seiner Überzeugung, 
daß die klassische Kunst des Cinque¬ 
cento und die barocke Kunst des Se- 
oento dem Werte nach auf einer einzi¬ 
gen Linie stehen? Er versichert aus¬ 
drücklich: „Der Barock, oder sagen wir 
die moderne Kunst, ist weder ein Nie¬ 
dergang noch eine Höherführung der 
klassischen, sondern ist eine generell 
andere Kunst.“ Im Gegensatz zu dieser 
Äußerung, die am Eingang des Werkes 
erscheint, gewinnen Raffael und Dürer 
im Verlauf der Darstellung den An- 

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O. Walzel, WOlfflins „Kunstgeschichtliche Grandbegriffe* 


schein, als seien sie nicht in dem hohen 
und eigentlichen Sinn Maler wie Rühens 
oder Rembrandt. 

Ich schiebe keine fremde Meinung 
unter, wenn ich für die zweite Reihe 
der Gegensatzpaare, für das Malerische 
oder Atektonische, den Begriff Im¬ 
pressionismus einsetze. Wölfflin selbst 
meint, man müsse nicht gleich an die 
letzten Formulierungen des Impressio¬ 
nismus denken; aber grundsätzlich sei 
der Impressionismus im Zeitalter Rem- 
brandts doch schon da. 

Könnte nicht einer unserem Forscher 
einwerfen, daß er letzten Endes die 
Gleichwertigkeit geschichtlicher Höchst¬ 
entwicklungen verkennt und seiner eige¬ 
nen Zeit einen Tribut entrichtet, indem 
er die eigentliche Malerei nicht auf der 
Seite Raffaels sucht sondern im im¬ 
pressionistischen Lager? 

Allein schon die Worte linear und 
malerisch dürfen als Stütze für sein 
Verhalten gelten. Wer lineare und ma¬ 
lerische Malerei scheidet sagt damit 
schon, daß nicht die erste, sondern die 
zweite die eigentliche Malerei sei. Ganz 
so wäre der Gegensatz tektonisch und 
atektonisch zu fassen. Wölfflin be¬ 
merkt einmal, Malerei könne, Architek¬ 
tur müsse tektonisch sein. Das heißt: 
tektonische Malerei fügt sich den Wün¬ 
schen einer Schwesterkunst nur atek¬ 
tonische ist frei im Sinn ihrer eigenen 
Gesetzlichkeit 

Wölfflin indes nimmt überdies in den 
oben angeführten Sätzen für alle Kunst 
einen Fortschritt vom Linear-Tektoni¬ 
schen zum Malerisch-Atektonischen an. 
Auch die Architektur also stiege nach 
ihm empor, wenn sie zum Impressionis¬ 
mus übergeht. Da tut sich mir die 
größte Schwierigkeit auf, die aus der 
Verwertung von Wölfflins Kategorien 
zu geschichtlichen Bauten sich ergibt 
An dieser Schwierigkeit geht er ja ge¬ 


wiß nicht sorglos vorbei. In den Betrach¬ 
tungen, die am Ende des Buches ange¬ 
stellt werden, verweilt er auch bei der 
„Periodizität der Entwicklung" und 
nimmt sie mindestens für die Architek¬ 
tur in Anspruch. Die Teilung in lineare 
und malerische Baukunst, die sich im 
16. und 17. Jahrhundert beobachten läßt 
der Übergang vom Linearen zum Male¬ 
rischen tut sich ihm genau so innerhalb 
der Gotik auf. Auf klassische Gotik 
folgt barocke Gotik. Wölfflin geht so¬ 
gar noch einen Schritt weiter. Er nennt 
es eine unbestrittene Tatsache, daß sich 
innerhalb der bildenden Kunst mit 
engerer oder weiterer Wellenlänge, ge¬ 
wisse gleichlautende Entwicklungen vom 
Linearen zum Malerischen, vom Stren¬ 
gen zum Freien schon mehrfach im 
Abendland abgespielt haben. Die antike 
Kunst arbeite mit den gleichen Begrif¬ 
fen wie die moderne. Die französische 
Plastik vom 12. bis zum 15. Jahrhun¬ 
dert biete ein außerordentlich klares 
Beispiel einer solchen Entwicklung; da 
fehle auch nicht die Parallele der Male¬ 
rei. Nur darauf komme es — setzt 
Wölfflin vorsichtig hinzu — nicht an, 
daß die Entwicklungskurven der ver¬ 
schiedenen Weltperioden sich absolut 
decken müssen. 

Wölfflin selbst gelangt von der Be¬ 
trachtung der Periodizität zu der Frage 
nach dem Aufhören und dem Neuanfan- 
gen der Entwicklungen. Warum, sagt 
er, springt eine Entwicklung je wieder 
zurück? 

Ich kann nicht zugestehen, daß Wölff¬ 
lin eine durchaus befriedigende Antwort 
auf diese Frage zu geben hat Er selbst 
verwirft die allgemeine Erklärung, daß 
jede Erscheinung ihren Gegensatz er¬ 
zeugen müsse. Das Abbrechen bleibe 
etwas Unnatürliches und komme immer 
nur im Zusammenhang mit durchgrei¬ 
fenden Veränderungen der geistigen 


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O. Walzel, WOUflins .Kunstgeschichtliche Grundbegriffe' 


714 


Welt vor. So sei das Wiedererwachen 
des Linear-Tektonischen und die Ab¬ 
kehr vom Malerisch-Atektonischen um 
1800 bedingt durch eine neue Wertung 
des Seins auf allen Gebieten. Wölfflin 
erkennt theoretische Verfechter der Um¬ 
kehr in Diderot und Friedrich Schlegel 
und führt geradezu schlagende Äuße¬ 
rungen beider an. 

Dann aber nennt er den Fall der 
Kunsterneuerung um 1800 einzigartig 
und nimmt ihm dadurch die Möglich¬ 
keit, über das Wesen des Neuanfan- 
gens wirklich zu belehren. Innerhalb 
einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne 
habe die abendländische Menschheit da¬ 
mals einen durchgreifenden Regenera¬ 
tionsprozeß durchgemacht. Es war, als 
ob man noch einmal von vorne habe 
anfangen können. Freilich sei die Kunst 
auch damals nicht auf einen Punkt zu¬ 
rückgekehrt, auf dem sie schon einmal 
gestanden hat Nur das Bild einer Spi¬ 
ralbewegung komme den Tatsachen 
nahe. Frage man aber nach den Anfän¬ 
gen der vorausgehenden Entwicklung, 
so suche man umsonst nach einem 
Augenblick, in dem sich der Wille zum 
Linearen und Strengen allgemein und 
rasch entschlossen einer maierisch-freien 
Tradition in den Weg gestellt hat 

Hier ist augenscheinlich noch man¬ 
ches zu klaren. Nicht aber sind die 
großen Schwierigkeiten überwunden, in 
die sich Wölfflin begab, als er von sei¬ 
ner glanzenden Antithese zu entwick¬ 
lungsgeschichtlichen Fragen fortging. 

Noch auf eine weitere Schwierigkeit 
mache ich aufmerksam. Die Worte 
Fr. Schlegels, die für das Lineare ein- 
treten, führt Wölfflin nach der Fassung 
von Schlegels „Sämtlichen Werken“ an. 
Schlegel sagt von linearer Malerei: „Das 
ist der Stil der alten Malerei, der Stil, 
welcher mir... ausschließend gefallt“ 


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Wölfflin las an gleicher Stelle noch die 
Einschränkung: „wenn nicht irgendein 
großes Motiv die Ausnahme rechtfer¬ 
tigt wie beim Correggio oder den andern 
großen Meistern, welche den neuen Stil 
zuerst begründet und veranlaßt haben.“ 
Wölfflin durfte diese Einschränkung 
füglich weglassen. Er selbst erkennt ja 
in Correggio eine Vorstufe zum Male¬ 
risch-Atektonischen, einen Übergang 
mindestens. Die ursprüngliche Fassung 
von Schlegels Worten (in der Zeit¬ 
schrift „Europa“ von 1803) drückt 
sich jedoch anders aus. Da heißt es: 
„wenn nicht irgendein großes Prinzip, 
wie beim Correggio oder Raffael, die 
Ausnahme rechtfertigt“ Ich wage nicht 
zu sagen, warum Schlegel geändert hat 
Jedenfalls aber ist für diesen Vorkämp¬ 
fer des Linear-Tektonischen zuerst Raf¬ 
fael, der — das ist selbstverständlich — 
von Wölfflin zum Hauptvertreter des 
Linear-Tektonischen erhoben wird, ein 
Vertreter der gegenteiligen Richtung. 
Ursache ist die ausgesprochene Nei¬ 
gung der deutschen Romantiker zur 
Kunst der Vorgänger Raffaels. 

Schlegel verurteilt Raffael so wenig 
wie Correggio. Was ihm widersteht 
kennzeichnet er überdies deutlich ge¬ 
nug: er bekämpft eine „Malerei aus 
Helldunkel und Schmutz in Nacht und 
Schlagschatten“. Das kehrt sich gegen 
Rembrandt, aber auch gegen Rubens, 
über den er ja immer wieder abspricht 

Rubens aber wird von dem Roman¬ 
tiker Fr. Schlegel verworfen, obwohl 
kurz vorher Wilhelm Heinse schon vol¬ 
les Verständnis für Rubens bezeugt 
hatte. Heinse greift da seinerzeit mäch¬ 
tig vor. Er tritt für Rubens ein, weil 
er sich von Winckelmann die Hände 
nicht will binden lassen. Schlegel aber 
steht trotz allem Gegensatz zu Winckel¬ 
mann, gesehen von Wölfflins Stand¬ 
punkt ganz auf Winckelmanns Seite. 


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715 


O. Walzel, Wölfflins „Kunstgeschiditliche Grundbegriffe“ 


716 


Denn wer ist der eigentliche Überwin¬ 
der der Barockkunst und siegreiche Ver¬ 
fechter des Linear-Tektonischen auf dem 
Gesamtgebiet der bildenden Künste, 
also auch auf dem Felde der Malerei, 
wer ist der eigentliche Veranlasser des 
Neuanfangens um 1800, wenn nicht 
Winckelmann? 

Die weimarischen Kunstfreunde be¬ 
wegen sich um 1800 noch unverkenn¬ 
bar im Fahrwasser Winckelmanns. Sie 
schreiben der Malerei die Gesetze einer 
linear geschauten Plastik vor. So weit 
gehen die Romantiker nicht ja sie be¬ 
kämpfen die plastische Malerei und 
deren Anwalt Goethe. Daß sie aber 
trotzdem mit Goethe innerhalb der 
Wünsche linear-tektonischer Malerei 
bleiben, daß die Nazarener ihrem Geg¬ 
ner Goethe dennoch recht nahestehen, 
ergibt sich aus Wölfflins Gesichtspunk¬ 
ten. Goethe, die romantischen Theore¬ 
tiker und der Kreis der nazarenischen 
Maler arbeiten gemeinsam an der Kunst- 
emeuerung von 1800, an der Wendung 
zum Linear-Tektonischen. Um so bemer¬ 
kenswerter wird die gegenteilige Hal¬ 
tung Heinses. Sie bezeugt daß unmit¬ 
telbar vor 1800 schon Vorankündiger 
des Kunstgefühls erstanden, zu dem 
nach der Überwindung der linear-tek¬ 
tonischen Kunst des beginnenden 19. 
Jahrhunderts sich eine neue malerisch- 
atektonische Kunst bekennen sollte. Eine 
ähnliche Stellung wie Heinse nimmt 
Herder ein. 

Die Reinlichkeit der Zeichnung Wölff¬ 
lins leidet unter dieser Beobachtung. 
Aber vielleicht hilft ein Hinweis auf 
Heinse doch den tatsächlichen Vorgang 
der Kunsterneuerung von 1800 genauer 
erfassen. Sicher dürfte sein, daß mit 
gleicher Sauberkeit wie der Gegensatz 
des 16. und 17. Jahrhunderts in ande¬ 
ren Zeiten der Widerstreit linearer und 
malerischer Perioden nicht aufzuzeigen 


ist. Nicht einmal von einem regelmäßi¬ 
gen Übergang aus dem Linearen ins 
Malerische und von da ins Lineare 
dürfte gesprochen werden können. 
Vielleicht bestehen beide Richtungen ge¬ 
legentlich auch nebeneinander. 

Mir ist es wirklich nicht darum zu tun, 
irgendwelche Einwände gegen Wölfflin 
vorzubringen. Wahrscheinlich hat er 
selbst sich ähnliche Einwürfe längst 
gemacht. Ich denke vielmehr nur an 
die Weiterbildung, die den Ergebnissen 
Wölfflins auf dem Gebiet anderer 
Künste, vor allem der Dichtkunst, er¬ 
stehen, und an die Gefahren, denen 
diese Weiterbildungen ausgesetzt sind, 
wenn sie zu rasch mit Wölfflin von 
systematischen Scheidungen zu ge¬ 
schichtlichen Bauten weiterschreiten. 
Um keinen Preis möchte ich die Ge¬ 
winne entbehren, die für die Form¬ 
bestimmung der Dichtkunst aus Wölff¬ 
lins meisterlicher Formbestimmung der 
bildenden Künste .sich ergeben können. 
Um so wichtiger ist mir, diese Gewinne 
vor Schädigung zu bewahren. 

In einem Aufsatz des Jahrbuchs der 
Shakespeare-Gesellschaft für 1916 griff 
ich mutig hinein in Wölfflins Gedan¬ 
kenwelt und entnahm ihr das Recht, 
Shakespeare zum Vertreter der Typen¬ 
reihe zu stempeln, der das Atekto- 
nische angehört. Ich nannte ihn dem¬ 
gemäß einen Barockkünstler. Aber nicht 
die Tatsache, daß er Zeitgenosse der 
Rembrandt und Velasquez ist, fiel für 
mich besonders ins Gewicht, sondern 
der Gegensatz seiner Darstellungsform 
zur Darstellungsform der Renaissance. 
Jetzt möchte ich nur noch kräftiger be¬ 
tonen, daß die Ergründung dichterischer 

Form vorläufig bei der Frage stehen 
bleiben soll, wie weit die Darstellungs¬ 
gegensätze, die Kategorien, die von 
Wölfflin an der bildenden Kunst auf- 


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0. Walze], Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe' 


718 


gezeigt wurden, auch für die Dicht¬ 
kunst verwertbar sind, daß dagegen die 
entwicklungsgeschichtliche Anwendung 
dieser Kategorien auf dem Feld der 
Dichtung vorläufig noch zu vertagen 
sei. 

An Schwierigkeiten und Gefahren ist 
überhaupt kein Mangel, wenn man sich 
entschließt, Wölfflins Kategorien auf 
die Dichtkunst anzuwenden. Doch diese 
Hemmnisse sollten keinen abhalten, den 
notwendigen und gewinnbringenden 
Weg zu gehen. Es ist unbedingt nötig, 
schärfere und genauere Begriffe für die 
Bestimmung der Darstellungsmöglich' 
keiten dichterischen Schaffens zu ge¬ 
winnen. Ich möchte hier nicht die 
Gründe wiederholen, die für eine Er¬ 
weiterung und Vertiefung der begriff¬ 
lichen Forschung innerhalb des Um¬ 
kreises der Dichtung sprechen. Gründe, 
die ich schon mehrfach darzulegen ver¬ 
sucht habe. 

Selbstverständlich lassen sich alle 
fünf Begriffspaare Wölfflins nicht ohne 
weiteres auf die Dichtkunst übertragen. 
In dem Aufsatze des Shakespearejahr¬ 
buchs beschränkte ich mich überhaupt 
auf den Gegensatz des Tektonischen 
und des Atektonischen, also der ge¬ 
schlossenen und der offenen Form. Ihn 
zu nutzen, liegt nahe genug. Denn 
längst ist es geläufig, von Architektur 
der Dichtung zu reden. Daher bietet 
sich eine genaue Scheidung zweier Mög¬ 
lichkeiten der Baukunst von selbst an, 
wenn verschiedene Darstellungsarten 
dichterischer Baukunst bestimmt wer¬ 
den sollen. Die Gegensätze von Viel¬ 
beit und Einheit, von Klarheit und Un¬ 
klarheit sind auch in Wölfflins eigen¬ 
artiger Fassung immer noch unschwer 
iu der Welt der Dichtung erkennbar. 
Zugegen sträubt sich das Paar Fläche 
un d Tiefe gegen gleiche Anwendung. 
Auch der Gegensatz des Linearen und 


Malerischen ist nicht so glatt auf die 
Dichtkunst zu übertragen, wie es auf 
den ersten Blick scheinen mag. Gewiß 
zeichnet ein Dichter seine Gestalten in 
scharfumrissenen Linien, ein anderer 
läßt sie nur durch ihre malerischen 
Züge wirken. Aber beiden stehen in 
großer Anzahl Dichter gegenüber, die 
weder das eine noch das andere tun. So 
gefaßt, läßt das gegensätzliche Begriffs- 
paar nicht die zwei polaren Möglich¬ 
keiten dichterischer Darstellung erken¬ 
nen, sondern nur zwei Möglichkeiten, 
neben denen andere bestehen. 

Überhaupt heißt es sich wohl hüten, 
auf Werke der Dichtkunst Begriffe bil¬ 
dender Kunst in einer Weise anzuwen¬ 
den, die — wie man gesagt hat — nur 
Stimmungsvergleichen entstammt. Be¬ 
kanntlich sprach sich Meumann gegen 
die Aufstellung eines Begriffs „Rhyth¬ 
mus der Baukunst“ aus; er meinte in 
ihm nur eine Vermengung ästhetischer 
Kategorien zu erblicken. Schmarsow 
und seine Schüler hatten genug Mühe, 
den Begriff des Rhythmus der Bau¬ 
kunst gegen Meumanns Einwürfe zu 
halten. Sie suchten zu beweisen, daß 
er im eigentlichen und nicht im über¬ 
tragenen Sinn gebraucht werden dürfe. 

Ich drücke den Sachverhalt möglichst 
schlicht aus. Zu prüfen ist, wieweit 
Begriffe der bildenden Kunst in der 
Dichtkunst, wieweit Begriffe der Dicht¬ 
kunst in der bildenden Kunst tatsäch¬ 
lich Darstellungsgegensätze ausdrücken, 
wieweit eine gewisse Ähnlichkeit be¬ 
steht, die Verwandtschaft etwa eines 
Gegenstandes mit seinem Bilde, eine 
Beziehung von gleichnishafter Art. 
Kann in solchem strengeren Sinn von 
Linearem und Malerischem, ja von Tek¬ 
tonischem und Atektonischem in der 
Dichtkunst geredet werden? Die Gegen¬ 
überstellung, auf der sich Wölfflins 
Kategorien aufbauen, ist der Gegensatz 


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O. Walzel, Wölfflins „Kunstgescbichtliche Grundbegriffe 


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von Tastbild und Sehbild. Das Sehbild 
fordert das Malerische, das Atektoni- 
sche, es kann die Tiefe erkennen lassen, 
drängt zur Vereinheitlichung und dul¬ 
det Unklarheit. Umgekehrt verhält sich 
das Tastbild. Weder Tast- noch Seh¬ 
bilder werden von der Dichtkunst ge¬ 
boten. Allein für die Gegensatzpaare 
linear und malerisch, dann tektonisch 
und atektonisch kommt noch anderes 
in Betracht. Sie wurzeln in den drei 
verschiedenen Arten bildender Kunst, 
sie stellen einer Malerei, die vorzüglich 
mit malerischen Mitteln arbeitet, eine 
Malerei gegenüber, die sich Wirkungen 
^ ler Plastik oder der Baukunst zueignet. 
Ebenso tritt neben eine Plastik, die nur 
Plastik sein will, eine Plastik, die noch 
•ins Malerische übergreift, neben reine 
Baukunst eine Baukunst, die gleichfalls 
malerische Wirkungen sucht Noch fei¬ 
ner ließe sich das verästeln. Das Li¬ 
neare in der Malerei geht auf eine Ma¬ 
lerei, die etwas von Zeichnung der Um¬ 
risse plastischer Gestalten an sich hat. 
Zeichnung kann aber auch auf Linea¬ 
res verzichten und malerische Mittel 
anwenden. 

Wollte man in gleicher Weise die 
Darstellungsmöglichkeiten der Dicht¬ 
kunst sondern, so könnte wie dort die 
Dreiteilung Malerei, Plastik und Bau¬ 
kunst hier die Dreiteilung Epos, Lyrik 
und Drama verwendet werden. Es liefe 
dann hinaus auf eine Unterscheidung 
reiner Epik von lyrischer oder dramati¬ 
scher Epik, reiner Lyrik von epischer 
und dramatischer und so fort Das sind 
Begriffe, mit denen längst gearbeitet 
wird. Gefördert würde die Erforschung 
der Begriffe durch diese Methode nur 
wenig. Und zwar um so weniger, als 
die Gegensätze Epos, Lyrik und Drama 
sich durchaus nicht so leicht und ein¬ 
deutig voneinander lösen wie die Gegen¬ 
sätze Malerei, Plastik und Architektur. 


Gibt es doch viele, die der ganzen Ein¬ 
teilung der Poesie in Epos, Lyrik und 
Drama den Krieg ansagen. Übergänge 
finden natürlich auch zwischen den drei 
Arten der bildenden Kunst statt. Aber 
keiner wird in einem Gemälde wohnen 
wollen. Und Plastik ist nicht bloß mit 
Farben auf einer Fläche zu erzielen. 

Die Dichtkunst gestattet indes noch 
andere Unterteilungen. Tastbild und Seh¬ 
bild. Haptisches und Optisches treffen 
innerhalb der bildenden Kunst aufein¬ 
ander. Ebenso begegnen sich innerhalb 
der Dichtung Akustisch-Musikalisches 
und Wortinhalt. Etwas, das auf unsere 
Sinne wirkt, und etwas, das uns den 
Sinn der Worte vermittelt, vereinigt 
sich in der Wortkunst. Die eine Rich¬ 
tung der Poesie arbeitet stärker mit der 
sinnlichen, die andere mit der Sinnes¬ 
wirkung. Die eine greift hinüber ins 
Feld der Musik, die andere dämpft die 
akustische Macht des Wortes. 

Wiederum liegt eine Scheidung vor, 
deren wir uns längst bedienen. Sie ist 
manchem Bedenken nicht ausgesetzt, 
das sich bei einer Scheidung in Epi¬ 
sches, Lyrisches und Dramatisches rasch 
einstellt Dafür leidet die eine wie die 
andere Scheidung an einem ähnlichen 
Übelstand wie Wölfflins Kategorien. 
Auch hier, und zwar beidemal, ersteht 
eine Gruppe eigentlicher und eine 
Gruppe uneigentlicher Leistung. Einmal 
erscheint neben reiner Epik, reiner Ly¬ 
rik, reinem Drama lyrische und drama¬ 
tische Epik, epische und dramatische 
Lyrik, episches und lyrisches Drama. 
Das andere Mal steht neben reiner Dich¬ 
tung die musikalische Poesie. Genau so 
bieten Wölfflins Kategorien neben rei¬ 
ner, d.h. malerischer Malerei, und neben 
reiner, d. h. tektonischer Baukunst noch 
tektonische Malerei und malerische Bau¬ 
kunst Das Gefährliche solcher Begriffs¬ 
bildung kam oben zur Geltung. Es 


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O. Walzel, Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe 


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erschwert, gleichwertige, künstlerisch 
ebenbürtige Gegensätze zu bezeichnen. 

Der Gefahr entgeht, wer die Eintei¬ 
lungsgründe aus einer anderen Kunst 
holt. Die Scheidung musikalischer und 
plastischer oder plastischer und pitto¬ 
reske!* Poesie führt zu durchaus gleich¬ 
wertigen Begriffen. Allerdings sind 
auch diese Gegenüberstellungen längst 
im Brauch. 

Schiller gab seiner Gegenüberstellung 
musikalischer und plastischer Dichtung 
die volle Schärfe genauer Begriffsbil¬ 
dung. Bildend oder plastisch nennt er 
eine Dichtkunst, die einen bestimmten 
Gegenstand nachahmt (man stoße sich 
nicht an dem Wort und ersetze es un¬ 
bedenklich durch: darstellt); musika¬ 
lisch war für ihn die Dichtkunst, die 
bloß einen bestimmten Zustand des Ge¬ 
müts hervorbringt, ohne dazu eines be¬ 
stimmten Gegenstandes nötig zu haben. 
Nicht bloß, was in der Poesie wirklich 
und dem Stoffe nach Musik ist, sondern 
alle Wirkungen, die von der Poesie 
wachgerufen werden, ohne daß die Ein¬ 
bildungskraft unter der Herrschaft eines 
bestimmten Gegenstandes wäre, nannte 
Schiller musikalisch. Wesentlich anders 
ist das gedacht als die oben durch¬ 
geführte bloße Trennung des Musikali¬ 
schen und Nichtmusikalischen innerhalb 
der Dichtkunst. 

Wilhelm Schlegel stützte seine Ent- 
gegenstellung von Plastisch und Pitto¬ 
resk ausdrücklich auf die Beobachtung 
des Lieblings der Romantiker, des Hol¬ 
länders Franz Hemsterhuis: die neue¬ 
ren Bildhauer seien zu sehr Maler, die 
alten Maler zu sehr Bi Idhauer. Antike und 
moderne bildende Kunst treten da zu¬ 
einander in Gegensatz. Wilhelm Schle¬ 
gel führt den Gedanken weiter. Den 
Alten ist in allen ihren Kunstwerken die 
Reinheit und Strenge der Absonderung, 
die Einfachheit, die Beschränkung auf 


das Wesentliche, die Isolierung, das Ver¬ 
zichtleisten auf materielle Reize eigen, 
durchaus Züge, die im Wesen der Pla¬ 
stik liegen. Die Neueren suchen wie die 
Malerei den Schein, die lebendige Ge¬ 
genwart und begleiten den Hauptgegen¬ 
stand ihrer Darstellung mit Ausblicken 
ins Unendliche. Schon diese Ausführun¬ 
gen der Berliner Vorlesungen Schlegels 
vom Winter 1801/02 tragen die Anti¬ 
these des Hemsterhuis aus der Welt der 
bildenden Künste hinaus in die gesamte 
Weite aller Kunstbetrachtung, wenden 
sie mithin auch auf Dichtkunst an. Noch 
unzweideutiger bekunden das die Wie¬ 
ner Vorlesungen von 1808. Sie erklären 
bündig: der Geist der gesamten antiken 
Kunst und Poesie ist plastisch, der 
Geist der modernen pittoresk. 

Beidemal deutet Schlegel auch an, 
Rhythmus und Melodie seien der herr¬ 
schende Grundsatz der antiken, Harmo¬ 
nie der Grundsatz der modernen Musik, 
Aber er macht nicht Ernst mit dem Ver¬ 
such, die alte Kunst und Poesie als 
rhythmisch-melodisch, die neuere als 
harmonisch zu bezeichnen. Immerhin 
eröffnet sich da eine Möglichkeit, neben 
die Gegensatzpaare von Schiller und 
von Hemsterhuis-Schlegel noch ein drit¬ 
tes zu setzen und es im Sinn Wölfflins* 
für die Darstellungsmöglichkeiten der 
Dichtkunst zu verwerten. Auch dieses 
dritte Paar, das aus der Musik stammt, 
erlaubt gleichwertige Begriffe zu bil¬ 
den. Rhythmisch-melodische Dichtung 
stellt sich ebenbürtig neben harmonische. 

Wichtiger ist mir, daß zwar nicht 
Schillers Begriffspaar, wohl aber das 
von Schlegel überhaupt genau zusam¬ 
mentrifft mit Wölfflins Paar des Li¬ 
near-Tektonischen und Malerisch-Atek- 
tonischen. Schlegels und Wölfflins Be¬ 
griffe stammen aus der Betrachtung: 
und aus der Fachsprache der bildenden 
Kunst. Wölfflin wendet sein Paar nur 


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0. Walzei, Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe 


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auf bildende Kunst an, Schlegel auch 
auf Dichtkunst. Der Romantiker ist mit¬ 
hin Gewährsmann für jeden, der heute 
wagt, Wölfflins Begriffe aus der bilden¬ 
den Kunst in die Dichtkunst zu über¬ 
tragen. Welche Vorteile sich ergeben, 
wenn an eine Kunst Begriffe gewendet 
werden, die aus einer anderen stam¬ 
men dürfte nachgerade klargestellt sein. 

Brauche ich noch hinzuzufügen, daß 
Wölfflin die Scheidung des Pittoresken 
und Plastischen ganz ungemein verfei¬ 
nert und verschärft? Daß er an die 
Stelle einer gelegentlichen, aber nichts 
-weniger als folgerichtig durchgeführten 
Beobachtung strenge Systematik und 
umfassende Anwendung des Systems 
setzt? 

Schillers Zweiteilung ergänzt indes 
nicht nur Schlegels, auch Wölfflins Ka¬ 
tegorien, und zwar gerade an der Stelle, 
die sich oben als ergänzungsbedürftig 
erwies. Klopstock ist nach Schiller der 
ausgesprochenste Vertreter der musika¬ 
lischen Poesie. Klopstock ist — mit 
Wölfflin zu sprechen — atektonisch, 
nimmt Unklarheit für sich in Anspruch 
wie ein gutes Recht und verzichtet von 
Grund aus auf die Fülle der Einzelhei¬ 
ten des antiken Epos, um alles zu einer 
Einheit im Sinn Wölfflins zusammen¬ 
zudrängen. Von entscheidender Wich¬ 
tigkeit ist, wie sich in ihm die bezeich¬ 
nenden Züge fast der ganzen einen Ty¬ 
penreihe Wölfflins zusammenfinden. 
Aber er ist weder linear noch malerisch 
in einem strengeren Sinn des Worts. 
Ihm liegt Vergegenwärtigung des Ge¬ 
genständlichen überhaupt nicht Ganz 
anders verhält sich Shakespeare, der ja 
meines Erachtens gleichfalls der atek- 
tonischen Richtung angehört. Da hilft 
Schiller weiter. Klopstock und Shake¬ 
speare stehen sich wie musikalische 
und plastische Poesie gegenüber. Und 
zwar in eigentlicher Bedeutung des 


Worts. Schlegels Antithese des Plasti¬ 
schen und Pittoresken könnte auf den 
Gegensatz von Shakespeare und Klop¬ 
stock kaum anders als im Sinn eines 
Stimmungsvergleichs angewendet wer¬ 
den. An die tatsächlichen Darstellungs- 
gegensätze beider Dichter reicht das 
Begriffspaar Schlegels nicht heran. 

Ich möchte nicht weitergehen und 
aus dieser raschen Musterung ästheti¬ 
scher Begriffe gleich eine Ergänzung 
Wölfflins ableiten. Mir genügt es vor¬ 
läufig. den Weg anzudeuten, der auf 
dem Feld der Dichtung mit Wölfflins 
Fingerzeigen über Wölfflin hinausführt 
Durchaus sei die Möglichkeit zugege¬ 
ben, daß die Dichtkunst noch andere 
Typen umfaßt die mit Wölfflins Typen 
verwandt sind, aber für die bildende 
Kunst nicht in Betracht kommen. Fritz 
Strichs Beitrag zu der Festschrift für 
Franz Muncker, die vor kurzem unter 
der Überschrift „Abhandlungen zur deut¬ 
schen Literaturgeschichte“ hervortrat, 
arbeitet mit Schlegels Typenpaaren und 
bewegt sich dabei gleichfalls auf der 
Bahn weiter, die von Wölfflin eröffnet 
wird. Ob Wölfflin selbst durch diese 
Weiterführungen sich gefördert fühlt, 
mag dahinstehen. Niemand wird ihm 
zumuten, daß er seine Typenpaare er¬ 
gänzen soll aus den Weiterbildungen, 
die sich innerhalb der Dichtkunst seinen 
Nachfolgern ergeben. Wir können nicht 
besser ihm nachstreben, als wenn wir 
gleich ihm die wahren Darstellungsmit¬ 
tel einer Kunst zu finden suchen. Glückt 
es indes wirklich, die Darstellungsmit¬ 
tel der Dichtkunst näher zu bestimmen, 
als es bisher der Fall war, so ist damit 
noch gar nichts geleistet für die Erwei¬ 
terung unserer Kenntnis der Darstel¬ 
lungsmittel bildender Kunst; sie sind 
von Wölfflin in unvergleichlich er¬ 
schöpfender Weise erforscht worden. 


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725 


J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie? 


726 


Der Wunsch, den bei der ersten und 
vorläufigen Auseinandersetzung seiner 
Typenlehre in einem Vortrag vom 7. De¬ 
zember 1911 Wölfflin der Berliner Aka¬ 
demie vorlegte, wird freilich zunächst 
sich noch nicht erfüllen lassen. Die pe¬ 
riodische Wiederholung der Entwick¬ 
lung, die er an der bildenden Kunst 
aufgezeigt hatte, wollte er damals auch 
an der Musik und an der literarischen 
Auffassung der Welt dargetan sehen. 
Ich glaube, so weit sind wir noch lange 
nicht. Um so nötiger scheint mir, nicht 
bloß seine Typensystematik auf die 
Dichtkunst anzuwenden, sondern vor 
allem von ihm zu lernen, wie Typen bei 
der Betrachtung einer längeren Reihe 
von Kunstwerken zu nutzen sind. Schil¬ 
lers und Schlegels Gegensatzpaare sind 
schon recht alt. Doch noch hat keiner 
versucht, die Darstellungsmöglichkei¬ 
ten, die sich aus diesen Gegensätzen 
für den Dichter ergeben, festzulegen 


und ihre Bedeutung an einer Gruppe 
oder an mehreren Gruppen von Dich¬ 
tungen zu prüfen. Auf dem Gebiet der 
bildenden Kunst ist nach dieser Rich¬ 
tung Wölfflin zuerst über Schlegels 
Antithese hinausgegangen. Jetzt stellt 
sich die Aufgabe, nach Wölfflins Vor¬ 
bild Gleiches und Verwandtes für die 
Dichtkunst zu leisten. Und wenn mei¬ 
nes Erachtens weitergreifende entwick¬ 
lungsgeschichtliche Erwägungen dabei 
vorläufig noch unterlassen werden sol¬ 
len, so wäre desto dringender zu wün¬ 
schen, daß der künftige Darsteller dich¬ 
tungsgeschichtlicher Grundbegriffe eine 
ebenso geschlossene Reihe von Beispie¬ 
len, einen ebenso entscheidenden und 
erhellenden Fall zur Voraussetzung und 
zum Gebiet seiner Erkundungen mache, 
wie es auf dem Feld der bildenden 
Kunst durch den Gegensatz von Hoch¬ 
renaissance und Barock ermöglicht wird. 


Gibt es eine nationale Philosophie? 

Von J. Benrubi. 


Fast gleichzeitig sind während des 
Krieges zwei Schriften erschienen, die 
für das gegenwärtige Zeitalter in hohem 
Grade charakteristisch sind, und zwar 
namentlich deshalb, weil sie aus der 
Feder von hervorragenden Vertretern 
des Geisteslebens der Kriegführenden 
herrühren; ich meine W. Wu n d t s „Die 
Nationen und ihre Philosophie“ (Leip¬ 
zig 1915, Kröner) und H. Bergsons 
„La Philosophie frangaise“ (Paris 1915, 
Larousse). Obgleich beide Schriften ein 
patriotisches Ziel verfolgen, so kämpfen 
die Verfasser darin für Überzeugungen, 
die sie auch vor dem Kriege vertreten 
haben, so daß wir etwas mehr als bloß 
vorübergehende Dokumente des „Burg¬ 
friedens“ oder der „union sacrfee“ er¬ 


blicken dürfen. Es sei uns zunächst ge¬ 
stattet, die Grundtendenzen und -thesen 
beider Schriften kurz zu charakteri¬ 
sieren. 

I. 

Wundt geht von der Annahme aus, 
daß allerdings in den Einzelwissen¬ 
schaften der rege Verkehr zwischen den 
Nationen die Unterschiede in den Hin¬ 
tergrund dränge, neben der Dichtung 
aber als Ausdruck des geistigen Cha¬ 
rakters der Nationen in erster Linie die 
Philosophie stehe, ja daß auf dem Ge¬ 
biete der Philosophie zwischen den Kul¬ 
turvölkern ein Kampf der Geister ge¬ 
führt werde, im stillen zwar, aber des¬ 
halb doch zuweilen mit nicht geringe¬ 
rer Erbitterung wie der Kampf derWaf- 


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J. Benrubi, Gibt es eine nationale,Philosophie? 


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fen, so daß Fichtes Wort: „Die Philo¬ 
sophie, die man hat, zeigt, was für ein 
Mensch man ist,“ sich vor allem auch 
auf die Nationen anwenden lasse. Um 
diese Überzeugung durchzuführen, cha¬ 
rakterisiert Wundt vier nationale Typen 
der Philosophie der Neuzeit: den italie¬ 
nischen, den französischen, den engli¬ 
schen und den deutschen. Beschranken 
wir uns auf die Betrachtung der drei 
letzten Typen. 

Descartes, sofern er Dogmatiker 
und Skeptiker zugleich ist, ist nach 
Wundt der vollendete Typus des fran¬ 
zösischen Geistes. Descartes’ Philo¬ 
sophie ist eine merkwürdige Mischung 
kühner, von dem Geiste der neuen Na¬ 
turwissenschaft getragener Hypothesen 
mit Entlehnungen aus der älteren, kirch¬ 
lichen Philosophie. Als Klassiker der 
Philosophie kann Descartes uns heute 
nur noch insofern gelten, als er die Pro¬ 
bleme, die die folgende Zeit bewegen, 
gestellt, nicht weil er sie gelöst hat 
Als andere sprechende Beispiele für das 
Schwanken zwischen Dogma und Skep¬ 
sis führt Wundt an: Bayle, Voltaire und 
Diderot Männer wie Pascal und Male¬ 
branche übergeht er mit völligem Still¬ 
schweigen. Dagegen behandelt Wundt 
in diesem Abschnitte einen Denker wie 
Spinoza, obgleich er zugibt, daß der 
portugiesische Jude von Amsterdam 
keiner Nation und allen zugleich ange¬ 
hört und daß das spinozistische System 
keine bloße Weiterbildung der cartesia- 
nischen Philosophie ist sondern ein 
Werk aus einem Gusse, ganz aus der 
schöpferischen Genialität seines Urhe¬ 
bers hervorgegangen, denn es ist zu¬ 
gleich die zu einem Ganzen verschmol¬ 
zene Synthese der großen Gedanken¬ 
strömungen der Zeit an der die Völker, 
die an dem Geistesleben dieser Zeit teil¬ 
nehmen, ihre Spuren erkennen lassen. 
Als die einzige nennenswerte Weiter¬ 


führung des Cartesianismus in Frank¬ 
reich erwähnt Wundt den französischen 
Materialismus des 18. Jahrhunderts, der 
außerdem zum Teil in dem englischen 
Freidenkertum wurzelt Ist Descartes 
also der erste der führenden Philoso¬ 
phen Frankreichs gewesen, so ist er 
aber im Grunde auch der letzte geblie¬ 
ben, meint Wundt Was Comte anlangt 
so kann er nicht in Betracht kommen. 
Seine Hauptgedanken hat er älteren so¬ 
ziologischen Schriftstellern, einem Tur- 
got d’Alembert, Saint-Simon entnom¬ 
men. Wo schließlich in neuerer Zeit 
in Frankreich Versuche philosophischer 
Gedankenbildung hervorgetreten sind, 
da stützen sie sich entweder auf aus¬ 
wärtige Systeme, oder sie sind, beim 
Lichte besehen, moderne Umformungen 
des cartesianischen Dualismus. So z. B. 
Bergson, bei dem Entlehnungen aus der 
deutschen Philosophie nachweisbar sind. 
Was die Moral von Männern wie Fouil- 
16e und Guyau anlangt die Wundt als 
die beiden bedeutendsten Philosophen 
Frankreichs aus der jüngsten Zeit be¬ 
zeichnet, so kann auch hier von einem 
echten Idealismus nicht die Rede sein, 
da namentlich für Guyau die mensch¬ 
liche Gemeinschaft nur aus der Summe 
der einzelnen besteht 
Ein viel einheitlicheres Bild entwirft 
Wundt von der englischen Philoso¬ 
phie. Locke ist nach ihm einer der grö߬ 
ten philosophischen Klassiker Englands. 
Bacon und Hobbes, Berkeley und Hume 
überragen ihn weit an genialer Intuition 
und eindringendem Scharfsinn, keiner 
ist wie er der vollendete Typus des 
englischen Geistes in der Eigenart wie 
sie zum Teil erst in dem Zeitalter, dem 
er angehört sich gestaltet hat und 
keiner hat wie er auf das englische 
Denken der kommenden Zeit gewirkt 
Theoretisch ein auf die sinnliche Erfah¬ 
rung gegründeter Realismus, praktisch 


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ein durch den Egoismus geleiteter Utili¬ 
tarismus, daneben, außerhalb der Philo¬ 
sophie liegend, aber zur Befriedigung 
der Glaubensbedürfnisse unentbehrlich, 
die durch die Heilige Schrift vermittelte 
Offenbarung — darin ist vor andern 
John Locke ein treuer Ausdruck des 
englischen Geistes. Andererseits kann 
aber Wundt nicht umhin, Männern wie 
Berkeley, Hume, Shaftesbury und J. St. 
Mill eine gewisse Ausnahmestellung 
innerhalb des englischen Denkens zuzu¬ 
weisen. So gilt Berkeley die psychische, 
die innere Erfahrung als die allein wirk¬ 
liche, und seine Philosophie widerstrebte 
durch den Idealismus, in den sie einmün¬ 
det, und durch den Versuch, Philosophie 
und Religion zu verbinden, der allgemei¬ 
nen Richtung des englischen Denkens. 
Ferner ist Hume unabhängig sowohl von 
der Tradition des englischen dogmati¬ 
schen Empirismus als auch von dem 
konventionell gewordenen Verhältnis 
zur Religion. Dieser Abweichung von 
der allgemeinen englischen Art ist vor 
allem der Einfluß zu verdanken, den 
Hume auf die anderen Nationen, na¬ 
mentlich auf die deutsche, ausgeübt hat 
Shaftesbury, bemerkt Wundt, ist der 
erste gewesen, der sich aus den Banden 
der Reflexionsmoral und des mit dieser 
eng verbundenen äußerlichen Utilitaris¬ 
mus befreite, um auf das harmonische 
Gleichgewicht egoistischer und sozialer 
Gefühle im Gemüt des sittlichen Men¬ 
schen seine Ethik zu gründen. John 
Stuart Mill, der weitherzigste unter den 
Schülern Benthams, nimmt nach Wundt 
insofern eine Ausnahmestellung inner¬ 
halb der englischen Philosophie ein, als 
er das Utilitätsprinzip durch den Altru¬ 
ismus Comtes und dessen Ableitung aus 
dem Sympathiegefühl nach dem Vor- 
bilde Humes zu ergänzen gesucht hat. 
Aber trotz dieser Ausnahmen kann die 
englische Philosophie namentlich mit 


Rücksicht auf die Moral im großen und 
ganzen als die Philosophie derGesättig- 
ten bezeichnet werden. Als die letzte 
Entwicklungsphase der englischen Mo¬ 
ral bezeichnet Wundt den utilitarischen 
Egoismus, wie er vornehmlich in der 
Ethik H. Spencers zum Ausdruck 
kommt. 

Die deutsche Philosophie unter¬ 
scheidet sich nach Wundt von Grund 
aus sowohl von der französischen als 
auch von der englischen Philosophie. 
Oberhaupt ist ihm der Begriff deutsche 
Philosophie identisch mit „deutschem 
Idealismus". Da nämlich die Entwick¬ 
lung der deutschen Philosophie in 
engem Anschluß an die deutsche Refor¬ 
mation erfolgt so ist es begreiflich, daß 
in ihr von frühe an die religiösen und 
die mit ihnen eng verbundenen meta¬ 
physischen Probleme im Vordergrund 
stehen, und daß von da aus ein uni¬ 
versalistischer Zug der deutschen 
Philosophie eigen geblieben ist Der 
vollendetste Repräsentant dieser typi¬ 
schen Richtung des deutschen Geistes 
ist Leibniz. Die Tatsache, daß Leibniz 
vom deutschen und englischen Geistes¬ 
leben stark beeinflußt worden ist daß 
er seine wichtigsten Werke französisch 
geschrieben hat und daß seine Inter¬ 
essen, trotz seinem Patriotismus, über 
die Nation hinausgingen, darf uns nicht 
verführen, ihn auch dem Geiste nach 
für einen internationalen Philosophen 
zu halten. Die „Monadologie", fügt 
Wundt hinzu, ist eine echt deutsche 
Schöpfung, in der sich die strenge Lo¬ 
gik des Gedankenaufbaus mit einem Zug 
alter deutscher Mystik zu einem harmo- 
schen System verbindet; und die in den 
„Nouveaux Essais" geführte Polemik 
mit Locke bildet in ihrer dialogischen 
Form ein so lebendiges Bild der natio¬ 
nalen Gegensätze des Denkens, wie es 
die Folgezeit nicht wieder hervorge- 


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bracht hat Obgleich Leibniz franzö¬ 
sisch geschrieben hat ist daher gerade 
der Gedankeninhalt seiner Philosophie 
den Franzosen fremd geblieben. In¬ 
dessen muß Wundt zugeben, daß auch 
in Deutschland die Wirkung Leibnizens 
auf die Folgezeit zunächst eine be¬ 
schränkte und einseitige war, und daß 
die deutsche Aufklärung, die wesentlich 
vom Cartesianismus und von dem eng¬ 
lischen Empirismus beeinflußt wurde, 
kein Verständnis für die Leibnizische 
Philosophie besaß. Die eigentlich natio¬ 
nale Entwicklung der Philosophie be¬ 
ginnt erst mit Kant Gewiß leugnet 
Wundt nicht den Einfluß, den Männer 
wie Rousseau und Hume auf Kant aus- 
geübt haben. Aber hier tritt nun die be¬ 
deutsame Wendung ein, daß die Kritik, 
die Hume gegen die alte dogmatische 
Philosophie gerichtet, bei Kant zugleich 
eine Gegenkritik herausfordert welche 
die empirisch-psychologische Stellung, 
die Hume den Problemen der Erkennt¬ 
nis wie der Moral gegenüber einnimmt, 
als unzulänglich nachweist Am kräftig¬ 
sten kommt der nationale Charakter der 
deutschen Philosophie in der Ethik zum 
Ausdruck, da hier die Idee der Pflicht 
im Vordergrund steht. So liegt die Be¬ 
deutung der Kantischen Ethik in der 
Loslösung der Moral von der Reflexion 
über nützlich und schädlich und damit 
von jeder Art von Eudämonismus. Den 
Gedanken einer die einzelne Persönlich¬ 
keit als letztes Glied umfassenden sitt¬ 
lichen Welt zur Geltung gebracht und 
damit die von Kant geforderte, aber bei 
ihm subjektiv beschränkte Autonomie 
des Sittlichen durchgeführt zu haben, 
ist das Verdienst des nachkantischen 
deutschen Idealismus. Indem anderer¬ 
seits dieser Idealismus den Allgemein¬ 
willen Kants in seiner wahren Bedeu¬ 
tung und in seinem Unterschied von 
dem Einzelwillen erkannt hat, hat er 


der Gemeinschaftsethik, die für Wundt 
die wahre Ethik ist, eine unerschütter¬ 
liche Grundlage gegeben. Einen Mann 
wie Fichte würdigt Wundt vor allem 
als den Vertreter nationaler Denkart. 
Die „Wissenschaftslehre“, meint er, wird 
längst vergessen sein oder doch nur als 
eine überlebte Gedankenkonstruktion 
von der Geschichte der Philosophie 
weitergeführt werden. „Die Bestimmung 
des Menschen“, die „Grundzüge des 
gegenwärtigen Zeitalters“ und die „Re¬ 
den an die deutsche Nation“ aber wer¬ 
den fortbestehen, solange es ein deut¬ 
sches Volk gibt. Als den grundlegen¬ 
den Gedanken der Hegelschen Philoso¬ 
phie betrachtet Wundt, neben der Vor¬ 
aussetzung einer strengen, den Tat¬ 
sachen selbst immanenten Gesetzmäßig¬ 
keit der geistigen Welt, die Erkenntnis, 
daß der Wille der Knotenpunkt ist, der 
das geistige Leben der individuellen 
Persönlichkeit mit dem des geistigen 
Universums verbindet Was den von 
Hegel ausgegangenen deutschen „Mate¬ 
rialismus“ anlangt wie er von L. Feuer¬ 
bach, Büchner und Moleschott vertreten 
wurde, so läßt sich allerdings nicht 
leugnen, daß er das Seine tat, um dem 
deutschen Idealismus den Untergang zu 
bereiten; aber im Grunde, meint Wundt, 
sind auch die deutschen Materialisten 
in hohem Grade praktische Idealisten, 
namentlich die Monisten mit Hackel an 
der Spitze. Auch Schopenhauer ist für 
Wundt insofern ein Vertreter des deut¬ 
schen Idealismus, als er im Leben wie 
in der Moral energisch den landläufigen 
Eudämonismus und Utilitarismus be¬ 
kämpft hat Ungefähr dasselbe gilt von 
Nietzsche, der dadurch, daß er den vul¬ 
gären Eudämonismus energisch be¬ 
kämpfte, vielleicht ohne es selbst za 
wissen, den deutschen Idealismus seiner 
Wiedergeburt entgegengeführt hat In 
Wirklichkeit sei dann mit dem Ausbruch 


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des Krieges der deutsche Idealismus 
wiedererstanden, auch bei solchen, denen 
er in einer langen Friedenszeit verloren¬ 
gegangen war. Er regt sich als der 
Idealismus der Tat in der Seele des ge¬ 
meinen Mannes, der nichts von Philoso¬ 
phie weiß, wie in der des Gebildeten, 
der sich vielleicht in allen Systemen 
umgesehen und von keinem befriedigt 
gefunden hat. 

II. 

Die patriotische Tendenz kommt auch 
in der Abhandlung Bergsons mit 
großer Deutlichkeit zum Ausdruck. Berg¬ 
sons Absicht ist nicht etwa, die Über¬ 
legenheit der von ihm bevorzugten phi¬ 
losophischen Anschauungen hervortre¬ 
ten zu lassen. Vielmehr will er nach- 
weisen, daß es eine französische Philo¬ 
sophie gibt, die sich von derjenigen 
aller anderen Völker wesentlich unter¬ 
scheidet. Die Rolle Frankreichs in der 
Entwicklung der modernen Philosophie 
ist nach Bergson völlig klar: Frank¬ 
reich ist der große Bahnbrecher gewe¬ 
sen. Allerdings sind auch anderswo ge¬ 
niale Philosophen aufgetaucht, nirgends 
aber hat es, wie in Frankreich, ununter¬ 
brochene Kontinuität ursprünglicher 
philosophischerSchöpfung gegeben. Die 
ganze moderne Philosophie rührt nach 
Bergson von Descartes her, der Carte¬ 
sianismus aber verdankt nichts Wesent¬ 
liches dem Altertum und dem Mittel- 
alter. Bergson zögert daher nicht, von 
der Philosophie des Descartes dasselbe 
zu sagen, was der Mathematiker und 
Naturforscher Biot von dessen Geome¬ 
trie gesagt hat: „Prolos sine matre cre- 
ata.“ Was die beiden großen metaphy¬ 
sischen Lehren anlangt, die im 17. Jahr¬ 
hundert außerhalb Frankreichs entstan¬ 
den sind, der Spinozismus und der 
Leibnizianismus, so bezeichnet sie Berg¬ 
son, ohne Spinoza und Leibniz jede Ori¬ 
ginalität abzusprechen, als Kombinatio¬ 


nen des Cartesianismus mit der griechi¬ 
schen Philosophie. Aber nicht nur der 
Rationalismus, sondern auch der Intui¬ 
tionismus hat in Frankreich seinen Ur¬ 
sprung: Pascal und Rousseau sind die 
Bahnbrecher dieser zweiten großen Fun¬ 
damentaltendenz der Neuzeit. Nament¬ 
lich ist die Reform, die Rousseau auf 
dem Gebiete des praktischen Denkens, 
bewirkt hat, mit der Reform des Descar¬ 
tes auf dem Gebiete der reinen Speku¬ 
lation vergleichbar. Ferner ist Lamarck 
der eigentliche Schöpfer des modernen 
biologischen Evolutionismus, genau so,, 
wie La Mettrie, Condillac usw. die 
Bahnbrecher der heutigen physiologi¬ 
schen Psychologie sind. Namentlich 
ist die „klinische“ Psychologie, sowohl 
ihrem Ursprünge als auch ihrer Ent¬ 
wicklung nach, eine durch und durch 
französische Wissenschaft. Vorbereitet 
wurde sie durch die französischen Psy¬ 
chiater der ersten Hälfte des 19. Jahr¬ 
hunderts und endgültig begründet 
durch Moreau de Tours. Comte und 
Claude Bemard sind nach Bergson in¬ 
sofern die großen Bahnbrecher der Phi¬ 
losophie des 19. Jahrhunderts, als der 
erste die Soziologie geschaffen hat, 
während die „Introduction ä la möde- 
dne expörimentale“ des zweiten für die- 
konkreten Wissenschaften des Labora¬ 
toriums dieselbe Bedeutung gehabt hat, 
wie der „Discours de la möthode“ von 
Descartes für die abstrakten Wissen¬ 
schaften. Einer der größten Nachfolger 
Comtes, H. Tajne, war der erste, der die 
Methode der Naturwissenschaften auf 
die verschiedenen Formen der geistigen 
menschlichen Tätigkeit, also auf Litera¬ 
tur, Kunst und Geschichte, angewandt 
hat. Anfang des 19. Jahrhunderts hat 
ferner Frankreich den größten Metaphy¬ 
siker seit Descartes und Malebranche 
hervorgebracht: Maine de Biran. Im 
Gegensatz zu Kant, meint Bergson, hat 


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Biran gezeigt, daß die Erkenntnis, die 
wir von uns selbst namentlich in dem 
Geffihl der Anstrengung haben, eine Er¬ 
kenntnis höherer Art ist, die über die 
bloße Erscheinung hinausgeht und die 
Wirklichkeit „an sich" erfaßt. Auch 
Lachelier, der sich selbst als Schüler 
der deutschen Philosophie betrachtet, 
geht in Wirklichkeit, meint Bergson, 
über den Idealismus Kants hinaus, da 
er einen Idealismus eigentümlicher Art 
begründet, den man als die Fortsetzung 
des Biranschen bezeichnen könnte. Sei¬ 
nen Lehrer Ravaisson bezeichnet Berg¬ 
son als einen gemeinsamen Schüler Pas- 
cals und Birans und nebst Lachelier als 
den hervorragendsten Vertreter der me¬ 
taphysischen Richtung der französischen 
Philosophie des 19. Jahrhunderts. Audi 
bei Renouvier kann nach Bergson von 
einem entscheidenden Einflüsse der 
deutschen Philosophie nicht die Rede 
sein; denn obgleich er vom Kantischen 
Kritizismus ausgegangen ist, hat er sich 
immer mehr davon befreit und kam 
schließlich zu Resultaten, die nicht sehr 
entfeint vom metaphysischen Dogmatis¬ 
mus sind. Als einen anderen wichtigen 
Aspekt der französischen Philosophie 
des 19. Jahrhunderts charakterisiert 
Bergson die Lehre der Kontingenz von 
Boutroux. Endlich bezeichnet Bergson 
sein eigenes Schaffen als einen Versuch, 
die Metaphysik auf den Boden der Er¬ 
fahrung zu stellen, also mit Hilfe der 
Wissenschaft und des Bewußtseins und 
durch die Entwicklung des Intuitions¬ 
vermögens eine Philosophie zu begrün¬ 
den, die sich nicht damit begnügt, bloße 
allgemeine Theorien zu konstruieren, 
sondern vielmehr konkrete Erklärungen 
der einzelnen Tatsachen zu liefern. Zum 
Schlüsse geht Bergson einen Schritt wei¬ 
ter und versucht, die Überlegenheit der 
französischen Philosophie hervortreten 
zu lassen. Da sie nämlich stets bestrebt 


war, in der Sprache aller Welt zu reden, 
so ist sie nie das Privilegium einer Kaste 
gewesen. Sie hat nie den Kontakt mit 
dem gesunden Menschenverstand ver¬ 
loren. Die streng systematische Form 
ist ihr im Prinzip fremd. Ferner ist sie 
stets in Berührung sowohl mit der posi¬ 
tiven Wissenschaft als auch mit dem 
Leben geblieben. Sie ist kein Produkt 
künstlicher Abstraktionen. Das philoso¬ 
phische Bedürfnis ist in Frankreich all¬ 
gemein, es sucht alle Diskussion auf das 
Gebiet der Ideen und Prinzipien zu brin¬ 
gen. Kurz, der französische Geist ist iden¬ 
tisch mit dem philosophischen Geiste. 

III. 

Überblicken wir unvoreingenommen 
die obigen Charakteristiken, so werden 
wir konstatieren müssen, daß sowohl 
Wundt als auch Bergson das nationale 
Moment zum höchsten Moment der Klas¬ 
sifizierung erheben und mithin zwischen 
den Philosophen verschiedener Nationa¬ 
lität wirkliche chinesische Mauern kon¬ 
struieren. Die Tatsache, daß das, was 
für Wundt weiß ist, Bergson als schwarz 
bezeichnet, und umgekehrt, berechtigt 
uns, glaube ich, in der Nationalisierung 
der Philosophie eine Vergewaltigung 
der Wirklichkeit zu erblicken. Gewiß, 
niemand wird leugnen können, daß das 
nationale Moment auch auf dem Gebiete 
der Philosophie eine wichtige Rolle ge¬ 
spielt hat. Das Schaffen eines Denkers 
wurzelt tief im Bewußtsein seines Vol¬ 
kes und seiner Zeit. Ein Descartes ist 
undenkbar im Deutschland des 18. Jahr¬ 
hunderts, ebenso wie ein Kant im Frank¬ 
reich des 17. Jahrhunderts. Aber das 
Nationale ist eben nur ein Merkmal, 
unmöglich kann es uns den Schlüssel 
des philosophischen Schaffens geben. 
Die Wahrheit ist weder deutsch, noch 
englisch, noch französisch usw., son¬ 
dern übernational, Gott ist ihre Heimat. 


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Höchstens kann man im griechischen 
Altertum von einer nationalen Philoso¬ 
phie sprechen* und selbst das würde 
nur mit vielen Einschränkungen gelten: 
niemand wird z.B. leugnen können* daß 
bei dem Entwicklungsgang eines Plato 
nichtgriechische Einflüsse mitbestim¬ 
mend gewesen sind. Völlig falsch wäre 
os dagegen» im Mittelalter von einer na¬ 
tionalen Philosophie zu reden: nicht 
umsonst bezeichnet man eine Periode 
von so vielen Jahrhunderten mit dem 
Namen „Philosophie des Mittelalters", 
indem man sich nur mit religiösen Ein¬ 
teilungen begnügt Was die Neuzeit an¬ 
langt so wird man allerdings zugeben 
müssen, daß die nationalen Unterschiede 
auf sämtlichen Gebieten der Kultur stär¬ 
ker als im Mittelalter zum Ausdruck 
kommen. Aber das berechtigt uns nicht 
im mindesten, die großen Denker der 
Neuzeit lediglich mit Rücksicht auf ihre 
Volks- und Staatsangehörigkeit durch 
eine unüberbrückbare Kluft voneinander 
zu trennen. Was Wundt von Spinoza 
sagt l&ßt sich auf alle großen Denker 
der Neuzeit anwenden: ihr Schaffen ge¬ 
hört keiner Nation und allen zugleich 
an. Mehr oder weniger sind sie alle 
von geistigen Strömungen verschiede¬ 
ner Zeiten und Völker beeinflußt so 
daß manchmal zwischen zwei Denkern 
verschiedener Nationalität eine viel grö¬ 
ßere innere Verwandtschaft besteht als 
zwischen zwei Denkern derselben Na¬ 
tion. Es sei uns gestattet diese Bemer¬ 
kungen im folgenden durch einige kon¬ 
krete Beispiele zu veranschaulichen. 

So ist zunächst Tatsache, daß die drei 
Deutschen, die Wundt als die Träger 
der Ideen bezeichnet die der neuen 
Weltanschauung in allen Wendungen, 
die sie erfuhr, ihr bleibendes Gepräge 
gegeben haben: Nikolaus von Cues, 
Nik. Kopernicusund Paracelsus, 
in ihrer geistigen Entwicklung in hohem 

Internationale Monatsschrift 

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Grade von der Kultur des Auslandes 
beeinflußt worden sind. Nikolaus von 
Cues hat in Padua studiert und er 
knüpft bewußt, außer an die deutsche 
Mystik, an den Platonismus, den Pytha- 
goreismus und den Neoplatonismus an. 
Auch Paracelsus ist eine durch und 
durch europäische Gestalt Im Kanton 
Schwyz geboren, durchreiste er einen 
großen Teil von Europa, studierte nicht 
nur an deutschen Universitäten, sondern 
auch in Frankreich, Italien, England, 
Spanien usw„ so daß sein ganzes Den¬ 
ken von nichtdeutschen Elementen 
durchtränkt ist. Endlich Kopernicus ist 
polnischer Abstammung, er hat aus¬ 
schließlich an nichtdeutschen Universi¬ 
täten studiert (Krakau, Bologna, Padua 
und Ferrara), namentlich stark ist er 
von der italienischen Kultur beeinflußt. 

Und wie steht es mit der späteren 
Entwicklung der Philosophie in Deutsch¬ 
land? In bezug auf Leibniz wird gewiß 
niemand den wohltuenden Einfluß der 
deutschen Mystik und der deutschen 
Reformation leugnen können. Ebenso¬ 
wenig läßt sich der Patriotismus und 
die große Originalität Leibnizens in Ab¬ 
rede stellen. Aber andererseits wird 
man bemerken müssen, daß die Leib- 
nizsche Philosophie geradezu unver¬ 
ständlich ist ohne die Berücksichtigung 
des Einflusses von Plato, Aristoteles, 
dem Neoplatonismus und dem Carte¬ 
sianismus. Nicht minder sicher ist, daß 
Leibniz dem Verkehr mit den hervor¬ 
ragendsten Gelehrten in Paris und in 
London viel verdankt Wer weiß, ob er 
zur Entdeckung der Unendlichkeitsrech¬ 
nung nicht erst durch die Vervollkomm¬ 
nung der Analyse des Descartes, durch 
die Benutzung der Untersuchungen Pas- 
cals und der Anregungen von Männern 
wie Huyghens, Newton, Arnaud u. a. 
gekommen ist? Auch bei Kant ist der 
Einfluß des Geisteslebens des Auslands 

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in hohem Grade befruchtend gewesen. 
Wundt selber gibt das in bezug auf 
Hume und Rousseau zu. Nicht gering 
zu schätzen aber ist auch der Einfluß 
von Descartes, und man würde kaum 
fehlgehen, wenn man behaupten wollte, 
daß Kants Bestreben, in der Denktätig¬ 
keit die Grundbedingung aller Erkennt¬ 
nis zu suchen, direkt auf Descartes zu¬ 
rückzuführen ist Ebensowenig würde 
man in Abrede stellen können, was die 
anderen Vertreter des deutschen Idea¬ 
lismus nichtdeutscher Denkart sowohl 
des Altertums und des Mittelalters als 
auch der Neuzeit verdanken. Sind z. B. 
nicht die großen Gedankensysteme des 
nachkantischen Idealismus in Deutsch¬ 
land in hohem Grade bedingt durch den 
Einfluß des griechischen Altertums 
einerseits und des französischen Gei¬ 
steslebens des 18. Jahrhunderts anderer¬ 
seits? Ja; in gewissem Sinne ist die 
Fortbildung des Kantischen Idealismus 
vor allem diesem Einfluß zu verdanken. 
Ist z. B. nicht Hegel gleichsam der 
deutsche Aristoteles des 19. Jahrhun¬ 
derts? Und hat nicht Novalis den Ver¬ 
fasser der „Reden an die deutsche Na¬ 
tion" den deutschen Plotin genannt? 
Nicht mit Unrecht hat ein deutscher Phi¬ 
losophiehistoriker von anderem Gesichts¬ 
punkte aus Fichte als den deutschen 
Rousseau charakterisiert Es braucht 
ferner kaum hervorgehoben zu werden, 
daß Schopenhauer und Nietzsche nicht¬ 
deutschen geistigen Strömungen und 
namentlich der „lateinischen" Kultur der 
Neuzeit ungeheuer viel verdanken. Be¬ 
steht endlich nicht zwischen dem franzö¬ 
sischen Materialismus des 18. Jahrhun¬ 
derts und dem deutschen des 19. Jahr¬ 
hunderts eine viel größere innere Ver¬ 
wandtschaft, als etwa zwischen Kant 
und Häckel, oder zwischen Leibniz und 
Schopenhauer? 

Noch viel weniger berechtigt ist das 


Unternehmen, die sog. „f r a n z ö s i sehe“ 
Philosophie gleichsam unter eine 
Glasglocke zu stellen und sie von der 
Philosophie des Auslandes völlig abzu- 
schließen. Was zunächst Descartes an- 
belangt so wird man, ohne seine Ori¬ 
ginalität herabzusetzen und ohne den 
großen Einfluß zu leugnen, den er auf 
die ganze Philosophie der Neuzeit aus- 
geübt hat, bemerken müssen, daß er 
durch Vergleichung der verschiedenen 
Anschauungen und Sitten unter ver¬ 
schiedenen Nationen und Parteien kam 
und, außer von der Naturwissenschaft 
seiner Zeit, stark von der Philosophie 
des Altertums und des Mittelalters be¬ 
einflußt worden ist. Neuerdings hat 
dies ein Franzose gründlich und un¬ 
widerleglich nachgewiesen 1 ). Wir hal¬ 
ten es daher für überflüssig, darauf hier 
des näheren einzugehen. Ebensowenig 
brauchen wir zu erörtern, inwiefern der 
Entwicklungsgang des Cartesianismus 
in Frankreich bis zum Ende des 18. Jahr¬ 
hunderts durch fremde, namentlich eng¬ 
lische Einflüsse mitbestimmt worden ist 
Daß ein Mann wie Rousseau, den Berg- 
son als den einflußreichsten französi¬ 
schen Denker seit Descartes bezeichnet, 
kein Franzose, sondern Genfer ist und 
mithin befruchtende Anregungen vom 
germanischen, d. h. deutsch-schweize¬ 
rischen, englischen, ja deutschen Geiste 
empfangen hat, das sei hier nur er* 
wähnt Wir hoffen dies bei anderer 
Gelegenheit ausführlich nachzuweisen. 
Wohl aber können wir nicht umhin, 
hier noch den entscheidenden Einfluß, 
den die deutsche Philosophie auf d* e 
französische im 19. Jahrhundert ans¬ 
geübt hat kurz anzudeuten. 

Vor allem steht es fest daß Maine 
de Biran, also der Mann, den Bergson 

1) Gilson .La doctrine cartösienne de 
la libertö et la thöologie“ (1913) und .Index 
scolastico cartösien* (1912). 


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nicht mit Unrecht als den größten Me- 
taphysiker bezeichnet, den Frankreich 
seit Malebranche hervorgebracht hat, 
in dem Kampfe gegen den Cartesianis¬ 
mus und namentlich gegen den Sensua¬ 
lismus seines Landsmanns Condillac, 
die größte Förderung nicht so sehr 
vom französischen als vom deutschen 
Denken erhielt. Leibniz ist es, der ihm in 
dieser Hinsicht die besten Waffen gelie¬ 
fert hat Birans Werk ist in seinem inner¬ 
sten Kern nicht, wie Bergson bedauer¬ 
licherweise im Namen des Patriotismus 
behauptet, ein Antikantianismus, son¬ 
dern ein Antioondillacismus. Während 
Biran in seinen Hauptschriften in der 
schärfsten Weise gegen Condillac und 
Genossen polemisiert, spricht er über¬ 
all, von einigen kritischen Bemerkungen 
abgesehen, mit der größten Bewunde¬ 
rung von Leibniz. Es ist kennzeichnend, 
daß Biran über keinen Franzosen eine 
so enthusiastische WOrdigung veröffent¬ 
licht hat wie über Leibniz. Nicht minder 
bemerkenswert ist es, daß Biran von 
keinem Deutschen so energisch be¬ 
kämpft worden ist wie von Taine. Aber 
nicht nur von Leibniz ist Biran beein¬ 
flußt worden, sondern auch von Kant 
und Fichte, die er durch Frau v. Staöls 
Weih „De l’Allemagne“ kennen lernte. 
Namentlich ist er in seinem Unterneh¬ 
men, zwischen Moral und Metaphysik 
einen engen Zusammenhang herzustel¬ 
len, in hohem Grade durch die deutsche 
Philosophie ermutigt worden. Und nicht 
mit Unrecht hat Cousin später Biran als 
den französischen Fichte bezeichnet. 

Mit noch größerem Rechte wird man 
bezüglich der späteren Entwicklung der 
Philosophie in Frankreich von einem 
deutschen Einfluß sprechen dürfen, wo¬ 
neben natürlich der Einfluß der schot¬ 
tischen Philosophen nicht gering ge¬ 
schätzt zu werden braucht. So kann 
man bei A. M. Ampöre von einem Ein- 

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flusse der deutschen Philosophie inso¬ 
fern sprechen, als dieser hervorragende 
Gelehrte meint, daß es hinter den Er¬ 
scheinungen wirkliche Realitäten gibt, 
die er mit Kant als Noumenen bezeich¬ 
net. Sicher hat Ampöre, dank dem deut¬ 
schen Einfluss, viel zur Überwindung 
des Sensualismus beigetragen. Sehr viel 
verdankt namentlich der deutschen Phi¬ 
losophie der einflußreichste franzö¬ 
sische Philosoph des 19. Jahrhunderts, 
V. Cousin. Er hielt Vorlesungen über 
die deutsche Philosophie an der Sor¬ 
bonne, reiste viermal nach Deutschland 
und lernte hier die namhaftesten Philo¬ 
sophen persönlich kennen. Durch seine 
Vorlesungen über „Das Wahre, das 
Schöne und das Gute“, die von deut¬ 
scher Philosophie durchtränkt sind, hat 
er viel zur Wiedergeburt des Idealismus 
in Frankreich beigetragen. Jedenfalls 
hat seit Cousin die deutsche Philoso¬ 
phie in Frankreich Bürgerrecht erlangt. 
Von dem besonderen Einflüsse von He¬ 
gels Philosophie der Geschichte hat ein 
Franzose gesagt, daß seit 1829 in Frank¬ 
reich kein bedeutenderes Werk erschie¬ 
nen sei, das nicht die Spuren von 
dessen Ideen in sich trägt Man wird in 
der Tat wohl kaum einen namhaften 
Vertreter der französischen Philosophie 
des 19. Jahrhunderts anführen können, 
der nicht direkt oder indirekt durch die 
deutsche Philosophie beeinflußt wor¬ 
den wäre. Das ganze Schaffen des her¬ 
vorragendsten Vertreters des französi¬ 
schen Neokritizismus, Charles Renou- 
vier, ist direkt auf Kant zurückzufüh¬ 
ren. Auf Kant gestützt, hat Renouvier 
nicht nur den realistischen Materialis¬ 
mus energisch bekämpft, sondern auch 
der Lehre der Willensfreiheit eine uner¬ 
schütterliche Grundlage gegeben. Eben¬ 
so ist der einflußreichste Lehrer der 
Philosophie an der Ecole normale su- 
pörieure, Jules Lachelier, ein begeister- 

24* 

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743 


J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie? 


744 


ter Schüler Kants, obgleich er auch 
von Aristoteles und von der franzö¬ 
sisch-schottischen Philosophie beein¬ 
flußt worden ist Mit Kant nimmt er an, 
daß die Gesetze der Welt eigentlich nur 
Forderungen des Denkens sind, und daß 
das Gesetz der Körperwelt die geome¬ 
trische Kausalität ist Lachelier bekennt 
sich offen zum Kritizismus, den er aller¬ 
dings unter dem Einflüsse Ravaissons 
xu einem spiritualistischen Realismus 
erweitert Felix Ravaisson selber geht 
allerdings nicht unmittelbar von der 
deutschen Philosophie aus. Aristoteles, 
Plotin, Pascal und namentlich Biran 
sind seine Hauptstützen. Aber abgesehen 
davon, daß sein unmittelbarer Meister, 
Biran, wie wir gesehen haben, stark vom 
deutschen Geiste beeinflußt ist hat auch 
er mächtige Anregungen von der deut¬ 
schen Philosophie empfangen, nament¬ 
lich vom „tiefen Leibniz" und vom „un¬ 
sterblichen Kant“, wie er diese Philoso¬ 
phie nennt und vonSchelling, den er in 
München persönlich kennen lernte. Be¬ 
sonders sein spiritualistischer Realismus 
erinnert stark an Schelling. Wieviel fer¬ 
ner Männer wie Taine und Renan deut¬ 
scher Wissenschaft und Philosophie ver¬ 
danken, ist ja allgemein bekannt Nach 
Taines eigenem Geständnis gewährte 
ihm die Lektüre der Hegelschen Schrif¬ 
ten die tiefsten Genüsse seines Lebens. 
Audi Renan war sich des wohltuenden 
Einflusses bewußt den das deutsche 
Geistesleben auf sein Denken aus¬ 
geübt hat. 

Aber auch auf sämtliche Vertreter 
der heutigen philosophischen Bewegung 
in Frankreich hat die deutsche Philoso¬ 
phie befruditend eingewirkt So ist Th. 
Ribot nicht nur selber von der deut¬ 
schen Philosophie und Psychologie be¬ 
einflußt sondern er hat durch seine 
Werke „La Philosophie de Schopen¬ 
hauer“, „La Psychologie allemande con- 


temporaine" und durch die Zeitschrift 
„Revue Philosophique“ viel für die Ver¬ 
breitung und Würdigung der deutschen 
Philosophie in Frankreich beigetragen. 
Ungefähr dasselbe gilt auch von Fouil- 
16e und seinem Einflüsse. Was endlich 
die höchsten Spitzen der Philosophie 
der Gegenwart in Frankreich anlangt, 
Boutroux und Bergson, so sind sie 
nicht nur indirekt durch ihre gemein¬ 
samen Lehrer Biran, Lachelier und Ra¬ 
vaisson von der deutschen Philosophie 
beeinflußt sondern sie haben selber mit 
vollen Händen aus dem deutschen Gei¬ 
stesleben geschöpft. Namentlich gehtaus 
der enthusiastischen Würdigung,, die 
Boutroux von Männern wie J. Böhme, 
Leibniz, Kant, Fichte, Zeller usw. gelie¬ 
fert hat, hervor, wie er sich des großen 
Einflusses, den diese typischen Vertre¬ 
ter des deutschen Denkens auf ihn aus¬ 
geübt haben, bewußt ist. Und welcher 
Kenner der Bergsonschen Philosophie 
würde den reichen Gewinn bestreiten, 
den dieser Denker aus dem Studium der 
deutschen Philosophie und Wissen¬ 
schaft gezogen hat? Tatsächlich besteht 
zwischen der Bergsonschen Philosophie 
und der Gedankenwelt Schellings, Scho¬ 
penhauers i), auch Euchens, eine große 
innere Verwandtschaft, während Berg¬ 
son selber sich im bewußten Gegensatz 
fühlt zu den Lehren eines Descartes, 
eines Condillac, eines Taine oder eines 
Le Dantec. 

Verhält sich das alles nun so, dann 
werden wir auch bei aller Anerkennung 
der nationalen Eigentümlichkeiten auf 
allen Gebieten des geistigen Schaffens 
sagen müssen, daß es ein Anachro¬ 
nismus ist, mitten im 20. Jahrhundert 
von einer nationalen Philosophie zu 
sprechen. Pascals Klage „Väritä en degä 

X) Siehe den Aufsatz von G. Jacobi, 
„H. Bergson und A. Schopenhauer* im Ja¬ 
nuarheft 1916. Die Red. 


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745 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 746 


des Pyr 6 n 6 es, erreur au delä“ ist nir¬ 
gends so berechtigt wie auf dem Ge¬ 
biete der Philosophie. Männer von so 
grundverschiedener Geistesart wie Des- 
cartes, Pascal, Voltaire, La Mettrie, 
Rousseau, Condillac, Biran, Comte, Cou¬ 
sin, Taine, Lachelier, Dürkheim und 
Boutroux in einen Topf werfen und 
dieses Ragout als „Philosophie fran- 
gaise“ auf Kosten der ungeheuren Man¬ 
nigfaltigkeit des deutschen Denkens 
verherrlichen, ist eine große Gefahr 
nicht nur fflr die Philosophie, sondern 
Oberhaupt fOr das Ganze des Völker- 
iebens. Früher oder später muß das zur 
Zerreißung der inneren Bande der 
Menschheit führen. Und wer würde in 
der Tat leugnen können, daß in diesem 
Verfahren und mithin in der Sprengung 
der Brücken zwischen den Völkern, Län¬ 
dern und Zeiten eine der tiefsten Wur¬ 
zeln des gegenwärtigen Krieges liegt? 
Will man daher in Zukunft Katastro¬ 
phen, wie wir sie jetzt erleben, vermei¬ 
den und das Obel gründlich heilen, so 


muß man u. a. auch diese Wurzel aus¬ 
rotten. Man muß also jene Brücken 
wieder schlagen; man muß bei den Völ¬ 
kern das Bewußtsein der Solidarität, 
die zwischen ihnen besteht, wecken oder 
stärken; man muß ihnen zeigen, daß sie 
auf keinem Lebensgebiet einander ent¬ 
behren können, daß die nationalen Un¬ 
terschiede in hohem Grade relativ und 
dem fortwährenden Wechsel unterwor¬ 
fen sind, daß die Völkerharmonie, der 
Humanismus im Sinne eines Leibniz, 
eines Schiller, eines Beethoven oder 
eines Herder der ideale, d. h. normale 
Zustand des Menschengeschlechts ist, 
kurz, daß die Menschheit keine bloße 
Abstraktion, sondern vielmehr eine 
höchst konkrete Realität ist und eine 
gemeinsame Aufgabe zu erfüllen hat: 
die volle Entfaltung des Menschen¬ 
wesens, die Verinnerlichung des Da¬ 
seins, das bewußte Mitarbeiten an der 
Selbstverwirklichung der Gottheit, die 
Weltkultur. 


Zur Geschichte der deutschen Kolonie 
in Konstantinopel. 

Von Fritz Braun. 


Seit jeher besteht ein wirtschaftlicher 
und politischer Zusammenhang zwi¬ 
schen meiner norddeutschen Heimat und 
der Wunderstadt am Goldenen Horn. 
Aus den Tiefen des Baltischen Meeres 
stammt der Bernstein, dessen duftiger 
Rauch die Kuppeln der türkischen Mo¬ 
scheen erfüllt, und schon zu den Zeiten 
des Großen Kurfürsten war der bran- 
denburgische Gesandte an der Hohen 
Pforte wohlgelitten, da man sich von 
dem aufstrebenden Kurfürstentum wirk¬ 
same Hilfe im Kampfe gegen die slawi¬ 
schen Staaten Osteuropas versprechen 
durfte. 


Auch im lßi Jahrhundert blieben 
unsere Landsleute in Stambul willkom¬ 
mene Gastfreunde. Auf den sonnigen 
Hügeln bei Böjükdere grübelte unser 
Moltke darüber nach, wie er dem osma- 
nischen Reiche ein schlagfertiges Heer 
verschaffen könnte, und in den blüten¬ 
reichen Gärten von Bebek verlebte Ernst 
von Wildenbruch fröhliche Jugendtage, 
für welche die gewaltigen Ereignisse des 
Krimkrieges einen ernsten Hintergrund 
lieferten. 

Gerade damals vollzogen sich in der 
Kalifenstadt wichtige Änderungen. So 
lange spielten dort unter den Franken, 


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747 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 743 


wie man die Angehörigen der abendlän¬ 
dischen Nationen zu nennen pflegte, die 
Italiener nach Zahl und Einfluß unstrei¬ 
tig die Hauptrolle. Dieser Einfluß ließ sich 
noch bis in jene Zeiten zurüdtverfolgen, 
da die Genuesen und Venetianer das 
Ägäische Meer beherrschten und flberall 
wuchtige Festungswerke von der Macht 
der stolzen Städterepubliken Zeugnis 
ablegten. Den wagemutigen Kaufleuten 
waren auch zahlreiche Handwerker und 
Kleinbürger gefolgt, die sich in diesem 
Erdstrich, dessen Klima und natürliche 
Lebensbedingungen von denen der Apen- 
ninenhalbinsel nur wenig abweichen, 
bald zu Hause fühlten. 

Durch die großen Erfolge im Krim- 
hriege gelang es den Franzosen, den 
Einfluß der Italiener, denen damals ihre 
Heimat in politischen Dingen keinen 
rechten Rückhalt zu bieten vermochte, 
entschieden zurückzudrängen und in 
den weiten Ländern des osmanischen 
Reiches hinsichtlich aller zivilisatori¬ 
schen Fragen maßgebliche Geltung zu 
gewinnen. Man kann dem Opfermut und 
der Folgerichtigkeit welche die Fran¬ 
zosen bei ihren Maßnahmen bewiesen, 
seine Anerkennung nicht versagen, und 
zwar erwiesen sich ihre zahlreichen 
geistlichen Orden, denen man daheim 
sehr wenig Wohlwollen entgegen¬ 
brachte, in dem näheren Orient als treff¬ 
liche Vorkämpfer des französischen 
Volkstums. Wo zuerst zwei oder drei 
Brüder bescheidene Kinderschule hiel¬ 
ten und ihren Zöglingen außer dem 
unentgeltlichen Unterricht noch eine 
Schüssel Suppe zukommen ließen, er¬ 
hob sich nach einem Jahrzehnt viel¬ 
leicht schon ein stattliches Lyzeum, 
und an der Stelle, wo anfangs nur ein 
praktischer Arzt unbemittelte Kranke 
mit Rat und Heilmitteln unterstützt 
hatte* flatterte bald die Trikolore von 
dem schmucken Türmchen eines ge¬ 


räumigen Krankenhauses. So bewiesen 
die Franzosen zu ihrem Teile die Wahr¬ 
heit des Spruchs, daß Wohltun Zinsen 
trägt. Wenn man später in einer solchen 
Provinzialstadt als geselligen Mittel¬ 
punkt der Honoratioren ein Klubhaus 
erbaute, verstand sich als Umgangs¬ 
sprache all der Levantiner, Griechen und 
Armenier, die sich dort zusammenfan¬ 
den, das Französische ganz von selber. 
Solche Erfolge machen es begreiflich, 
daß die französische Regierung densel¬ 
ben Orden, die im Mutterlande erbittert 
befehdet wurden, in der Fremde alle 
mögliche Unterstützung zuteil werden 
ließ, denn die mehr als hunderttausend 
Schüler, welche allein im türkischen 
Reich auf französischen Anstalten un¬ 
terrichtet wurden, erwiesen sich als die 
besten Bundesgenossen der französi¬ 
schen Politiker. Daß für diese Bestre¬ 
bungen heutzutage eine schlimme Krisis 
gekommen ist, bedarf keines Beweises; 
doch wäre es töricht, annehmen zu 
wollen, das Ergebnis jahrzehntelanger 
Arbeit sei mit einem Male verschwun¬ 
den, so wie man die Schrift von einer 
Schiefertafel hinwegwischt 
Bei dieser Entwicklung der Dinge 
machte die deutsche Kolonie in Konstan¬ 
tinopel anfänglich nur einen recht be¬ 
scheidenen Eindruck. Ihre Mitglieder ge¬ 
hörten fast ausschließlich dem Mittel¬ 
stände an. Zumeist waren es Leute, die 
durch Anspruchslosigkeit und Fleiß 
einiges Vermögen erworben hatten, Han¬ 
delsgehilfen, die mit einem ersparten 
Sümmchen ein eigenes Kommissions¬ 
geschäft gegründet hatten, Handwerker, 
die mit den in ihr Fach schlagenden 
Waren bescheidenen Handel trieben, 
Gärtner, welche die fränkische Bevölke¬ 
rung Peras mit Gemüse und Blumen ver¬ 
sorgten, böhmische Musikanten, die sich 
auf den Handel mit Musikinstrumenten 
und Noten geworfen hatten, Gastwirte, 


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749 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 750 


Uhimacher, Apotheker und andere mehr, 
d. h. Leute von der Art, wie sie noch 
heute dem deutschen Handwerkerver¬ 
ein in Pera die Mehrzahl seiner Mitglie¬ 
der stellen. Alles in allem eine Gesell¬ 
schaft, die nach außen hin nicht gerade 
blendete, von deren schlichter Tüchtigkeit 
man aber viel Rühmens machen könnte. 
Da diese Deutschen zumeist in der Fran¬ 
kenstadt Pera wohnten und dort ihren 
Geschäften nachgingen, kamen sie natur¬ 
gemäß mit Griechen und Levantinern in 
viel engere Beziehung als mit den eigent¬ 
lichen Türken, ein Verhältnis, das sich 
eist zu den Zeiten des deutschfreund¬ 
lichen Sultans Abdul Hamid, der unsere 
Landsleute als Hoflieferanten und Hof¬ 
bedienstete sehr bevorzugte, wesentlich 
ändern sollte. 

Die Gefahr, daß die in der Fremde ge¬ 
borenen Kinder ihr Volkstum verleug- 
neten, eine Gefahr, die man leider ge¬ 
rade bei unseren Stammesgenossen be¬ 
sonders hoch einschätzen muß, war am 
Bosporus deshalb recht gering, weil die 
Kluft zwischen dem deutschen Wesen 
und der Art der Türken und Griechen 
doch allzubreit ist Um so größer war 
darum in Konstantinopel die Sehnsucht 
der Deutschen nach einer eigenen 
Schule, die bereits im Jahre 1868 als 
deutsche Bürgerschule eröffnet wurde. 
Der Zeitpunkt ihrer Gründung beweist 
uns, daß hier wie anderswo der wirt¬ 
schaftliche Aufschwung der Deutschen 
nidrt ausschließlich als Folge der natio¬ 
nalen Einigung aufgefaßt werden darf, 
sondern teilweise schon früher eintrat 
wahrend der Name Bürgerschule für die 
gesellschaftliche Selbsteinschätzung der 
Gründer bezeichnend ist Daneben ist 
noch erwähnenswert daß die Schweizer 
schon bei dieser Gelegenheit wie das 
späterhin die Regel blieb, viel mehr zu 
den Deutschen als zu den Österreichern 
gehalten haben. 


Selbstverständlich waren auch für 
die deutsche Kolonie in Konstantino¬ 
pel der Deutsch - Französische Krieg 
und das Wiedererstehen des Deutschen 
Reiches Ereignisse von allergrößter Be¬ 
deutung. Mehr noch als andere Völker 
neigen die Türken dazu, die Machtmittel 
eines Staates nach seinen jüngsten mili¬ 
tärischen Erfolgen abzuschätzen. Dar¬ 
um blieben die deutschen Siege in 
Frankreich nicht ohne Einfluß auf den 
Absatz deutscher Waren im Orient Mit 
der Leistungsfähigkeit unserer Industrie 
wuchs auch die Bedeutung der deut¬ 
schen Kommissionäre in KonstantinopeL 
Infolge der großen Bahnbauten im tür¬ 
kischen Reich kam eine Menge deutscher 
Bahnbeamter nach StambuL Die Ein¬ 
richtung deutscher Darapferlinien nach 
dem Orient zwang deren Reedereien, 
gutbezahlte Vertreter nach Pera zu 
schicken. Mit dem Wachstum der deut¬ 
schen Schule stieg auch die Zahl ihrer 
Lehrer. Deutsche Ärzte wirkten durch 
öffentliche Praxis und durch ihren Un¬ 
terricht an türkischen Militärmedizinal¬ 
schulen. Darüber hinaus sorgte auch der 
Sultan Abdul Hamid für die Vermehrung 
der deutschen Kolonie, indem er nicht 
nur deutsche Reformer in das türkische 
Heer einstellte, sondern auch bei allen 
wirtschaftlichen Bedürfnissen seines 
verschwenderischen Hofhaltes unsere 
Landsleute in erster Linie zu berücksich¬ 
tigen pflegte. 

So kann es uns denn nicht wunder¬ 
nehmen, daß sich die deutsche Kolonie 
Konstantinopels etwa in dem Zeitraum 
zwischen 1875 und 1895 nicht weniger 
veränderte als manche stille Provinzial¬ 
stadt in der Heimat, die mittlerweile zu 
einem lebhaften Industrieort geworden 
war. Von dem alten Geschlechte, das 
dereinst die Bürgerschule gegründet 
hatte, waren schließlich nur noch wenige 
übrig, die beim Dämmerschoppen int 


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751 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 752 


„Felsenkeller*' die guten alten Zeiten 
priesen. Zu ihnen gehörte manch präch¬ 
tiger Charakterkopf, wie der „alte Wen¬ 
zel", der es vom Handlanger eines Blu¬ 
menhändlers bis zum königlich preußi¬ 
schen Gartenbaudirektor gebracht hatte, 
und die jedem älteren Mitgliede der Ko¬ 
lonie wohlbekannte Frau Schlerf, eine 
resolute, schlagfertige Bajuvaiin, die 
sich in Zeiten von Not und Pestilenz 
als selbstlose Helferin vieler Bedräng¬ 
ten bewährt hatte. An die Stelle der 
schlichteren Handwerker, die teilweise 
von der Hand in den Mund gelebt hatten, 
waren mittlerweile wohlhabende Män¬ 
ner getreten, die sich nicht darauf be¬ 
schränkten, ihr Gewerbe handwerks¬ 
mäßig auszuüben, sondern daneben leb¬ 
hafte Handelsgeschäfte unterhielten und 
auf die Mitgliedschaft des deutschen Ge¬ 
sellschaftsvereins „Teutonia" mehr Wert 
legten als auf die Zugehörigkeit zu dem 
alten Handwerkerverein, in dem nach 
wie vor die kleinen Leute zusammen¬ 
kamen. Gar mancher dieser Gewerbe¬ 
treibenden verdankte sein Betriebskapi¬ 
tal allerlei Lieferungen für den Jildis, 
den Hofhalt des Sultans, bei denen an¬ 
standslos mit doppelter Kreide gerech¬ 
net werden durfte. Der rasche Ausbau 
der anatolischen Eisenbahn führte wie¬ 
derum viele deutsche Beamte nach Kon¬ 
stantinopel, die aber an dem geselligen 
Verkehr ihrer Landsleute nur wenig teil¬ 
nehmen konnten, weil zwischen Pera 
und ihrem Amtssitz Haidar Pascha nach 
Sonnenuntergang keine Fahrzeuge mehr 
verkehrten. 

Das war um so bedauerlicher, als das 
gesellige Leben der Kolonie in diesem 
Zeitabschnitt geistig recht rege wurde. 
Immer wieder versammelte man sich in 
dem schmucken Festsaal der „Teutonia“, 
um dort Vorträgen zu lauschen, in denen 
die Gelehrten der Kolonie die Lands¬ 
leute mit dem Ergebnis ihrer Arbeit be¬ 


kanntmachten. Um dem Leser zu zei¬ 
gen, daß an gelehrten Deutschen am 
Bosporus damals kein Mangel war, 
braucht man nur die Namen Auler, 
Giese. v. d. Goltz, Mordtmann, v. d. Nah- 
mer, Rieder und Wiegand aufzuzählen. 
Auch die Beamten des Konsulats und 
die Lehrer der deutschen Schule hatten 
oft genug Interessantes zu berichten, 
wenn ihr Weg sie wieder einmal nach 
entlegenen Teilen Kleinasiens und Sy¬ 
riens geführt hatte. 

Eine überaus erfreuliche Tätigkeit 
entfaltete damals der deutsche Aus¬ 
flugsverein. Seine wichtigsten Förderer 
waren der Lehrer Gottfried Albert und 
der deutsche Arzt Dr. M. Mordtmann, 
der sich durch seine archäologischen 
Forschungen auch in der alten Heimat 
wohlverdienten Ruhm erworben hat. 

Mochten die „Teutonia“ und der deut¬ 
sche Handwerkerverein noch so segens¬ 
reich wirken, ihr Wesen bedingte von 
vornherein eine gewisse Selbstbeschrün- 
kung, indem jener Verein die „Gesell¬ 
schaft“ im engeren Sinne, dieser da¬ 
gegen die Angehörigen des Kleinbürger¬ 
standes vereinigen sollte. Bei dem „Aus¬ 
flugsverein“ fielen solche Rücksichten 
von vornherein fort Da war jeder will¬ 
kommen, der des Deutschen so weit 
mächtig war, daß er sich unter unseren 
Landsleuten frei und zwanglos bewegen 
konnte. Hier bot sich auch Gelegenheit, 
die Deutsch-Österreicher der Sultans¬ 
stadt kennen zu lernen, welche sonst 
vielfach getrennte Wege gingen, weil 
ihre Behörden sie von allen reichsdeut- 
schen Vereinen fernzuhalten suchten, bei 
denen man nur im entferntesten irgend¬ 
eine politische Stellungnahme vermuten 
durfte. Außerdem sorgte dieser Verein 
noch dafür, daß ein großer Teil der 
fremden Schüler, welche die deutsche 
Schule besucht hatten, auch nach ihrem 
Abgänge die Beziehungen zu unseren 


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753 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 754 


Landsleuten nicht verloren. Well auch 
in ihnen durch ihre deutschen Lehrer der 
Wandertrieb geweckt und gefördert 
worden war und der Ausflugsverein die 
beste Gelegenheit bot, sich mit den 
alten Mitschülern zu treffen, ließen sie 
mit ihrem Beitritt zumeist nicht lange 
anf sich warten. So kanh es denn nicht 
wundemehmen, daß gerade der deutsche 
Ausflugsverein sich allgemeiner Beliebt¬ 
heit und Unterstützung erfreute. Ihm 
ließ selbst der Sultan Abdul Hamid 
reiche Geldspenden zukommen; an 
seinen Wanderungen beteiligte sich der 
deutsche Großkaufmann ebensogut wie 
der Kleinhändler von der Jüksek Kaldi- 
rim; hier begegnete der Kärntner dem 
Friesen, der Siebenbürger Sachse dem 
Schweizer, und alle die Kinder der Le¬ 
vante, die dereinst auf deutscher Schul¬ 
bank gesessen hatten, lernten auf den 
Ausflügen dieses Vereins deutsche Wan¬ 
derlust Sangesfreude und harmlose Ge¬ 
selligkeit kennen. Darf es da wunder¬ 
nehmen, daß Gottfried Albert der Füh¬ 
rer auf mancher Wanderfahrt eine der 
volkstümlichsten Persönlichkeiten der 
Kolonie wurde? Als ein allzu früher Tod 
der Erdenpilgerschaft des naturfrohen 
Alpensohnes ein Ziel setzte, floß ihm 
manche Träne, und das stattliche Denk¬ 
mal, das seinen Hügel in Ferikiöi 
schmückt ist vor anderen wohlverdient 
zu nennen. 

So recht im Mittelpunkt des geselligen 
Lebens stand damals, und zwar durch¬ 
aus nicht nur dem Namen nach, unser 
Botschafter Freiherr Marschall v. Bieber¬ 
stein und seine Gemahlin. Ihrem jovia¬ 
len Wesen glückte es, trotz aller durch 
ihre Stellung gebotenen Rüdesichten 
jene gemütlichen Beziehungen zu schaf¬ 
fen, welche dem Zusammenleben der 
Menschen erst den rechten Wert ver¬ 
leihen und seine äußeren, an sich leeren 
Formen mit wesentlichem Inhalt erfüllen. 


Die gewaltige Entwicklung, welche 
die deutsche Kolonie in dem Menschen- 
alter seit der Reichsgründung genom¬ 
men hatte, spiegelte sich auch in der Ge¬ 
schichte ihrer wichtigsten Anstalten, des 
Hospitals und der deutschen Schule, 
wider. Das deutsche Krankenhaus mußte 
immer wieder durch neue Anlagen er¬ 
weitert werden, und die bescheidene 
Bürgerschule hatte sich schon längst zur 
Realschule entwickelt. Aus dem schlich¬ 
ten Gebäude neben dem Galataturm war 
sie in einen schmucken Schulpalast an 
der Jeni Jol übergesiedelt, in jenen gar¬ 
tenreichen Stadtteil, wo die Gesandt¬ 
schafts- und Botschaftsgebäude Schwe¬ 
dens, Rußlands, Hollands und Frank¬ 
reichs von ragender Höhe zum Bospo¬ 
rus hinabschauen. Um den kleinen 
Stamm reichsdeutscher und Schweizer 
Schüler hatte sich allmählich der Nach¬ 
wuchs aller möglichen Völker geschart, 
so daß die kleine Gemeindeschule zu 
einem Werkzeug nationaler Propa¬ 
ganda geworden war. Für die Wert¬ 
schätzung der Schule war das ein um 
so günstigeres Zeugnis, als sie bei die¬ 
sem Vorgänge eine recht passive Rolle 
gespielt und niemals die Werbetrommel 
gerührt hatte. Um die Wende des Jahr¬ 
hunderts finden wir unter ihren Schü¬ 
lern neben 25 s / i 0/0 Deutschen und 3 1 /» *yo 
Schweizern 20 °/o Österreicher, 30 % Tür¬ 
ken, 47 4 0/0 Hellenen, 4 <yo Engländer, 4 «/o 
Italiener und 3 0/0 Rumänen, während 
sich die übrigen 57* % auf viele andere 
Völker verteilen. Dabei muß allerdings 
betont werden, daß Staatsangehörigkeit 
und Volkstum hier durchaus nicht immer 
zusammenfallen. Fälle wie der eines 
Schülers Antoine, der sich als persischer 
Untertan zum protestantischen Glauben 
bekannte und von Eltern stammte, die 
nach ihrer Bildung und Lebensführung 
durchaus als gute Deutsche bezeichnet 
werden mußten, gehören in der Levante 


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755 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel' 756 


nicht zu den Seltenheiten. Unter den tür¬ 
kischen Staatsangehörigen finden wir 
ganz überwiegend Griechen und Levan¬ 
tiner, wie sich das schon daraus ergibt, 
daß nur 3 o/o der Schüler Mohammeda¬ 
ner waren. Auffällig ist es, daß man 
unter den 512 Zöglingen der Anstalt nur 
7 Franzosen entdecken konnte. Neben 
der schon erwähnten Tatsache, daß ge¬ 
rade die Franzosen im näheren Orient 
über eine große Zahl trefflich geleiteter 
Lehranstalten verfügen, spielten dabei 
doch wohl auch die nationale Abnei¬ 
gung und der unausrottbare Revanche» 
gedanke keine geringe Rolle. Unsere 
Volksgenossen vergalten leider in die¬ 
ser Hinsicht durchaus nicht immer Glei¬ 
ches mit Gleichem, so daß unter den 
Schülern von St Bönoit fast immer eine 
größere Anzahl von Kindern zu finden 
war, die sich der deutschen Mutter¬ 
sprache rühmen durften. 

Nicht alle Landsleute waren aber mit 
der Entwicklung der deutschen Schule 
und der Steigerung ihrer Lehrziele ein¬ 
verstanden. Viele Kleinbürger verlang¬ 
ten von ihr weiter nichts, als daß sie 
ihren Kindern eine tüchtige Volksschul- 
bildung vermittele, und gaben ihrem 
Groll namentlich dann recht entschiede¬ 
nen Ausdruck, wenn die Gaben ihrer 
Sprößlinge den Anforderungen nicht ge¬ 
wachsen waren. Diese Vorwürfe hatten 
sicherlich eine gewisse Berechtigung. 
Auch in Konstantinopel hatte das Hand¬ 
werk einen goldenen Boden, und in den 
großen Werkstätten der Eisenhahnver¬ 
waltungen vermochte sich der Schmied, 
der Schlosser eine auskömmliche und 
sichere Lebensstellung zu verschaffen, 
in der er seinem Volkstum keine 
Schande machte; Hoffentlich wird man in 
Zukunft diesen Wünschen entsprechen 
können, indem unserer Schule solche 
Klassen angegliedert werden, welche 
in der Hauptsache nach dem Lehr¬ 


plan der deutschen Volksschule arbeiten 
sollen. 

Törichter waren die Einwände jener 
Mißmutigen, welche der Realschule 
vorwarfen, sie erziehe den alteingesesse¬ 
nen Gemeindemitgliedern durch die Ver¬ 
breitung deutscher Sprachkenntnisse nur 
einen unerwünschten, oft genug unlau¬ 
teren Wettbewerb. Eine solche Monopo¬ 
lisierung, wie sie diesen Leuten vor¬ 
schwebte, ist in unserer Zeit schlechter¬ 
dings undurchführbar, während im Ge¬ 
gensatz dazu die Regel aufgestellt wer¬ 
den darf, daß jede weitere Verbreitung 
einer Kultursprache über kurz oder lang 
auch wirtschaftliche Vorteile für das be¬ 
treffende Volk nach sich ziehen muß. 
Darum waren die Leiter der Schulge¬ 
meinde auch durchaus im Recht, wenn 
sie unbeirrt ihren Weg verfolgten und 
nicht eher ruhten, als bis aus der alten 
Bürgerschule eine vollberechtigte neun- 
klassige Oberrealschule geworden war. 

Alles in allem hatten die Deutschen 
zur Zeit Abdul Hamids guten Grund, mit 
ihrer Lage zufrieden zu sein. Die deut¬ 
sche „Gesellschaft" erinnerte hinsicht¬ 
lich der Zahl ihrer Angehörigen etwa 
an die Zustände in einer deutschen Mit¬ 
telstadt, von denen sie sich aber durch 
den frischeren Lebenshauch, der alle 
Hauptstätten des völkerverbindenden 
Handels auszeichnet, sehr zu ihrem Vor¬ 
teil unterschied. Die wirtschaftliche 
Lage unserer Landsleute hatte sich recht 
günstig gestaltet, und an dem Wohl¬ 
stand der Gewerbetreibenden hatten 
auch andere Kreise ihren Anteil, selbst 
das ältliche Fräulein, das sich mit Nach¬ 
hilfestunden ihr Brot verdiente^ und der 
Privatlehrer, welcher die Knaben und 
Mägdlein der Kolonie in die Geheim¬ 
nisse des Klavierspiels einweihte. Es 
wäre ein völlig verfehltes Unternehmen, 
die Einkünfte der deutschen Kolonisten 
aus dem Warenumsätze Konstantinopels 


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757 Fritz Braun, Zur Geschidite der deutsdien Kolonie in Konstantinopel 758 


mit dem Reiche auch nur annähernd be¬ 
rechnen zu wollen. Der dabei erzielte 
Verdienst der deutschen Kaufleute bil¬ 
det einen recht geringen Bruchteil dieser 
Einkünfte, der hinter der Geldsumme, 
welche durch die Gehälter der Beamten 
und den Erwerb der im inneren Wirt¬ 
schaftsleben der Hauptstadt tätigen 
Handwerker, Ärzte, Lehrer usw. zusam¬ 
menkam, ganz unverhältnismäßig zu¬ 
rückblieb. Alles in allem waren damals 
sonnige Tage, und niemand dachte an 
Sturm und Schlackenwetter. 

Da setzte im Juli 1908 die jung- 
türkische Revolution ein, welche die 
Hauptstadt auf lange hinaus nicht zur 
Ruhe kommen ließ, da die Reaktions¬ 
bestrebungen des Sultans dessen Ent¬ 
thronung zur Folge hatten und es Jahre 
währte, bis sich die Verhältnisse am 
Bosporus wieder einigermaßen gefestigt 
hatten. Während sich so lange unsere 
Landsleute der besonderen Gunst Abdul 
Hamids erfreut hatten, kam die große 
Umwälzung nur den Engländern und 
Franzosen zustatten. Daß dm so war, 
lag nur zum Teil daran, daß die Jung- 
tfirken, von denen man in Deutschland 
aus Loyalität gegen den Sultan nichts 
wissen wollte, in Paris und London Ob¬ 
dach und Unterstützung gefunden hat¬ 
ten. Mindestens ebensosehr erklären 
sich die politischen Erfolge, deren sich 
die Briten und Franzosen damals erfreu¬ 
ten, aus der schamlosen, jeder Würde 
und Selbstachtung hohnsprechenden Art, 
in der sie um die Gunst der Machthaber 
buhlten. Es mochte politisch nicht rich¬ 
tig sein, daß unsere Vertreter den neuen 
Männern und dem neuen Kurs gegen¬ 
über eine so ablehnende Haltung einnah- 
men, aber es war doch immerhin eines 
jener Versehen, die das Herz preist, wenn 
der Verstand sie verurteilt. Jenes Be¬ 
nehmen war ja auch durch die Anhäng¬ 
lichkeit an die Person des entthronten 


Kalifen bedingt, welche man nicht so 
plötzlich auf ein knappes Kommando 
hin zu unterdrücken vermochte. Da¬ 
gegen brauche ich, wenn ich jemals Ge¬ 
fahr laufe, von der englischen und fran¬ 
zösischen Politik zu gut zu denken, nur 
die französischen und englischen Zeitun¬ 
gen zur Hand zu nehmen, welche da¬ 
mals in Stambul erschienen. Das ganze 
Gepräge ihres Beifalls, die kaltblütige 
Art, die erfolgreichen Parteiführer des 
Tages den größten Männern der heimi¬ 
schen Geschichte an die Seite zu stellen, 
das Obermaß von Schmeichelei und 
Freundschaftsbeteuerungen, das alles ist 
in parlamentarischen Ausdrücken nicht 
genügend zu kennzeichnen. Leider dau¬ 
erte es lange genug, bis die Osmanen 
merkten, daß in den vermeintlichen Läm¬ 
mern reißende Wölfe steckten, die rieh 
bereits anschickten, über den türki¬ 
schen Freund und Bruder herzufallen, 
um ihn mit Haut und Haaren aufzu¬ 
fressen. Und als dann die Erkenntnis 
kam, ließ sich manches, wie das Wir¬ 
ken der köstlichen englischen Flotten¬ 
kommission, überhaupt nicht mehr recht¬ 
zeitig gutmachen. 

Jedenfalls kam die deutsche Kolonie 
in der Obergangszeit zu keinem rech¬ 
ten Behagen. Die Diplomaten, welche es 
zur Zeit Abdul Hamids nicht allzuschwer 
gehabt hatten, fühlten den Boden unter 
ihren Füßen wanken, die Militärrefor¬ 
mer mußten mißmutig feststellen, daß 
die phrasenhafte Agitation der Franzo¬ 
sen nicht erfolglos blieb, und den deut¬ 
schen Beamten der anatolischen Bahn 
fehlte das rechte Vertrauen zu Vorge¬ 
setzten, die aus ihrer Vorliebe für fran¬ 
zösisches Wesen teilweise gar kein Hehl 
machten. Auch in wirtschaftlicher Hin¬ 
sicht folgten dem Sturze Abdul Hamids 
in Stambul schwere Jahre. Immer wie¬ 
der hörte man am hellen Tage das eigen¬ 
tümliche Geräusch, welches die eisernen 


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759 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 759 


Rollwände der Schaufenster verur¬ 
sachen, wenn sie gleichzeitig in fliegen¬ 
der Hast heruntergelassen werden. Deut¬ 
licher als alles andere verkündet dieser 
Mark und Bein erschütternde Ton den 
Peroten den Eintritt schlimmer Zeiten, 
ln denen das Vertrauen auf die öffent¬ 
liche Sicherheit geschwunden ist In¬ 
folge von Krieg und Pestilenz wuchs die 
Teuerung aller Lebensmittel, die auf der 
ärmeren Bevölkerung der türkischen 
Hauptstadt um so schlimmer lastet weil 
der Ausgleich durch Steigerung der Ar¬ 
beitslöhne sich hier in solchen Fällen 
noch viel langsamer zu vollziehen pflegt 
als in Mitteleuropa. Besser als durch 
lange Ausführungen wird diese Lage 
durch die inhaltsschweren Worte ge¬ 
kennzeichnet welche der Leiter der 
deutschen Schule seinem Jahresbericht 
vom Jahre 1912/13 vorausschickt: „Das 
Schuljahr 1912—13 begann und verlief 
unter recht ungünstigen äußeren Um¬ 
ständen. Den Tripoliskrieg, der durch 
die im vorigen Bericht schon erwähnten 
Italienerausweisungen der Schule den 
Verlust einer ganzen Anzahl Schüler ge¬ 
rade der obersten Klassen gebracht hatte, 
löste der Balkankrieg ab. Eine allge¬ 
meine wirtschaftliche Depression, eine 
immer unerträglicher werdende Teue¬ 
rung waren die Folge. Und auch die all¬ 
mählich zum ständigen Gast gewordene 
Cholera stellte sich wieder ein. Daß 
unter solchen Umständen sowohl die Fi¬ 
nanzgebarung der Schulgemeinde als 
auch der innere Schulbetrieb zu leiden 
hatten, leuchtet ein. Zeitweise war in 
der Prima nur ein Schüler anwesend, 
und am 5. November, als das Gespenst 
der Massakerfurcht umging, fehlten 
z. B. im Durchschnitt der Gesamtschüler¬ 
zahl nahezu 30<>/o der Schüler, in ein¬ 
zelnen Mädchenklassen bis zu 60 tyo der 
Schülerinnen.“ 

Heutzutage gehören diese Jahre, in 


denen der Deutsche besorgen mußte, 
allen Einfluß am Goldenen Hom einzu¬ 
büßen und im osmanischen Reich dem 
wirtschaftlichen Wettbewerb der west¬ 
europäischen Nationen zu erliegen, 
Oott sei Dank der Vergangenheit an. 
Noch im letzten Augenblick haben sich 
die Türken von ihren gleisnerischen 
Freunden losgesagt, weil diese sich an¬ 
schickten, ihr ganzes Reich aus reiner 
Liebe unter sich aufzuteilen, und als 
treue Waffenbrüder der anatolischen 
Soldaten tränkten unsere Landsleute die 
starren Felsgestade der Dardanellen mit 
deutschem Blute. Fleißige Hände und 
nachdenkliche Köpfe sind geschäftig, um 
das Bündnis der beiden Völker noch 
enger zu gestalten und in der ersehnten 
Friedenszeit zwischen unserem Vater¬ 
lande und dem Kalifenreich einen Aus¬ 
tausch von Rohstoffen und Handels¬ 
waren herbeizuführen, wie er bisher 
kaum geahnt wurde. In solcher Zeit 
dürfte es doppelt angebracht sein, mit 
kurzen Worten zu kennzeichnen, was die 
deutsche Arbeit im näheren Orient er¬ 
streben muß! Dabei handelt es sich 
sicherlich vor allem um dreierlei: 

Erstens gilt es, den türkischen Bau¬ 
ernstand geistig und wirtschaftlich so 
weit zu heben, daß er imstande ist, auf 
dem heimatlichen Boden die Getreide¬ 
mengen zu erzeugen, welche das Land 
bei sachgemäßer Behandlung zu liefern 
vermag. Da die Türkei in erster Linie ein 
Agrarstaat ist und den Aufwand des 
eigenen Staatshaushalts ebensogut wie 
die fremde Wareneinfuhr aus dem Er¬ 
trage der Ernten bezahlen muß, ist die 
erfolgreiche Arbeit der bäuerlichen Be¬ 
völkerung die unerläßliche Vorbedin¬ 
gung jeglichen Fortschritts. 

Dann muß es unsere Aufgabe sein, 
dem Lande einen hinreichend unterrich¬ 
teten und genügend besoldeten Beam¬ 
tenstand heranzuziehen, der nicht nach 


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761 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 762 


Art des russischen Tschinownik zum 
schädlichen Parasiten seiner Pflegebe¬ 
fohlenen wird, sondern sich die sach¬ 
liche Durchführung aller Regierungs- 
maßregeln in pflichtgemäßer Weise zur 
Aufgabe macht, denn der Bauer wird 
nur dann mit Lust und Liebe an die Ar¬ 
beit gehen, wenn er sicher ist, nicht 
durch allerlei Willkür um die Früchte 
seines Fleißes betrogen zu werden. 

Drittens müssen wir alles daransetzen, 
die Wehrmacht der Türkei derartig zu 
verstärken, daß sie künftighin imstande 
ist, ihre Selbständigkeit aus eigener 
Macht zu verteidigen. Ohnedem würden 
wir Gefahr laufen, bei aller wirtschaft¬ 
lichen Arbeit im osmanischen Reiche 
Saaten zu streuen, deren Früchte schlie߬ 
lich! unseren Feinden zugute kämen. 

Gott sei Dank liegt die Sache so, daß 
es uns nicht schwerfallen kenn, den 
Türken zu zeigen, ihr Nutzen sei auch 
der unsere, und unser Nutzen der ihre; 
wäre es doch die kurzsichtigste Verblen¬ 
dung, irgendeinen Teil dieses Reiches zu 
eigenem Besitz an uns zu bringen, das 
uns am meisten zu nutzen vermag, wenn 
es gelingt seinen ganzen Organismus 
mit neuem Leben zu erfüllen. 

Es ist selbstverständlich, daß ein 
großer, vielleicht der größte Teil der Ar¬ 
beit welche in der Türkei zu leisten ist 
der Schule zufällt Hoffentlich wird bei 
unseren Bemühungen, den Osmanen 
bei der Reform ihres Schulwesens mit 
Rat und Tat beizustehen, der schlimme 
Fehler vermieden, daß man von oben 
nach unten bauen will und die Arbeit 
nicht im Dorf, sondern in der Hauptstadt 
beginnt und endet Wie verkehrt das 
wäre, könnten uns schon die Erfahrun¬ 
gen der Franzosen lehren, die von Per- 
uot kurz vor dem Weltkriege in einem 
inhaltsreichen Buche (Rapport sur un 
voyage d’frtude ä Constantinople, en 
figypte et en Turquie d’Asie. Paris 1914. 


Didot et Cie.) zusammengefaßt wurden, 
das auf dem Schreibtische keines Lands¬ 
mannes fehlen sollte, der sich mit diesen 
Fragen beschäftigen muß. Es entspricht 
durchaus den Tatsachen, wenn Pemot in 
diesem Buche seinen Landsleuten zu¬ 
ruft: „Nicht dadurch, daß wir Lyzeen 
und Kollegs vervielfachen, werden wir 
unseren Einfluß vermehren, sondern viel 
eher dadurch, daß wir die Schöpfung 
technischer Institute und Lehranstalten 
für Handel und Ackerbau begünstigen, 
und auf dem Wege, daß wir die Volks¬ 
schulen vervollkommnen, welche die 
Schüler auf jene Lehranstalten voibe- 
reiten.“ Sicherlich ist eine der wichtig¬ 
sten Aufgaben die Bildung eines an¬ 
spruchslosen eingeborenen Lehrerstan¬ 
des, der genaue Kenntnis der Volksnatur 
und unbedingte Treue gegen den Glau¬ 
ben und die Sitte der Väter mit ehrlicher 
Parteinahme für die abendländischen 
Verbündeten vereinigt 
Wenn der Weltkrieg sein Ende er¬ 
reicht hat werden deutsche Lehrer zahl¬ 
reicher als je in den Orient strömen. 
Möchte man bei ihrer Auswahl nicht ver¬ 
gessen, daß ihre Tätigkeit nur dann von 
Erfolg gekrönt sein wird, wenn es sich 
um Männer handelt welche die Gabe 
besitzen, sich durch ihre ganze Art die 
Liebe ihrer Schüler zu erwerben. Der 
große Arzt und Organisator Rieder- 
Pascha, einer unserer Besten, die im 
Orient gewirkt haben, ruft seinen Lands¬ 
leuten mit vollem Rechte zu: .Alle Er¬ 
folge hängen hier viel mehr denn bei 
uns von der Persönlichkeit des Lehrers 
ab. Ohne Frage sind die Schüler per¬ 
sönlicher, suggestiver Beeinflussung un- 
gemein zugänglich, und zwar ganz 
gleich im guten wie im schlechten Sinne; 
viele von ihnen sind Wachs in den Hän¬ 
den des Lehrers; er kann sie zu Faulen 
und zu Fleißigen machen. Dazu gehört 
aber, daß der Lehrer vor allem eine In- 


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763 


Nachrichten und Mitteilungen 


dividualitftt ist, daß er an sich selbst 
glaubt und sich seines Wollens, Kön¬ 
nens und auch — Nichtkönnens voll be¬ 
wußt ist" (Dr. Robert Rieder-Pascha: 
Für die Türkei. Jena 1904. II, S. 9). 

Weither Art auch die Reformen im 
türkischen Reiche sein mögen, es darf 
sich dabei nur um solche Maßnahmen 
handeln, welche die Grundlagen des os- 
manischen Volkslebens, vor allem seine 
Religion, nicht im geringsten antasten, 
da in demselben Augenblick das Ver¬ 
trauen des Volkes, die unentbehrliche 
Vorbedingung seiner aufrichtigen Mit¬ 
arbeit, ohne die in letzter Linie doch 
nichts zu erreichen ist, unrettbar ver- 
lorenginge. Auch hier möchte ich wie¬ 
der Rieder-Pascha sprechen lassen: 

„Daß ein Fremder jemals imstande 
sein würde, eine tiefgreifendere, allge¬ 
meinere oder gar dauernde Reform der 
türkischen Zustande und islamischen 
Gepflogenheiten zu bewerkstelligen, 
halte ich für absolut ausgeschlossen, für 
einfach unmöglich. Der Fremde kann 
durch ehrliche Detailarbeit sich selbst 
und seinem Volke Ehre machen; er kann 
auch der Türkei ungemein viel nützen 
dadurch, daß er durch selbstlose Hin¬ 
gabe an die Sache, durch sein Beispiel 
anspomt zu fleißiger, tätiger Arbeit, daß 


764 

er günstige Vorbedingungen schafft für 
schnelle und sichere Erreichung eines 
bestimmten Ziels. Den Islam reformie¬ 
ren, d. h. ihn unseren ideellen und kul¬ 
turellen Begriffen naherbringen, könnte 
höchstens der Mohammedaner selbst, 
und auch der würde gut tun, recht vor¬ 
sichtig und wühlerisch zu Werke zu 
gehen. Sint, ut sunt, aut non sint!“ Der 
das schrieb, war kein schwarzseheri¬ 
scher Pessimist, sondern ein Mann der 
glaubensstarken Tat, wie sich jeder 
überzeugen kann, welcher der türki¬ 
schen Militarmedizinschule oder dem 
wogenbespülten Krankenhaus von Gül- 
hane einen Besuch abstattet 
Als ich zum letzten Male vor Meh- 
meds Moschee Rast hielt herrschte in 
Konstantinopel das unruhige Treiben 
einer garenden Zeit und die wohl¬ 
begründeten Sorgen unserer Landsleute 
ließen niemand des Tages recht froh 
werden. Wer weiß, wann es mir wieder 
vergönnt ist, von Peras Höhen zu den 
glücklichen Eilanden der Prinzeninaeln 
hinabzuschauen? — Hoffentlich darf ich 
dann die Überzeugung mit mir heim¬ 
nehmen, daß jenes Land, dem ich selbst 
ein gut Teil meiner Lebensarbeit gewid¬ 
met habe, noch eine sonnige Zukunft er¬ 
hoffen kann. 


Nachrichten und Mitteilungen 


Neutrale Stimmen. Amerika — Holland — 
Norwegen — Schweden — Schweiz. Einge¬ 
leitet von Rudolf Eucken. Leipzig 1916. 
S. Hirzel. 

Die Leipzigerverlagsbuchhandlung S. Hir- 
zel hat Vertreter der wichtigsten neutralen 
Lander aufgefordert, Ober die Ursachen und 
den Charakter des Krieges und Ober die 
Stimmung ihrer Völker möglichst objektiv 
zu berichten. Wenn man die große Vor¬ 
eingenommenheit berücksichtigt, die das 
Meiste charakterisiert, was über die gegen¬ 
wärtige Lage geschrieben worden ist, so 
wird man das vorliegende Unternehmen 
mit Freude begrüßen dürfen. Denn trotz 


der persönlichen Stellungnahme der Ver¬ 
fasser zum Kriege sind ihre Berichte in 
hohem Grade repräsentativ und daher ge¬ 
eignet, aufklarend zu wirken. Mit Recht sagt 
Eucken in seiner gehaltreichen und von 
jeder Intoleranz freien Einleitung, niemand 
werde das Ganze auf sich wirken lassen, 
ohne eine Bereicherung seines Wissens und 
eine Erweiterung seines Gesichtskreises an 
erfahren, und die hier vollzogene Aufdeckung 
der großen Zusammenhänge und der trei¬ 
benden Kräfte der Zeit werde dazu beitra¬ 
gen, daß die europäischen Völker ihr Ver¬ 
hältnis zueinander künftig nicht auf die 
Stimmung des Augenblicks allein stellen. 


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765 


Nachrichten und Mitteilungen 


766 


sondern einen soliden Boden dafür suchen. 
Unter den Eindrücken, die die Lektüre des 
vorliegenden Werkes hinterlaßt, bleibt dem 
Leser besonders der, daß der Einmarsch 
der deutschen Heere in Belgien in hohem 
Grade in allen neutralen Landern zur Ent¬ 
stehung der deutschfeindlichen Strömungen 
beigetragen hat, wobei natürlich die Fäl¬ 
schung der Öffentlichen Meinung durch die 
Presse der Gegner Deutschlands und na¬ 
mentlich durch den englischen Lügenfeld- 
zug die Hauptrolle spielte. Bei allem Be¬ 
streben, der deutschen Sache gerecht zu 
werden, herrscht zwischen den Verfassern 
keine Obereinstimmung bezüglich der Ur¬ 
sachen des Krieges. Beachtenswert ist 
jedenfalls die Ansicht des Anglo-Ameri¬ 
kaners Prof. Clapp, daß man in Amerika 
diesen Krieg als einen Wirtschaftskrieg 
zwischen England und Deutschland be¬ 
trachtet, ebenso die Klage des holländischen 
Philosophen Prof, van der Wyck, daß 
einige Staatsmänner und Geldmagnaten mit 
Hilfe der Zeitungsschreiber die Geschicke 
der Nationen bestimmen. Der Verfasser des 
Berichtes über Norwegen, Schuldirektor 
Karl Aas, zieht aus der gegenwärtigen 
Lage vor allem die Folgerung, daß der 
Krieg, ob er ein Volk zur Niederlage oder 
zum Sieg führt, zu den höchsten Obeln des 
Menschengeschlechts gehört. Am meisten 
mit der deutschen Sache sympathisieren der 
Deutsch-Amerikaner Prof. Carus und der 
hervorragende Historiker Schwedens Ha¬ 
rald H j ä rn e. Der Berner Theologe Prof. D. 
Karl Marti ist in seinem Berichte über die 
Schweiz wesentlich bestrebt, im eigenen 
Lande versöhnend zu wirken. Daher mag 
es wohl kommen, daß er das stark entente- 
freundliche Verhalten der westschweizeri¬ 
schen Presse während des Krieges mit wohl¬ 
wollender Nachsicht beurteilt. Andererseits 
lehnt er rückhaltlos gewisse Symptome einer 
gefährlichen Verquickung von Wissenschaft 
und Politik, wie die Gründung der Ver¬ 
einigung der schweizerischen Professoren 
und Dozenten ab. Die wichtigste Mission 
der Schweiz erblickt er darin, der Welt zu 
zeigen, daß Rassenverschiedenheit Einheit 
und Einigkeit des Staates nicht ausschließt, 
daß geistige Obereinstimmung ein festeres 
Band ist als Blutsverwandtschaft. J. B. 

Zwei Brüder. Feldpostbriefe und 
Tagebuchblätter. Erstes Bändchen 
Gotthold von Rohden. ZweitesBänd¬ 


chen Heinz von Rohden. Tübingen 1916 
bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 

Wie Gotthold v. Rohden 1 ) ist auch sein 
wenig älterer Bruder Heinz den Heldentod 
für das Vaterland gestorben; auch seine 
Feldpostbriefe und Tagebuchblätter sind von 
dem Vater, Konsistorialrat v. Rohden, als 
zweites Bändchen der dem jüngeren Sohn 
gewidmeten Veröffentlichung herausgege¬ 
ben worden. Sie verdienen durchaus als 
eine wertvolle Ergänzung und Vertiefung 
der Eindrücke hervorgehoben zu werden, 
die aus den Aufzeichnungen des jüngeren 
Bruders sich ergeben. Heinz v. Rohden, 
Theolog wie Gotthold, stand bei Ausbruch 
des Krieges bereits am Schluß des akade¬ 
mischen Studiums; er eilte, trotz zarter Ge¬ 
sundheit, zu den Waffen und wirkte, da er 
als Kriegsfreiwilliger nicht ankam, als Sani¬ 
täter und Begleiter von Lazarettzügen, bis 
ihm vergönnt wurde als Soldat einzutreten. 
Als Offizier hat ihn im Juli 1916 in siegreichem 
Kampf an der Ostfront die Todeskugel getrof¬ 
fen. An Reinheit und Adel der Gesinnung dem 
Bruder ebenbürtig, an Gaben und geistiger 
Entwicklung, namentlich an der Fähigkeit, 
sich mitzuteilen, ihm überlegen, hat er es 
schwerer gehabt als der Jüngere, sich in 
die Anforderungen der neuen Lage, in die 
Umgebung und die rauhe Wirklichkeit hin¬ 
einzufinden. Aber gerade deshalb sind seine 
Äußerungen ein um so eindrucksvolleres 
Zeugnis von der Stärke des Pflichtgefühls 
und des weltüberwindenden Idealismus, der, 
wie diese beiden, Tausende unserer deut¬ 
schen Jugend aus den HOrsälen der Universi¬ 
täten in den Weltbrand des furchtbaren 
Krieges geführt und in seinen Stürmen be¬ 
währt und geläutert hat. MOge das kleine 
Buch, das nun die Aufzeichnungen der bei¬ 
den Frühvollendeten vereinigt, weiten Krei¬ 
sen der Mitlebenden ein kräftiger Ansporn 
zu gleich hoher Erfassung ihrer Ziele, der 
Nachwelt aber ein Kranz treuen Gedenkens 
werden! P. D. Fischer, 

Wilhelm Merton. Reden von Oberbürger¬ 
meister Voigt und Stadtrat Prof. Dr.Stein, 
gehalten bei der Gedächtnisfeier der Stadt 
Frankfurt a. M. 2. Jan. 1917. Englert & Schlos¬ 
ser, Frankfurt a. M. 1917. 

Diese von einem großzügigen Ingenium 
geschaffene Monatsschrift mOge eines Gleich- 

1) Siehe den Aufsatz .Aus den Schüt¬ 
zengräben" im Januarheft. Die Red. 


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767 


Nachrichten und Mitteilungen 


768 


gerichteten gedenken, der die deutsche 
Sozialpolitik organisatorisch und wissen' 
schädlich zu befruchten vermochte, und des- 
sen Wirken und Werke — vielen unbe¬ 
kannt — dauernder als Erz sind. 

Wilhelm Merton, im Sturmjahr 1848 ge- 
boren, lernte das väterliche Geschäft, den Me* 
tall'Großhandel; die ReichsgrQndung erwei¬ 
terte die Ziele des Frflhgereiften, sein Blick 
umfaßte bald Erzeugung, Anfuhr und Vertei' 
lung der Metalle. Allmählich in vier Jahr- 
zehnte währender Arbeit verdrängte das 
Haus Merton den englischen Wettbewerb; 
wägen, wagen, erobern, ordnen, erhalten 
bildeten die Leitmotive dieses wahrhaft 
schöpferischen, weitausschauenden Kauf« 
raanns. 

Häufige Bleierkrankungen in den austra¬ 
lischen Minen seines Hauses führten ihn 
zur sozialen Hygiene, starkes Verantwort- 
lichkeitsgefOhl zur Erkenntnis, daß dieses 
einstige Neuland grOndlichst und nur mit 
großen Werkzeugen und Mitteln beadkert 
werden müßte. Soziale Berufsbeamte — 
nationalökonomisch und kaufmännisch ge¬ 
bildet — wurden die Pioniere Mertonscfaer 
Ideen. Von der Armenpflege aus entstanden 
das Frankfurter Institut für Gemeinwohl, die 
Gesellschaft für Wohlfahrtseinrichtungen, 


d. h. Mustereinrichtungen für Städte und 
Zentralverwaltungen. Das .Gewerbehygie¬ 
nische Institut“, die .Soziale Praxis“ als 
führendes Organ, das Berliner .Büro für 
Sozialpolitik* folgten. Titel, Konfession, Par¬ 
tei blieben bei der Wahl der Mitarbeiter 
unbeachtet. 

Zusammen mit Franz Adickes wurden 
von Wilhelm Merton die Grundlagen der 
neuen Universität Frankfurt geschaffen. Zum 
Gedächtnis eines im Westen ‘gefallenen 
Sohnes entstand hier der erste ordentliche 
Lehrstuhl für Pädagogik; vor dem Kriege 
mit andern gemeinsam ein Berliner For¬ 
schungsinstitut zur Psychophysik der mensch¬ 
lichen Arbeit Der Kriegswohlfahrtspflege 
kamen die jahrzehntelangen Erfahrungen zu¬ 
gute; der Tod traf ihn in den Sielen — auf 
dem Wege zur Arbeit. 

Wilhelm Merton war ein ewig Lernen¬ 
der, an sich und andern Arbeitender, sich 
stets Wandelnder; auch er .ein Pilgersmann 
in das gelobte Land!“ Seine Schöpfungen 
werden ihn überleben; das ist das Testa¬ 
ment an seine Mitarbeiter. Der Beste und 
Nächste von ihnen hat dies alles in der 
zweiten Rede feinfühlig und warmherzig 
geschildert 

B. Laquer-Wiesbaden. 


Fdr dfe Srhrtttleltuns; verantwortlich: Professor Dr. Max Corntceliue, Berlin W30, Luttpoktnrotte 4. 

Druck von B. Q.Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


11. JAHRGANG HEFT 7 1. APRIL 1917 


Die Auslandsstudien im preufsischen Landtag. 

Der Inhalt der im letzten Februarheft abgedruckten Denkschrift des preußischen Kul¬ 
tusministeriums über die Förderung der Auslandsstudien ist in der 69. Sitzung des Ab¬ 
geordnetenhauses am 28. Februar das Hauptthema aller auftretenden Redner gewesen. 
Unsem Lesern wird es ohne Zweifel erwünscht sein, auch diese Darlegungen sich be¬ 
quem zugänglich gemacht zu sehen. Nachstehend sind die einleitende Rede des Ministers 
und aus den Reden der Abgeordneten die bezüglichen Teile nach dem stenographischen 
Bericht zu wesentlich vollständigem Abdruck gebracht. Auch weiterhin wird die Inter¬ 
nationale Monatsschrift diesem großen und ganz in dem Rahmen ihrer eigenen Be¬ 
strebungen stehenden Unternehmen eingehende Behandlung noch zuwenden. M. C. 


D. v. Trott zu Solz, Minister der geist¬ 
lichen und Unterrichtsangelegenhei¬ 
ten: Wie von verschiedenen Seiten 
bereits hervorgehoben worden ist, und 
wie Sie wohl nicht anders erwartet ha¬ 
ben, sind in dem Voranschlag des 
Staatshaushalts auch im dritten 
Kriegsjahr die erforderlichen Mittel wie¬ 
der vorgesehen, um auf dem weiten 
Gebiete der Kulturpflege die von dem 
Staate übernommenen Aufgaben wie 
bisher zu erfüllen. Das gilt auch von den 
Universitäten und technischen Hoch¬ 
schulen. Wenn hier gegen die Friedens¬ 
zeit im ganzen sich eine geringere Au§- 
gabesumme ergibt, so hängt das mit der 
Unmöglichkeit zusammen, in dieser Zeit 
größere Bauten in Angriff zu nehmen, 
deren Ausführung sonst hier besonders 
in das Gewicht fiel. Wenn man das be¬ 
rücksichtigt, ergibt sich, daß nicht nur 
die bisherigen Mittel wieder angefordert 
werden, sondern daß sie sogar an man¬ 
chen Stellen eine Erhöhung erfahren ha¬ 
ben, und daß selbst für neue Zwecke 
neue Mittel erbeten werden. 

Ich bin dem Herrn Finanzminister 
ganz besonders dankbar dafür, daß 
dies auch für die Förderung der 
Auslandsstudien geschehen konnte, 

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über die ich mir erlaubt habe, Ihnen 
eine Denkschrift vorzulegen. Ich möchte 
dieser Denkschrift einige begleitende 
Worte hinzufügen, und deshalb habe ich 
schon zu Beginn der Debatte das Wort 
erbeten. 

Ich darf meiner Freude darüber Aus¬ 
druck verleihen, daß diese Denkschrift 
vielseitige Zustimmung gefunden hat, 
und daß ihr auch sonst in der Öffentlich¬ 
keit viel Interesse ■ entgegengebracht 
worden ist. Die in ihr entwickelten 
Ziele gehen über das hinaus, was den er¬ 
sten Anstoß zur Erörterung dieser Aus¬ 
landsfragen in den Parlamenten und in 
der Öffentlichkeit gegeben hat. Wäh¬ 
rend diese Erörterung sich zunächst an 
die Vorbildung unserer Auslandsbeam- 
ten und Auslandsinteressenten anschloß, 
habe ich im Frühjahr 1914, als diese Fra¬ 
gen zum erstenmal hier im Landtag er¬ 
örtert wurden, die Aufgabe weiter ge¬ 
stellt und eine allgemeine Förderung 
der Auslandskenntnisse gefordert, die 
nicht auf einer noch so glänzend ausge¬ 
statteten, aber immer doch von einer 
verhältnismäßig kleinen Zahl besuchten 
Auslandsfachschule, sondern nur da er¬ 
reicht werden können, wo unsere aka¬ 
demische Jugend ihre Bildung erwirbt: 

25 

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771 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


772 


auf unseren Universitftten und sonstigen 
Hochschulen. 

Meine Herren, ich habe damals zu die¬ 
sem leitenden Gedanken vielseitige Zu¬ 
stimmung gefunden und habe zugesagt, 
ihn weiter zu prüfen und zu klaren, um 
Ihnen dann ein Programm vorzulegen, 
das grundsätzlich zu der Frage Stel¬ 
lung nimmt und Richtlinien für ihre Lö¬ 
sung gibt, die aber nicht im einzelnen 
bindend sein sollen, vielmehr elastisch 
genug, um spateren Erfahrungen und 
hervortretenden Bedürfnissen noch 
überall Rechnung tragen zu können. In 
diesem Sinne habe ich mich mit der An¬ 
gelegenheit weiter befaßt und habe sie 
unter Zuziehung sachverständiger Kräf¬ 
te, auch unter Eingliederung einer sol¬ 
chen in mein Ministerium, nach allen 
Seiten hin geprüft und erwogen. Das Er¬ 
gebnis ist in knappen Zügen in der 
Denkschrift niedergelegt, die Ihnen zu¬ 
gegangen ist, und in der ich Sie bitte, 
das von mir zugesagte Programm 
erblicken zu wollen. 

Meine Herren, dies mein Programm 
steht auf der Überzeugung, daß ein 
Weltvolk, wie wir es geworden sind, 
und wie wir es bleiben müssen, wenn 
wir nicht verkümmern sollen — darum 
geht ja der gewaltige Kampf, in dem 
wir stehen —, daß ein Weltvolk, sage 
ich, als Rüstzeug der Auslandskenntnis 
bedarf, nicht nur für seine Auslandsbe¬ 
amten und seine Auslandsinteressenten, 
sondern als ein Bestandteil seiner nati¬ 
onalen Bildung überhaupt. Hier brau¬ 
chen wir in der Tat eine gewisse 
Neuorientierung. Wir müssen unserer 
Bildung eine neue Note hinzufügen, das 
Verständnis für die Weltzusammenhän¬ 
ge, für die großen Fragen der Weltpoli¬ 
tik und der Weltwirtschaft, für die Welt¬ 
aufgaben Deutschlands und seine Welt¬ 
stellung. Das aber, meine Herren, kann 
nur erreicht werden durch eine mög¬ 


lichst weite Verbreitung gediegener 
staats wissenschaftlicher Kenntnisse nach 
dem Auslande hin, und deshalb müssen 
in den Dienst dieser Aufgabe unsere Uni¬ 
versitäten und sonstigen Hochschulen 
gestellt werden; diese müssen, soweit es 
noch daran fehlt, im fortschreitenden 
Maße mit den erforderlichen Einrichtun¬ 
gen versehen werden. Hierbei kommen 
in erster Linie allerdings unsere Univer¬ 
sitäten in Betracht; aber sie nicht allein, 
sondern auch unsere sonstigen Hoch¬ 
schulen, die Handelshochschulen und 
ganz besonders auch die technischen 
Hochschulen werden dazu herangezo- 
gen werden müssen. Das versteht sich 
ganz von selbst bei der Bedeutung, wel¬ 
che die Technik in unserm modernen 
Leben hat. 

Meine Herren, unsere Universitäten 
sind Pflegstätten der Wissenschaft, und 
wir pflegen auch dort die Wissenschaft 
um ihrer selbst willen. Aber sie sind auch, 
und zwar in erster Linie, Lehranstalten, 
um die herangereifte Jugend für man¬ 
nigfache Berufe und Lebensstellungen 
wissenschaftlich vorzubereiten und tüch¬ 
tig zu machen. Lehre und Forschung 
sind an unsern Universitäten vereint, 
und darin erblicken wir die Wurzel ihrer 
Blüte. Daran werden wir unbedingt fest- 
halten müssen. Aber innerhalb der Uni¬ 
versität dient doch die wissenschaftliche 
Forschung vor allem als Quelle, aus der 
die Kraft geschöpft wird, die den Unter¬ 
richt auf die höchste Stufe hebt und die 
Lernenden wirkungsvoll dazu führt, daß 
sie, wo immer das Leben sie hinstellt, 
ihren Platz ausfüllen und zu wertvollen 
Staatsbürgern und wertvollen Gliedern 
der menschlichen Gesellschaft werden. 

Schon das, meine Herren, weist darauf 
hin, daß unsere Universitäten sich nicht 
mit wissenschaftlicher Einzelarbeit, mag 
sie auch noch so tief, in ihrer Art noch 
so bedeutungsvoll sein, begnügen, sich 


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Die Auslandsstudien Im preußischen Landtag 


774 


darin nicht erschöpfen, nicht zersplittern 
dürfen. Unsere Universitäten müssen auf¬ 
nehmend und befruchtend auch mitten 
in unserm nationalen Leben stehen, des¬ 
sen nimmer rastende Bewegung auf¬ 
merksamen Auges verfolgen und daraus 
die Bildungsbedürfnisse der Nation 
scharfen Blicks erkennen, um sie wissen¬ 
schaftlich zu erfassen und in Verbin¬ 
dung zu setzen mit den großen alten 
Wissenschaftsgebieten, damit auf die¬ 
sem Wege das wohl farbenreiche, aber 
harmonisch abgestimmte Bild einer ein¬ 
heitlichen nationalen Kultur erworben 
wird. Wenn die Universitäten auch dar¬ 
in ihre Aufgabe erblicken, dann werden 
sie ihren großen Überlieferungen getreu 
bleiben und selbst unter so komplizier¬ 
ten Lebensverhältnissen, wie sie die 
Neuzeit bringt und bringen wird, die 
Stellung, die ihnen gebührt, behaupten: 
im Mittelpunkte, im Brennpunkte unse¬ 
rer Bildung, unseres Volkes zu stehen. 

Mit vollem Recht und mit gutem 
Grunde wenden wir uns deswegen an 
die Universitäten und an die sonstigen 
Hochschulen mit dem Verlangen der 
Durchdringung unserer Bildung mit 
staatswissenschaftlichen Kenntnissen, 
mit Auslandskenntnissen, wie sie die 
Denkschrift versteht und kennzeichnet 
Freilich, der Weg ist lang und das Ziel 
hochgestellt; das läßt sich nicht verken¬ 
nen, und daraus ist ja auch gegep meine 
Auffassung und gegen meinen Plan von 
einer Seite aus Einwand erhoben wor¬ 
den. Es ist gesagt worden, das Tempo 
sei zu langsam. Lassen Sie mich hierauf 
mit einigen Worten eingehen, ebenso wie 
auf den weiteren Vorwurf, daß der Rah¬ 
men meines Planes zu eng gespannt sei. 

Ich beginne mit dem letzteren: der 
Rahmen sei zu eng. Die Aufgabe, wie 
ich sie fasse, ist mit vollem Bewußtsein, 
mit voller Absicht begrenzt worden. Die 
Vertreter des Gedankens einer großen 


zentralen Auslandshochschule gingen 
sehr viel weiter. Sie wollten eine Anstalt 
begründen, in der alle auf das Ausland 
bezüglichen Aufgaben und Fragen be¬ 
handelt und gelöst werden sollten. Auf 
manchen Gebieten, auf dem Gebiete des 
Nachrichtenwesens, der Propaganda im 
Auslande, der Beziehungen zu unseren 
Ausländsdeutschen, der Ausbildung der 
Auslandsbeamten und auch sonst emp¬ 
fand man lebhaft bestehende Mängel 
und glaubte, sie mit einem Schlage be¬ 
seitigen zu können, wenn man eine Zen¬ 
trale schüfe, von der alle diese Aufga¬ 
ben mit großen Mitteln gelöst werden 
sollten. Dabei schien die einheitliche 
Leitung unserer Auslandspolitik auch 
auf ein Einheitsinstitut hinzuweisen. 
Aber, meine Herren, wenn man die Fra¬ 
ge näher prüfte, dann ergab sich doch, 
daß, wenn man wirklich dauernde wert¬ 
volle Arbeit leisten und nicht schnell nur 
eine Organisation schaffen wollte, man 
dann nicht an die einheitliche Leitung 
unserer ausländischen Politik, sondern 
an die Vielgestaltigkeit unseres staatli¬ 
chen Daseins, unserer kulturellen Be¬ 
tätigung und unserer wirtschaftlichen 
Interessen anknüpfen mußte. Es wird 
vielleicht nicht unangebracht sein, wenn 
ich einmal im einzelnen die verschiede¬ 
nen Auslandsaufgaben, die oft mehr 
warm empfunden als klar durchdacht 
sind, zusammenstelle; das läßt sich nach 
den Wirkungszielen etwa in folgender 
Weise tun. Zunächst in der Wirkung 
auf die Heimat: 1. Weckung des Ver¬ 
ständnisses für die weltpolitische Betä¬ 
tigung Deutschlands in allen Kreisen des 
Volkes, beginnend mit der Bildungs¬ 
schicht, 2. Fachbildung für Reichsbeam¬ 
te und Auslandsinteressenten. Zur Er¬ 
reichung dieses Zieles werden unent¬ 
behrlich, 3. wissenschaftliche Vertiefung 
unsrer Auslandskenntnisse, 4. Schaffung 
eines Nachrichtenwesens. Sodann mit 

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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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der Wirkung auf das Ausland, 5. Ein¬ 
flußnahme auf die öffentliche Meinung 
des Auslands, besonders die ausländi¬ 
sche Presse, Zerstörung des engli¬ 
schen Nachrichtenmonopols, Kabelpo- 
litik, drahtlose Telegraphie und anderes 
mehr, 6. wirtschaftliche Propaganda 
durch Ausstellungen, Kinos und derglei¬ 
chen, 7. Kulturpolitik auf dem Gebiete 
der Literatur, der Musik, der Kunst und 
Wissenschaft, Ausbau unseres Ausland¬ 
schulwesens. Eine Sonderstellung ge¬ 
bührt endlich den Beziehungen des 
Deutschtums im Ausland, also 8. die 
Pflege des Deutschtums im Ausland. 

Alle diese Aufgaben können unmög¬ 
lich von einer Stelle aus gelöst werden; 
es ist dazu auch gar nicht nur eine 
Stelle berufen; hier liegen vielmehr, sich 
gegenseitig berührend, Aufgaben des 
Reiches, der Bundesstaaten und der pri¬ 
vaten Initiative. Wenn immer wieder 
Meinungsverschiedenheiten darüber her¬ 
vorgetreten sind, um wessen Aufgabe 
es sich hier handle, ob das Reich oder 
ob die Bundesstaaten hier in Tätigkeit 
zu treten hätten, so hat das vielleicht 
auch seinen Grund darin, daß es sich 
eben nicht um eine Aufgabe, sondern 
um verschiedene Aufgaben handelt, von 
denen die einen unzweifelhaft Sache des 
Reiches sind, die anderen aber ebenso 
unzweifelhaft nur von den Bundes¬ 
staaten oder durch private Initia¬ 
tive gelöst werden können. Das 
wird man auseinanderhalten müssen, 
wenn es auch gewiß falsch wäre, diese 
verschiedenen Faktoren und Gebiete 
nun schematisch voneinander zu tren¬ 
nen; die einen werden auf die anderen 
übergreifen.. Ist es doch auch für das 
Reich gar nicht möglich, seine Propa¬ 
ganda im Auslande zu treiben, ohne den 
Unterbau der Bundesstaaten; anderer¬ 
seits wird die Ausbildung der Auslands¬ 
beamten nur nach den Richtlinien, die 


das Reich'aufstellt, erfolgen können, 
während das Nachrichtenwesen alle 
drei FaktQren berührt. So findet eine 
vielfache Überschneidung statt Was 
aber die staatlichen Aufgaben anlangt, 
so wird man sagen müssen, daß die 
Propaganda im Ausland wesentlich 
Sache des Reichs ist, während die Bil¬ 
dungspolitik im Inlande den Bundes¬ 
staaten zuzuweisen sein wird. Auf die¬ 
ser Grundlage ruhen die Ausführungen 
der Denkschrift. 

Wer alle diese auf das Ausland 
bezüglichen Aufgaben einer großen 
Organisation unterstellen und in einem 
Institut zusammenfassen wollte, der be¬ 
ginge, glaube ich, einen doppelten Feh¬ 
ler. Er begönne den Hausbau mit dem 
Dache und baute von oben nach unten, 
anstatt von unten nach oben, und er ver¬ 
einigte unter einem Dach eine Fülle der 
verschiedenartigsten Konstruktionen, so 
daß die eine der anderen Licht und 
Luft wegnehmen würde. Diesen doppel¬ 
ten Fehler möchte ich vermieden sehen, 
und danach ist mein Plan gerichtet. Die 
Unterrichtsverwaltung beschränkt sich 
auf das Unterrichtsproblem, sucht dies 
aber in viel weiterer und umfassenderer 
Weise zu lösen, als es in einem Einzelin¬ 
stitut möglich wäre. Aber auch die ein¬ 
zelnen der Anregung und der Fachbil¬ 
dung dienenden Institute sollen vorläu¬ 
fig nict)t organisatorisch zusammenge¬ 
preßt werden; sie sollen sich frei entwik- 
keln. Nicht das Ausland schlechthin, 
sondern die einzelnen Kulturkreise des 
Auslandes sollen Maß und Richtung für 
die organisatorische Zusammenfassung 
abgeben. Ob und inwieweit die Ent¬ 
wicklung dazu führen wird, alle diese 
Zentren der Arbeit in den einzelnen 
Hochschulen im Interesse des Stunden¬ 
plans oder auch von Prüfungen später 
in nähere Verbindung zu bringen, wird 
man abwarten müssen. 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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Zusammenfassend kann ich deshalb 
wohl sagen: der Rahmen ist nicht 
eng, sondern er ist weit gezogen; nur die 
Aufgabe ist begrenzt. Aber gerade durch 
die Begrenzung der Aufgabe und durch 
ihre Zuweisung an die sachverständigen 
Stellen wird auf eine gesunde Entwick¬ 
lung der Sache gerechnet werden kön¬ 
nen. Wenn gesagt worden ist, man 
könne das eine tun und das andere nicht 
lassen, man solle nur die staatswissen¬ 
schaftliche Durchdringung unserer Bil¬ 
dung in das Werk setzen und doch dane¬ 
ben ein großes Auslandsinstitut stellen, 
so liegt da doch die Gefahr einer Über¬ 
organisation vor, für die ich, ganz abge¬ 
sehen von der finanziellen Seite, doch 
die Verantwortung nicht übernehmen 
möchte. 

Damit, meine Herren, gelange ich zu 
dem zweiten Einwande, den ich vor¬ 
hin erwähnte, daß ich einen zu langsa¬ 
men Ausbau empfehle. Es ist gesagt 
worden, daß Gefahr im Verzüge sei. 
Auch hier sind, wie es scheint, die ver¬ 
schiedenen Aufgaben nicht gehörig aus¬ 
einandergehalten. Gewiß, meine Her¬ 
ren, dringlich sind alle Aufgaben, aber 
Unterrichtsfragen bedürfen der Ausrei¬ 
fung, Organisationen lassen sich schnell 
ins Leben rufen. Was an letzteren wäh¬ 
rend des Krieges zum Teil in großarti¬ 
ger Weise von Reich und privater Seite 
geschaffen worden ist, ist Ihnen bekannt. 
Man darf annehmen, daß nicht wenige 
von diesen Organisationen auch über 
den Krieg hinaus bestehen bleiben wer¬ 
den, und dann wird es sich fragen, ob 
nicht auch diese Organisationen für den 
Unterricht verwendet werden können. 
Ich möchte annehmen, daß man diese 
Frage wird beantworten müssen. Aber 
das läßt sich zur Zeit noch nicht regeln, 
dazu bedarf es friedlicher Verhältnisse. 

Auf dem Gebiete des Bildungswesens 
können wir, wie gesagt, nur langsam 


und systematisch vorwärtsgehen. Hier 
werden auch noch manche Widerstände 
zu überwinden sein, und es müssen auch 
erst die rechten Formen gefunden, neue 
Formen erprobt werden. Es fehlt zum 
Teil auch an ausreichenden Lehrkräften. 
Wenn hier auch der Kreis weiter gezo¬ 
gen werden soll, als es sonst üblich ist, 
so kann doch nicht jeder, der sich als 
Sachverständiger fühlt, als solcher an¬ 
genommen werden. Vielleicht auf kei¬ 
nem anderen Gebiet ist die Gefahr des 
Dilettantismus so groß wie auf dem der 
Auslandswissenschaft. Deshalb ist hier 
Vorsicht am Platze. Liegt unter diesen 
Umständen meiner Ansicht nach ein all¬ 
mähliches und vorsichtiges Entwickeln 
im Wesen und der Natur der Sache, so 
wird ja auch der finanzielle Gesichts¬ 
punkt — das bedarf wohl keiner weite¬ 
ren Ausführung — immerhin mit ins Ge¬ 
wicht fallen müssen. Aber ich freue mich 
doch, aus den Verhandlungöl in der 
Kommission den Eindruck gewonnen zu 
haben, daß die Herren der Auffassung 
sind, daß die Aufgabe von solcher Be¬ 
deutung ist, daß finanzielle Gesichts¬ 
punkte doch nur in zweiter Linie für sie 
bestimmend sein können. 

Meine Herren, der Weg, den ich auf 
dem Höhepunkt .des Weltkrieges im 
sicheren Vertrauen auf eine glückliche 
und große Zukunft unseres Vaterlandes 
einzuschlagen Ihnen empfehle, eröffnet 
dem, der etwas näher zusieht und die 
angedeuteten Linien vertiefend und ver¬ 
breiternd verfolgt, weite Perspektiven 
für unser Volksleben und für unser ge¬ 
samtes Bildungswesen. Wie gesagt, das 
Ziel ist hochgestellt, und der Weg dahin 
ist lang. Es wird dauernder, zielbewu߬ 
ter Artieit bedürfen; die begehrte Frucht 
wird nur langsam reifen. Aber um so 
mehr ist es Zeit, die Hand ans Werk zu 
legen und mit der Arbeit zu beginnen. 
Wir sind dazu bereit und wollen uns, 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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wie wir es von der Vorbereitung nicht 
getan haben, auch von der Ausführung 
des Planes durch den Krieg nicht ab¬ 
halten lassen, erblicken vielmehr in ihm 
und seinen Erscheinungen einen neuen 
und dringenden Anstoß, nicht zu zö¬ 
gern und alsbald den ersten Schritt zu 
tun. Geben Sie, meine Herren, dazu 
Ihre Zustimmung, indem Sie die er¬ 
forderlichen Mittel bewilligen. 

Dr. Heß (Zentr.): ... nun möchte ich 
mir erlauben, auf das zu kommen, was 
nicht nur in diesem Jahre zweifellos das 
Rückgrat der ganzen Verhandlungen in 
der Kommission über den Haushalt der 
Universitäten gebildet hat, sondern was 
wahrscheinlich und hoffentlich auf lan¬ 
ge Jahre hinaus dieses Haus gemeinsam 
mit der Königlichen Staatsregierung auf 
das eingehendste und lebhafteste be¬ 
schäftigen wird. Das ist das, was in der in 
der letzten Zeit so viel erörterten Denk¬ 
schrift Über die Förderung der 
Auslandsstudien enthalten ist. Es 
war ein sehr glücklicher Gedanke des 
Herrn Ministers, daß er bereits vor Ein¬ 
tritt in diese Verhandlungen Erklärun¬ 
gen zu seiner Denkschrift gegeben hat. 
Er hat dabei eine ganze Reihe von Ge¬ 
sichtspunkten gegeben, die die knapp¬ 
gefaßte Denkschrift nicht hat entwickeln 
können, und die auch in der Kommission 
nicht zum Ausdruck gebracht worden 
sind. Ich habe mir gestattet, über diese 
Denkschrift bereits im gedruckten Wort 
(Köln. Volkszeitung) mich des näheren 
auszulassen und meine Darlegungen 
dem Herrn Minister zur Kenntnis zu 
bringen; hier möchte ich einige weitere 
Gedanken zum Vortrag bringen. 

Ich begrüße an der Denkschrift vor 
allen Dingen zweierlei. Zunächst die 
Art der Organisation, das Fundament, 
auf dem dieser ganze Neubau wissen¬ 
schaftlicher Betätigung errichtet werden 
soll. 


Eins wird man freilich nicht übersehen 
dürfen. Der Herr Kollege Friedberg 
hat durchaus recht gehabt, wenn er sich 
in der Kommission dahin äußerte, daß 
die Denkschrift eigentlich gar nicht die 
Ausführung der Ideen dieser Versamm¬ 
lung ist. Das war ganz richtig, und ich 
habe mich bei der Durchsicht des Kom¬ 
missionsberichtes darüber gewundert, 
daß er mit dieser Ansicht ganz allein¬ 
gestanden hat. Wir hatten tatsächlich 
von vornherein uns die Lösung dieser 
wichtigen Frage anders gedacht. Inso¬ 
fern bietet allerdings die Denkschrift, 
wie sie uns nun vorgelegt worden ist, 
eine gewisse Überraschung. Aber ich 
will alsbald hinzufügen: eine ebenso an¬ 
genehme wie geistreiche Überraschung. 
Wenn ich mir das Kompliment gestatten 
darf, so möchte ich sagen: Derjenige, 
der dieser Denkschrift nahesteht, scheint 
mir ein ebenso kluger wie logischer 
Kopf zu sein. Ich gebe das ganz neidlos 
zu, weil ich meine, man soll das Gute 
loben da, wo man es findet. Deshalb 
wird auch der Herr Minister, wenn ich 
Ihn darauf aufmerksam mache, daß sich 
weite Kreise dieses Hauses etwas be¬ 
kümmert fühlen, weil man die Initia¬ 
tive, die in dieser Frage vom Abgeord¬ 
netenhause entwickelt worden ist, in 
der Denkschrift nicht genügend aner¬ 
kannt hat, keinen Anstand nehmen, bei 
einer anderen Gelegenheit diese Initia¬ 
tive wohlwollend anzuerkennen. Ich für 
meine Person gestehe ganz neidlos, daß 
die Denkschrift die Initiative des Hau¬ 
ses im Kern durchaus getroffen und 
über diese Initiative hinaus die Absich¬ 
ten des Hauses im höchsten Maße ge¬ 
fördert hat. Ich meine, daß die Denk¬ 
schrift auf dem richtigen Wege ist, 
und das, was der Herr Minister eben 
ausgeführt hat, hat mich in dieser Auf¬ 
fassung nur bestärkt. Der Weg der De¬ 
zentralisation ist der einzig richtige. 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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Wir können nicht zentralisieren, bzw. 
wenn wir es so tun, wie es das Haus 
in seiner Initiative gedacht hat, da kom¬ 
men wir nicht zu dem großen Ziele, das 
wir uns gesetzt hatten. 

Dabei will ich allerdings keinen 
Zweifel lassen, daß auch nach den Aus- 
fflhrungen, die der Herr Minister soeben 
gemacht hat, immerhin von seiten mei¬ 
ner Freunde noch einige große Wünsche 
bestehen bleiben. Wir können dem 
Herrn Minister nicht in jeder Beziehung 
in dem folgen, was er gesagt hat, weil 
dabei nicht alle Kräfte ausgenutzt wer¬ 
den, die in unserem deutschen Volke 
stecken. Ich gebe zu, Dezentralisation ist 
das Richtige, aber wir sind der Meinung, 
es gehört trotzdem zu dieser Dezentrali¬ 
sation ein gewisser — ich möchte sagen 
— Oberbau. Wenn ich den Herrn Mini¬ 
ster recht verstanden habe — er sprach 
bei dieser Gelegenheit etwas leise —, 
so hat er ja selbst diesen Ausdruck ge¬ 
braucht. Ein gewisser Oberbau zur Krö¬ 
nung des ganzen Gebäudes, in dem wir 
die ganze wissenschaftliche Tätigkeit in 
vollendeter wissenschaftlicher Weise 
zusammenfassen, gehört unseres Erach¬ 
tens dazu. Ich würde hier auch zum 
Ausdruck gebracht haben, daß wir die 
technischen Hochschulen wesentlich 
stärker für diesen Zweck ausgenutzt 
wünschen, als die Denkschrift es tut. In¬ 
dessen hat der Herr Minister ja soeben 
mit großer Wärme ausgesprochen, er 
halte die Benutzung der technischen 
Hochschulen ebenso wie die Heranzie¬ 
hung der Handelshochschulen für etwas 
ganz Selbstverständliches. Auf dem 
Standpunkt stehen wir allerdings auch. 

Also nur auf dem Wege der Dezentra¬ 
lisation lassen sich die breiten Schichten 
unserer Intellektuellen und unsere ge¬ 
samte Volksintelligenz so erfassen, wie 
das nötig ist, um den Gedanken zur vol¬ 
len Auswirkung kommen zu lassen. Wie 


nun die daneben von uns gewünschten 
Zentralinstitute beschaffen sein sollen, 
kann man prima vista nicht gut sagen; 
das ist nicht leicht zu übersehen. Der 
Herr Minister hat recht, wenn er von 
großen Schwierigkeiten spricht Ob man 
z. B. zu einem weiteren Ausbau unseres 
Orientalischen Seminars in Berlin kom¬ 
men oder des Instituts für Weltwirtschaft 
und Seeverkehr in Kiel oder des Kolo- 
nialinstituts in Hamburg schreiten soll, 
das muß eben genau überlegt werden. 
Nur meinen wir: es muß etwas geschaf¬ 
fen werden, was das schöne, stolze 
Werk krönt, und es wird sich schon ein 
Weg finden lassen, der uns das Richtige 
treffen läßt 

Nun habe ich mich darüber gewun¬ 
dert daß in der Kommission eine Seite 
der Frage überhaupt nicht berührt 
worden ist, auf die ich für meine Per¬ 
son einen ganz besonderen Nachdrude 
lege und meine Freunde mit mir. Daß 
der Herr Minister diesen Weg gewählt 
hat, ist nämlich nicht zuletzt aus ver¬ 
fassungsrechtlichen Gründen zu begrü¬ 
ßen. Meine Herren, gerade in einer Zeit, 
die dem genialsten Gedanken Otto 
v. Bismarcks, seinem Meisterwerke 
des bundesstaatlichen Föderativsystems 
manchmal so gefährlich zu werden 
droht wie die unserige, gerade in der 
Jetztzeit, die unsere angespannte Auf¬ 
merksamkeit verlangt, damit dieses 
stolze Bauwerk nicht auf diesem oder 
jenem Wege unterwühlt wird, ist es gar 
nicht hoch genug zu werten, daß der 
Herr Kultusminister allen Versuchen 
von vornherein ein festes Nein entge¬ 
gensetzt, die seine Kompetenz in einem 
der vornehmsten bundesstaatlichen 
Reservate irgendwie anzutasten suchen. 
Das ist eben das Gebiet des Unter¬ 
richtswesens. Dafür kann man dem Kul¬ 
tusminister gar nicht genug dankbar 
sein; das wird jeder zugeben, der von 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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der Idee beherrscht ist — und ich bin das 
allerdings und meine Freunde mit mir 
—, daß das Bismarcksche System des Fö¬ 
derativstaates auch heute noch gut und 
richtig ist. 

Nun hat der Herr Kultusminister eben 
gesagt, es wäre ihm der Vorwurf ge¬ 
macht worden, er schlüge ein zu langsa¬ 
mes Tempo ein. Ja, ich für meine Per¬ 
son kann schlechterdings nicht wohl 
verstehen, wie man einen solchen Vor¬ 
wurf erheben kann. Daß ein sehr großer 
Zeitraum dazu gehört, um eine so feine 
und komplizierte Maschinerie überhaupt 
in Gang zu setzen, wie sie hier geplant 
ist, ist doch ganz selbstverständlich. Im 
übrigen meine ich, der Herr Minister 
spart schon dadurch eine ganze Menge 
Zeit ein, daß er, wie in seiner Denk¬ 
schrift steht, beabsichtigt, „für be¬ 
stimmte Fragen Männer der Praxis her¬ 
anzuziehen, sei es aus dem Wirtschafts¬ 
leben, sei es aus dem Außendienst 
des Reiches“. Meine Herren, das ist 
ein grundgesunder Zug, und wenn 
dem nachte^an^en wird, machen wir von 
vornherein eine ganze Reihe Kräfte ver¬ 
wendbar, durch die wir eine ganze 
Menge von Zeit von vornherein einspa¬ 
ren, und ich möchte wünschen, daß der 
Herr Minister hier alsbald beherzt zu¬ 
greift. Es sind nämlich gerade auf die¬ 
sem Gebiete eine ganze Menge Kräfte 
da, die mitarbeiten können, eine Menge 
Kräfte, die auch durchaus die akademi¬ 
schen Anforderungen erfüllen, die man 
naturgemäß für die Beteiligung an 
einem solchen Erziehungswerk stellen 
muß. 

Daß zweitens neben der Zeit Geld nö- 
« tig ist, das ist ebenso selbstverständ¬ 
lich. Man fragt: Woher sollen wir das 
Geld nehmen? Im Augenblick haben wir 
es freilich nicht. Ich habe in der vorigen 
Woche in einer Rede zum Etat des 
Finanzministers zum Ausdruck gebracht, 


daß ich darin durchaus Optimist bin, der 
Krieg wird von uns gewonnen, dann 
wissen wir auch, wo wir das Geld her¬ 
nehmen sollen. Und ich begrüße auch 
bei dieser Frage noch einmal ganz be¬ 
sonders, daß nicht nur Graf v. Roedern 
im Reichstage, sondern gestern auch der 
Herr Reichskanzler erklärt hat, daß 
wir auf einer ausreichenden Kriegsent¬ 
schädigung bestehen. Es ist ganz klar, 
daß diejenigen dafür herhalten und da¬ 
für büßen müssen, die uns diesen furcht¬ 
baren Krieg auf den Hals gejagt haben. 
Wenn der Herr Minister dann mit gro¬ 
ßen Anforderungen an uns herantreten 
wird, so werden wir dafür durchaus zu 
haben sein; denn das ist ein Kapital, 
das sich zweifellos ausgezeichnet ver¬ 
zinsen wird. 

Was nun den Inhalt und die leitenden 
Gedanken der Denkschrift angeht, so ist 
sie getragen von der uns allen gerade 
während dieses Krieges und durch den¬ 
selben so elementar zum Bewußtsein ge¬ 
kommenen Erkenntnis, daß in unserer 
intellektuellen deutschen Ausbildung 
ein Fehler steckt. Dieser Fehler hat sich 
begreiflicherweise dann auch in unserer 
gesamten Auffassung von deutscher Po¬ 
litik, von deutscher Kulturmission und 
deutscher Weltmission widergespie¬ 
gelt. Unser deutsches Volk ist ein so 
großes und herrliches Volk, von so 
außerordentlichem Reichtum an Geistes¬ 
und Gemütsgaben. Paul de Lagarde hat 
ja das schöne Wort geprägt: Das 
Deutschtum liegt nicht im Geblüte, son¬ 
dern im Gemüte. Ein Volk von solchen 
Gaben hat im Interesse der gesamten 
Kultur der Menschheit geradezu die 
Pflicht, diese Gaben stärker und energi¬ 
scher zum Ausdruck zu bringen, als das 
bisher der Fall gewesen ist. Gerade die¬ 
se Gemütstiefe des deutschen Volkes 
läßt es meines Erachtens für Kulturauf¬ 
gaben, die jenseits der Grenze seines 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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Reiches liegen, viel geeigneter und be¬ 
rufener erscheinen, als das brutale und 
gemfltlose England, über das Oskar A. 
H. Schmitz eines seiner trefflichsten Bü¬ 
cher geschrieben hat unter dem treffen¬ 
den Titel „Das Land ohne Musik.“ 

Meine Herren, hier müssen wir ein- 
setzen, und in diesem Sinne begrüßen 
wir, was die Denkschrift die „Politisie¬ 
rung der Jugend“ nennt. Bei diesem 
Punkte weist die Denkschrift mit vollem 
Recht über den Rahmen der Parteipoli¬ 
tik hinaus, und ich tue das mit ihr, wenn 
ich auch gleichzeitig eine kleine Ein¬ 
schränkung zu machen mir erlauben 
möchte. Man darf nicht verkennen — 
das ist keine Kritik an der Denkschrift, 
sondern es ist ein Gedanke, den ich 
nebenher äußern möchte —, daß auch die 
parteipolitische Erziehung ohne jeden 
Zweifel tiefe erzieherische Werte in sich 
birgt. Die parteipolitische Erziehung ist 
es, die den einzelnen überhaupt erst in 
lebendige, wenn auch manchmal recht 
kritische Beziehung zum Staate setzt. 
Die Parteipolitik ist es, die ein Volk im¬ 
mer wieder aufrüttelt und jede Sta¬ 
gnationverhütet, ohne die auf die Dauer 
jedes Volk zur trostlosen Versumpfung 
seines ganzen Staatswesens kommen 
würde. Die Parteipolitik ist es erst, die 
das lebendige Spiel der Kräfte, die im 
Volke drinstecken, in Belegung setzt. 
Die parteipolitische Bewegung darf man 
also in ihrem tiefen ethischen Wert nicht 
unterschätzen Aber es ist durchaus rich¬ 
tig, daß es darüber hinaus etwas gibt, 
was die Gegensätze zum guten Teil ver¬ 
gessen machen kann, was uns sozusagen 
aus dem ewigen, aufreibenden Parteige¬ 
triebe — wer merkt es deutlicher am 
eigenen Leibe als wir? — herausheben 
kann auf freiere Höhen. Das ist eben der 
Gedanke an die deutsche Weltmission, 
die das deutsche Volk auch über die 
Grenze des Reiches hinaus betätigen 

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soll, und dahin verstehen wir das, was 
die Denkschrift die „Politisierung der 
Jugend“ nennt. In diesem Sinne möchten 
wir den Begriff der Politisierung der 
Jugend erweitern in den Begriff einer 
Politisierung unseres ganzen deutschen 
Volkes. Meine Herren, hier an diesem 
Punkte hat es bei uns gefehlt, an diesem 
Punkte werden wir einzusetzen haben, 
wenn es anders, wenn es besser wer¬ 
den soll. 

Mir ist da in den letzten Tagen bei 
meinen literarischen Privatliebhabereien 
wieder einmal ein Beispiel aufgesto¬ 
ßen, das mir so recht klarzulegen 
scheint, daß es gerade an diesem Punkte 
gefehlt hat. Ist es zu verstehen, daß ein 
so bedeutendes Werk wie Friedrich Rat¬ 
zels „Politische Geographie“ im gan¬ 
zen zwei Auflagen erlebt hat? Die er¬ 
ste Auflage erschien vor 20 Jahren, die 
letzte vor 10 Jahren. Das ist einfach gar 
nicht zu begreifen bei einem Buche, wie 
es gerade dieses ist, bei einem Buche, 
das nicht nur nach den Intentionen des 
Verfassers dazu bestimmt, sondern auch 
nach seinem Inhalte durchaus dazu be¬ 
rufen ist, zur „Annäherung der Staats¬ 
wissenschaft und Geschichtswissen¬ 
schaften an die Geographie" zu dienen. 
Meine Herren, auf derartige Bücher wer¬ 
den wir zurückgreifen müssen, um so 
mehr als doch auch die Denkschrift un¬ 
ter den vorgesehenen Lehraufträgen mit 
vollem Recht an allererster Stelle einen 
solchen „für spezielle Geographie und 
Landeskunde einzelner Länder mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der Wirt¬ 
schaftsgeographie“ nennt. 

Darüber hinaus habe ich allerdings 
auch noch die Überzeugung, daß eine 
Schulung, eine Entwicklung des deut¬ 
schen Volkslebens in diesem großzügi¬ 
gen Sinne auch noch die sehr erwünsch¬ 
te Nebenwirkung haben wird, daß sie 
uns edle etwas weniger voreingenom- 

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787 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


788 


men gegeneinander machen wird. Mein 
Freund Dr. Kaufmann hat gestern mit 
tiefernsten Worten darauf hingewiesen, 
daß selbstverständlich die Weltanschau¬ 
ungsgegensätze in Deutschland bestehen 
bleiben werden. Damit hat er recht. Kei¬ 
ner von uns wird sich darüber Utopien 
hingeben und wird etwas anderes an¬ 
nehmen wollen. Aber, meine Herren, das 
braucht nicht auszuschließen, daß es ein 
großes neutrales Gebiet gibt, auf dem 
wir alle uns in gemeinsamer Arbeit für 
die gemeinsame Sorge um das Wohl un¬ 
seres gemeinsamen Vaterlandes werden 
finden können. Dazu, meine Herren, 
scheint mir allerdings die Beschäftigung 
auf dem Gebiete geradezu wie geschaf¬ 
fen, das die Denkschrift mit so knappen, 
mit so klaren und so logisch aufgebau¬ 
ten Sätzen herausgearbeitet hat. In die¬ 
sem Zusammenhänge möchte ich es 
denn mit größter Freude begrüßen, daß 
der Herr Minister alsbald es für gut und 
notwendig erachtet hat, zur Verwirkli¬ 
chung seiner Ideen an einen Ausbau 
der katholisch-theologischen Fakultät in 
Münster i. W. heranzutreten. Er hat es 
motiviert mit den Worten: „Es ist nur 
billig, auch den christlichen Orient zum 
Gegenstände unserer akademischen Ar¬ 
beit zu machen.“ Meine Herren, nicht 
nur das ist billig und gut, sondern es ist 
überhaupt gut und liegt sehr im Interesse 
unseres deutschen Vaterlandes, wenn 
wir uns bei diesen ganzen Ideen, die uns 
da beschäftigen, auch mit der Missionie¬ 
rung, mit der christlichen Missionsarbeit 
recht eingehend befassen wollen. Ich ha¬ 
be soeben von Friedrich Ratzel gespro¬ 
chen; als ich sein Buch noch einmal 
durchblätterte, fiel mir folgende Stelle 
auf, die mir gerade im Munde dieses 
Mannes, der doch gar nicht auf meinem 
Standpunkt steht, außerordentlich be¬ 
zeichnend zu sein scheint. Ratzel sagt 
irgendwo: Große, politisch wirksame 


Ideen haben sich bis in die neueste Zeit 
in der Form der Religion verbreitet 
Nicht bloß das Mittelalter hat mit dem 
Kreuz in der Hand Staaten gegründet. 
Und an einer anderen Stelle: Zur Ver¬ 
breitung des Christentums hat wohl 
nichts so' beigetragen als seine Fähig¬ 
keit Barbarenvölker zu bändigen, die 
das sinkende römische Reich nicht po¬ 
litisch zu unterwerfen vermochte. Ich 
meine, das sind ganz ausgezeichnete 
Sätze. 

So, meine Herren, erblicke ich denn 
in dem, was die Denkschrift eine Poli¬ 
tisierung der Jugend nennt, etwas, was 
ich unter den etwas allgemeiner gefa߬ 
ten „Begriff einer Erziehung zu deut¬ 
schem Nationalbewußtsein zusammen- 
fassen möchte. Darunter verstehe ich die 
Ausnutzung und die Ausbildung der 
edelsten deutschen Eigenschaften mit 
dem Ziel, das deutsche Volk mit jenem 
berechtigten Stolze auf seinen eigenen 
Wert zu erfüllen, der ebenso weit ent¬ 
fernt ist von ödem Chauvinismus wie 
von törichter und weichlicher Hintan¬ 
setzung seiner eigenen Interessen hin¬ 
ter diejenigen anderer Staaten oder gar 
von Würdelosigkeit. 

Meine Herren, der erste Kanzler hat 
einmal folgendes Wort geprägt:Die Nei¬ 
gung, sich für fremde Nationalitäten 
und Nationalt>estrebungen zu begeistern 
auch dann, wenn dieselben nur 
auf Kosten des eigenen Vaterlandes ver¬ 
wirklicht werden können, ist eine poli¬ 
tische Krankheitsform, deren geographi¬ 
sche Verbreitung sich leider auf Deutsch¬ 
land beschränkt. Das ist das, was ich 
eben mit meinen Ausführungen gemeint 
habe ... 

Meine Herren, so gesehen, denke ich 
mir die deutsche Erziehungsarbeit der 
Zukunft geradezu köstlich. Mit ganz 
neuen Ideen werden wir demnächst an 
unsere gesamte Jugend herantreten 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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vom VolksschQler bis zum Studenten; 
und unsere gesamte Lehrerschaft, vom 
Volksschullehrer bis zum Hochschul¬ 
professor, wird sich in den Dienst die¬ 
ser Erziehungsaufgabe zum deut¬ 
schen Nationalbewußtsein zu stel¬ 
len haben. Und es muß eine wahre 
Lust sein, demnächst in der Erinnerung 
an Deutschlands schwerste Stunde, aus 
der es dann siegreich hervorgegangen 
sein wird, unsere Jugend zu echten und 
rechten deutschen Männern zu erziehen. 
Dabei möchte ich zum Schluß ein Wort 
auf unsere Zeit anwenden, das von dem 
großen Katholiken Joseph v. Görres aus¬ 
gesprochen worden ist, dem Manne, in 
dem jeder, der ihn kennt, nächst Bis¬ 
marck den größten Deutschen des 19. 
Jahrhunderts erblicken muß. Der hat am 
Schlüsse seines Rückblickes auf das 
Jahr 1814 gesagt: Viel Gutes ist gesät 
worden in Deutschland in diesem und 
im vergangenen Jahre, und mehr, als 
man glaubt, hat Wurzel geschlagen. 
Hoffnungsvoll und vielversprechend 
stehen die Saaten I 

Dr. Irmer (kons.):... nun zum Aktuell¬ 
sten in diesem Kapitel: die Frage der 
Auslandshochschule. Sie ist in dan¬ 
kenswertester Weise geklärt worden, 
meines Erachtens auch zugleich beant¬ 
wortet worden — vorläufig wenigstens 
— in der uns vorgelegten Denkschrift 
Ober die Förderung der Auslandsstudi¬ 
en. Vielleicht erscheint es Ihnen nicht 
unwillkommen, wenn ein Mann, der jah¬ 
relang draußen im Auslande war und 
die Psyche der Nationen und die Länder 
aus eigener Anschauung kennt, Ihnen 
aus seiner Erfahrung heraus seine Mei¬ 
nung zu dieser Frage zu erkennen gibt. 

Die Frage ist zweifellos aktuell, aber 
wenn gesagt wird, daß sie neu wäre, so 
ist das ganz gewiß nicht richtig. Als ich 
vor 25 Jahren ins Auswärtige Amt be¬ 
rufen wurde, war die erste Arbeit, die 

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mir von meinen Oberen aufgetragen 
wurde eine zusammenfassende Arbeit 
über die Vorbildung der Auslandsbeam¬ 
ten für ihren Dienst im fremden Land. 
Das war Anfang der neunziger Jahre, 
und von da an ist selten eine Woche 
vergangen, wo ich über dieses Auslands¬ 
problem an der Hand neuer Erfahrungen 
nicht nachgedacht hätte. 

Die Geburtsstunde dieses Gedankens 
der Auslandsvorbildung fällt zusammen 
mit dem Erwachen des Hansageistes in 
Deutschland, damals, als unser preußi¬ 
scher Adler, der bis dahin ruhig und si¬ 
cher auf dem Felsen gesessen hatte, flie¬ 
gen lernte auch über das Meer, damals, 
als Deutschland seinen berechtigten An¬ 
teil an Weltwirtschaft und an Seegel¬ 
tung forderte. Das war ja doch auch mit 
einer der Zukunftsträume unserer Väter, 
der nach der Schaffung des Reiches 
noch der Erfüllung harrte. Und die Fra¬ 
ge hat in ihrer Ausbildung immer glei¬ 
chen Schritt gehalten mit der Entwick¬ 
lung der deutschen Politik von der kon¬ 
tinentalen zur Weltpolitik. Wir wissen 
genau, daß Bismarck sich von dem Bo¬ 
den der Kontinentalpolitik nur schwer 
hat abbringen lassen, erst nach seiner 
Entlassung ist ihm das volle Verständ¬ 
nis dafür zur Gewißheit geworden, daß 
das deutsche Volk zur Seegeltung ge¬ 
langen oder ohne sie und ohne Welt¬ 
wirtschaft verkümmern müsse. 

Für die Entwicklung des überseei¬ 
schen Gedankens in Deutschland ist ein 
Schulbeispiel die Ausgestaltung des Ori¬ 
entalischen Seminars. Das Orientalische 
Seminar ist noch unter dem Fürsten Bis¬ 
marckgegründetworden, zunächst allein 
für orientalische Sprachen. Ganz 
allmählich ist das anders geworden, hat 
es sich immer umfangreicher ausge¬ 
wachsen. Heute ist das Orientalische Se¬ 
minar in gewissem, beschränktem Sinne 
bereits eine kleine Auslandshochschule, 


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79! 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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aber immer in Anlehnung an die Berli¬ 
ner Universität. Ähnlich ist es geschehen 
mit dem Kolonialinstitut in Hamburg. 
Das Institut ist auf dem geraden Wege 
zur Hochschule, zur Universität. Ein 
ganz natürlicher Gang der Dinge. Ich 
darf Sie weiter erinnern an das Institut 
in Kiel — auch das ist angegliedert an 
die Universität —, an die Handelshoch¬ 
schulen in Köln und Frankfurt. Sie müs¬ 
sen zugeben, man kann dem preußischen 
Kultusministerium nicht vorwerfen, daß 
es sich um diese Dinge nicht gekümmert 
habe. Es hat immer gearbeitet an die¬ 
sem Gedanken. Es ist langsam ge¬ 
gangen, ich gebe zu, man konnte mit 
der Frage noch nicht ins Reine kom¬ 
men, noch nicht schlüssig werden. Es 
war da ein Meer von Vorschlägen und 
Anregungen, aber es fehlte ein klarer 
logischer Kopf, der der Vollstrecker 
des Gedankens werden sollte, sobald 
der Zeitpunkt der Reife gekommen 
war ... 

Wollen Sie meine Gedanken über die¬ 
se Frage der Auslandshochschule wis¬ 
sen, so gehen sie auf Grund mei¬ 
ner praktischen Erfahrungen dahin: Zu¬ 
nächst gibt es meines Erachtens gar 
keine geschlossene Auslandswissen¬ 
schaft. Man wird das sofort erken¬ 
nen, wenn man einen Lehrplan da¬ 
für aufstellen will. Sie wird sich immer 
sehr wesentlich an die Disziplinen an¬ 
derer Hochschulen anlehnen müssen, 
nicht allein der Universität, sondern 
auch der landwirtschaftlichen, der Han¬ 
delshochschule, vor allen Dingen auch 
der technischen Hochschule. Die tech¬ 
nische Hochschule gerade spricht sehr 
gewichtig mit, denn s;e ist ja doch die 
Nährmutter der stärksten Triebkraft un¬ 
serer Zeit: des Verkehrs. Sie sehen, wir 
haben tatsächlich keine geschlossene 
Auslandswissenschaft und können da¬ 
mit auch kein selbständiges Auslands- 

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Studium konstruieren, ohne bei der Uni¬ 
versität starke Anleihen zu machen ... 

Am zweckmäßigsten für die Studieren¬ 
den wäre es wohl, wenn man in Ber¬ 
lin ein „Quartier latin“ schaffen könnte: 
die Gebäude für die Universität und die 
Hochschulen der Einzelwissenschaften 
mit ihren Instituten in nächster Nachbar¬ 
schaft; dann hätte man eine Universität 
im wahren Sinne des Wortes. 

Endlich noch etwas, was bei der Be¬ 
handlung poch wenig berücksichtigt ist: 
Es kommen ja nicht nur die gebildeten 
Kreise in Frage, die eine abgeschlossene 
höhere Schulbildung haben I Was wol¬ 
len Sie mit den Kaufleuten, den Land¬ 
wirten, den einfachen Handwerkern 
machen, die doch in meist größerer Zahl 
auch in das Ausland hinausgehen, und 
die doch ganz gewiß auch deutsche Kul¬ 
turpioniere sein sollen? Soll es denn 
wieder so kommen, wie es früher war, 
daß diese schlichten unternehmenden 
Männer des Volkes einfach sozusagen 
Kulturdünger für die fremden Völker 
wurden? Wollen Sie die ganz hilflos 
lassen, oder wollen Sie sie auch auf die 
Auslandsschulen schicken und dort für 
den Auslandsberuf vorbereiten lassen? 
Ich glaube, man muß gerade ihnen — 
erst recht ihnen — einen kräftigen 
Schwimmgürtel von Auslandswissen 
mitgeben, damit sie nicht im englischen 
Meere untersinken! ... 

Ich fasse das Endergebnis der Denk¬ 
schrift dahin zusammen: Fort zunächst 
mit dem unpraktischen und vorläufig un¬ 
ausführbaren Gedanken einer Auslands¬ 
hochschule; das kann vielleicht später 
einmal kommen, da mag der Herr Mini¬ 
ster recht haben wenn ich auch —den 
Baumeister dafür noch nicht bestellen 
würde. Zunächst heißt die Forderung 
der Stunde: die Unterlagen für ein all¬ 
gemeines Auslandswissen zu schaffen; 
sodann wissenschaftliche Ausbildung 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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für Auslandsberufe in den Instituten der 
einzelnen Hochschulen; endlich: allge¬ 
meine Auslandsbildung für das ganze 
deutsche Volk, aber nicht nur für die, wel¬ 
che hinausgehen, sondern auch für die, 
die hierbleiben. Diese Ausbildung für die 
Hinausgehenden muß so sein, daß jeder, 
der einen praktischen Beruf da draußen 
ausübt, gleichviel ob es ein hoher Be¬ 
ruf ist, ob er amtlich oder nicht amtlich 
hinausgeschickt wird, im fernen Auslan¬ 
de nicht völlig hilf- und ratlos dasteht 
und am Ende die Armenpflege der Kon¬ 
sulate in Anspruch nehmen muß. Vor 
allem auch, daß er nationales Rückgrat 
mitbringt, starkes deutsches völkisches 
Bewußtsein, damit er nicht gleich im er¬ 
sten Jahre in dem fremdsprachigen Meere 
untergeht. Diese doppelseitige Zukunfts¬ 
aufgabe,nach außen und nach innen ge¬ 
richtet, kann aber niemals auf dem 
Wege einer Auslandshochschule erfüllt 
werden, da müssen auch die Schulen 
helfen. Sie paßt aber vollkommen hin¬ 
ein in den Rahmen des Kultusministe¬ 
riums, denn das gesamte Unterrichtswe¬ 
sen gehört dorthin. 

Meine Herren, das ist natürlich eine 
ganz neue und große Aufgabe. — Ich 
darf nebenbei bemerken, daß dabei na¬ 
türlich auch andere Faktoren mitarbei- 
ten müssen. Ich verweise nur auf die 
gewaltige Mithilfe, die der Presse zu¬ 
fallt. — Aber zu scheuen braucht sich 
das Kultusministerium davor nicht. Die 
Geldfrage darf und wird in diesem 
Falle kaum eine Rolle spielen. 

Nun, meine Herren, nach meinen prak¬ 
tischen Erfahrungen — und sie sind das 
Ergebnis einer Auslandsarbeit von 
25 und mehr Jahren in allerlei fremden 
Landen — kann ich Ihnen nur dringend 
raten, daß Sie diesen in der ausgezeich¬ 
neten Denkschrift vorgesehenen Weg 
ruhig betreten. Wir müssen ihn gehen, 
wenn wir die großen Lücken ausfüllen 


wollen, die sich in diesem Kriege an un¬ 
serer geistigen Auslandsrüstung gezeigt 
haben, zu unserem großen Nachteil 
und unwiederbringlichen Schaden. Der 
harte Lehrmeister Krieg hat diese aus¬ 
ländischen Bestrebungen heute zu einem 
nationalen Gemeingut gefördert. Wir 
wollen nicht zurückkriechen auf unsere 
Berge; wir wollen nicht wieder das 
Meer mit dem Rücken ansehen. Für uns 
heißt auch nach dem Kriege die Losung: 
Vorwärts 1 Wir haben unendlich viel 
nachzuholen — darüber ist kein Zwei¬ 
fel — auf dem weiten Arbeitsfelde der 
Welt im Wettbewerb mit den anderen 
Nationen. Sie sind uns zuvorgekommen, 
und wir müssen sie einholen; da hilft 
alles nichts. Zuwachs an politischer 
Macht allein tut es da nicht. Wir müssen 
sie einholen und überholen durch prak¬ 
tische überseeische Arbeit auf der Grund¬ 
lage einer allgemeinen und wissenschaft¬ 
lichen Auslandsbildung des Volkes in 
höherem oder minderem Grade—und vor 
allem auf der unerschütterlichen Grund¬ 
lage nationalen Pflichtbewußtseins; das 
muß unserem jungen Volke immer wie¬ 
der eingehämmert werden. Für den hin¬ 
ausgehenden Deutschen darf es in Zu¬ 
kunft ein: „Ubi bene, ibi patria“ nicht 
mehr geben. Wir müssen endlich anfhö- 
ren, damit zufrieden zu sein, daß der 
„deutsche Gedanke“ in der ganzen 
Welt verbreitet ist. Das ist nicht genug, 
meine Herren! Der deutsche Gedanke 
tut es allein nicht; er muß auch draußen 
zur deutschen Tat werden. Wir sind 
nach dem völkermordenden Kriege ganz 
gewiß nicht reich genug, um auch nur 
einen Deutschen an das Ausland auf 
Nimmerwiedersehen abgeben zu kön¬ 
nen. Ist es nicht erschütternd, meine Her¬ 
ren, wenn Sie jetzt in den Gefangenen¬ 
lagern oder in Ruhleben die Söhne und 
Enkel von denjenigen, die 1866 mitge- 
fochten haben, und die noch das Eiserne 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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Kreuz von 1870 auf ihrer Brust tragen, 
wiederfinden in englischer Uniform? Nie¬ 
manden kann das tiefer schmerzen als 
mich, der ich in Kanada, auch in Au¬ 
stralien noch die alten Leute voll Begei¬ 
sterung für die alte Heimat gesehen 
habe. Allein in Queensland waren mehr 
als 18, die das Eiserne Kreuz trugen; und 
—ihre Enkel fechten heute schon gegen 
uns! Das muß aufhören ... 

Sehen Sie, meine Herren, auf einem 
solchen allgemeinen wissenschaftlichen 
Wege, der im Rahmen des Kultusministe¬ 
riums umschrieben ist, werden wir un¬ 
sere weltwirtschaftliche Stellung auf 
friedlichem Wege sichern; und mit der 
Weltwirtschaft — das ist niemand 
heute ein Geheimnis mehr — steht und 
füllt auch die Weltstellung unserer Na¬ 
tion ... 

D. Traub (Dortmund) (fortschr. V.- 
P.): Meine Herren, gestatten Sie, daß 
ich mit einer geschichtlichen Erinne¬ 
rung beginne. Die Zeit nach 1815 war 
„die hohe Zeit der Pädagogik“ in 
unserm preußischen Staat. Damals 
wurden die preußischen Universitäten 
nach dem Muster der Berliner Univer¬ 
sität begründet; damals wurde das preu¬ 
ßische Gymnasialwesen ins Leben ge¬ 
rufen; damals wurde der Volksschulun- 
terricht als methodisches Lehrfach in 
seinen wissenschaftlichen Voraussetzun¬ 
gen erkannt. Und das alles trotz der 
gleichzeitigen politischen Reaktion! Und 
heute? Wir fürchten für die Zukunft 
keine politische Reaktion. Gerade darum 
erwarten wir doppelt und dreifach eine 
Wiederholung und Vertiefung jener 
„hohen Zeit der Pädagogik“ vor hundert 
Jahren. Wir wollen da unsere Erwar¬ 
tungen gar nicht von vornherein nie¬ 
drig stellen. Wir bitten das Kultusmi¬ 
nisterium in erster Linie, daß es alle 
Anregungen, die von außen gegeben 
werden — und es ist ja eine Zeit großer 


und reicher Anregungen —, wirklich 
gern und willig an sich herankommen 
lassen möge. Wir sind überzeugt, daß 
mit aller Freudigkeit auch jetzt wieder 
in Erinnerung an jene Zeiten die großen 
Aufgaben der gesamten nationalen Pä¬ 
dagogik klar und deutlich erkannt und 
durchgeführt werden müssen. 

Einen ersten Ansatz dazu sehe ich in 
der vorliegenden Denkschrift Sie 
bedeutet zunächst äußerlich einen Ab¬ 
schluß; sie ist nur der Endpunkt hinter 
einer ganzen Reihe von Verhandlungen, 
an denen sich dieses Haus so lebhaft 
beteiligt hat. Aber das, was diese Denk¬ 
schrift so außerordentlich wertvoll 
macht, und was ihr überall das Echo 
in der Presse und auch hier im Hause 
so ganz besonders verschafft hat liegt 
in der Tatsache, daß hier wieder einmal 
eine Idee in den Mittelpunkt gerückt 
wurde. Um dieser Idee willen begrüße 
ich diese Denkschrift mit lebhafter Freu¬ 
de. Diese Idee heißt: die Politisierung des 
Volkes und besonders seiner Führer 
in Staats-, Schul- und Volkswirtschaft. 
Sie liegt in dem Satz der Denkschrift: 
„das politische Denken muß geschult 
der junge Deutsche muß politisiert wer¬ 
den.“ 

Nun gibt es empfindsame Seelen, die 
etwas stutzig werden, sobald man über¬ 
haupt die beiden Worte „Politik“ und 
„Wissenschaft“ nebeneinander stellt Es 
kommen vielleicht Bedenken von seiten 
der Parteipolitiker und auch von seiten 
einer gewissen schiefen Auffassung über 
die Pflichten echter Wissenschaft. Ich 
freue mich, daß dem ersten Bedenken 
gerade in der Denkschrift schon der Bo¬ 
den entzogen ist. Gott sei Dank, wenn 
wir in eine Zeit hineinwachsen, in der 
es auch jenseits der einzelnen Par¬ 
teigrenzen Aufgaben gibt, an denen sieb 
jeder Deutsche mit Herz und Gemüt be¬ 
teiligen soll und darfl Gott sei Dank, 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


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wenn wir in eine Zeit hineinwachsen, 
in der jeder weiß, daß wir jenseits der 
Parteipolitik aus diesen unseren ernsten 
Zeiten heraus die eine große Auf¬ 
gabe mitnehmen müssen, für eine deut¬ 
sche Weltpolitik künftig unsere besten 
Kräfte einzusetzen I Aber vielleicht fal¬ 
len die anderen Bedenken, die sich 
nicht an die Oberfläche wagen, manch¬ 
mal schwerer ins Gewicht. Was soll 
„Wissenschaft“ mit „Politik“? Wird hier 
nicht etwas verbunden, was an sich 
schon einer Verbindung widerstrebt? 
Wird nicht die reine Idee der Wissen¬ 
schaft durch solche Gesichtspunkte der 
Nützlichkeit verunreinigt? Da darf ich 
den Augenblick benützen, auch in die¬ 
sen Verhandlungen unsere Meinung 
über den Zweck unserer Hochschu¬ 
len und unserer Universitäten zu festi¬ 
gen. Die Universitäten sind kein bloßes 
Sammelsurium von Fachschulen. Der 
Gesichtspunkt der rein handwerksmäßi¬ 
gen Nützlichkeit, wie er in dem künf¬ 
tigen Broterwerb liegt, darf für unsere 
Universitäten keineswegs in erster Linie 
stehen. Auch sind die Universitäten 
nicht bloß eine Aufbereitungsanstalt von 
künftigen guten Staatsbeamten. Ich 
weiß die Nützlichkeit eines guten Ge¬ 
wissens für jede erfüllte Staatspflicht 
hoch einzuschätzen. Aber trotz alledem: 
auch dieser Nützlichkeitsgedanke ist 
noch nicht imstande, eine solche hohe 
Aufgabe wie unsere wissenschaftliche 
Bildung lebensfähig zu tragen. Nein, ich 
freue mich, daß die Denkschrift ganz 
bewußt die Wissenschaft selbst in einen 
unmittelbaren Zusammenhang mit dem 
Staatsgedanken setzt. „Nützlichkeit“ ge¬ 
genüber dem höchsten Begriff des Staa¬ 
tes bedeutet keine Herabminderung an 
der Idee der wissenschaftlichen Arbeit. 
Herr Kollege Haenisch hat sich gestern 
auf Fichte berufen. Ich möchte genau 
dasselbe Zitat, das er angeführt hat. 


noch etwas erweiteren. Denn an dersel¬ 
ben Stelle sagt Fichte: Mittelbar dient 
eine jede wissenschaftliche Bestrebung 
dem Staat; gibt sie diesen Zweck auf, so 
ist auch ihre Würde und ihre Selbstän¬ 
digkeit verloren. An diesem idealen 
Staatsbegriff, der nicht zusammen fällt 
mit irgendwelchem jeweiligen Kultusmi¬ 
nisterium oder mit irgendwelchem 
augenblicklichen Staatsgebilde, ist die 
Nützlichkeit der Verbindung jeden wis¬ 
senschaftlichen Betriebes zu messen und 
von diesem höchsten Staatsbedürfnis 
aus erhält die Wissenschaft Würde und 
Wert Darum freue ich mich, daß der 
gleiche Gedankengang in dieser Denk¬ 
schrift so entschlossen vertreten wird. 
Die Vorzüge dieser Denkschrift seheich 
in der klaren Sonderung der Aufgaben, 
in dem festen Willen zu einem bestimm¬ 
ten Weg und in der hohen Einheitlich¬ 
keit der politischen Gesamterziehung 
des Volkes. Uber die klare Sonderung 
der Aufgaben brauche ich nicht mehr 
zu reden; darüber haben meine Herren 
Vorredner schon genügend gesprochen. 
Der feste Wille zu einem bestimmten 
Weg liegt in der bewußt eingeschlage- 
nen Dezentralisation. Die Aufgaben des 
Orientalischen Seminars sind gut er¬ 
füllt worden. Das legt mir den Wunsch 
nahe, daß das Kultusministerium einmal 
eine glückliche Hand finde, um alles, 
was jetzt schon innerhalb unseres wis¬ 
senschaftlichen Betriebes geleistet wird, 
besonders auch das, was das Orientali¬ 
sche Seminar in vorbildlicher Weise ge¬ 
tan hat, auch in den weitesten Volkskrei¬ 
sen bekannt zu machen. Draußen hat 
man eigentlich keine rechte Ahnung von 
dem, was tatsächlich innerhalb unseres 
wissenschaftlichen Betriebes unter der 
Leitung unseres Kultusministeriums und 
seiner Pflege geschieht. Wenn draußen 
das Interesse für diese Arbeit mehr ange¬ 
regtwird, dann bekommt man auch von 


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selbst mehr Geld; wer Geld hat, kann 
auch in diesen Dingen unendlich Segen 
stiften. Vor allem aber begrüße ich das 
Ziel in der politischen Gesamterziehung 
unseres Volkes. Die Denkschrift zieht 
hier eine Scheidelinie, der ich voll zu¬ 
stimme. Die Scheidelinie trennt auf der 
einen Seite „ästhetisch-historisch-litera¬ 
rische“ Bildung und auf der anderen 
Seite die neue weltpolitische Richtung. 
Ich möchte diese Linie „ästhetisch-histo¬ 
risch-literarisch“ um das Wörtchen 
„historisch” verkürzen, um berechtigten 
Einwürfen die Spitze abzubrechen. Ich 
weiß, daß es der Denkschrift wahrhaftig 
nicht darauf ankommt, Irgend etwas 
gegen die Geschichte und ihren wissen¬ 
schaftlichen Betrieb zu sagen. Das ist 
ganz selbstverständlich. Gerade die Ge¬ 
schichtsforschung auf wissenschaftli¬ 
cher Grundlage bildet die Vorausset¬ 
zung auch aller künftigen weltpolitischen 
Arbeit. Das ist, wie gesagt, eine Selbst¬ 
verständlichkeit. Aber darum möchte ich 
das Wörtlein „historisch” ausmerzen 
aus diesem Zusammenhang. Es war na¬ 
türlich gemeint, man solle eine gewisse 
lähmende Richtung des „Historismus" 
nicht begünstigen. Es gibt ja Leute, die 
heutzutage über alle möglichen histori¬ 
schen Fragen unterrichtet sind, aber 
keine Antwort zu geben vermögen, 
wenn man sie fragt, wie lange unsere 
tapferen Siebenbürgen in Kronstadt le¬ 
ben, wie der Weltpostverein aussieht, 
wie Irlands leidensvolle Geschichte sich 
entwickelt hat, und ob ein Freiherr vom 
Stein zu den Größen gehört, die in die 
allgemeine Bildung hineinzurechnen 
sind. Daß hier tatsächlich ein Abweg un¬ 
serer altertümelnden historischen Auf¬ 
fassung besteht, ist klar und seine Ab¬ 
weisung war gut. 

Weiter möchte ich ausdrücklich beto¬ 
nen, daß die Beschäftigung mit den 
weltpolitischen Fragen auf nationaler 


Grundlage zu geschehen hat. Das ist der 
Kern dessen, was die Denkschrift will. 
Er muß von vornherein gegen Mißver¬ 
ständnisse sichergestellt sein. Ich wün¬ 
sche nicht, daß wir etwa einen welt¬ 
politischen Unterricht in dem Sinne be¬ 
kommen, daß wir uns nun wieder an 
alle weltpolitischen Ideen anderer Völ¬ 
ker verlieren und an alle möglichen Ei¬ 
gentümlichkeiten anderer Völker unsere 
Eigenart verschwenden und vergeben 
sollen. Wir sollen auf unserem eigenen 
Standpunkt feststehen; nur wenn wir 
das tun, werden wir das beste Mittel und 
das sicherste Organ haben, um alles, 
was draußen ist, erst recht zu verstehen 
und zu würdigen. Die nachhaltige 
Beschäftigung mit der Weltpolitik soll 
ein Mittel bleiben, um uns in Unserem 
nationalen Bewußtsein und unserer na¬ 
tionalen Würde zu stärken, nicht aber 
sie zu schwächen. Das soll keineswegs 
gegen die Denkschrift, sondern für sie 
gesagt sein; ich meine gerade damit 
ihren tiefen Sinn und ihre letzte Absicht 
ausdrücklich zu unterstreichen. 

Einige Ergänzungen darf ich mir ge¬ 
statten. Es ist schon in der Kommission 
darauf aufmerksam gemacht worden, 
daß die Presse weithin ein Anrecht 
darauf hat, in diesem Zusammenhänge 
der weltpolitischen Belehrung und der 
weltpolitischen Erziehung des Volkes 
genannt zu werden. Ich denke an Arti¬ 
kelreihen in der Kölnischen Zeitung, in 
der Frankfurter Zeitung, ich denke an 
die ausgezeichneten Artikel der Herren 
Dr. Schiemann und Hötzsch in der 
Kreuzzeitung. Da haben wir tatsächlich 
schon „weltpolitische Lehrstühle", die 
unserem Volke regelmäßigen Unter¬ 
richt erteilen. Wir bitten, daß auch künf¬ 
tig die Presse in irgendwelcher Vermitt¬ 
lung an diesem weltpolitischen Unter¬ 
richt teilnimmt und ihr regelrechte Ge¬ 
legenheit gegeben wird, die Bande mit 


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diesem wissenschaftlichen Betrieb der 
künftigen Weltpolitik fester zu knüpfen. 

Dazu kommt die Mitwirkung der 
techni sehen Hoch sc hu len. Ich habe 
mich darüber gefreut, daß der Herr Kul¬ 
tusminister gesagt hat, die technischen 
Hochschulen sollten künftig ebenso wie 
die Universitäten beteiligt werden. Es 
steht ja bereits in der Denkschrift, daß 
„in den allgemeinen Abteilungen der 
technischen Hochschulen sich Ge¬ 
legenheit dazu schaffen lasse, an die¬ 
ser künftigen Aufgabe teilzunehmen.“ 
Der Vorstand des Architektenvereins zu 
Berlin hat sich an den Herrn Kultusmi¬ 
nister in einer ausgezeichneten Eingabe 
betreffend die Förderung der Auslands¬ 
studien gewendet und die Zulassung des 
Unterrichts gerade an den technischen 
Hochschulen als notwendig bezeichnet. 
Nach dem, was der Herr Minister heute 
zugesagt hat, glaube ich, daß wir keine 
Furcht zu haben brauchen, daß irgend¬ 
welche berechtigten Forderungen in die¬ 
ser Beziehung sich nicht erfüllen wür¬ 
den. Auch unsere Volksschulen dürfen 
in der Zukunft nicht leer ausgehen, und 
die Seminarbildung hat dem neuen Geist 
Rechnung zu tragen. 

Besonderen Wert möchte ich darauf 
legen, daß bei diesem künftigen Unter¬ 
richt ’ die Berücksichtigung des 
Auslandsdeutschtums nichtin die 
letzte Linie gerückt wird. Das Auslands¬ 
deutschtum als solches ist zwar Deutsch¬ 
tum, hat aber in seiner Geschichte und 
seiner Entwicklung immer eine eigenar¬ 
tige lokale Färbung aufzuweisen. In 
Stuttgart ist bereits ein Museum für Aus¬ 
landsdeutschtum errichtet worden. Wenn 
wir künftig an die Verteilung der „Kul¬ 
turkreise“ innerhalb der einzelnen Uni¬ 
versitäten gehen, muß auch eine Univer¬ 
sität besonders damit beauftragt wer¬ 
den, daß sie uns wieder etwas von den 
Karpathendeutschen und von den Deut- 

Internationale Monatsschrift 

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sehen in Brasilien usw. verkündet; 
wir müssen einen gründlichen Zusam¬ 
menhang mit unseren Brüdern im Aus¬ 
lande bekommen, damit wir mit ihnen 
leben ... 

Dr. v. Campe (nat-lib.): ... Ich wende 
midi nun der Frage der Auslandshoch- 
s c h u 1 e n zu. Da möchte ich zunächst einen 
Irrtum des Herrn Kollegen Heß berichti¬ 
gen. Herr Heß hat ausgeführt, daß die 
Denkschrift, die der Herr Minister uns vor¬ 
gelegt habe, eigentlich andere Wege gehe, 
als sie das Abgeordnetenhaus im vori¬ 
gen Jahre vorgezeichnet habe. Das ist 
meines Erachtens ein Irrtum. Herr Heß 
hat insofern recht, als allerdings die 
ursprünglich im Abgeordnetenhause ge¬ 
stellten Anträge ein Zentralinstitut 
wünschten, der Beschluß aber, wie 
er von dem Ausschuß und auch von dem 
Plenum gefaßt wurde, lautete nach ei¬ 
nem von Herrn Abgeordneten Cassel ge¬ 
stellten und vertretenen Antrag und 
nach einer Formulierung, die meine po» 
litischen Freunde ihm gegeben haben, 
dahin, daß diese Auslandshochschule 
im Anschluß an bestehende Hochschu¬ 
len und andere Einrichtungen geschaf¬ 
fen werden sollte. (Zuruf.) — Ja, Herr 
Kollege Heß, ursprünglich war die Ab¬ 
sicht eine andere; aber es hatte der Herr 
Minister damals schon Bedenken in der 
Kommission geltend gemacht, und diese 
Bedenken haben wir aufgegriffen und 
deshalb unserm Anträge diese Form ge¬ 
geben. Ich lege Gewicht darauf, das hier 
festzustellen, weil über diese Dinge viel 
gesprochen worden ist. 

Der Herr Minister hat heute in seinen 
einleitenden Worten uns gesagt, daß 
ihm wegen seiner Vorschläge zwei Vor¬ 
würfe gemacht worden seien. Einmal sei 
ihm vorgeworfen \vorden, daß er nicht 
gleich ein einheitlich zusammenge- 
schlossenes Institut geschaffen habe. Ich 
glaube,'dieser Vorwurf wird, wenn er 

26 

Original frum 

INDIANA UNtVERSITY 





803 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


804 


erhoben ist, sehr bald fallen gelassen 
werden; denn alle, die sich mit den Din¬ 
gen beschäftigt haben, sind sich heute 
wohl darüber einig, daß das tatsächlich 
nicht möglich ist; das mag eine spätere 
Sorge sein. Der zweite Vorwurf, der 
ihm gemacht worden sei, sei der, daß er 
zu langsam vorgegangen sei Der Herr 
Minister hat daran die Bemerkung ge¬ 
knüpft, daß Unterrichtsfragen erst aus¬ 
getragen werden müßten; man müßte 
langsam an eine Sache herangehen, ehe 
man auf dem Gebiet weiter kommen 
könnte. Nun, ich glaube, diese letzte 
Auffassung kann man durchaus teilen. 
Es ist das aber eine Auffassung, die 
schließlich auf allen geistigen Gebieten 
zu gelten hat. Ich weiß nicht, gegen wen 
die Spitze dieser Bemerkung geht. Ich 
habe gestern ja ähnliche Ausführungen 
allgemein gemacht, und ich lasse es da¬ 
hingestellt, ob sie gegen diese Ausfüh¬ 
rungen gewandt sein soll oder nicht. Ich 
möchte nur das eine dem Herrn Minister 
gegenüber bemerken. Es handelt sich 
nicht darum, heute, in diesem Augen¬ 
blick rascher vorzugehen — ich bin 
überhaupt überzeugt, daß in diesem Au¬ 
genblick, für diesen Etat, nichts anderes 
als das geschehen könnte, was uns tat¬ 
sächlich vorgeschlagen ist, um Einzel¬ 
heiten, um ein geringes Mehr will ich 
nicht rechten —; aber wir arbeiten — 
und darin muß ich dem Herrn Kollegen 
Inner durchaus recht geben — ungefähr 
schon seit 30 Jahren an dieser Frage. 
Und dieser Tatsache gegenüber war die 
Arbeit allerdings eine recht langsame. 
Wir haben für die Zukunft keine Zeit 
zu verlieren und dürfen nicht wieder so 
angsam arbeiten ... 

Die acht Aufgaben, von denen der 
Herr Minister heute gesprochen hat und 
die er diesen Hochschuleinrichtungen 
gestellt wissen will, sind ja gewiß rich¬ 
tig herausgestellt worden. Der Zweck 


dieser ganzen Auslandshochschulen muß 
doch der sein, unserer Bevölkerung das 
geistige und wirtschaftliche Rüstzeug zu 
geben, um all die Interessen, die im Aus¬ 
lande vor uns liegen, so zu vertreten, 
daß wir vollen Ertrag davon haben. In 
der Beziehung denkt unsere Zeit gewiß 
ganz anders als die vor 20 oder 30 Jah¬ 
ren. Damals waren wir tatsächlich noch 
binnenländisch abgestimmt: heute sind 
wir weltpolitisch orientiert, müssen oder 
müßten überall weltpolitisch orientiert 
sein. 

Man kann wohl sagen, daß selbst 
Fürst Bismarck in seinen politischen An¬ 
schauungen sich nicht ganz bis zu die¬ 
ser Anschauung durchgerungen hatte. 
Ich erinnere daran, daß Fürst Bismarck 
seinerzeit von Kolonien nichts wissen 
wollte — zunächst —, weil er keine 
Flotte habe, die Kolonien zu schützen. 
Später hat er allerdings seinen Stand¬ 
punkt etwas geändert. Er hat Kolonien 
erworben. Er meinte damals: die Kolo¬ 
nien, die wir uns schaffen, werden von 
den Kanonen unter den Mauern von 
Metz geschützt werden, — ein Gesichts¬ 
punkt, der damals ganz gewiß zu¬ 
treffend war. Ob aber dieser Gesichts¬ 
punkt heute unter den Erfahrungen die¬ 
ses Krieges noch ausreichen würde, das 
ist schon nicht mehr zweifelhaft. Von 
dem Augenblick an, wo die Kanonen un¬ 
ter den Mauern von Metz nicht nur ge¬ 
gen Frankreich gerichtet sind, sondern 
auch gegen England, und von dem Au¬ 
genblick an, wo die Engländer in Calais 
sitzen und uns die Küsten absperren, 
von dem Augenblick an, glaube ich, muß 
man mit-anderem Augenmaß an diese 
Dinge herantreten. Meine Herren, Bin¬ 
nenlandluft ist Stickluft, und das deut¬ 
sche Volk atmet heute tief, tief auf; es 
kommt mit der Binnenlandluft in sei¬ 
ner gesunden Lunge nicht mehr aus. Wir 
leben schließlich nicht wie Robinson auf 


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Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





805 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


806 


einer einsamen Insel, sondern unsere Zu¬ 
kunft geht Ober alle Grenzen der Meere 
hinaus. 

Ich kann dem durchaus zustimmen, 
wenn der Herr Minister an die Spitze 
seiner Ausführungen als erste und vor¬ 
nehmste Aufgabe die gestellt hat, daß 
es darauf ankommen mftsse, diese welt¬ 
politische Bildung als einen Bestand¬ 
teil in unsere nationale Bildung aufzu¬ 
nehmen. Meine Herren, wenn man heute 
einen Deutschen fragen wollte: Waren 
Sie schon einmal drflben? ich glaube, 
es wflrden sehr wenige sein, die mit Ja 
antworten könnten. Fragen Sie einen 
Engländer — ich glaube, es werden ver¬ 
hältnismäßig wenige sein, die das ver¬ 
neinen maßten. Auslandskunde muß zu 
einem Gemeingut des ganzen Volkes 
werden. 

Meine Herren, ich bin davon über¬ 
zeugt, daß diese Aufgabe nach dem 
Kriege noch weit dringlicher sein wird 
als vorher. Ihre Lösung wird aber auch 
weit schwieriger sein. Denn die Verhält¬ 
nisse haben sich so zugespitzt, daß der 
Konkurrenzkampf demnächst so scharf 
sein wird, wie wir es bis dahin nicht 
geahnt haben. Er wird so scharf sein 
schon um der Verleumdungen willen, 
denen wir draußen ausgesetzt gewesen 
sind, und weil England mit ganz andern 
Waffen demnächst gegen uns auftreten 
wird als bisher. England war bis dahin 
uns gegenüber bis zu einem gewissen 
Grade in der Lage des Großen, der 
schließlich alles an sich herankommen 
lassen konnte. England hat gesehen, daß 
es mit dem Standpunkt nicht durch¬ 
kommt, und es wird aus dem Kriege so 
geschwächt hervorgehen, daß es seine 
Konkurrenzkräfte uns gegenüber ganz 
anders wird einsetzen müssen, als es das 
bis dahin zu tun Anlaß nahm. 

Es kommt hinzu, daß wir, wie wir ja 
wissen, mit einem allgemeinen Boykott 

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bedroht werden. Auch das verschärft den 
Kampf. Es wird weiter sehr wichtig sein, 
daß wir rasch bei der Hand sind, rasch 
die Waffen schmieden, die wir einzu¬ 
setzen haben, um draußen im Auslande 
unsern Mann zu stehen. Der erste, der 
nach diesem Kriege wieder zu vollem 
Atem kommt, hat viele Schritte voraus. 
Es kommt weiter hinzu, daß dieser 
Krieg so viel Menschenkräfte dahinge¬ 
rafft hat, und daß wir deshalb Sorge 
tragen müssen, jeden einzelnen von 
denjenigen, auf deren Schultern die 
Wahrung unserer Auslandsinteressen 
demnächst liegen wird, so auszubilden, 
daß er ein gut Teil mehr wird leisten 
können, daß er für drei etwas leisten 
kann; sonst wird es uns an dem nötigen 
Menschenmaterial fehlen, um unsere 
Auslandsinteressen zu vertreten. 

Endlich hat uns dieser Krieg gezeigt, 
daß kein Volk heute auf dem Isolier- 
schemel sitzt. Das Leben der Völker hat 
sich als so beziehungsreich herausge- 
stellt, wie wir es nie geahnt haben. Was 
hier geschieht, reflektiert an den Küsten 
aller Ozeane, und deshalb wird der 
Komplex unserer Interessen demnächst 
viel schwieriger zu überschauen und ent¬ 
wirren sein, als das bis dahin möglich 
gewesen ist. Es sind ja nicht nur die Be¬ 
amten, um die es sich hier handelt, nicht 
nur die Diplomaten und Konsuln, nicht 
nur die Offiziere, sondern Pflanzer, 
Kaufleute, Geologen, Ingenieure, Parla¬ 
mentarier und Journalisten. Ich sage ab¬ 
sichtlich: auch Parlamentarier. Die Her¬ 
ren, die in den Parlamenten über unsere 
Auslandsinteressen zu befinden haben, 
werden sehr wohl tun, demnächst auch 
diese Ausbildungsmöglichkeiten für sich 
mitzunehmen. Der Herr Minister hat ge¬ 
wiß recht, wenn er sagt, daß über viele 
Dinge mit em<Tm gewissen Dilettantis¬ 
mus gesprochen wrürde. Das ist durch¬ 
aus nicht zu verwundern, und gerade an 

26 * 

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INDIANA UNIVERSITY 





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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


808 


denjenigen Stellen, wo schließlich die 
Entscheidung mit liegt, sollte man da- 
für sorgen, daß eine Bildung so tief und 
so gründlich geschaffen wird, wie nur 
irgend möglich. 

Und die Journalisten! Der Herr Mini¬ 
ster hat auch davon gesprochen. Unsere 
Journalisten sind heute doch schließlich 
Lehrer und Beeinflusser der Massen 
überhaupt Vielfach geht der Unter¬ 
richt über das, was draußen geschieht 
und wie es zu beurteilen ist, in die Mas¬ 
sen hinein nur durch die Zeitungen. Des¬ 
halb habe ich schon in der Kommission — 
und ich wiederhole das auch hier — ei¬ 
nen Hauptton mit darauf gelegt, daß wir 
diesen Herren die Möglichkeit geben, 
sich an unseren Auslandshochschulen 
demnächst über die Verhältnisse des 
Auslandes aufs eingehendste zu unter¬ 
richten. Es ist doch im hohen Maße be¬ 
dauerlich, daß wir heute während des 
Krieges die Dinge im Ausland eigentlich 
immer durch die Lügendrähte von Reu¬ 
ter und durch Auslandsbrillen sehen 
müssen. Es ist doch Tatsache, daß die 
auswärtigen Zei lungen vielfach über das, 
was im Auslande vor sich geht, rascher 
und vielleicht auch besser unterrichtet 
sind, zu urteilen imstande sind als un¬ 
sere Zeitungen hier im Inlande. Nun 
weiß ich sehr wohl, daß das tatsächlich 
nicht immer daran liegt, daß unsere 
Journalisten nicht die genügende Vor¬ 
bildung hätten, sondern es steht uns kein 
Kabelapparat zu, wir haben nicht die 
Beziehungen. Diese Sachen können ja 
natürlich nicht durch eine Auslands¬ 
hochschule geschaffen werden, und da, 
möchte ich glauben, ist allerdings die 
Grenze zwischen der Kompetenz des 
Reiches und der Kompetenz des preußi¬ 
schen Staates. Der Herr Minister hat, 
wie mir scheint, mit vollem Recht dar¬ 
auf hingewiesen, es sei Reichssache, die 
Propaganda für das Deutschtum im 

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Auslande zu schaffen. Dann wird es 
auch Reichssache sein, unseren Journa¬ 
listen die Möglichkeit zu schaffen, sich 
über ausländische Dinge zu unterrichten 
und dafür die nötigen Einrichtungen zu 
treffen. Wir werden hoffentlich im Frie¬ 
den unter den realen Garantien, die wir 
haben wollen, auch die mit einstellen, 
daß wir eine Sicherheit dafür gewinnen, 
mit den nötigen Drähten nach dem Aus¬ 
lande hin verkehren zu können und nicht 
immer wieder von Reuter abhängig zu 
sein. Diese Dinge kann die Kultusver¬ 
waltung uns nicht verschaffen, aber sie 
hat dafür zu sorgen, daß von allen die¬ 
sen Dingen nachher der rechte Gebrauch 
gemacht werden kann. 

Nun, es ist ja selbstverständlich ein 
sehr umfangreiches Gebiet von Kennt¬ 
nissen und von Können, das auf diesen 
Auslandshochschulen erworben werden 
soll. Ich hoffe, daß da auch recht prak¬ 
tische Dinge demnächst getrieben wer¬ 
den können . . . Die Gebiete, die da 
gepflegt werden sollen, sind ja in der 
Denkschrift uns im einzelnen dargelegt: 
Auslandskunde, Auslandspsychologie, 
Massenpsychologie, Handelspolitik, Ge¬ 
schichte, Religionsgeschichte, Sprach- 
kunde. Recht, wirtschaftliche Verhält¬ 
nisse, und was der Dinge mehr sind. 
Aber mir ist doch einigermaßen zweifel¬ 
haft, ob all die Ansprüche, die an diese 
Auslandshochschule zu stellen sind, ob 
die in dem, was die Denkschrift uns 
sagt, schon wirklich voll aufgeführt sind. 
Ich würde doch ganz besonderes Ge¬ 
wicht darauf legen, daß der Erwerb 
praktischer Kenntnisse oder richtiger 
praktischen Könnens doch weit mehr in 
den Vordergrund gerückt würde, als es 
bis dahin nach der Denkschrift mir we¬ 
nigstens den Anschein hat. Ich habe in 
der Kommission schon darauf hingewie¬ 
sen, daß man in Frankreich seit länge¬ 
rem eine ähnliche Einrichtung hat und 

Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




800 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


810 


daß dort sehr praktische Themata be¬ 
handelt werden. Ich habe mir die MOhe 
genommen, die Denkschrift daraufhin 
nachzuprüfen, welche Sachen wohl in 
das Programm noch aufgenommen wer¬ 
den könnten. Ich würde da unter ande¬ 
rem auf folgende Gegenstände kommen, 
und zwar immer von dem Gesichts¬ 
punkte aus, daß es sich darum handeln 
müsse, dort Fragen zur Erörterung zu 
stellen, ein Wissen zu verbreiten, das 
unmittelbar praktisch verwertet werden 
kann, ein Wissen, das anknüpft also an 
politische Ereignisse, an politische Kom¬ 
binationen, wie sie erst in allerletzter 
Zeit praktisch geworden sind und für 
die nächste Zeit auch praktisch sein wer¬ 
den können. Dabei bin ich beispielsweise 
auf folgende Gegenstände gekommen: 
die Bedeutung des Mittelmeeres, die 
Probleme des Stillen Ozeans, der Suez¬ 
kanal, der Panamakanal, Rußlands Trieb 
zum Meere, Entstehung des nordameri¬ 
kanischen Volkes, Italiens mitteleuropä¬ 
ische Interessen, die Balkanländer, 
das österreichisch-ungarische Völkerge¬ 
misch, Österreichs Beziehungen zum 
Balkan, seine Interessen am Mittelmeer, 
die Grundlagen der englischen Politik, 
Englands Bekämpfung der stärksten 
Kontinentalmacht, die ausländischen 
Parteiverhältnisse, die Balkanprobleme, 
die Bagdadbahn, der Londoner und der 
Bukarester Friede, die Verhältnisse von 
Mesopotamien, und was der Dinge mehr 
sind. Das soll durchaus nichts Vollstän¬ 
diges sein. Derartige praktische Thema¬ 
ta werden tatsächlich in Frankreich und 
auch In England an ähnlichen Einrich¬ 
tungen schon getrieben, und ich habe 
gesehen, daß in Frankreich an der 
dort errichteten Schule unter ande¬ 
rem erörtert worden sind: die Ma¬ 
rokkofrage, europäische Bündnisse, die 
auswärtige Politik Rußlands und Eng¬ 
lands in der Gegenwart, das neue Re¬ 


gime in Rußland, das neue Regime in 
der Türkei, Alldeutschland und der Pan¬ 
slawismus, das Grenzgebiet zwischen 
Deutschland und Frankreich, militäri¬ 
sche Organisationen, die politischen 
Ideen im Deutschland des 19. Jahrhun¬ 
derts, der esprit public in England, und 
ähnliche Dinge mehr. Wenn Sie diese 
Themata, wie sie in Frankreich behan¬ 
delt werden, sich einmal durch den Kopf 
gehen lassen, dann werden Sie ganz ge¬ 
wiß finden, daß die Stimmungen, mit 
denen die Franzosen uns im Augenblick 
gegenüberstehen, daß diese Stimmun¬ 
gen zum Teil vielleicht in der Behand¬ 
lung derartiger Fragen ihren Grund fin¬ 
den, und ich meine, das sollte uns doch 
Wegweiser sein dafür, welche Wege wir 
zu gehen haben. 

Meine Herren, ich begrüße es also, daß 
der Herr Minister an alle Hochschulen, 
die wir haben, anknüpfen will. Ich 
möchte da auf eins hinweisen. Sollte es 
nicht möglich sein, auch mit den Hoch¬ 
schulen der andern deutschen Staaten in 
Verbindung zu treten? Ich glaube fest¬ 
gestellt zu haben, daß in Leipzig und in 
München nichts Ähnliches ist. Dage¬ 
gen habe ich feststellen können, daß man 
in Stuttgart auch Ansätze hat. Dort liest 
an der Technischen Hochschule der be¬ 
kannte Professor Grothe, einer der Vor¬ 
kämpfer unserer türkischen Beziehun¬ 
gen, über Dinge des Orients. Ich meine 
also, wenn wir wirklich einmal auf der 
Grundlage einer Sammlung aller dieser 
verschiedenen Ansätze den Aufbau der 
Hochschule vornehmen wollen, dann 
darf natürlich der preußische Staat nicht 
lediglich auf seinen eigenen Füßen ste¬ 
hen, sondern dann wird es gut sein, auch 
das mitzunehmen, was die kleineren 
Staaten bieten, so gut wie wir selbstver¬ 
ständlich an dem Kolonialinstitut in 
Hamburg nicht vorübergehen können 
und vorübergehen werden. 


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INDIANA UNIVERSITY 






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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


812 


Der Herr Minister hat heute schon dar¬ 
auf hingewiesen, daß er in der Denk¬ 
schrift ausdrücklich gesagt hat, daß auch 
die technischen Hochschulen, zum min¬ 
dest ii de ei allgemeinen Abteilungen, 
Gelegenheit böten, an dieser Arbeit mit¬ 
zuschaffen. Ich glaube, man könnte viel¬ 
leicht darin noch einen Schritt weiter ge¬ 
hen, und möchte doch zur Erwägung 
stellen, ob es bloß die allgemeinen Ab¬ 
teilungen der technischen Hochschulen 
sind, die da in Frage kommen können, 
und nicht auch die speziellen Abteilun¬ 
gen derselben. Es ist in der vorhin schon 
zitierten Denkschrift des Architektenver¬ 
eins auch hervorgehoben, daß beispiels¬ 
weise unsere Geologen, die doch eben 
ein ganz spezielles Studium haben. 
Bergkundige aller Art heute ins Aus¬ 
land gehen und dort im Ausland nun 
auch Arbeit tun, die in das Gebiet der 
Auslandskunde fällt. Es finden dort zum 
Beispiel Forschungen statt nach Rohstof¬ 
fen, die wir für unsere Industrie nötig 
haben. Es ist das also ein ganz spezielles 
Gebiet, und ich meine, man sollte die 
technischen Hochschulen auch in ihren 
speziellen Abteilungen für die Vorbe¬ 
reitung zum Auslandsdienst her¬ 
anziehen. 

Nun habe ich mir schon in der Kom¬ 
mission auf folgendes hinzuweisen er¬ 
laubt. Mir scheint dieser Ausdruck ,,Aus¬ 
landshochschule" kein richtiger zu sein. 
Das, was wir wollen, hat eigentlich 
etwas Weiteres oder zum Teil etwas an¬ 
deres im Auge. Es handelt sich nicht nur 
um eine Auslandshochschule, sondern es 
handelt sich auch besonders um eine 
Hochschule für Auslandspolitik. Ich 
möchte damit zum Ausdruck bringen, 
daß wir uns nicht darauf beschränken 
dürfen, lediglich eine Kunde des Aus¬ 
lands uns zu verschaffen, uns anzueig¬ 
nen, sondern daß wir unsere jungen 
Leute anlemen sollen, wie sie sich poli¬ 


tisch dem Auslande gegenüber zu stellen 
haben,.wiesie das Ausland politisch, wis¬ 
senschaftlich, merkantil und was der Be¬ 
ziehungen sonst mehr sein mögen, ein- 
zuschä zen und zu behandeln haben. Dar¬ 
auf weist auch die Auswahl der Unter- 
richtsgegenstände hin, die ich vorhin er¬ 
wähnte. 

Dann noch eins, meine Herren 1 Selbst¬ 
verständlich wünsche ich nicht, daß diese 
Auslandskunde ausschließlich auf diese 
praktischen Ziele abgestellt wird; ich 
wünsche auch nicht, daß ihr die wissen¬ 
schaftliche Grundlage genommen wird. 
Das wäre durchaus undeutsch. Wir 
Deutschen müssen nun einmal alle die¬ 
se Dinge, wie es uns im Blute liegt, wis¬ 
senschaftlich betrachten; aber es ist doch 
durchaus nicht nötig, daß auf den Ka¬ 
thedern nur Professoren sitzen, und ich 
sehe nicht ein — ich habe darauf in der 
Kommission schon hingewiesen —, war¬ 
um die Männer des praktischen Le¬ 
bens, aus dem praktischen Beamtentum 
nicht auch Hochschullehrer sein sollten, 
wenn Männer wie Peters und Lin- 
dequist auf die Lehrstühle solcher 
Hochschulen berufen würden, wenn 
Männer wie Posadowsky und Tirpitz 
dort lehren würden, Männer wie Del¬ 
brück, ja, selbst wenn ein Mann wie 
Fürst Bülow dort das lesen würde, was 
er in seiner . Deutschen Po!Lik“ niederge¬ 
legt hat. Der Gedanke befremdet uns 
vielleicht; aber ich will darauf hinwei- 
sen, daß täglich in Frankreich schon et¬ 
was Ähnliches gemacht wird. Die ab¬ 
gegangenen Minister pflegen dort an der 
libre 6cole zu lehren. Also, ich sehe nicht 
ein, warum wir nicht etwas Ähnliches 
machen könnten, und warum wir die 
tiefgründige Kenntnis und das volle 
Können dieser Männer nicht auch in 
den Dienst dieser großen Sache stellen 
könnten. Ja, meine Herren, man wird 
dem vielleicht entgegenhalten, zumal es 


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INDIANA UNIVERSITY 




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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


814 


sich um Gebiete handelt, die erst in 
jüngster Vergangenheit ihren Abschluß 
gefunden haben, daß das keine Wissen« 
schaft sein kann, die die Herren trei¬ 
ben; denn die Geschichte der letzten 
Jahre ist mit ihrem Herzblut selbst ge¬ 
schrieben; sie können aus dem Subjek¬ 
tivismus nicht heraus. Meine Herren, 
schadet das aber so viel, wenn die 
jungen Leute nun einmal so ganz in 
die Denkweise, in den Gedankengang 
dieser Männer eingeführt werden? Auch 
im Subjektivismus steckt ein gut Teil 
Wahrheit neben der Wahrheit, die wir 
im Objektivismus suchen. Erst die per¬ 
sönliche Note macht das Leben. Schlie߬ 
lich kann das auch paralysiert werden 
dadurch, daß Herren ganz verschiede¬ 
ner Richtung auf derartige Lehrstühle 
berufen werden. 

Wenn das die Aufgaben dieser Hoch¬ 
schulen sind, dann werden wir aller¬ 
dings nicht mit den 107 000 M., die in 
den Etat eingestellt sind, auf die Dauer 
auskommen können, und ich bin über¬ 
zeugt, daß wir schon sehr bald hinter 
diese 107000 M. eine Null werden setzen 
müssen, wenn wirklich etwas Ganzes 
und etwas Großes herauskommen soll. 
Aber auch mit diesem Ansatz wollen 
wir heute zufrieden sein. Wir freuen 
uns, daß der Stein im Rollen ist, und 
wir hoffen, daß er so weit rollen wird 
und von nun ab recht rasch rollen 
wird, bis wir an dem Ziele angelangt 
sind . . . 

Dr. Rewoldt (freikons.): . . . Meine 
Herren, der Gegenstand, welcher den 
Mittelpunkt der heutigen Verhandlun¬ 
gen bildet, ist die groß angelegte Auf¬ 
gabe der Förderung der Aus¬ 
landsstudie n.Die Denkschrift, welche 
darüber gegeben ist, knüpft an diejeni¬ 
gen Gesichtspunkte an, die bereits vor 
drei Jahren der Herr Minister in der 
Staatshaushaltskommission vorgezeich¬ 


net hatte; sie bietet einen so weiten 
Ausblick, daß man nur dankbar sein 
kann, daß, wie der Herr Abgeordnete 
D. Traub es ausdrückte, hier eine Idee 
in den Mittelpunkteines groß angelegten 
Plar.es ges'ellt wird. Die Denkschrift gibt 
verschiedene Richtlinien über den Inhalt 
der Aufgabe; sie will eine Stellung¬ 
nahme zu den großen Problemen der 
Weltpolitik und der Weltwirtschaft 
in Deutschland ermöglichen, sie will 
den Auslandsstudien einen organischen 
Platz im lebendigen Fluß unseres aka¬ 
demischen Lebens schaffen, sie will 
das Eindringen in andersartige Kultur¬ 
kreise ermöglichen, und sie will unsere 
Jugend und unser ganzes Volk über die 
Fragen der heimischen Parteipolitik 
hinausführen ... 

Äußerlich besteht wohl Übereinstim¬ 
mung darin, daß man bei einer so weit¬ 
umfassenden Aufgabe nur zu wirklich 
großen Ergebnissen gelangen könne, 
wenn man die Dezentralisation der 
Tätigkeit an die Spitze stellt, ohne daß 
man damit einer späteren teilweisen 
Zentralisierung den Weg verschließt. 
Der innere Gehalt der Aufgabe aber 
ist nach drei Richtungen hin vorge¬ 
zeichnet, einmal nach der Richtung der 
wissenschaftlichen Auslandskunde, dann 
der praktischen Schulung von Beamten 
und Privaten für das Ausland, beides 
Gebiete, welche schon jetzt auf den 
Universitäten und anderen Hochschulen 
und Instituten betrieben werden, welche 
weiter bestehen bleiben und weiter aus¬ 
gebaut werden sollen; dazu kommt das 
dritte Gebiet, die Weckung außenpoli¬ 
tischen Interesses und Verständnisses 
in der Heimat Das ist der Kernpunkt 
der Frage. Sie wird von der Denk¬ 
schrift zwischen die Ideen von Weimar 
und die Zucht von Potsdam gestellt in 
der richtigen Auffassung, daß zwischen 
diesen beiden Grundlagen unserer Kul- 


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INDIANA UNIVERSITÄT 







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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


816 


tur noch andere Aufgaben, bestehen, 
deren Pflege für unsere weitere Ent¬ 
wicklung notwendig ist. Daß sich hier 
zahlreiche Mängel im Laufe der Zeit her¬ 
ausgestellt haben, das fühlte man, 
und man suchte tastend nach Abhilfe. 
Man machte diesen oder jenen verant¬ 
wortlich für die hervortretenden Män¬ 
gel, und namentlich ist es das humani¬ 
stische Gymnasium gewesen, welches 
oft als Sündenbock für Erscheinungen 
hat dienen müssen, welche auf ganz 
anderen, breiteren Ursachen beruhten. 
Neben der, wie die Denkschrift hervor¬ 
hebt, erschreckenden Unkenntnis des 
ausländischen Wesens, der zu starken 
Orientierung nach innen, zeigte sich ein 
oft unverhältnismäßiger Kräftever- 
brauch im Innern für kleine Gegen¬ 
stände. Wir wissen es alle, mit wel¬ 
chem fast fanatischen Eifer vielfach 
kleine Dinge behandelt wurden, ohne 
daß dabei große Ziele auch nur ange¬ 
strebt wurden. Mit diesem Eifer der 
Betätigung, ja Befehdung nach innen 
verband sich eine teilweise rührende 
Bescheidenheit nach außen. 

Ich habe bereits vor einigen Tagen 
bei unserer Besprechung über Handel 
und Gewerbe auf die heutigen Ver¬ 
handlungen wegen Auslandsstudien Be¬ 
zug genommen und gesagt, daß wir 
sämtlich — wir seien, wer es sei — 
in den von der Denkschrift und diesen 
Verhandlungen berührten Richtlinien 
umlernen müssen. Ich nahm als Bei¬ 
spiel das Verhalten der Sozialdemo¬ 
kratie in diesem Kriege hinsichtlich 
ihrer großen Ansprüche nach innen und 
deren Bescheidenheit nach außen. Ich 
führte diese Stellung auf einen Denk¬ 
fehler in der Sozialdemokratie zurück 
und fand von dem Herrn Abgeordneten 
Leinert die Antwort, daß ein solcher 
Denkfehler nicht bei ihnen, sondern 
eher bei mir vorliege. In seinen Aus¬ 


führungen sprach Herr Abgeordneter 
Leinert an dem, was ich gesagt hatte, 
vollkommen vorbei. Aber es würde za 
weit führen, und es ist nicht von Inter¬ 
esse, bei dieser Sache darauf einzu¬ 
gehen. Aber eine Bemerkung, die 
gestern Herr Scheidemann in der De¬ 
batte des Reichstags gemacht hat, hat 
mich doch wieder auf diesen Punkt 
zurückgeführt. Wenn es richtig berich¬ 
tet ist, so hat Herr Scheidemann ge¬ 
sagt: „Man tut gut, auch die anderen 
Völker nach dem eigenen Volk zu beur¬ 
teilen; denn die Unterschiede sind gar 
nicht so groß.“ Meine Herren, wenn 
Herr Scheidemann das gesagt hat, dann 
ist das der Denkfehler, den zu besei¬ 
tigen diejenigen Bestrebungen mithel¬ 
fen wollen, welche durch die Förde¬ 
rung der Auslandsstudien angestrebt 
werden. Denn es ist nicht richtig, daß 
wir die anderen Völker nach unserem 
eigenen Volke beurteilen können; wir 
müssen zwar, wie auch Herr D. Traub 
betonte, auf festem deutschen Grunde 
stehen, aber wir müssen uns in die 
Ideenkreise fremder Völker hineinleben, 
um uns nicht weiterhin sehr unlieb¬ 
samen Überraschungen auszusetzen. 

Die Unkenntnis des ausländischen 
Wesens mit ihren Wirkungen für die 
Heimat ist auch darin zutage getreten 
daß sich bei unseren werktätig gestei¬ 
gerten Leistungen in Handel und Indu¬ 
strie vielfach eine immer größere 
Kluft gegenüber dem bureaukratischen 
Betriebe auf manchen Gebieten unseres 
Staatslebens herausstellte. Ich will da¬ 
von absehen, auf Einzelheiten einzu- 
gehen, ich glaube nicht, daß es der 
richtige Zeitpunkt ist, da, wo man an 
eine so große Aufgabe herantritt, sie 
durch Einzelheiten in ihrer Bedeutung 
abzuschwächen. Nur das möchte ich 
noch sagen, daß auch in dem gegen* 
wärtigen Kriege erschreckend zutage 


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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


818 


getreten ist, wie sehr bei uns gerade in 
fahrenden Kreisen ein Verkennen der 
Auffassungen und Charaktere fremder 
Völker, namentlich Englands und Ame¬ 
rikas, herrschte, so daß wir uns da¬ 
durch sehr erheblichen und oft tief 
einschneidenden Enttäuschungen aus¬ 
gesetzt haben. 

Zu den bisher erwähnten Gesichts¬ 
punkten kommt hinzu, daß sich immer 
mehr das Spezialistentum ausbreitet. 
Dieses bewirkte im Laufe der Zeit, daß 
unsere Universitäten drohten, in Fach- 
schulen auseinanderzufallen, daß die 
Fflhlung mit den anderen Hochschulen 
und mit dem praktischen Leben sich 
verringerte, und daß hierdurch sich die 
Schwierigkeiten, die sonst schon ent¬ 
standen waren, immer mehr verstärk¬ 
ten. Die geschichtliche Entwicklung, die 
zu den jetzigen Verhältnissen geführt 
bat, ist häufiger besprochen worden. 
In froheren Zeiten brauchte man nicht 
eine solche Unkenntnis der ausländi¬ 
schen Verhältnisse zu beklagen. Das 
Deutsche Reich ist im Sinne der Ge¬ 
schichte nicht ein neues Reich, son¬ 
dern die Weiterbildung des alten rö¬ 
mischen Reiches deutscher Nation. Die¬ 
ses alte Reich war ein Universalreich, 
und wenn in diesem Universalreiche 
die studierenden Deutschen nach Ita¬ 
lien zogen, so verließen sie zwar den 
Boden Deutschlands, sie blieben aber 
innerhalb des Universalreiches, sie lern¬ 
ten Uaiversalkenntnisse und brachten 
Universalauffassungen nach Deutsch¬ 
land zurück. Dem folgte die Grün¬ 
dung der deutschen Universitäten als 
untuersltas zur Pflege universaler Bil¬ 
dung, der Kenntnisse des In- und Aus¬ 
landes; daraus entwickelten sich Gei¬ 
ster von so umfassender Bildung, daß 
wir heute nur darüber staunen, es aber 
fast nicht begreifen können. Die Ver¬ 
hältnisse änderten sich durch den Zer- 

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fall des Reiches, durch die entstehende 
Kleinstaaterei, durch die Abschließung 
vom Weltverkehr, die vorbereitet wurde 
durch den Zerfall der Hansa. Daraus 
ergab sich eine Art Verknöcherung, er¬ 
gab sich die Unsicherheit vieler Deut¬ 
schen in Beurteilung ausländischer Ver¬ 
hältnisse, die vielfach im Auslande 
nachteilig auf uns zurückwirkte. Unser 
Verhalten war oft zu bescheiden, bis¬ 
weilen auch zu anspruchsvoll, statt der 
ruhigen Sicherheit, die auf dem Ver¬ 
ständnis der heimischen und der aus¬ 
wärtigen Verhältnisse beruht, und die 
allein geeignet ist, dem Deutschen und 
dem Deutschtum diejenige Stellung im 
Inlande wie im Auslande zu geben, auf 
die sie wohlbegründeten Anspruch 
haben. 

In der Ausführung des Planes will 
die Staatsregierung nicht — und das 
müssen wir ihr besonders danken — 
mit großen Anfängen vielleicht Kleines 
erreichen, sondern sie geht den umge¬ 
kehrten Weg; sie will mit anfänglichen 
kleinen Mitteln Großes anstreben. Sie 
strebt das an durch die in Aussicht 
genommene Dezentralisation, ausgehend 
von den Universitäten, aber auch ande¬ 
ren Hochschulen und sonstigen Bil¬ 
dungsanstalten. Sie will ferner Brenn¬ 
punkte für einzelne Kulturkreise schaffen 
und nirgends eine schematische Hand¬ 
habung anwenden. Sie will also eine 
umfassende Auslandsbildung innerhalb 
der Fakultäten sowie von Universität 
zu Universität, von den Universitäten 
zu den übrigen Hochschulen und von 
da aus in breitem Strome eine Einwir¬ 
kung auf das ganze Staats- und Ge¬ 
sellschaftsleben anstreben. Sie will end¬ 
lich, im Gegensätze zu dem, was man 
heute vielfach Weltbürgertum im un¬ 
günstigen Sinne nennt, ein praktisches 
Weltbürgertum in Deutschland fördern 
und dadurch diejenigen Kulturziele er- 

26 ** 

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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


820 


streben, welche beredter von anderer 
Seite besprochen sind ... 

Es ist hocfaerfreulidi, daß wir in diesen 
schweren Kriegszeiten an eine solche 
Aufgabe herangehen können, und daß 
wir nicht bloß die Hoffnung, sondern 
auch die sichere Aussicht haben dür¬ 
fen, daß die begonnene Aufgabe nach 
siegreich beendetem Kriege mit großen 
Erfolgen für unser Vaterland weiter¬ 
geführt wird. In diesem Sinne erscheint 


diese in erster Linie den Universitäten 
gestellte Aufgabe als das Morgenrot 
einer weltpolitischen Zukunft Alle, die 
dazu berufen sein werden, an der Auf¬ 
gabe mitzuwirken, werden es tun kön¬ 
nen im Bewußtsein, daß sie mitwirken 
an einer Aufgabe, welche für die welt¬ 
politische Zukunft unseres Vaterlandes, 
wie wir hoffen, von der weittragend¬ 
sten Bedeutung sein wird. 


Die Plünderung Roms durch Bonaparte. 

Von Emst Steinmann.*) 


II. 

Schon lange vor dem Friedensschluß 
von Tolentino hatte Bonaparte Pius VI. 
wissen lassen, daß er, um die päpst¬ 
liche Macht zu vernichten und Rom zu 
erobern, es nur zu wollen brauche. 
Aber eine solche Unternehmung sei zu 
sehr ohne Ruhm wie ohne Gefahr, als 
daß er sich damit befassen möchte. 1 ) 

Dieser tiefen Verachtung für das 
päpstliche Rom und seine Bevölkerung, 
die er schlaff, abergläubisch, träge und 
niederträchtig nannte 2 ), hat Bonaparte 
mehr als einmal Ausdruck verliehen: 
„Ich mache mir mehr aus einer Feld¬ 
hütte Cäsars als aus dem vatikanischen 
Tempel“, stieß er hervor, als Marino 
Marinl ihm in Paris die vatikanischen 
Archive zeigen mußte, die gleichfalls 
aus Rom entwendet worden waren.*) 

Aber dem Zauber des römischen Na¬ 
mens hat auch Napoleon sich auf die 
Dauer nicht entziehen können. Er war 


•) Siehe Heft 6. 

1) Posselt, Europäische Annalen 1796 
II 197. 

2) Correspondance de Napoleon I er tome II 
«8 nr. 2292. 

3) Regestum Gementis V., Romae 1885, 
I p. CCXXXIV. 


zornig, daß Pius VII. ihm erfolgreicher 
widerstand als sein Vorgänger Pius VI„ 
und was Bonaparte verachtet hatte, das 
schien Napoleon begehrenswert: „Rom 
ist nicht mehr Rom; es ist dort, wo du bist 
Rom erwartet euch mit dem eigenen 
Ruhm und mit dem eurigen. Diese Begeg¬ 
nung zweier Unsterblichkeiten würde der 
Welt ein nie gesehenes Schauspiel ge¬ 
geben haben.“ So sagten die Höflinge. 4 ) 

Auch Canovas begeisterte Schilderun¬ 
gen der Herrlichkeiten Roms mochten 
die Phantasie des Kaisers entzündet 
haben, der ein Weltreich gründen 
wollte, wie es in Rom seinen Sitz ge¬ 
habt hatte. 5 ) So wurde der Gedanke 
geboren, den Sohn und Erben als Paten¬ 
kind der Dea Roma in den Schoß zu 
legen und ihm mit dem Titel eines 
Königs von Rom die Anwartschaft auf 
die Weltherrschaft zu verleihen. 

Bonaparte hat die Stadt am Tiber nie 
betreten und seinen Heerführern die 
Schmach überlassen, sie zu plündern 
und zu quälen. Aber auch Napoleon 

4) Mömorial de J. de Norvins ed. Lanzag 
de Laborie III (1802-10), Paris 1897, S, 331 
-333. 

5) Entretiens de Napoleon et Canova, 
1810, S. 47 und 51. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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war nicht in Rom, wo im Jahre 1803 zu 
gleicher Zeit drei Kolossalstatuen in 
Marmor von ihm gearbeitet wurden. 6 ) 
Canova stellte den Imperator der näch¬ 
sten Zukunft dar in heroischer Nackt¬ 
heit; Calamare bildete ihn als Achill, 
Massimiliano den Konsul in konsulari¬ 
schen Gewündern. Aber er selbst hat 
die Stadt am Tiber nicht gesehen, die 
gegen ihn den Bannstrahl zu schleudern 
wagte und die er doch noch kurz vor 
seinem Fall zur Hauptstadt Italiens 
machen wollte. Welch ein Schauspiel 
wftre es gewesen, ihn als Kaiser seinen 
Einzug in dieselbe Stadt halten zu 
sehen, der seine Feldherm einst, die 
Manen von Cato und von Brutus anru¬ 
fend, das Danaergeschenk republikani¬ 
scher Freiheit aufgedrungen hatten! 

Pius VI. lebte den Machthabern in 
Paris zu lange. Er hatte mehr als ein¬ 
mal Anstalt gemacht, zu sterben, aber 
er war stets genesen. „Es wäre wün¬ 
schenswert für die Ruhe des Volkes,“ 
schrieb man aus Paris an Bonaparte 7 ), 
„daß Pius VI. keinen Nachfolger er¬ 
hielte. Aber die Republik darf sich in 
dieser Sache nicht bloßstellen. Entsteht 
eine Revolution in Rom, werden wir ihr 
nicht entgegentreten. Es muß uns genü¬ 
gen, sie nicht provoziert zu haben.“ Es 
galt überdies, vor allem erst die 30 Mil¬ 
lionen einzuheimsen. Der Geschäftsträ¬ 
ger Fröville schrieb es nach Paris mit 
zynischer Offenheit: „Wenn alles be¬ 
zahlt sein wird, können wir in Rom eine 
Revolution herbeiführen und wohlwol¬ 
lende Zuschauer bleiben.“ 8 ) 

Mit solchen Instruktionen erschien Jo¬ 
seph Bonaparte, der Bruder des Gene- 


6) Teutscher Merkur 1803 I S. 237-39. 

7) Correspondance inödite II 53. Schrei¬ 
ben vom 1. Juli 1797. 

8) L. Sciout, Rome, le Directoire et Bona- 
parte en l’an IV et V in Revue des questions 
historiques Bd.41 (1887) S.490. 

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rals, als neuernannter Botschafter am 
päpstlichen Stuhl in Rom. Man hielt 
sich äußerlich zurück, aber man schürte 
die Revolution mit allen Mitteln. Der 
Palazzo Corsini an der Lungara, in dem 
der französische Botschafter residierte, 
war bald der Mittelpunkt aller Neue¬ 
rungssüchtigen. „Hier zeigt das poli¬ 
tische Wetterglas immer noch auf 
Sturm und Ungewitter,“ schrieb der 
Maler Fernow am 7. Oktober 1797 aus 
Rom. „Buonapartes Bruder wird zwar 
höchlich gefeiert, aber auch allgemein 
für den Exequiensprecher der päpst¬ 
lichen Gewalt angesehen.“ 9 ) 

Mehr als einmal kam es zu Aufstän- 
|den in der von den Franzosen ihrer Exi¬ 
stenzmittel beraubten Stadt, und als der 
Papst einen Versuch machte, durch die 
Ernennung des Generals Provera seine 
Truppen zu reorganisieren und sein ge¬ 
sunkenes Ansehen wiederherzustellen, 
erfolgte ein drohendes Gebot Bonapar¬ 
tes, den österreichisch gesinnten Gene¬ 
ral sofort zu entlassen. So nahm das 
Verhängnis seinen Weg mit dröhnenden 
Schritten, und der 28. Dezember besie¬ 
gelte das Schicksal Roms mit der Er¬ 
mordung des Generals Duphot. 

Der Vorgang wurde von päpstlicher 
Seite natürlich anders dargestellt als 
von französischer. Aber wenn sich ein 
aufsässiger Volkshaufe vor dem Palast 
eines fremden Botschafters versammelt 
und dort die Absetzung seines recht¬ 
mäßigen Herrschers verlangt, wenn sich 
ein fremder General in einen solchen 
Haufen hineinwirft, gegen die Trup¬ 
pen des Landessouveräns den Degen 
zieht und dabei den Tod findet, so ist 
es unmöglich, diesen Souverän für das 
Geschehene verantwortlich zu machen. 10 ) 

9) Teutscher Merkur 1797 III 276. 

10) .11 est certain que la mort de Duphot 
ne peut 6tre imputöe qu’ä son imprudence: 
U paratt mflme assez probable que dans 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Und so geschah es am 28. Dezember 
1798in Rom! Aufständige mit französi¬ 
schen Kokarden am Hut und französi¬ 
schem Solde in der Tasche zogen mit Ge¬ 
schrei vor den Palazzo Corsini und brach- 
ten Hochrufe aus auf die französische und 
die römische Republik. Päpstliche Trup¬ 
pen suchten das Volk zu zerstreuen und 
drängten die Aufrührer in den Hof des 
Palastes. Bonaparte und Duphot er¬ 
schienen, um Ruhe zu stiften. Duphot 
6türmte mit erhobenem Säbel bis an die 
Porta Settimiana vor und fiel dort zu 
Boden, von tödlicher Kugel getroffen. 
Joseph Bonaparte aber flüchtete in 
den Palast zurück, schrieb eine wü¬ 
tende Beschwerde an den Kardinal¬ 
staatssekretär, verlangte seine Pässe 
und verließ am folgenden Tage Rom. 
Nichts hatte ihn zurückzuhalten ver¬ 
mocht 

Das Direktorium aber hatte endlich 
den erwünschten Vorwand gefunden, 
sich Roms zu bemächtigen, den Papst 
zu entfernen und die Republik zu pro¬ 
klamieren. „Die Französische Republik 
war edelmütig bei Tolentino," hatte der 
Feldherr Bonaparte schon im Septem¬ 
ber gedroht; „sie wird es nicht mehr 
sein, wenn die Dinge von neuem be¬ 
ginnen.“ n ) 

Dem General Berthier wurde „die 


cette ömeute qu’il voulait apaiser, a-t-on dit, 
il a commis un acte positif d’agression contre 
les soldats pontificaux", schreibt Sciout a. a. O. 
Revue des questions historiques Bd. 39 (1886) 
S. 149 Anm. 2. Vgl. auch die Beschreibung 
des Vorganges von Femow im Teutschen 
Merkur 1798 I 101 — 104. (?• D’AUonville 
schreibt: Duphot se fait tu er comme un fou 
par des gens qu’il Charge sans en avoir £t£ 
attaqug. D’AUonville berichtet, wie er sagt, 
was er gesehen oder gehört oder selbst in 
Rom erlebt hat. Vgl. Mömoires secrets de 
1770 a 1830 par le O D’Allonville, Paris 
1841, IV S. 236. 

11) Correspondance III 465 nr.2266. Brie! 
an Joseph Bonaparte vom 29. September 1797. 


Ehre zuteil“, Rom zu züchtigen. 11 ) Das 
Direktorium übersandte ihm schon am 
11. Januar 1798 die erste von Bonaparte 
meisterhaft redigierte Instruktion, der 
zwanzig Tage später eine zweite 
folgte 13 ): „Ihr werdet in einer Prokla¬ 
mation mit wenig Worten sagen, daß 
der einzige Grund eures Zuges auf Rom 
in der Notwendigkeit liegt, die Mörder 
des Generals Duphot zu bestrafen und 
alle die zur Verantwortung zu ziehen, 
welche es gewagt haben, den Botschaf¬ 
ter Frankreichs zu beleidigen. 

„Ihr werdet die päpstliche Herrschaft 
zerstören und eine neue Regierung auf¬ 
richten. 

„Mit der Römischen Republik ist An¬ 
cona zu vereinigen. 

„Die Güter des Papstes, seiner Familie 
und der Albani werden konfisziert 
werden. 

„Die Trajanssäule wird abgetragen 
und nach Frankreich geschafft werden.“ 

So lauteten die Befehle aus Paris. 

In Rom wurden inzwischen Prozes¬ 
sionen veranstaltet, und das geängstete 
Volk wallfahrtete in Scharen zu den 
ehrwürdigen Heiligtümern der Stadt 
Aber niemand kam der bedrängten 
Kirche zu Hilfe, und Berthier rückte 
von Ancona her in Eilmärschen gegen 
Rom heran. Am 10. Februar schlug er 
auf dem Monte Mario sein Hauptquar¬ 
tier auf und verlangte die Übergabe der 
Engelsburg, die ohne weiteres zugestan¬ 
den wurde. Jedermann fühlte jetzt, daß 
das Ende aller Dinge für Rom gekom¬ 
men sei. 

12) Bonaparte an Berthier 11. Januar 1796. 
Correspondance III 631 nr.2405: L'honneur 
de prendre Rome vous est röservöl 

13) Correspondance III 628 nr. 2404 und 
Gouvion Saint-Cyr, Mgmoires pour servfr 
ä l’histoire militaire sous le directoire, le 
consulat et 1’empire, Paris 1831, 1 270. Jules 
Gendry, Pie VI, sa vie et son pontificat, 
Paris (1907), II 293 und 294. 


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Ernst Steinmann, Die Plflnderung Roms durch Bonaparte 


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Die förmliche Absetzung Pius’ VI. 
wurde in jenem Scheinvertrage noch 
nicht ausgesprochen, der die Stadt und 
alle ihre Hilfsquellen völlig in die Hand 
der Franzosen gab. 14 ) Man wollte dem 
Papst Zeit lassen, sich freiwillig zu ent¬ 
fernen, und man begnügte sich zunächst 
damit, seinen geistlichen Hofstaat auf¬ 
zulösen und den Vatikan in eine Ka¬ 
serne zu verwandeln. Aber Pius machte 
keine Anstalten zur Flucht; er wollte 
ausharren bis zum Ende. 

Am 15. Februar zog Berthier in feier¬ 
lichem Gepränge aufs Kapitol, wo er im 
hohen Stil Bonapartes die Manen des 
Cato, des Pompejus, des Brutus und des 
Cicero anrief 16 ) und mit der Geste eines 
Römers den Römern ihre Freiheit zu¬ 
rückgab. Man schmückte selbst die 
Statue Mark Aurels mit der französi¬ 
schen Kokarde, und man zwang den 
Eremiten des Kolosseums, der gerade 
vorüberkam, Hand anzulegen an die 
Errichtung des Freiheitsbaumes auf 
dem Kapitol. 16 ) Aber die schaulustigen 
Römer zeigten bei dieser Gelegenheit 
wenig Begeisterung. Man mußte aus 
Trastevere einen Volkshaufen zusam¬ 
menbringen. 17 ) 

An demselben Tage, dem Jahrestage 
seiner Wahl, „einem Tage der Trauer 


14) Baldassari, Geschichte der Wegfüh- 
rung und Gefangenschaft Pius’ VI. über¬ 
setzt von F.X. Steck, Tübingen 1844, S. 156 
bis 15a 

15) Die Rede Berthiers ist vielfach ab¬ 
gedruckt und übersetzt worden. Ihr Inhalt 
findet sich bei Sciout in der Revue des 
questions historiques Bd.39 S. 151 sehr tref¬ 
fend analysiert 

16) G. S. Sala, Diario Romano I 29 u. 30. 

17) Duppa, Richard, A brief account of 
the Subversion of the papal government 
179a Second edition, London 1799, S. 42 
n. 4a Die, weil von einem Augenzeugen 
verfaßte und darum besonders wichtige Ar¬ 
beit Duppas ist in Archenholz’ Minerva Bd. 19 
(1799) übersetzt worden. 


für alle Rechtschaffenen und Gutge¬ 
sinnten“, wurde dem Papst seine Ab¬ 
setzung verkündigt: „Das römische Volk 
hat selbst entschieden 1 Es will durch 
den Edelmut der französischen Nation 
frei werden von der päpstlichen Knecht¬ 
schaft.“ So wurde Pius VI. die Bot¬ 
schaft vom General Cervoni übermittelt 
Alles wurde dem Achtzigjährigen ab¬ 
gefordert, was er noch besaß, bis auf 
den letzten Ring, den er am Finger 
trug. 18 ) Man drang in seine Privat¬ 
gemächer ein, man nahm ihm sein Sil¬ 
ber, seine »Wagen, seine Pferde und 
suchte bei dem völlig ausgeraubten 
Nachfolger Petri selbst in den Mauern 
noch nach verborgenen Schätzen. 

Wenige Tage später, am 20. Februar, 
in aller Morgenfrühe hat Pius VI. als 
Gefangener Rom verlassen, um in der 
Verbannung zu sterben. Unter den 
großen Tragödien der Weltgeschichte 
verdient auch die seinige genannt zu 
werden. Man hatte ihn nicht umge¬ 
bracht; aber an physischen Leiden und 
seelischen Qualen ist ihm wohl nichts 
erspart geblieben. Man lese eine kurze 
Episode aus dieser Reise, die der Chro¬ 
nist jener Tage mit schlichten Worten 
erzählt: „Am Wagen, in dem sich der 
h. Vater befand, brach ein Rad zwischen 
Baccano und Monterossi. In diesem 
Augenblick kam einer unserer Lastträ¬ 
ger vorbei, der ihn an der Straße auf 
einem Steine sitzen sah. Er bat um 
seinen Segen. Der Papst gab ihn nicht, 
sondern er holte ein weißes Tuch her¬ 
vor, sich die Augen zu trocknen, die 
von großen Tränen voll waren. Als der 
Wagen hergerichtet war, nahm der 
Papst wieder Platz, und nun segnete 
er den Lastträger und alle, die umher- 
standen.“ 18 ) 

18) Geschichte Pius des Sechsten, 1799, 
(anonym, ohne Ortsangabe erschienen), 
S. 236. 19) Sala, Diario I 49. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Nicht die Grausamkeit allein, mit der 
dieser Achtzigjährige behandelt wurde, 
trägt den Stempel jener Tage. Noch 
mehr macht uns die Falschheit erschau¬ 
ern, die aus dem Verbrechen eine Tu¬ 
gend machte, jene heuchlerische und 
verlogene Politik des Direktoriums und 
seines genialen Feldherrn, die Jahre und 
Monate mit einem wehrlosen Opfer 
spielte, ehe sie es kaltblütig zugrunde 
richtete. 

Unter den Bedingungen des Schein¬ 
vertrages vom 10. Februar, welcher der 
Absetzung des Papstes vordlisging, las 
man im vierzehnten Artikel *°): „Die Ge¬ 
mälde, die Bücher, die Handschriften, 
Statuen und anderen Kunstgegenstände, 
die würdig erachtet werden, nach 
Frankreich gebracht zu werden, wird 
man aus der Stadt Rom fortnehmen. Der 
Oberbefehlshaber wird einer ad hoc er¬ 
nannten Kommission seine Befehle zu¬ 
gehen lassen.“ 

In Mailand und Venedig, in Parma 
und Modena, ja selbst beim Vertrag von 
Tolentino war die Anzahl der zu neh¬ 
menden Kunstobjekte auf 15, auf 20, 
auf 100 beschränkt worden. Jetzt hatte 
jede Beschränkung aufgehört. Man 
konnte nehmen, was man wollte, und 
sich in Gegenwart und Zukunft auf 
einen feierlichen Vertrag berufen. Bo¬ 
naparte aber, der damals schon längst 
in Paris war und die Expedition nach 
Ägypten vorbereitete, zeigte sich auch 
jetzt noch als der Spiritus rector des 
neuen Kunstraubes in Rom. Er richtete 
am 4. März das Gesuch an den Minister 
des Innern, sofort eine Anzahl neuer 
Kunstkommissare nach Italien abzusen¬ 
den. 21 ) Die päpstlichen Residenzen, der 
Vatikan und der Quirinal, die Samm¬ 
lungen und Paläste der papsttreuen 

20) Vgl. Le Grelle ln Serafini, Le monete 
etc. Milano 1910, S. XLIV Anm. 1. 

21) Correspondance III 653 nr. 2425. 


Prinzen und Kardinäle, die römischem* 
Kirchen selbst mit ihren unvergleich¬ 
lichen Kunstschätzen — alles stand jetzt 
der Raubgier der Abgesandten Frank¬ 
reichs offen. Sie brauchten nur zu neh¬ 
men, was niemand halten konnte. 

Man begann dort, wo man am mei¬ 
sten zu finden hoffte: im VatikanI 
Schon am ersten Tage nach dem Ein¬ 
zug Berthiers hatte sich der Schatz¬ 
meister der französischen Armee *•), der 
vielgehaßte und vielgefürchtete Hal¬ 
ler, in die vatikanische Bibliothek be¬ 
geben. Zu dem allgemeinen Auftrag, 
alles mit Beschlag zu belegen, was die 
Bibliothek Wertvolles besaß, gesellte 
sich noch der besondere, sofort sieben 
der schönsten Kameen auszusuchen für 
die fünf Direktoren der Republik, für 
den General Bonaparte und für das Mu¬ 
seum in Paris. 23 ) Alle Schränke wur¬ 
den geöffnet, versteckte Kameen und 
Münzen hinter den Büchern aufgestö¬ 
bert, und während Haller die geschnit¬ 
tenen Steine untersuchte, füllten sich 
zwei Offiziere, die ihn begleiteten, die 
Taschen mit den Gold- und Silbermün¬ 
zen, deren sie habhaft werden konnten. 
Dasselbe ereignete sich beim nächsten 
Besuch Hallers am 15. Februar, und 
diesmal wurden den Beamten der Bi¬ 
bliothek zugleich alle Schlüssel abge¬ 
nommen. Die vatikanischen Sammlun¬ 
gen befanden sich jetzt ganz in der Ge¬ 
walt der Räuber I 24 ) 

22) Ober Haller hatte Cacault schon am 
25. Mai 1797 an Bonaparte geschrieben: Le 
proc6d6 du citoyen Haller n’est pas digne 
de la röpublique. [Correspondance inedite 
II S. 248.] Vgl. weiter über ihn Dufourcq, 
Le rögime Jacobin en Italie, Paris 1900, 
S. 113—114. .Ladro insigne* nennt ihnSala. 

23) E. Müntz, La biblioth£que du Vatican 
pendant la Involution Frangaise in M Klanges 
Julien Havet, Paris 1895, S. 586 Anm. 3. 

24) Ober diese Vorgänge berichtet zum 
erstenmal ausführlich Le Grelle bei Serafini 
a. a. O. I S. XLIV und XLV. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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An demselben Tage, an dem Pius VI. 
Rom verließ, war Massöna im franzö¬ 
sischen Hauptquartier angelangt, um 
Berthier im Oberbefehl zu ersetzen. Ber¬ 
thier hatte sich großmütig mit einem 
einzigen geschnittenen Stein begnügt, 
einer köstlichen Arbeit, den Kopf Jo¬ 
hannes des Täufers darstellend, die 
dem Benvenuto Cellini zugeschrieben 
wurde. 26 ) Massöna aber war unter den 
französischen Generalen als einer der 
raubsüchtigsten bekannt, und er kam 
nach Rom, „umringt von einer Schar 
von Individuen ohne Prinzipien und 
ohne jedes Anstandsgefühl, obwohl sie 
meistens mit irgendeinem administrati¬ 
ven Charakter bekleidet waren“. 26 ) 

In der so rühmlos eroberten Stadt 
herrschte die größte Verwirrung. Im 
Heere bereiteten die Offiziere eine 
offene Revolte gegen ihren Obergeneral 
vor, aber Mass6na hatte trotz allem 
nichts Eiligeres zu tun, als sich im Vati¬ 
kan seines Raubes zu versichern. 27 ) Be¬ 
reits am 22. erschien er in der Biblio¬ 
thek, begleitet von seinem Generalstab, 
geführt von Haller und dem verräteri¬ 
schen Goldschmied des Papstes Vala- 
dier. Alle Angestellten der Bibliothek 
aber waren vorsätzlich entfernt wor¬ 
den. Und nun geschah das Unglaub¬ 
liche: Massöna und seine Begleiter 
ließen sich ohne weiteres die Schränke 
öffnen, in denen Münzen, Medaillen und 
Kameen bewahrt wurden, und nahmen 
mit sich, was sie fanden. Nur einige 
wenige Kameen wurden durch einen 
Zufall gerettet. Genau so hatte ein Jahr 
früher ein anderer General der Grande 

25) Le Grelle a. a. O. S. XLVII Anm. 2. 
Bonaparte erhielt damals die berühmte Ka¬ 
mee Ptolemäus und Arsinoe, die Josephine 
1814 an Alexander von Rußland schenkte. 
Le Grelle a. a. O. S. XXXVIII Anm. 4. 

26) M6moires du g&igral Desvemois ed. 
A. Dufourcq, Paris 1898, S. 87. 

27) Le Grelle a. a. O. S. XLVI. 


Arm6e, Augerau, die berühmteste Münz¬ 
sammlung Italiens, den Medagliere Ben- 
tivoglio in Verona, geplündert. 28 ) 

Bald wurde diese schmachvolle Hand¬ 
lung des Obergenerals ruchbar in Rom. 
Berthier erschien noch kurz vor der Ab¬ 
reise auf dem Schauplatz des Vorfalls, 
aber er konnte nichts feststellen, da 
man alle äußeren Spuren des Raubes 
verwischt hatte und er die Schränke 
nicht öffnen konnte oder wollte. Er 
kannte überdies den Ruf des Plünderers 
von Padua. Es war derselbe Massöna, 
der einmal das Wort sprechen sollte: 
„Alle Krieger seit den Tagen des Romu- 
lus haben ein Vermögen gemacht, in¬ 
dem sie ihr Blut opferten für das 
Land. Glaubt der Kaiser etwa, daß wir 
uns schlagen, um seinen Thron zu 
sichern?" 29 ) 

Nur wenige von den gestohlenen 
Münzen und Kameen tauchten später in 
den großen Sammlungen Europas, in 
Paris, Berlin und Petersburg, auf. Sie 
wurden in Rom unter der Hand von den 
Offizieren verkauft. Der Maler Wicar, 
der wieder im Gefolge von Monge als 
Kunstkommissar in Rom erschien, wurde 
bezichtigt, die schönsten Goldmünzen 
des vatikanischen Medagliere einge¬ 
schmolzen zu haben. 80 ) Fernow weiß 
von dem Gründer des Mus6e Wicar in 
Lille zu berichten, daß er sich in weni¬ 
gen Monaten in Rom ein Vermögen von 
50000 Scudi erwarb und doch unter 
den Kommissaren noch als einer der 
ehrlichsten galt. 81 ) Was Haller an die¬ 
sem Raube in der Vaticana sich persön¬ 
lich aneignete, ist nicht nachzuweisen. 
Zwei kostbare Kunstschränke — Ge¬ 
schenke Ludwigs XV. und der Maria 

28) Trolard, Champs de bataille d’Italie 
I 386. 

29) Dufourcq a. a. O. S. 125. 

30) Le Grelle a. a. O. S. XLVII Anm. 1. 

31) Teutscher Merkur 1798 III 284. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Theresia — und ein päpstliches Kreuz, 
auf der Brust zu tragen, reich mit Rubi¬ 
nen und Diamanten verziert, soll er sich 
außer seinem Anteil an der Hauptbeute 
gesichert haben. 

Dieser Raub in der Vaticana war nur 
ein Vorspiel kommender Dinge, gleich¬ 
sam eine Privatangelegenheit der Gene¬ 
rale Berthier und Mass6na, des Schatz¬ 
meisters Haller und der Offiziere, die Ge¬ 
legenheit gehabt hatten, mit ihnen zu 
rauben. Die Kommissare, unter deren 
Leitung Rom systematisch geplündert 
werden sollte, Daunou, Faypoult, Monge 
und Florent, waren am 31. Januar 
1798 ernannt worden und langten, wie 
es scheint, erst am 23. Februar in Paris 
an.’*) Am 27. berichteten sie an das 
Direktorium, wie folgt M ): „Die Offi¬ 
ziere hier scheinen sehr erregt zu sein 
gegen die Agenten der Finanzverwal¬ 
tung. Sie sprechen von Entwendungen 
ohne Protokolle, von Requisitionen, über 
die nicht Buch geführt worden ist. Wir 
wissen nicht, bis zu welchem Grade 
diese Beschuldigungen begründet sind; 
vielleicht sind sie übertrieben. Aber wir 
müssen eine Tatsache bekanntgeben, die 
uns vom Unterbibliothekar des Vatikans 
angezeigt worden ist: Alle Kameen sind 
verschwunden und ebenso ein großer 
Teil der Medaillen.“ 

Bereits am 19. Februar hatte Ber¬ 
thier seinem Nachfolger in Rom die An¬ 
weisung erteilt, daß der rückständige 
Sold der Soldaten mit römischem Silber 
zu zahlen sei. 84 ) Haller hatte längst 
„jene Bande von Piraten“ organisiert, 
die als „Agens charg6s de l’argenterie 
des 6glises“ der Schrecken von ganz 
Italien ware n. 88 ) Aber von diesem Kir- 

32) Taillandier, Documents bibliogra- 
phiques sur P.C.F. Daunou. Seconde Edition, 
Paris 1847, S. 122. 

33) Le Grelle a. a. O. S. XLVIII Anm. 11. 

34) Dufourcq a. a. O. S. 122. 

35) Dufourcq a. a. O. S. 113. 


chenraub, den bereits alle Städte des 
„befreiten“ Italiens erfahren hatten, war 
das meiste in den Taschen der Kom¬ 
missare hängen geblieben. „Seit vier 
Tagen bin ich von Rom zurück,“ schrieb 
ein Franzose am 6. Juli 1798. 8< ) „Dieser 
ärmste Staat in Italien hat uns die stärk¬ 
sten Summen gezahlt. Unglücklicher¬ 
weise wird der Nationalschatz keine so 
starken Einnahmen gehabt haben als 
einige hundert Menschen, die arm nach 
Rom kamen, und die mehr als reich 
zurückkommen.“ Und gleichzeitig lesen 
wir in einer Korrespondenz aus Paris 87 ): 
„Es herrscht hier nur eine einzige Lei¬ 
denschaft, die Gewinnsucht. Geschmack 
an Künsten und Wissenschaften, am 
Studium überhaupt, Ehrbegierde, Ruhm¬ 
sucht, Ehrgeiz, die Intrigue selbst — alles 
verschwindet vor der Gewinnsucht“ 

Also in Paris wie in Rom hatten die 
großen wie die kleinen Machthaber nur 
die eine Leidenschaft, sich zu berei¬ 
chern. Offiziere und Soldaten aber 
hatten seit Monaten keinen Sold mehr 
erhalten, und nicht alle besaßen Glück, 
Gelegenheit und Skrupellosigkeit genug, 
Fortuna nachzuhelfen wie die Begleiter 
Hallers in der vatikanischen Bibliothek. 
Im Gegenteil I Wenigstens dem gemei¬ 
nen Soldaten wird von Augenzeugen 
mehr als einmal über seine Aufführung 
ein gutes Zeugnis ausgestellt. 88 ) 

36) Neueste Staatsanzeigen. Germanien 
1798, Bd. IV S. 533. 

37) Ebendort Bd.IV S.506. 

38) Neueste Staatsanzeigen. Germanien 
1798, Bd. IV S.360. Eustace, Classical tour 
in Italy III231: «The behaviour of the sol- 
diery and subalterns was in general dvll 
and orderly, but that of the generals and 
their immediate dependants in the highest 
degree insolent and rapacious.“ In Frascati 
allerdings sangen die Kinder noch L J. 1801 
am Schluß eines Madonnenliedes: 

Maria, speranza nostra 

E libera noi de Francesi! 

Vgl. Teutscher Merkur 1801 D S. 137. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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So bereitete sich sofort nach der An> 
kunft Massönas jene denkwürdige Offi¬ 
ziersrevolte im Pantheon vor, und ihr 
ging das nicht minder seltsame Leichen¬ 
begängnis des Generals Duphot voraus. 
Man muß sich den Schauplatz vergegen¬ 
wärtigen, will man diese Begebenheiten 
verstehen. 

Die schauerlichsten Gegensätze gaben 
damals der fiebernden Stadt das Ge¬ 
präge. In den ausgeraubten Palästen 
des Papstes und der römischen Großen 
sah das hungernde Volk die hohen fran¬ 
zösischen Offiziere unc^ die verächt¬ 
lichen Kriegsbeamten der großen Na¬ 
tion sich in Glanz und Luxus bewegen. 
Die Römer aber hatten nichts, um 
Tausende von Soldaten zu speisen, die 
man in ihre Häuser gelegt hatte. Das 
Popolo Sovrano — mochte es nun des 
einen oder des anderen Geistes sein, 
mochte es dem Andenken Pius’ VI. die 
Treue halten oder dem Stern Bonapar¬ 
tes huldigen —, das Popolo Sovrano 
spürte mehr und mehr die neu ge¬ 
schenkte Freiheit als ein System gren¬ 
zenloser Bedrückung. Man sab, wie die 
Denkmäler ihres Wappenschmuckes be¬ 
raubt und rücksichtslos zerstört wur¬ 
den, man sah, wie aus Kirchen und Pa¬ 
lästen ein unermeßlicher Raub durch die 
Straßen gefahren wurde. Und das Volk 
begann zu murren. 

Da sollte das prunkvolle Leichen¬ 
begängnis des an der Porta Settimiana 
gefallenen französischen Generals den 
erregten Geistern für einen Augenblick 
wenigstens Ablenkung bringen. 89 ) Es 
sollte den Römern in einem erhabenen 
Bilde vor Augen geführt werden, wie die 
Große Nation ihre Toten zu ehren ver- 


39) Ausführliche Beschreibungen bei Saia, 
Diario Romano 152 und III233(AllegatoVI). 
Ferner bei Duppa, A brief account S. 67. 
Bei Duppa findet sidi auch eine Nachbil¬ 
dung des Katafalks auf dem Petersplatz. 

Internationale Monatsschrift 


stand. Im christlichen Rom wurde mit 
ungeheurem Aufwand ein heidnisches 
Totengepränge veranstaltet. 

Schon am Tage vorher war auf der 
Engelsburg alle fünf Minuten ein Ka¬ 
nonenschuß gelöst worden, der die Rö¬ 
mer immer aufs neue an die Allmacht 
ihrer Bedrücker erinnern mußte. Ara 
24. Februar sah man mitten auf dem 
Petersplatz zwischen vier hochragenden 
Zypressen einen mächtigen Katafalk 
nach dem Vorbilde der Cestiuspyramide 
sich erheben. Inschriften zum Preise Du- 
phots und Wappenembleme schmückten 
rings den hohen Sockel, und auf antiken 
Dreifüßen flackerten die Totenfeuer. 
Alles, was eine Armee an militärischem 
Prunk aufzubieten vermag, war aufge¬ 
wandt worden, als Berthier um die Mit¬ 
tagsstunde mit seinem glänzenden Stabe 
hoch zu Roß erschien; alles, was Gesang 
und Töne zu Ehren eines Toten auszu¬ 
drücken vermögen, wurde dem General 
als Weihgeschenk aufs Grab gelegt. Ein 
Expriester in Priestertracht hielt eine je¬ 
ner hochtönenden, von falscher Rhetorik 
geschwollenen Reden, in denen man den 
Stil Bonapartes nachzuahmen suchte, 
ohne seinen Geist zu besitzen. Dieser 
Abtrünnige richtete seine Rede an die 
Heroen der Französischen Republik, und 
eine ungeheure Volksmenge füllte den 
historischen Platz, auf dem sie sonst den 
Segen des Papstes empfangen hatte. In 
vollen Chören klang das Totenopfer aus, 
und dann trugen die Soldaten der fran¬ 
zösischen Armee in düsterem militäri¬ 
schen Gepränge die Asche ihres Kame¬ 
raden an der Porta Settimiana vorbei 
aufs Kapitol hinauf. An der Stelle, wo 
Duphot gefallen war, wurden Schüsse 
abgefeuert, und oben auf dem Kapitols¬ 
platz wurde die Urne auf antiker Säule 
zu ewigem Gedächtnis beigesetzt. 40 ) 

40) M6moires du g6n6ral Desvemois ed. 
Dufourcq S. 87. Nach dieser Quelle wurde 

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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Und womit beschäftigten sich inzwi¬ 
schen Haller und seine „Agenten des 
Kirchenraubes“? Man sträubt sich fast, 
es zu glauben, aber zwei Augenzeugen 
berichten glaubwürdig, daß sie die 
kostbaren Stunden, in denen die Auf¬ 
merksamkeit des ganzen Volkes auf ein 
anderes Ziel gerichtet war, benutzten, 
um in den Kirchen Roms die Kostbarkei¬ 
ten zu stehlen. 41 ) Sie begaben sich nach 
San Giovanni an der Piazza Navona und 
nach S. Maria in Monserrato, den Na¬ 
tionalkirchen der Spanier in Rom, und 
nahmen alles Silber, dessen sie habhaft 
werden konnten; sie drangen in S. Maria 
deir Anima, derNa:ionai:;l/che der Deut¬ 
schen und Österreicher, ein und zwangen 
den Rektor der Kirche, ihnen alles aus¬ 
zuliefern, was im Inventar des Kirchen¬ 
schatzes verzeichnet stand. Sie nahmen 
endlich von San Tommaso degli Inglesi 
Besitz und zwangen die Priester ohne 
weiteres, die Kirche und das Kloster zu 
räumen. Inzwischen feierte der gewe¬ 
sene Priester Faustino Gagliuffi auf 
dem Petersplatz Berthier und Mass6nä 
als erlesene Werkzeuge des göttlichen 
Willens auf Erden, und auf dem Kapi¬ 
tolsturm flatterte die französische Fahne 
als Freudenzeichen der wiederaufge¬ 
richteten Menschenrechte in Rom. 

Aber schon der nächste Tag sollte der 
ewigen Stadt ein Schauspiel bieten, das 
erkennen ließ, wie stark selbst in der 
französischen Armee die Schmach sol¬ 
cher Vorgänge empfunden wurde. 42 ) 

auch an der Porta Settimiana ein Gedenk¬ 
stein für Duphot errichtet, der heute ver¬ 
schwunden ist, wie die Ehrensäule auf dem 
Kapitol, die das römische Volk schon im 
November 1798 zerstörte „maledicendo i 
Francesi“. Vgl. Sala, Diario II 232. 

41) So berichten Duppa (S. 69) sowohl 
wie Sala (I 54). Duppa hebt hervor, der 
Raub sei um so frevelhafter gewesen, als 
keine der drei Nationen sich damals im 
Kriege mit Frankreich befand. 

42) Dufourcq a. a. O. S. 123. 


Während in allen Kirchen feierliche 
Totenmessen für Duphot gelesen wur¬ 
den, nahm Massäna auf der Piazza Co- 
lonna als neuer Obergeneral die Parade 
über seine Truppen ab. Nach der Pa¬ 
rade begaben sich sämtliche unteren 
Offiziere vom Leutnant bis zum Haupt¬ 
mann in geschlossenem Zuge zu dem 
einzigen noch erhaltenen antiken Tem¬ 
pel Roms, zum Pantheon. Hier ließen 
sie vom Hochaltar das Allerheiligste ent¬ 
fernen und begannen eine lange, ernste 
Beratung. Sie richteten einen Protest an 
den scheidenden Berthier folgenden In¬ 
halts 43 ): „Eine Anzahl von Individuen, 
mit autoritativer Gewalt ausgerüstet, 
dringen in die reichsten Häuser der Stadt 
ein und Äehmen die kostbarsten Dinge 
fort, ohne irgendwelche Bestätigung zu 
hinterlassen. Solche Verbrechen schreien 
nach Rache; sie entehren den französi¬ 
schen Namen. Wir schwören angesichts 
des Ewigen, in dessen Tempel wir ver¬ 
sammelt sind, daß wir nichts gemein 
haben wollen mit dieser Plünderung 
Roms und des Kirchenstaates. Soldaten 
und Offiziere leiden Mangel, weil ihnen 
der Sold vorenthalten wird. Wir ver¬ 
langen unseren Sold binnen 24 Stunden, 
wir verlangen, daß das Geraubte zurück¬ 
erstattet werde, wir verlangen, daß die 
Räuber bestraft werden.“ 

Da Mass6na nicht nachgeben wollte 
und die Offiziere sich weigerten, weiter 
unter ihm zu dienen, wurde die Lage 
kritisch in Rom. Es gelang zwar schnell, 
einen Aufstand in Trastevere zu unter¬ 
drücken und die Schuldigen zu bestra¬ 
fen. Aber es gelang nicht, die Offiziere 
zum Gehorsam gegen ihren General zu¬ 
rückzuführen. Der Raub im Vatikan 
strafte sich mit nie gesehener Schnellig¬ 
keit. Massöna wurde gezwungen, den 
kaum übernommenen Oberbefehl nieder¬ 
zulegen und Rom zu verlassen. „Ange- 
43) Abgedruckt bei Duppa a. a. O. S. 177. 


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Ernst Steinmann, Die PlOnderung Roms durch Bonaparte 


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sichts eines so schmachvollen Skan- 
dals“, schreibt ein französischer Histo¬ 
riker 44 ), „befand sich das Directoire, das 
soviel lächerliche Phrasen gemacht hatte 
Ober Kapitol und Freiheit, Ober Ruhm 
und Uneigennützigkeit der republikani¬ 
schen Armeen, in der peinlichsten Ver¬ 
wirrung. Der französische Schatz war 
öffentlich geplündert durch diese un¬ 
eigennützigen Krieger, von denen man 
der Welt erzählte, sie dächten nur daran, 
das Kapitol in alter Herrlichkeit wieder- 
herzustellen. Die französische Armeen 
zeigte selbst ihr Oberhaupt wie einen 
neuen Verres an, und ganz Europa er¬ 
fuhr, daß die neue Römische Republik 
nichts als eine hassenswerte Komödie 
war und daß in Wirklichkeit das rö¬ 
mische Volk von seinen sogenannten Be¬ 
freiern bedrückt und geplündert wurde.“ 

Außer der Zahlung des rückständigen 
Soldes und dem Sturz Massfenas, der 
bald durch glänzende Waffentaten Ge¬ 
legenheit fand, sein gesunkenes Ansehen 
wiederherzustellen, hatten die Protest- 
Versammlungen der französischen Offi¬ 
ziere erst im Pantheon, dann auf dem 
Kapitol weiter keine Folgen. Zwar hatte 
man mit großen Worten und golde¬ 
nen Versprechungen das ganze römische 
Volk aufgefordert, seine Klagen vorzu¬ 
bringen, aber schon Duppa weiß zu be¬ 
richten 46 ), daß die Offiziere nicht mehr 
daran dachten, sich weiter mit den Ange¬ 
legenheiten des römischen Volkes zu be¬ 
fassen, nachdem ihre eigenen Wünsche 
erfüllt waren. Im Gegenteil: sie ließen 
sich ohne die geringsten Bedenken aus 
den in Rom geraubten Schätzen ihren 
Sold zahlen. So machte dieser Protest, 
der so voll und feierlich von der hohen 
Wölbung des Pantheon widergehallt 

44) L. Sciout, Le directoire et la rfepublique 
Romaine in Revue des questions historiques 
XXXIX (1886) S. 157. 

• 45) A.a.0. S.78. 


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war, auch auf die Raubkommissäre in 
Rom nicht den geringsten Eindruck. Sie 
ließen sich nicht einen Augenblick in 
ihrer Beschäftigung stören. Die Plünde¬ 
rung am Tiber wurde systematisch fort¬ 
gesetzt. 

Die Raubvögel in Rom wußten zu ge¬ 
nau, daß Volk und Regierung in Paris 
nicht anders dachten als sie selbst. Die 
Stimmen Roederers und Quatremferes 
waren längst vomGeschrei der Presse und 
des Publikums begraben worden. Welch 
ein Fest schickte man sich an in Paris 
zu feiern l 4 «) Welch ein Triumph würde 
es sein, die Kunstschätze Italiens durch 
die Straßen der Hauptstadt geführt zu 
sehen! Wer es noch nicht glauben 
wollte, der sollte es jetzt mit eigenen 
Augen sehen, daß Paris bestimmt war, 
das Erbe Roms anzutreten und der Welt 
nicht nur mit dem Schwert, sondern auch 
mit Feder, Pinsel und Meißel Gesetze 
vorzuschreiben. 

Dieser Überzeugung hat wohl nie¬ 
mand rücksichtsloser Ausdruck gegeben 
als der General Pommereul in der Über¬ 
setzung eines Buches, das Francesco 
Milizia verfaßt und „die Kunst“ genannt 
hatte, „in den schönen Künsten die 
Augen aufzumachen“. 47 ) Dies ketze¬ 
rische Büchlein, in dem auch dem großen 
Michelangelo übel mitgespielt worden 
war, hatte die päpstliche Regierung in 
Rom verboten, ein Umstand, der es Pom- 
mereuls republikanischem Gemüt beson¬ 
ders empfehlen mußte. 

46) Vgl. über das Fest der Freiheit, das 
i. J. 1798 am 27. und 28. Juli in Paris ge¬ 
feiert wurde: E. Steinmann, Das Fest der 
Freiheit i. J. 1798 in Paris in den Monats- 
heften für Kunstwissenschaft IX (1916) S. 273. 

47) De l’art de voir dans les Beaux-Arts 
traduit de Thalien de Milizia, suivi des in- 
stitutions propres ä les faire fleurir en France 
et d’un fetat des objets d’arts dont ses mu¬ 
sfees ont fetfe enrichis par la guerre de la 
Libertfe par le Gfenferal Pommereul, Paris 
an 6 de la Rfepublique (1798), S. 312—316. 

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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte 


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Im Anhang dieses Werkes gibt der 
Obersetzer auch eine Liste der aus 
Holland, Belgien und Italien geraubten 
Kunstschätze und knfipift daran die 
merkwürdigsten Betrachlungen überdas, 
was nach den jüngsten Eroberungen 
weiter von Rom nach Paris zu bringen 
sei. Pommereul, der nicht der erste beste 
war, sondern ein General der französi¬ 
schen Armee, ein bekannter Literat und 
ein zukünftiger Bibliotheksdirektor des 
Kaiserreichs 48 ), Pommereul muß Rom 
und seine Kunstschätze sehr genau ge¬ 
kannt haben. Er führt im einzelnen auf, 
was aus dem Vatikan, aus dem Kapito¬ 
linischen Museum und aus der Villa 
Borghese nach Paris zu bringen sei, und 
man muß sagen, die Auswahl, die er ge¬ 
troffen hatte, hätte nicht reicher und er¬ 
lesener sein können. Dann fährt er fort, 
von den öffentlichen Denkmälern Roms 
zu sprechen 49 ): 

„Nach den Pferden des Phidias und 
des Praxiteles rufen die Brücke der Re¬ 
volution und der Platz der Eintracht. 
Sie würden dort besser stehen als auf 
dem Monte Cavallo. 

„Die Trajanssäule wünschen die einen 
auf dem Pont-neuf zu sehen, aber man 
sollte sie auf die leere Basis der Place 
Vendöme setzen. Die Statue der Frei¬ 
heit würde die des Apostels Petrus oben 
auf der Höhe bestens ersetzen. 60 ) Der 
Gedanke, dies Denkmal auseinanderzu- 
nehmen und abzutransportieren/mag an- 
fangs ungeh euerlich erscheinen, aber er 

48) Lanzag de Laborie in Revue des 
Deux mondes 1912 S. 612. 

49) A. a. O. S. 314. 

50) Tatsächlich wurde in Rom über der 
Apostelstatue auf der Mark Aurels-Säule 
des Colonnaplatzes eine Statue der Frei¬ 
heit angebracht: una statua rappresentante 
la libertä fu posta in cima alla Colonna 
Antonina e per reggerla venne assicurata 
con una corda al collo della statua di bronzo 
di S. Paolo Apostolo esistente su detta co¬ 
lonna. Sala, Diario I 173. 

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ist keineswegs unausführbar. Kein Be¬ 
denken sollte hier gestattet sein, und 
auch die Kosten sollten uns nicht 
schrecken. 

„Braucht man für unsere Maler jene 
großen Fresken im Vatikan, in denen 
Raffaels Genius erglänzt, so genügt es 
der Französischen Republik, sie zu wün¬ 
schen, um sie zu erhalten. Besitzt sie 
doch allein die Künstler, die fähig sind, 
ihr diesen Schatz zu verschaffen. Ein 
Wprt, und das Wunder der Oberführung 
ins Museum Frankreichs ist geschehen 1“ 

Und nun folgt die Aufzählung sämt¬ 
licher Fresken an den Wänden der 
Stanza della Segnatura und der Stanza 
d’Eliodoro. Pommereul würde keinen 
Augenblick gezögert haben, sie nach Pa¬ 
ris zu schaffen. 

„Man darf nicht einmal die herrliche 
Galerie d’Orteans als für uns verloren 
ansehen,“ schließt der General sein merk¬ 
würdiges Buch. „Trotz der Anzahl und 
des Reichtums unserer Trophäen ist ihr 
Verlust zu bedauern. Weiß man nicht, 
daß sie sich in London befindet? Der Er¬ 
oberer Italiens wird sie ohne Zweifel 
dort zu finden wissen, um sie dem Mu¬ 
seum der .Grande Nation* zurückzu¬ 
geben.“ 

Das war die Sprache, die man damals 
in Paris und Rom zu führen gewohnt 
war, und die Handlungen entsprachen 
solchen Worten. Es war wie ein unab¬ 
wendbares Verhängnis, das jetzt über die 
Denkmäler Roms hereinbrach, die bis da¬ 
hin in ganz Europa wie die glorreichsten 
Reliquien der Weltgeschichte verehrt 
worden waren. 

Sogar an der Sixtinischen Kapelle ist 
die Eroberung Roms durch die Franzo¬ 
sen nicht spurlos vorübergegangen. 
Schon im Juni 1797 war bei einer furcht¬ 
baren Pulverexplosion in der Engels¬ 
burg auch der Vatikan in seinen Grund¬ 
festen erschüttert worden. „Die Erschüf- 

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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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terung war so stark,“ berichtete Cacault 
am 1. Juli an Bonaparte, „daß die Decke 
der Sixtinischen Kapelle Risse bekom¬ 
men hat, daß ein Stück aus den Fres¬ 
ken zur Erde gefallen ist, und daß das 
Jüngste Gericht Michelangelos unersetz¬ 
lichen Schaden erlitten hat.“ 61 ) 

Daß man aber auch gar nicht weit da¬ 
von entfernt war, Pommereuls Vorschlag 
in betreff der Raffael-Fresken zu befol¬ 
gen, und nicht davor zurückschreckte, 
ganze Wände mit Freskomalereien aus¬ 
zusägen, um sie nach Paris schaffen zu 
können, beweist der Vorgang in S. Tri¬ 
nitä de’ Monti. 

Raffaels Verklärung, Dominichinos 
Kommunion des h. Hieronymus und die 
Kreuzabnahme des Daniello da Volterra 
hatte einst Poussin für Rom9 bedeu¬ 
tendste Altargemälde erklärt 68 ), und 
dieser Ausspruch des genialen Künst¬ 
lers hatte sich in Rom wie eine fromme 
Tradition erhalten! Raffael und Domi- 
nichino waren bereits nach Paris ge¬ 
schleppt worden; warum sollte man 
Daniellos Meisterwerk in S. Trinitä de’ 
Monti zurücklassen? 

War doch der Name dieses größten 
Schülers Michelangelos in Paris nicht 
unbekannt geblieben. Daniello da Vol¬ 
terra war der Schöpfer jenes mächtigen 
Bronzepferdes gewesen, das die Statue 
Ludwigs XIII. auf der Place Royale 
getragen hatte. Die Franzosen hatten 
dies Wunderwerk der Monumentalpla- 
stik in der Revolution zerstört, nun bot 
sich den Franzosen die Gelegenheit, den 


51) Correspondance inädite officielle et 
confidentielle de Napoleon Bonaparte, Paris 
1819, II 421. Bis dahin wußten wir von 
dieser Pulverexplosion und der Schädigung 
der Sixtinalresken nur durch Duppa, Life 
of Michel-Angelo, London 1807, S. 283. 

52) Girodet, CEuvres ed. Coupin II 289. 
VgL auch Landon, Annales du mus6e V 
<1803) S. 41. Landon hat PI. 17 das Gemälde 
gestochen. 


Namen Daniellos durch sein Hauptwerk 
in der Malerei noch einmal in Paris auf 
den Schild zu erheben. 

Die Fresken in der Orsini-Kapelle in 
S. Trinitä de’ Monti befanden sich nach 
Bottaris Zeugnis in keineswegs tadel¬ 
losem Zustande. 68 ) Es hätte der vorsich¬ 
tigsten Behandlung bedurft, um ihren 
Bestand zu sichern. Statt dessen wurde 
auch diesem Meisterwerke Daniellos der 
französische Name zum Verhängnis. Wir 
wissen nichts Genaueres über den Vor¬ 
gang selbst. Femow berichtet nur am 
1. Oktober 1798 aus Rom: „Die Kreuz¬ 
abnahme des Daniel di Volterra hat man 
nebst den Seitengemälden samt der 
Mauer ausgesägt, um sie nach Frank¬ 
reich zu transportieren,“ 64 ) und das 
gleiche verkündete auch Millin im „Ma¬ 
gazin encyclopädique“ seinen Lesern. 66 ) 
Daß aber das Unternehmen mißlang und 
Daniellos Fresken bei dieser Gelegen¬ 
heit größtenteils zugrunde gingen, er¬ 
fahren wir aus einem Schriftchen, das 
anonym im Jahre 1800 in Erfurt er¬ 
schien. 68 ) Hier lesen wir: „Unverant¬ 
wortlich ist’s, wie diese Franco-Hunnen 
mit den Kunstwerken umgingen. Das 
erhabene al Fresco-Gemälde des Daniel 
di Volterra, die Kreuzabnehmung, wo 
besonders die herrliche Gruppe des Vor¬ 
dergrundes unübertroffen schön darge- 
stellt war, sägten die Franzosen aus der 
Wand der Kirche heraus und ach! zer¬ 
brachen es — und auf diese Art gingen 
unzählige Gemälde, Statuen und andere 


53) Vgl. E. Steinmann, Die Porträtdarstel¬ 
lungen des Michelangelo, Leipzig 1913, S.48. 

54) Teutscher Merkur 1798 III S. 285. 

55) IV 6 (1798) p. 550: On a enlevö le mur 
entier de l’6glise Trinitä de’ monti sur lequel 
etait la descente de croix par Daniel di Vol- 
tenra, aussi que les peintures laterales, pour 
les porter en France. 

56) Der Kampf um Europens Stiefel. Ein 
Gemälde aus der Bildergallerie unserer Tage 
S.7. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


844 


Kostbarkeiten unter ihren ungeschickten 
Händen zugrunde.“ 

Heute sind die SeitengemAide der Or- 
sini-Kapelle überhaupt verschwunden, 
und das wieder in die Altarwand einge¬ 
lassene Hauptgemälde ist völlig über¬ 
malt. Der Wahnwitz, bei den damaligen 
Transportverhältnissen riesige Fresko¬ 
gemälde von Rom nach Paris zu sen¬ 
den, muß den französischen Kommissa¬ 
rien allmählich aufgegangen sein. Aber 
es war zu spätl 

Was S. Trinitä de’ Monti an sei¬ 
nen besten Freskogemälden erfahren 
mußte, das erfuhren zahlreiche andere 
Kirchen Roms an ihren Tafelbildern, an 
ihren Grabdenkmälern, den Glocken, den 
Gold- und Silbergeräten, den kirchlichen 
Gewändern. Man entschließt sich nur 
zögernd, einem Augenzeugen all der 
fürchterlichen Dinge, dem Römer Giu¬ 
seppe Antonio Sala, auf seiner Via dolo¬ 
rosa durch die Kirchen Roms zu folgen. 
Die Tatsachen, die er in der schlichten 
Sprache des Chronisten aufgezeichnet 
hat und die durch andere Zeugen bestä¬ 
tigt werden 67 ), erscheinen uns noch 


57) Am überzeugendsten wirkt das Zeug¬ 
nis des kühlen und scharfsichtigen Femow. 
Er üußert sich im Teutschen Merkur (1798 
Bd. III S. 285) wie folgt: .Mehrere Kirchen, 
unter denen ich hier nur die von Aracoeli 
auf dem Kapitol, von Trinitä de’Monti, S. 
Croce in Gerusalemme, S. Pietro in Mon- 
torio, S. Bartolomeo all* Isola nennen will, 
werden teils von römischen Edilen, teils 
von französischen Kommissars im eigent¬ 
lichsten Sinne des Worts dilapidiert. Alles 
darin befindliche Metall, alle marmornen 
SSulen und Tafeln, welche die Altäre zier¬ 
ten, werden ausgebrochen und verkauft, 
wobei jeder, soviel er kann, für sich selbst 
nimmt... In einigen dieser der Zerstörung 
preisgegebenen Kirchen, wo Grabstätten 
von Kardinalen oder anderen Vornehmen 
waren, hat man die Gräber aufgewühlt und 
die bleiernen Särge herausgenommen, um 
Sie zu Flintenkugeln zu verarbeiten. Ich 
könnte eine Weile in diesem Tone fort¬ 


heute wie eine der fürchterlichsten An¬ 
klagen, die jemals gegen Kirchenräuber 
und Heiligtumsschänder erhoben wor¬ 
den sind. 

Am 23. Februar 1798 berichtete Ber- 
thier nach Paris, er habe im Einverneh¬ 
men mit Massöna die Beschlagnahme 
aller Silberschätze in den römischen Kir¬ 
chen angeordnet. 68 ) Wenige Tage spa¬ 
ter, am 1. März, begannen die ge¬ 
fürchteten Trabanten Hallers ihr Zer¬ 
störungswerk. 69 ) Und nicht in Rom 
allein I Überall in der näheren und 
weiteren Umgebung Roms ließen sich 
diese Raubvögel nieder und schlepp¬ 
ten aus Kirchen und aus Klöstern 
fort, was ihnen die eingeschüchterten 
Priester und Mönche nicht vorzuenthal¬ 
ten wagten. 60 ) Haller hatte das Unter¬ 
nehmen aufs glänzendste organisiert In 
jeder Kirche erschienen ein französi¬ 
scher Kommissar, ein dienstwilliger Rö¬ 
mer der neuen Republik und ein Silber¬ 
schmied. 61 ) Schnell wurde das Kost¬ 
barste ausgewählt gewogen und fort¬ 
geschleppt: Heilige Geräte, Monstran- 

fahren, ehe es mir an Stoff gebräche. Machen 
sie nun den Schluß von dem, was der Kunst 
geschieht, wie es in allen übrigen Fächern 
der Administration unserer neuen Republik 
zugehen mag, wo die Beuten noch weit 
ergiebiger ausfallen, und Sie werden mir 
zugeben, daß Genseridb und Attila samt 
ihren Visigothen und Hunnen Ehrenmänner 
waren gegen die Gothen und Vandalen des 
neuesten Roms.“ 

Wie es die Silber-Kommissare machten, 
um sich an der Beute einen möglichst gro¬ 
ßen persönlichen Anteil zu sichern, erläutert 
Sala (1102) an einem besonderen Beispiel. 

58) Müntz in der Revue d’histoire diplo¬ 
matique X (1896) S. 499 Anm. 2. 

59) Sala, Diario I 72. 

60) Sala, Diario I 135. Per tutte le pro- 
vincie si sono spediti de’ Commissari Fran- 
cesi a far lo spoglio delle argenterie delle 
chiese. S. 162 beschreibt Sala ausführlich 
den Kircfaenraub in Subiaco, Trisulti, Sezze, 
Alatri usw. 

61) Sala, Diario I 72. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte 


846 


zen, Becher, Räucherfässer, Hostien* und 
Reliquienbehälter—kurz alle Gold* und 
Silberschatze, die jn Jahrhunderten auf* 
gehäuft waren, verschwanden in der 
römischen MQnze hinter dem Vatikan. 68 ) 
Oberall wurde nur das nötigste Gerät 
zurtlckgelassen, um an den Altären noch 
das Meßopfer verrichten zu können. Die 
PlOnderung wurde oft unter Todes* 
drohungen überall mit so großer Eile 
betrieben, daß sie bereits am 24. April 
zum vorläufigen Abschluß gelangte. 66 ) 
Das Direktorium in Paris und die Armee 
in Rom brauchten Geld und wieder Geld. 
Es galt, die römische Beute, die bestän* 
dig von Neapel her bedroht war, so 
schnell wie irgend möglich in Sicherheit 
zu bringen. Wie sich die Agenten der 
großen Nation dabei auffQhrten, deutet 
Sala mit den Worten an 64 ): „Ich glaube, 
man brauchte keine Prozesse zu führen, 
um sämtliche Kommissare zur Erschie¬ 
ßung zu verurteilen!“ 

Die neue Römische Republik, ein gänz¬ 
lich willenloses Werkzeug in der Hand 
der französischen Armee, ließ es sich in¬ 
zwischen angelegen sein, der Raubsucht 
ihrer Bedrücker auf alle Weise Vorschub 
zu leisten. Schon im März wurden Kir¬ 
chen, Klöster und geistliche Institute 
zum Nationaleigentum erklärt 66 ), im Mai 
wurden nicht weniger als 31 Klöster 
ohne weiteres aufgehoben. 66 ) Was sich 
an beweglichem Gut vorfand, wurde 
meistens öffentlich versteigert Einmal 
in der Hand von Männern, die die Reli¬ 
gion bekämpften, denen die päpstliche 
Autorität ein Greuel war, schienen auch 
die Kirchen Roms in ihrem Bestände 

62) Schon am 13. März schreibt Sala, daß 
12 Wagen mit Gold- und Silberbarren die 
Münze verlassen hätten. 1101. 

63) Sala, Diario 1161: £ compito io spoglio 
delle Chiese di tutti H Dipartimenti. 

64) Sala I 161. 65) Sala I 111. 

66) Sala I 200. Duppa, A briet account 
S. 9a 


aufs emstlichste bedroht. Sie haben in 
der Tat seit dem Sacco di Roma keine so 
furchtbare Verwüstung erlitten. Sala hat 
die dunkle Chronik dieser Tage treulich 
aufgezeichnet. Wir brauchen seiner Füh¬ 
rung nur zu folgen. 

In San Lorenzo e Damaso, der in den 
Palast der Cancelleria eingebauten ge¬ 
räumigen Kirche, raubten die Kommis¬ 
sare eigenhändig den silbernen Rahmen 
um das Madonnenbild und die silberne 
Krone der Madonna. 67 ) Später wurde 
auch das prächtige Tabernakel aus ver¬ 
goldetem Erz entfernt und im Exkloster 
der Konvertiten — dem allgemeinen 
Auktionslokal — meistbietend verstei¬ 
gert. 68 ) Den Tribunen der jungen Repu¬ 
blik, die in der Cancelleria ihre Residenz 
aufgeschlagen hatten, war die Kirche in 
ihrem Palast überhaupt sehr unbequem. 
Sie fürchteten den Geruch der Gräber 
und fühlten sich unbehaglich beim Läu¬ 
ten der Glocken. So wurde San Lorenzo 
im August geschlossen. 68 ) „Wer kann 
den Untergang so vieler Bauwerke und 
Kirchen genug beklagen?“ ruft Sala aus. 
„Wahrscheinlich werden sie alle zuerat 
beraubt, dann geschlossen und dann zer¬ 
stört oder für profane Zwecke verwandt 
werden.“ 70 ) 

Bei der Plünderung von St. Peter, die 
am 9. März begann und am 2. Juni 
endigte, wurden zunächst viertausend 
Pfund Silber und siebzig Pfund Gold er¬ 
zielt. 71 ) Man ließ der Kirche an¬ 
fangs großmütig für die vielen Messen 
27 Becher, alle Reliquienbehälter, eine 
Anzahl Lampen und mehrere Reihen von 

67) Sala I 75. 

68) Sala II 161. 69) Sala II 86. 

70) Sala I 200. 

71) Sala I 92. Ausführlicher handelt über 
die Beraubung von St Peter Mons. Giuseppe 
Cascioli im Bessarione Ser. III vol. IX (1912) 
S. 303. Herrn Dr. Hartig bin ich für den Hin¬ 
weis auf die Arbeit Casciolis zu Dank ver¬ 
pflichtet. 


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847 Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


Leuchtern. -Aber bei der zweiten Plün¬ 
derung wenige Monate später wurden 
die silbernen Lampen und Leuchter, die 
goldenen Kronen der Madonnenbilder, 
alle Reliquienschreine und alle Mon¬ 
stranzen und Becher bis auf zehn ge¬ 
raubt. 78 ) Ein Prozessionskreuz, die herr¬ 
lichen Farnese-Leuchter des Antonio 
Gentili da Faenza und einiges andere 
wurde zwar auf Befehl des französi¬ 
schen Generals zurückerstattet, aber die 
unschützbaren, unvergleichlichen Gold- 
und Silberarbeiten der päpstlichen Sa¬ 
kristei waren auf immer dahin. „Eine 
Landkirche“, ruft Sala aus, „hat heute 
kostbarere Altargerftte als die erste Ba¬ 
silika der Welt!“ 

Man hatte anfangs sowohl die große 
silberne Statue des hl. Ignatius in der 
Kirche del Gesü, die wundervoll gear¬ 
beitet war, und jenen berühmten Schrein 
der Apostelköpfe in SS. Giovanni e Late- 
rano, Arbeiten des Giovanni di Bartolo 
vom Jahre 1369, zu retten gehofft. 73 ) 
Die Konsuln hatten sich für die Erhal¬ 
tung dieser vaterländischen Altertümer 
verwandt. 74 ) Aber die Franzosen hatten 
erklärt, daß alles Silber in den Kirchen 
ihnen zustehe als Recht des Eroberers 
und hatten auch diese Schätze in die 
Münze bringen lassen. 76 ) 

Noch langwieriger war der Kampf um 
die berühmte Monstranz der Doria Pam- 
phili in Sant’ Agnese an der Piazza Na- 
vona gewesen. 78 ) Er endete damit, daß 


72) Sala I 243, 250 und 281. 

73) Sala I 94 und I 76. 

74) Sala II 36. 

75) Sala I 258: Anco la Basilica Latera- 
nense ha dovuto sogiacere all’ intero spoglio 
delle argenterie, compreso ancora il gruppo 
antichissimo dell’ ultima Cena, che i Ooti 
lasciarono intatto nel sacchegio di detta Ba¬ 
silica. Vgl. Müntz in Revue d’histoire diplo¬ 
matique X (1896) S. 499. 

76) Sala 1 126, 128, 282; II 4 und 7. Gou- 
vion St.-Cyr, Mömoires I 298—301. 


sich der Prinz Doria gezwungen sah, der 
Französischen Republik, die ihn und 
seinesgleichen bis aufs Hemd geplündert 
hatte, dies kostbare Prunkstück seines 
Hauses zum Geschenk zu machen. 

Man nahm in den großen und kleinen 
Kirchen Roms nicht nur die Monstran¬ 
zen, die Hostienbehälter, die Reliquien¬ 
schreine, die Lampen und Leuchter — 
kurz alles, was die Römer sonst beim 
Hören einer Messe vor Augen gehabt 
hatten —, man ließ auch den Toten keine 
Ruhe. Das Grab von S. Filippo Neri, 
des römischen Nationalheiligen, wurde 
geöffnet, weil sein Körper in einem Sarg 
von Silber ruhte, die Denkmäler der Kar¬ 
dinale brach man auf, um sich der blei¬ 
ernen Särge zu bemächtigen. 77 ) Aus 
S. Maria in Aracoeli hatte sich dassacro 
bambino nach San Cosimato flüchten 
müssen, und die Kirche schien mit dem 
völligen Untergange bedroht. 78 ) Noch 
lasen die wenigen zurückgebliebenen 
Jünger des hl. Franz an den beraubten 
Altären die Messe, aber schon hatte man 
die Gemälde fortgeschafft, von den Grab¬ 
steinen die metallenen Wappen und 
Buchstaben entfernt und aus der Sakri¬ 
stei den reichen Schatz und die Kirchen¬ 
gewänder gestohlen. 79 ) Ja, sogar die 
Kapelle, die sich noch heute über dem 
Allerheiligsten der Kirche im Quer¬ 
schiff erhebt, sollte abgebrochen wer¬ 
den, und die goldschimmernde Holz¬ 
decke — das Weihgeschenk des römi¬ 
schen Volkes an die Madonna nach der 
Schlacht bei Lepanto — war wie die 
Decken von S. Chrysogono und S. Maria 
dell’ Orto 80 ) auf Abbruch an die Wuche¬ 
rer aus dem Ghetto verkauft worden. 


77) So in den Kirchen delle Barbarine 
und S. Niccolo di Tolentino. Sala II 41. 

78) Sala II 49. 

79) Sala II 45, 48, 70, 72. 

80) Sala II41. Zum Glück gelangte dieser 
Plan nicht zur Ausführung. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte 


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„Man kann nicht ohne Tränen an all 
diese Frevel denken,“ seufzt der ehr¬ 
liche Sala; „nicht die Qoten, nicht die 
Vandalen oder irgendein anderes Volk 
von Barbaren haben solche Verbrechen 
begangen t“ 

Anfang August wurde Aracoeli ge¬ 
schlossen und die Franziskaner des Klo¬ 
sters in alle Winde zerstreut. Fast noch 
schlimmer erging es anderen, gleichfalls 
aufgehobenen Kirchen und Klöstern. In 
S. Bartolomeo auf der Tiberinsel wurden 
die Altäre zerstört und ihrer Reliquien 
beraubt; alles, was Wert besaß, wurde 
verkauft. Die Kirche selbst sollte in eine 
Kaserne oder in ein Magazin oder in ein 
Theater umgewandelt werden. 81 ) Das 
gleiche Los hatten Kirche und Kloster 
von SS. Domenico e Sisto 8 *): „das Klo¬ 
ster ein Paradies auf Erden, die Kirche 
reich an köstlichen Paramenten und 
einem Schatz von Silbergeraten“! S. Sa¬ 
bina auf dem Aventin, Kirche und Klo¬ 
ster, wurde für 3000 Dukaten verkauft: 
„Wer dies Heiligtum erworben hat,“ 
schreibt Sala, „wird es in eine Spelunke 
verwandeln und Säulen, Marmor und 
alles übrige verkaufen.“ 83 ) Von S. Ma¬ 
ria deir Anima entfernten die Franzo¬ 
sen das kaiserliche Wappen, plünderten 
die Kirche völlig aus und raubten die 
besten Gemälde, unter ihnen Giulio Ro¬ 
manos berühmte Madonna, um sie nach 
Paris zu schaffen. 84 ) In S. Antonio de* 
Portoghesi wurde das gesamte Inventar 
an den Antiquar Barbiellini verkauft 85 ) 


81) Sala I 270. 82) Sala II 34. 

83) Sala II 45. 

84) Sala II 92. Vgl. Teutsdier Merkur 1799 

I S. 61 und Correspondance de Napoleon I. 
Tom. III S. 663, wo unter CA die drei aus 
S. Maria dell’ Anima geraubten Gemälde 
aufgeführt werden. Eingehend handelt über 
die Plünderung der Kirche J. Schmidlin, Ge¬ 
schichte der deutschen Nationalkirche in 
Rom S. Maria dell* Anima, Freiburg 1906, « 
S. 664 ff. 85) Sala III 57 und 82. 


Am schlimmsten aber erging es S. Pietro 
in Montorio, der herrlichen Kirche am 
Janiculus, zu der man einst gewallfahr- 
tet war, um Raffaels Verklärung Christi 
zu bewundern. „Kirche, Kloster, Garten, 
alles ist für 2000 Dukaten an einen Fran¬ 
zosen verkauft worden. Dieser hat alles 
zerstört, um sich Metall und Marmor zu 
verschaffen. Er hat sogar den Steinfu߬ 
boden aufgebrochen, weil er den Schädel 
der berühmten Cenci sucht, die in dieser 
Kirche begraben wurde.“ 86 ) 

Schon aus der ersten Plünderung der 
Kirchenschätze, der später noch eine 
gründliche Nachlese folgte 87 ), erzielten 
die Franzosen nach ihren eigenen Wor¬ 
ten einen Gewinn von ungefähr 30 Mil¬ 
lionen Franken. 88 ) „Was sie sich aber 
insgesamt angeeignet haben,“ schreibt 
Sala 89 ), ist unabschätzbar. Man stelle 
sich allein den Reichtum der ausländi- 
dischen kirchlichen Institute in Rom vor! 
Alle Kirchen und kirchlichen Institutio¬ 
nen der Flamen, Franzosen, Deutschen, 
Portugiesen, Neapolitaner, Toskaner fie¬ 
len ihnen in die Hände, und sie nahmen 
alles, was sie wollten.“ 

In der Tat! Keiner menschlichen Phan¬ 
tasie kann es gelingen, sich von den Fol¬ 
gen der grandiosen Raubzüge der Fran¬ 
zosen. durch Rom und die römischen 
Provinzen auch nur annähernd eine Vor¬ 
stellung zu machen. Wir erfahren allzu 
selten im einzelnen, was an Arbeiten in 
Stein und Erz, in Silber oder Gold wirk¬ 
lich zugrunde gegangen ist. Bei der 
Fülle der Geschichte mußte der Chronist 
sich eben begnügen, im allgemeinen die 
furchtbaren Dinge zu schildern. So hö¬ 
ren wir, daß alle Glocken Roms requi- 

86) Sala II 40 und 112. Teutsdier Merkur 
1798 III S. 286. Friederike Brun-Münter be¬ 
suchte S. Pietro in Montorio im Dezember 
1802 und schrieb: .Hier ist alles Zerstörbare 
zerstört!“ Vgl. Römisches Leben I 191. 

87) Sala II 221. 

88) Sala I 161. 89) Sala III 40. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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riert werden sollten 90 ), aber nur von den 
Glocken von S. Clemente wird berichtet, 
daß sie wirklich in die Münze wander- 
ten 91 ), wie die herrlichen Bronzegitter 
aus dem Missionshause auf dem Monte 
Cavallo 9S ), wie das Bleidach der Kuppel 
der Madonna del Rosario auf dem 
Monte Mario. 93 ) 

Am 24. Februar war der Erlaß erschie¬ 
nen, der gebot, innerhalb von 8 Tagen 
alle Wappen in Rom zu vernichten. 94 ) 
Was der Französischen Republik recht 
gewesen war, mußte der Römischen bil¬ 
lig sein. Aber man vermag sich nicht vor¬ 
zustellen, was es für eine Stadt wie Rom 
bedeutete, an ihren Kirchen und Palästen, 
ihren Brunnen, Toren und Obelisken den 
Eichbaum der Roveie, den Stier der Bor¬ 
gia, die Kugeln der Medici, die Lilien der 
Farnese, die Bienen der Barberini ent¬ 
fernt zu sehen. Wie keine Stadt der Er¬ 
de eine Geschichte hat wie die Stadt am 
Tiber, so hatte auch keine Stadt einen 
solchen Reichtum an Wappen aufzuwei¬ 
sen in Stein und in Bronze. Sala sah mit 
schwerem Herzen, wie das Wappen Cle¬ 
mens’ XII. am Palast der Consulta ver¬ 
stümmelt wurde, 95 ) wie die Wappen 
Pauls V. in Stein und Erz von der vati¬ 
kanischen Basilika verschwanden, 9S ) wie 
man sogar am Sonntag am Portal von 
Sto.Spirito die Rovere-Wappen herun¬ 
terschlug. „In der ganzen Stadt”, schreibt 
er, „ist man damit beschäftigt,die steiner¬ 
nen Wappen herunterzuhaun." 97 Als 
sich die Konsuln am 5. Mürz eines Besse¬ 
ren besannen und die Einstellung der 

90) Sono in requisizione le Campane e 
Reliquie di tutte le chiese. Sala II120,190 
und 195. 

91) Sala II 115. 92) Sala I 244. 

93) Sala II 161. 

94) Abgedruckt bei Duppa, A brief ac- 
count S. 197. Vgl. Sala I 58 und 67. 

95) Sala I 106. 

96) Sala I 118 und II 37. 

97) Sala I 67. 


Zerstörungsarbeiten befahlen, war es be¬ 
reits zu spät. Sieht man nicht an 
der Engelsburg noch überall die abge- 
hauenen Wappenschilder, muß man 
nicht heute ins Dunkel der vatikanischen 
Grotten herabsteigen, um Wappen frü¬ 
herer Päpste zu finden? „Sie hätten et¬ 
was eher daran denken sollen," schreibt 
Sala; „die meisten Wappen liegen heute 
schon am Boden und ein großer Teil 
der Bauwerke hat wesentliche Architek¬ 
turstücke eingebüßt“ 98 ) 

Aber nicht nur die Wappen der gro¬ 
ßen römischen Familien waren der neu¬ 
en Republik am Tiber verhaßt. Auch die 
Statuen der Päpste liefen damals Gefahr, 
alle miteinander in Kalkgruben und 
Schmelzöfen zu verschwinden. Im Früh¬ 
jahr 1798 entbrannte oben auf dem Ka¬ 
pitol im Saal der Kuriatier ein heftiger 
Streit darüber, was mit den Marmorsta¬ 
tuen Leos X., Pauls IV., Sixtus’ V. und 
Urbans VIII. anzufangen sei, die in eben 
diesem Raume aufgestellt waren "). Man 
wünschte sie zu entfernen, aber über das 
Wie waren die Meinungen geteilt, und 
der Streit blieb anfangs unentschieden. 
Später wurde bestimmt, alle vier Sta¬ 
tuen als Marmor zu verkaufen und vom 
Käufer zu verlangen, die Köpfe und die 
Arme vom Rumpfe zu trennen. Wenig¬ 
stens an Sixtus V. und Paul IV. ist die¬ 
ser Vandalismus zur Ausführung ge¬ 
langt, während Urban VIII. im Konser¬ 
vatorenpalast verblieb und Leo X. nach 
Aracoeli geschafft wurde, wo er noch 
heute zu finden ist 100 ). 

98) Sala I 80. 

99) Femow im Teutschen Merkur 1796 
II S. 102. Fernows Angaben werden durch 
Sala bestätigt und ergänzt, 1144. In diesem 
Saal der Kuriatier wurde eine Inschrift an¬ 
gebracht zum ewigen Gedächtnis der Wohl¬ 
taten, die Rom von Frankreich empfangen 
hatte. Sala, Diario I 282. 

100) Nach Aracoeli wurden auch die Sta¬ 
tuen Pauls III. und Gregors XIII. gebracht 


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Ernst Stein mann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Die Statue Pauls IV. hat merkwürdige 
Schicksale gehabt. Sie wurde schon ein¬ 
mal zertrümmert, gleich nach dem To¬ 
de des Papstes, als sich die Wut des 
rümischen Volkes gegen alles richtete, 
was Caraffa hieß. Erst Clemens XI. hat¬ 
te im Jahre 1708 die Trümmer sammeln 
lassen und das Denkmal seines Vorgän¬ 
gers wiederhergestellt. 101 ) Nun fiel die 
Statue aufs neue dem Wechsel mensch¬ 
licher Dinge zum Opfer, und das gleiche 
Geschick traf die Statue Sixtus’ V. Beide 
sind spurlos verschwunden. 

Und nicht sie allein I In der Curia Inno- 
centina im Palast von Montecitorio 
stand eine Kolossalstatue Innocenz’ XII., 
der den Bau vollendet hatte. 108 ) Auch 
dieses Marmorbild mißfiel den neuen 
Gewalthabern Roms. Es wurde als Mar¬ 
mor verkauft und stürzte in den Hof hin¬ 
ab, da die Stricke rissen. Sala sah mit 
eigenen Augen, wie man den Marmor 
zersügte. 

Nicht besser erging es der Bronzesta¬ 
tue Clemens’ XII. Corsini, die der be¬ 
rühmte römische Bildhauer Pietro Brac- 
ci gegossen hatte. Man lese, was ein Au¬ 
genzeuge, der Engländer Duppa, über 
den Untergang dieser Statue zu sagen 
weiß: 103 ) „Am 20. Mai wurde der Anfang 

Die zerstörte Statue Sixtus’ V. ist bei Cia- 
conius, Vitae et res gestae Pontificum Ro¬ 
manorum IV 139/40 abgebildet 

101) Maffei (Rossi), Raccolta di statue 
antiche e moderne, Roma 1704, Tat CLXII. 

102) Sala 1145. Sala gibt fälschlich Inno¬ 
cenz XI. an. Es handelt sich um die Sta¬ 
tue Innocenz’ XII., die auch Vasi (Itinä- 
raire instructif de Rome, 5. ed. S. 44) er¬ 
wähnt. Innocenz XII. ließ den Palast von 
Monte Citorio durch den Architekten Fon- 
tana fortsetzen und vollenden. 

103) A brief account of the Subversion 
of the Papal Government 1798, Second edi- 
tion, London 1799, S. 145. Archenholz, Mi¬ 
nerva XIX (1799) S. 494. Durch diesen Nach¬ 
weis wird die Vermutung von Domarus 
bestätigt daß die Statue in der Franzosen¬ 
zeit 1796/99 zerstört worden sei. Einen 


gemacht, eine Kolossalstatue des Pap¬ 
stes Corsini in Bronze, die sich Im Konser- 
vatoren-Palast befand, einzuschmelzen. 
Auch wurde damals ernstlich erwogen, 
mit verschiedenen anderen Statuen auf 
dem St. Petersplatze ebenso zu verfah¬ 
ren und das Tabernakel von St. Pe¬ 
ter mit seinen gewundenen Säulen in 
schlechte Münze zu verwandeln, alles 
im letzten Grunde, um den unersätt¬ 
lichen Geldhunger der Raubkommis¬ 
sare zu stillen." 

So hielten die Franzosen ihr ausdrück¬ 
lich gegebenes Wort, sich nicht an den 
Denkmälern Roms zu vergreifen, 104 ) so 
erfüllten sie auch hier, wie einst in Paris, 
ihre furchtbare Mission, die historischen 
Erinnerungen eines Volkes zu zerstören. 
Dort fielen die Reiterbildnisse der zep¬ 
terführenden Könige, hier die Statuen 
der völkersegnenden Päpste demselben 
Wahn zum Opfer. „Wir werden einewig 
unzerstörbares Exempel bleiben für die 
Raubgier und die Tyrannei der Franzo¬ 
sen,“ ruft Sala aus. „Sie haben uns wei¬ 
ter nichts übriggelassen als die Augen, 
um zu weinen." 105 ) 

Was bedeutet es gegenüber solchen 
Heimsuchungen, wenn damals auch die 
zahllosen Madonnenbilder aus den Stra¬ 
ßen Roms verschwanden? Und dochl 
Diese Gemälde und Reliefs, diese Mar- 

Stich der Statue von Roccus Pozzi hat Do¬ 
marus gefunden. Vgl. K. v. Domarus, Pietro 
Bracci, Beiträge zur römischen Kunstge¬ 
schichte des XVIII. Jahrhunderts, Straßburg 
1915, S. 22 ff. und Tafel V. 

104) Erlaß des Direktoriums vom 19. Fe¬ 
bruar 1798 Arb 6. II est fait däfense d’enle- 
ver aucun monument public de Rome. Le 
präsent article et le präcädent seront af- 
fichäs dans Rome. Abgedruckt in Gouvion 
Saint-Cyr, Mämoires, Paris 1831, I S. 274. 
Man plante übrigens auch die Mark Aurel- 
Statue auf dem Kapitolsplatz durch eine 
Statue der Freiheitsgöttin zu ersetzen. Vgi. 
Teutscher Merkur 1798 II 102. 

105) Diario I 238. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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mor- oder Terrakottabilder, Jbald Pro¬ 
dukte einfacher Volkskunst, bald von 
ausgezeichneten Künstlern ausgeführt, 
waren eine charakteristische Note im 
Denkmalsschatz der ewigen Stadt. Diese 
Wahrzeichen frommen Volksglaubens, 
die über ganz Rom ausgestreut waren, 
besaßen ihre eigene Geschichte und 
ihren eigenen Kultus. Aber als nach dem 
Tode Duphots Rom der fürchterlichsten 
Bedrängnis entgegenging, hieß es all¬ 
gemein, die Madonnenbilder hätten die 
Augen bewegt. 106 ) Prozessionen wur¬ 
den veranstaltet, die ganze Stadt geriet 
in Bewegung. Dieser Glaube und Aber¬ 
glaube, der stets eine gewisse Gefahr für 
die Ruhe der Bevölkerung in sich schloß, 
war den französischen Machthabern 
ebenso unverständlich wie unbequem. 
Sie entzogen den Marienbildern ihren 
Schutz, die nun bei Tag und Nacht von 
Soldaten und Republikanern beschimpft 
und beschädigt wurden; nur in Tra- 
stevere wagte es niemand, die Heiligen¬ 
schreine der Gottesmutter zu berüh¬ 
ren. 10 ’) 

Inzwischen walteten Daunou, Florent 
und Wicar mit größter Kaltblütigkeit 
ihres schmachvollen Amtes, aus dem Va¬ 
tikan, aus der Villa Albani, aus dem Pa¬ 
lazzo Braschi und aus dem Kapitolini¬ 
schen Museum das letzte zu entführen, 
was sie für würdig erachteten, die 
Sammlungen von Paris zu bereichern. 
Die Trajanssäule allerdings blieb in Rom 
zurück. „Wir senden einen Obelisken,“ 
schrieb Daunou am 15. April nach Pa¬ 
ris. 108 ) „Was die Trajanssäule anlangt, 
so stellen sich zwei Hindernisse in den 
Weg: erstens die Kosten, die unüber¬ 
sehbar sind, sodann Euer Versprechen, 
keine öffentlichen Denkmäler zu entfüh- 

106) Duppa, A brief account usw. S. 16. 

107) Sala II 18, 22, 25, 44, 54. 

108) Taillandier, Documents biographiques 
sur P. C. F. Daunou, Paris 1847, S. 133. 

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ren, das mir von den Konsuln immer wie¬ 
der vorgehalten wird.“ Es scheint, daß 
man damit den Plan des Abbruchs der 
Trajanssäule endlich fallen gelassen hat 

Desto schlimmer war das Treiben in 
Vatikan und Quirinal, wo es keinen 
Herrn mehr gab, und wo sich inzwischen 
die Herren der neuen Republik mit ihren 
Gemahlinnen häuslich einzurichten be¬ 
gannen. Anfangs wollten die neuen Her¬ 
ren, wie es scheint, den Vatikan beziehn, 
und der Konsul Angelucci begeisterte 
sich in seinem Größenwahn an dem Ge¬ 
danken, im Schlafzimmer Pius’ VI. sein 
Lager aufzuschlagen. 109 ) Später ent¬ 
schied man sich für den Quirinal als Re¬ 
sidenz. Er wurde für diesen Zweck mit 
größtem Aufwand und höchster Eile 
hergerichtet, und die Arbeiter murrten, 
weil sie nicht bezahlt wurden. 110 ) Bei 
der Verteilung der Räume gerieten sich 
die Damen Angelucci und Visconti — 
die Gemahlin des berühmten Archäolo¬ 
gen — in die Haare. „Wer hätte je ge¬ 
dacht,“ schreibt Sala, 111 ) „daß sich im 
Garten des Quirinais Szenen ereignen 
würden, wie man sie sonst nur in Tra- 
stevere zu sehen gewohnt ist!“ 

Der Vatikan wurde in des Wortes wei¬ 
tester Bedeutung ausgeplündert. Es wur¬ 
de nichts Bewegliches zurückgelassen, 
vom erbärmlichsten Gerät in der Küche 
bis zum künstlerischen Möbel in den 
Staatsräumen. 112 ) Die priesterlichen Ge¬ 
wänder der Sixtina, der Paulina und der 
anderen päpstlichen Kapellen wur¬ 
den samt und sonders verbrannt, um 
das Gold und Silber der Stickereien her- 
aus zu schmelzen. 113 ) Man fand die Ge¬ 
heimsakristei Julius’II, und man beraub- 

109) Sala I 77. Im Vatikan, und zwar in 
den Stanzen Raffaels, hielt auch das neu- 
errichtete Nationalinstitut seihe ersten Sitzun¬ 
gen ab. Vgl. Sala I 180. 

110) Sala I 201. 111) Sala I 169. 

112) Duppa, A brief account S. 59 H. 

113) Duppa S. 64. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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te sie aller ihrer Schätze. 114 ) Man ver¬ 
kaufte sämtliche Staatswagen der Päp¬ 
ste 1 ^) und schleppte selbst aus den vati¬ 
kanischen Gärten edles zusammen, was 
an Vasen und Marmorschmuck zu finden 
war. „Niemals hat man einen ähnlichen 
Raub gesehn“, ruft Sala aus. 116 ) „Eine 
PIQnderung auch von melieren Tagen 
oder ein Einfall der Barbaren würde uns 
weniger geschädigt haben als dieses 
friedfertige Verweilen unserer edlen Be¬ 
freier, die einfach hierher gekommen 
sind, um zu essen, sich zu kleiden, reich 
zu werden, gleichsam als befänden sie 
sich in einer Sommerfrische.“ 

Das gesamte Inventar des vatikani¬ 
schen Palastes wurde in Bausch und Bo¬ 
gen einer Aufkäufergesellschaft aus 
Lyon und Marseille überlassen,die dafür 
der französischen Armee eine hohe Sum¬ 
me zahlte, aber nun ihrerseits wieder 
große Auktionen veranstaltete und den 
Rest des Raubes im Ghetto verschwin¬ 
den ließ. 117 ) 

Damals ereilte auch die Teppiche Raf¬ 
faels ihr Schicksal. Ursprünglich nur 
zum Schmuck der Sixtinischen Kapelle 
bestimmt, waren sie später einmal im 
Jahre, am Fronleichnamfest, dem Vol¬ 
ke gezeigt worden. Sie hingen dann in 
der Galerie, die vom Petersplatz in den 
Vatikan hinaufführt. „Man hatte hier 
Gelegenheit,“ schreibt Fernow 118 ), „die 
allgemeine große Wirkung dieser Wer¬ 
ke auf das Gefühl, selbst der untersten 
Volkskitassen, zu beobachten und sich zu 
überzeugen, daß Raffael ebenso gewiß 
ein Volksmaler als Homer ein Volks¬ 
dichter seiner Zeit war. Die Plätze vor 
der Predigt Pauli, vor der Anbetung der 

114) Sala I 180. 115) Sala I 132. 

116) Sala I 156. 

117) Duppa S. 59, 60. 

118) Teutscher Merkur 1797 I S. 6. Fer- 
nows Arbeit über die Tapeten Raffaels ist 
in seinen Römischen Studien wieder zum 
Abdruck gelangt 


Weisen, dem Ananias und besonders vor 
dem Kindermord sind selten leer von 
Zuschauern aus dem gemeinen Volk, 
welche durch frohe Lebhaftigkeit ihr 
Interesse an diesen Darstellungen zu er¬ 
kennen geben.“ 

Aber wie die Franzosen den Burin - 
toro, das Prachtschiff der Dogen, zerstört 
hatten und damit zugleich den Glanz 
des volkstümlichen Festes in Venedig, 
so kümmerte es sie auch wenig, ob die 
Römer jemals wieder ihr Fronleich¬ 
namsfest in alter Herrlichkeit begehen 
würden. Wie damals in Rom alles auf 
den Markt getragen wurde, was Eigen¬ 
tum der Kirche gewesen war, so wurden 
auch die Holzgerüste und Zeltbespan¬ 
nungen, die man zum Corpus Domini ge¬ 
brauchte, verschleudert 119 ) und die Tep¬ 
piche Raffaels in öffentlicher Versteige¬ 
rungausgeboten. Ober die Preise, die ge¬ 
zahltwurden, über Käuferund Verkäufer 
— bis es Pius VII. gelang, dem Vatikan 
seinen alten Besitz, wenn auch halbzer¬ 
stört, wieder zu sichern — gehen die 
Nachrichten auseinander. Duppa, der be¬ 
hauptet dabeigewesen zu sein, spricht 
von einem Geschäft, das unter der Hand 
zwischen den Händlern abgeschlossen 
wurde und es Visconti unmöglich mach¬ 
te, den Schatz für Rom zu retten. 12 °) Im 
Teutschen Merkur wurde behauptet, 
ein Engländer sei der erste Käu¬ 
fer gewesen, wie die Engländer über¬ 
haupt den Löwenanteil aus dem Verkauf 
derKunstschätze in Rom davontrugen. 1 * 1 ) 

119) Sala 1119: Li Francesi per lasciarci 
con minori imbarazzi vendono quanto piü 
possono della roba, di cui s'impadroniscono. 
Essi hanno distrutto tutto il legname e le 
tende che servivano per la processione del 
Corpus Domini. 

120) Duppa, A brief account S. 61, 62. 

121) Teutscher Merkur 1798 III186. Ober 
diese Auktionen heißt es im Teutschen Mer¬ 
kur II S. 259: „Von unabsehbaren Folgen für 
Studium und Geschichte der Künste sind 
die schon monatelang dauernden öffent- 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Sala, der sich in seinen Angaben in der 
Regel als zuverlässig erweist, berich¬ 
tet, ohne den Käufer zu nennen, 
daß sämtliche Gobelins des Vatikans 
und unter ihnen auch Raffaels Meister¬ 
werke für 31000 Dukaten verkauft wur¬ 
den. „Wir können diesen Verlust nie¬ 
mals tief genug beklagen“, fügt er hin¬ 
zu. 1 ”) 

Wenn Paris auch damals schon von 
allen Hauptstädten Europas den grö߬ 
ten Reichtum an gewirkten Teppichen 
besaß, so bleibt es doch unverständlich, 
warum Monge, Daunou und Wicar die 
Meisterwerke Raffaels dem Musfee Cen¬ 
tral im Louvre nicht sofort gesichert 
haben oder doch‘die Versteigerung zu 
verhindern suchten. Schalteten und wal¬ 
teten sie doch im Vatikan im Frühjahr 
1798 mit unbeschränkten Machtbefug¬ 
nissen. Lag es doch ganz in ihrer Hand, 
zu bestimmen, was geplündert oder was 
nach dem Vertrag vom 10. Februar so¬ 
zusagen „vertragsmäßig“ aus Rom fort¬ 
geführt werden sollte. 

Wir besitzen noch heute das genaue 
Verzeichnis aller Kunstschätze Roms, 
die am 6. Juli 1798 bereit waren, nach 
Paris abtransportiert zu werden. 12 *) Aus 

liehen Versteigerungen der besten und be¬ 
rühmtesten Gemälde und Denkmäler, wobei 
England, wie es schon beim Ausbruch der 
Revolution in Frankreich der Fall war, aufs 
neue der Schlund wird, der alles verschlingt.“ 
Vgl. die interessanten Ausführungen in der 
Minerva April 1804 II 159: Ein Beitrag zur 
Geschichte der Künste, wo die Rivalität 
zwischen England und Frankreich im Er¬ 
werb von Kunstwerken behandelt wird. 

122) Sala I 155. 

123) Specchio generale di tutti gli og- 
getti d’arti (sic!) e scienze che partono da 
Roma per Parigi nell’ anno VI dell’ era re- 
publicana in Correspondance de Napoleon I. 
Tome III 655. Ober die Anordnung der 
Medaillen in der kaiserlichen Bibliothek 
finden sich bei H. v. Hastfer, Leben und 
Kunst in Paris, Weimar 1806, bemerkens¬ 
werte Angaben. 


dem vatikanischen Palast wurden dies¬ 
mal weniger Statuen und Gemälde als 
Münzen, Medaillen, Inkunabeln und 
Bücher entwendet. Die vatikanische Bi¬ 
bliothek gab ihre ganze Münzen- und 
Medaillensammlung her — die Kameen 
waren ja bereits gestohlen worden —; 
sie lieferte überdies noch 138 Inkuna¬ 
beln, 6 Handschriften und 15 etruskische 
Vasen aus. m ) 

Aber auch die glänzende Privatbiblio¬ 
thek Pius’ VI. wurde für würdig befun¬ 
den, das Ihrige beizutragen zur Ausbrei¬ 
tung der Weltkultur, die an der Seine ge¬ 
boren werden sollte. 12& ) Daunou sandte 
die wertvollsten Stücke nach Paris, wo 
sie zum Teil noch heute in der Biblio¬ 
thek Sainte-Genevifeve bewahrt werden; 
der Rest wurde wiederanden römischen 
Antiquar Barbiellini verkauft 126 ) Und 
was im Vatikan geschah, das geschah im 
Palazzo Braschi an der Piazza Navona m ) 
und in den päpstlichen Palästen von 
Terracina 128 ) und Castelgandolfo. Der 
Nepotismus, dessen Pius VI. bezichtigt 
wurde, nahm ein Ende mit Schrecken. 
Er starb so arm wie Christus selbst, 
allerdings ohne es zu wissen, denn man 


124) Le Grelle bei Serafini a.a.O.1 S. XLVI1L 
Im Anhang der obengenannten Recensio 
sind Inkunabeln und Manuskripte im ein¬ 
zelnen aufgeführt S. 137—151: Nota di libri 
ed altre materie antiquarie richieste alle 
Biblioteca Vaticana dalla Commissione 
della Republica Francese e dagli Officiali 
di essa Biblioteca consegnate al Cittadino 
Vicard (sic!) in virtü del mandato di pro¬ 
cura da esso esibito. 

125) Müntz, La bibliothöque du Vatican 
pendant la Evolution frangaise in Mölanges 
Julien Havet, Paris 1895, S. 579 ff. und Löon 
Dorez, Psautier de Paul III, Paris 1909, 
S. 2 Anm. 2. 

126) Sala I 174. 

127) Sala I 167 und 176. Eine Liste der 
im Palazzo Braschi geraubten Kunstschätze 
Findet sich bei Antonio d’Este, Memorie dl 
Antonio Canova, Firenze 1864, S. 236—238. 

128) Sala I 220. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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hatte ihm die Plünderung des Palazzo 
Braschi, den Verkauf seiner Familien¬ 
güter und die Verschleuderung seiner 
Bibliothek verheimlicht. 1 **) Unter so 
grausamen Feinden, unter so treulosen 
Verrätern hatte er im Vatikan wenig¬ 
stens einen bewährten Diener zurück¬ 
gelassen, den Präfekten des Archivs, 
Gaetano Marini. Wie durch ein Wunder 
gelang es diesem, die Privatpapiere des 
Papstes zu retten 1S0 ) und wenigstens 
das Archiv vor Plünderung zu bewah¬ 
ren. Marini erzählt uns selbst, wie er 
mit Erfolg bemüht war, gefährdete 
Kunst- und Bücherschätze überall zu 
sammeln und zu kaufen und im Vati¬ 
kan zu verbergen. 181 ) Er ahnte damals 
noch nicht, daß es ihm bestimmt sein 
sollte, zwölf Jahre spä:er die wichtig¬ 
sten Akten des päpstlichen Archivs in 
die Verbannung nach Paris zu begleiten,' 
um dort zu sterben. 13 *) 

Natürlich mußte eine so furchtbare 
Katastrophe wie diese friedliche Plün¬ 
derung Roms die großen römischen Fa¬ 
milien am schwersten treffen. 138 ) Nicht 
nur die Braschi verloren ihren gesam¬ 
ten Besitz, auch die Colonna 134 ), die 


129) Sala I 220. Quant ä Pie VI, l’ünivers 
sait et ses souffrances et sa rösignation et 
sa mort et le tribut de v£n£ration g£n£- 
ralement payö ä sa memoire. D’Allonville, 
Mömoires secrets de 1770—1830, Paris 1841, 
IV 237. 

*130) Sala I 218 und 219; II 6. 

131) Bulletin de la sociötö des antiquaires 
de France 1889 S. 109: Breve indicazione 
dell’ operato dall’ Ab. Marini nell* assenza 
di N. S. da Roma. 

132) Delisle, Les ardiives du Vatican 
im Journal des savants, Juillet 1892, S. 429 
und 437. 

133) Duppa, A brief account S. 130 ff. 

134) .Die große heilige Familie von Raf¬ 
fael, die Geißelung Christi von Correggio, 
der große Poussin und der Claude Lorrain 
sind fort*, schreibt Friederike Brun, Römi¬ 
sches Leben II 52. 


Borghese 136 ), die Aldrobrandini 136 ), die 
Giustiniani 137 ) und viele andere vor¬ 
nehme Geschlechter sahen sich früher 
oder später gezwungen, sich ihrer 
Sammlungen ganz oder teilweise zu ent- 
äußern, um die schweren Kriegssteuern 
zahlen zu können. Nur den Doria-Pam- 
phili 138 ) ist es gelungen, ihre Galerie, 
„il bosco dei quadri", wie die Römer die 
überfüllten Säle nannten) intakt zu er¬ 
halten. 

Von allen Sammlungen der römischen 
Großen aber wurde keine so mitgenom¬ 
men wie die Villa Albani, und es ist er¬ 
staunlich, daß diese herrlichste der Vil¬ 
len Roms trotz solcher Plünderungen 
sich einen Abglanz ihres früheren Ruh¬ 
mes bis heute erhalten konnte. Kardinal 
Alessandro Albani, der leidenschaftliche 
Sammler, der Freund und Beschützer 
Winckelmanns, hatte diesen Tempel der 
Künste erst vor wenigen Jahrzehnten 
vor der Porta Salaria aus dem Nichts 
erschaffen. Durch ihre unvergleichliche 
Lage in der Campagna Roms mit dem 
vollen Blick auf die Sabinerberge, durch 
die Kunst, mit der der Gartenarchitekt 
Antonio Nolli den Boden zu benutzen 
verstand, durch die einzigartige Aufstel¬ 
lung der Antiken mitten in der Natur — 
wie auch einst die Römer sie aufgestellt 
hatten — erwarb sich die Villa Albani 
einen Ruf wie die Villa Ludovisi und 
die Doria Pamphili. 

• Der Neffe des Kardinals Alessandro 
und sein Erbe hatte sich früh in Paris 
durch seine Politik mißliebig gemacht. 


135) Sala I 180. Die große Plünderung 
der Borghese-Sammlungen wurde einige 
Jahre später von Napoleon vollendet. 

136) Teutscher Merkur 1798IIIS. 283—284; 
1799 I S. 61. 

137) C. P. Landon, Galerie Giustiniani, 
Paris 1812. 

138) Fr. Brun, Römisches Leben II 82. 

139) Correspondance inödite I 505 und 
III 202. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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Bonaparte wußte, daß er am Wiener 
Hofe gegen Frankreich arbeitete,. 139 ) und 
daß der energische Mann— überdies De¬ 
kan des h. Kollegiums — sogar versucht 
hatte, den Großtürken gegen Frankreich 
aufzureizen. 140 ) Auch als der Stern 
Bonapartes immer höher stieg, änderte 
der Kardinal nichts in seiner Haltung. 
Er wurde dafür in Paris von den Papa- 
bili ausgeschlossen, 141 ) und nach der Er¬ 
oberung Roms wurde sein Name sofort 
auf die Proskriptionsliste gesetzt. 142 ) 
Palast und Villa Albani waren damit 
dem Untergang preisgegeben. 148 ) Der 
Kardinal selbst rettete sich mit Mühe 
auf neapolitanisches Gebiet. 144 ) 

Am 20. März berichtete Daunou nach 
Paris: „Die Villa Albani ist ein herrliches 
Museum. Nur die Auswahl wird uns 
Schwierigkeiten machen.“ Und am 3. 
April fährt er fort: 146 ) „Wir haben das 
Einpacken der Skulpturen der Villa Al¬ 
bani begonnen, die Eigentum der Fran¬ 
zösischen Republik geworden ist Der 
Transport wird große Kosten verursachen. 
Selbst wenn man in der Villa noch 300 Ob¬ 
jekte läßt werden die, die schon bezeich¬ 
net sind, 280 Kisten füllen.“ 146 ) Gleich- 

140) Landrieux, Mömoires I 166. 

141) Correspondance inödite I 505 und 
III 202. 

142) Instruction du Directoire pour le 
general en chef de l’armee d’Italie vom 
31. Januar 1798: II confisquera au profit de 
la republique frangaise les biens du pape, 
de sa famille et des Albani. Vgl. Gouvioh 
Saint-Cyr, M6moires I 272. 

143) Fernow aus Rom am 1. Okt. 1798 
im Teutschen Merkur 1798 III S. 284: »Die 
Antikensammlung der Villa Albani ist, dank 
der Vorsorge des citoyen Wicar, glücklich 
nach Paris abgegangen; die des Palastes 
Albani hat sich größtenteils unter den Hän¬ 
den der Kommissärs verloren.“ 

144) Sala I 166. 

145) Taillandier, Documents biographiques 
S. 128 und 132. 

146) Eine Liste seines geraubten Gutes 
stellte Prinz Carlo Albani i. J. 1815 für Ca- 


zeitig hatte man unter Todesdrohungen 
von dem Sekretär des Kardinals ein Ge¬ 
heimnis erpresst. Er verriet ein verbor¬ 
genes Gemach, in dem man die herr¬ 
lichsten Gemälde und Kostbarkeiten ent¬ 
deckte. 147 ) Es scheint, daß man die Ab¬ 
sicht hatte, allmählich die ganze Villa 
nach Paris zu bringen und dort wieder 
aufzubauen. Sogar die Brunnenfiguren 
im Garten wurden eingepackt und der 
Plan der ganzen Villa aufgenommen. 148 ) 
' Damals gelangten auch die Manu¬ 
skripte Winckelmanns nach Paris. Win- 
ckelmann hatte sie seinem Gönner ver¬ 
macht. 149 ) 

Es waren ursprünglich 28 Bände, von 
denen 7 verloren gingen. 21 werden noch 
heute in der National bibliothek in Paris 
bewahrt, wo sie der Archäologe Thiersch 
i. J. 1813 einsah. 150 ) 

Am 31. Juli 1815 las man im Rheini¬ 
schen Merkur einen Aufruf an das Deut¬ 
sche Volk, Winckelmanns Reliquien von 
Frankreich zurückzufordern 151 ): „Der hand¬ 
schriftliche Nachlaß unseres Winckelmann 
— so. heißt es hier — mußte mit allen 
übrigen Schätzen der Villa Albani nach 
Paris wandern; dort prangt er seit Jahren 

nova auf. Vgl. A. d’Este, Memorie di Anto¬ 
nio Canova S.234. 

147) Sala I 126 und 134. 

148) Teutscher Merkur 1796 II S. 102. 

149) Eiselein, Winckelmanns Werke I, 
CLXXX. A. Tibal (Inventaire des manuscrits 
de Winckelmann döposös ä la Bibliothöque 
nationale, Paris 1911, S. 7) behauptet, die 
Manuskripte seien beim Tode des Kardi¬ 
nals Alexander i. J. 1779 in den Vatikan ge¬ 
bracht. Dem steht das Zeugnis Eiseleins 
gegenüber, d.aß sie direkt aus dem Besitz 
Albani nach Paris gelangten. Tibal ver¬ 
mutet, Winckelmanns Manuskripte seien in 
der „Recensio“ aufgeführt, die er nicht ein¬ 
sehn konnte. Das ist aber nicht der Fall. 
Sie finden sich vielmehr in keiner der vati¬ 
kanischen Raublisten genannt. 

150) Thiersch, Fr. Thierschs Leben, Leip¬ 
zig 1866, S. 108. 

151) Rheinischer Merkur 1815 Nr. 276. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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in der großen Bibliothek allen Teutschen 
zur Schmach, nur das eitle Franzosenvolk 
freut sich bis jetzt solcher schönen Habe. 
Aber die Manen Winckelmanns zürnen 
voll gerechten Unwillens über die un> 
würdige Begegnung, welche ihnen in dem 
fremden, ungastlichen Lande geworden. 
Und alle Teutsche, die Winckelmanns 
unsterbliche Verdienste um Kunst und 
Wissenschaft zu schätzen wissen, fühlen 
tiefen Schmerz darüber, daß in die Klauen 
der Franzosen die Handschriften eines 
Mannes gefallen, welcher von dem gründ¬ 
lichsten Haß erfüllt war gegen dieses 
ungründliche Volk. Jetzt ist die Zeit ge¬ 
kommen, wo der Teutsche sein Eigentum 
aus den unheiligen Händen zurückfor- 
dem kann und will. Was dem Teutschen 
Volke angehört, darf kein König oder 
Kaiser in übelverstandencr Gutmütigkeit 
aufs neue an die Franzosen verschenken. 
Jetzt oder nie können die Teutschen 
auch Winckelmanns zürnenden Schatten 
versöhnen, und besonders den Preußen 
geziemt es, ihrem großen Landsmann 
dies erste und würdigste Totenopfer zu 
bringen.“ 

Von allen Marmorschätzen der Villa 
Albani ist nur das Antinous-Relief nach 
Rom zurüdegekehrt, und auch die Winckel- 
mann-Manuskripte wurden unglaublicher¬ 
weise i. J. 1815 weder von Italien noch 
von Deutschland zurückgefordert. Wie 
es aber in der Villa selbst noch Jahre 
nach ihrer Plünderung aussah, das er¬ 
zählt uns die Dänin Friederike Brun 15 *), 
die Freundin der Familie Humboldt, 
Zoegas, Fernows, d’Agincourts, die hoch¬ 
herzige Gönnerin des jungen Thorwald- 


152) Römisches Leben, Leipzig 1833, II10, 
Aufzeichnung vom Januar 1803. Ungedruckte 
Dokumente, die Plünderung der Villa AI- 
bani betreffend, werden im Ministerium des 
Äußeren in Paris bewahrt. Vgl. Revue 
d'histoire diplomatique X (1896) S. 500 
Anm. Z 

Internationale Monatsschrift 


sen: „Am folgenden Tage gewann ich es 
über mich, die entweihte, ausgeplünderte 
Villa Albani, Winckelmanns Tempel, zu 
besuchen. Nirgends in Rom haben die 
Franzosen so gefrevejt. Der fromme Prinz 
Albani hatte sich immer mutig gegen 
sie und ihre Tod und Verderben bringen¬ 
den Grundsätze erklärt. Sie rächten sich 
am Heiligtum der Kunst, am Gemeingute 
der Menschheit. Daß die herrliche Kolos- 
salbüste der Pallas 15S ), das Hautrelief 
des Antinous, die Statue der Leukothea 
und andere Hauptstücke der herrlichen 
Sammlung weggenommen wurden, war 
ungerecht; daß die Basreliefs aus den 
Wänden, die herrlichen antiken kolossalen 
Masken aus der wunderschönen Vorhalle 
gerissen und entführt wurden, war ge¬ 
wöhnlicher Raub; allein daß Statuen, die 
man nicht mitnehmen wollte und konnte, 
verstümmelt, die Säule von Verd-Antico 
angehauen, dem prachtvollen Becken von 
rotem afrikanischem Marmor der Bauch 
mutwillig ausgebrochen, zart ausgeführ¬ 
ten Marmorreliefs kleine Teile mit müh¬ 
samer Bosheit ausgebrochen wurden, 
sind Züge von jenem pöbelhaften Fre¬ 
vel, den dies gebildetste Volk der Erde 
— wie es von seinen Schmeichlern ge¬ 
nannt wird — sich so häufig zu schulden 
kommen ließ. Der alte Custode zeigte 
uns all den verübten Greuel mit tiefer 
Wehmut, welche meinen Schmerz auf¬ 
regte, aber auch linderte. Winckelmanns 
zürnenden Schatten glaubte ich durch die* 
verödeten Hallen wehend zu fühlen.* 1 
Schon am 22. Mai konnte Daunou nach 
Paris berichten, daß der Kunstraub ein- 
gebracht sei 154 ): „Es werden 450 bis 500 


153) Pallas und Leukothea befinden sich 
heute in der Glyptothek in München. Vgl. 
über die Zerstörung in der Villa Albani auch: 
Fr. Valentinelli, Memorie storiche sulle prin- 
cipali cagioni e circostanze della rivoluzione 
di Roma e di Napoli, s. 1.1809, S. 292. 

154) Taillandier a. a. O. 147. 

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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


Kisten sein, und wir werden die Listen 
ihres Inhalts an Büchern, Manuskripten, 
Medaillen, Antiken, Gemälden, Statuen 
und Schriftenstempeln einsenden. Für 
den Transport schlagen wir eine Methode 
vor, die keinen Pfennig kostet. Wir wer¬ 
den einfach Besitztümer auf römischem 
Boden, die Frankreich erworben hat, als 
Zahlung an weisen lassen!“ 

So mußten die Römer auch noch mit 
der Verschleuderung ihres eigenen Grund 
und Bodens für den Abtransport ihrer 
vaterländischen Kunstscbätze zahlen! 

Daunou, das Direktorium, die Gene¬ 
räle, die in Rom einer dem anderen folg¬ 
ten, fanden diese Methode ebenso prak¬ 
tisch wie später Napoleon, als er den 
Kauf der Antiken der Villa Borghese auf 
dieselbe Weise beglich. 155 ) 

Am 28. August sah Sala das große 
Magazin am Tiber bis an den Rand 
mit römischen Kunstschätzen gefüllt, die 
nach Paris wandern sollten. Der unbe- 
zwingliche Jammer eines Patrioten, der 
sein Vaterland zur Ohnmacht verdammt 
sieht, erfaßte ihn, und in harter, verzwei¬ 
felter Rede machte er dem gepreßten Her¬ 
zen Luft 158 ): „Dort liegen alle die Statuen 
des Vatikanischen Museums, dort liegt 
alles, was einst die Villa Albani besaß! 
Damit nichts übrig blieb, haben die fran¬ 
zösischen Kommissare sogar vier moder¬ 
ne Statuen einpacken lassen, vier Gigan¬ 
ten, die eine Brunnenschale mitten in der 
• Villa trugen. Solche Verluste sind uner¬ 
setzlich, und wenn man auch keine an¬ 
deren Gründe hätte, die unersättliche Raub¬ 
gier der Franzosen zu verabscheuen — 

155) Moniteur 19 Avril 1817, Bd. 56 S. 434. 
Angeloni II 264: II tenimento’ di Lucedio 
— italica proprietä — fu data per parte di 
prezzo. 

156) II 116. Alle diese Schätze, unter 
denen sich auch der Tiber und der Nil be¬ 
fanden, gelangten erst im Frühjahr 1804 
nach Paris. Vgl. Moniteur universel Nr. 214 
(4 Flor£al an 12 de la R6publique). 


dieser eine Raub würde genügen, in 
unserer Geschichte ihren Namen für Zeit 
und Ewigkeit verhaßt zu machen! “ 

Der pathetische Protest der französi¬ 
schen Offiziere im Pantheon war — wie 
wir sahen — nicht allzu ernst gemeint 
und änderte, nachdem die persönlichen 
Wünsche der Soldaten erfüllt waren, 
nichts, aber auch gar nichts an dem Be¬ 
nehmen der Silberagenten und Kom¬ 
missare. Aber es gab damals doch zwei 
Franzosen in Rom, die von Scham und 
Entrüstu ng erfüllt waren über die Schmach, 
mit der ihre Landsleute den Namen Frank¬ 
reichs am Tiber befleckten. Und beide ha¬ 
ben — jeder auf seine Weise — den Mut 
gehabt, zu sagen, was sie dachten. Beider 
Name hat in der französischen Literatur¬ 
geschichte einen guten Klang: Paul Louis 
Courier und Seroux d’Agincourt. Courier 
führte ein abenteuerliches Leben. Abhold 
jeglicher Disziplin, schuf er sich selbst 
immer neue Konflikte. Ein Franzose von 
ganz besonderen Eigenschaften, der seine 
Ideale im Altertum verwirklicht sah 
und nicht in Napoleonischen Träumers 
französischer Weltherrschaft. „Place 
entre la Republique et le Consulat, ou 
entre le Consulat et l’Empire,“ schreibt 
Sainte-Beuve von ihm,„iIestpourPraxi- 
t6Je"! Er war aus Neigung Gelehr¬ 
ter und von Beruf Soldat. Der Be¬ 
ruf hatte ihn nach Rom geführt; 
die Neigung ließ ihn in Florenz in 
einem Longusmanuskript einen unbe¬ 
kannten Text entdecken. Aber o weh! er 
verewigte sich zugleich auf den kostbaren 
Blättern mit einem Tintenklecks! Dieser 
machte ihn früh in ganz Italien berühmt. 
Denn die meisten Menschen bleiben 
auch in Weltkatastrophen im Grunde, wie 
sie sind, und der Bibliothekar der Lau- 
rentiana — er trug den ominösen Namen 
Furia — verfolgte die Beschädigung sei¬ 
ner Handschrift wie die ruchloseste aller 
Taten, mochten auch gleichzeitig überall 


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Ernst Steinmann, Dte Plünderung Roms durch Bonaparte 


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in Itaßen Hunderte von Handschriften zer¬ 
streut und vernichtet worden sein. 

D'Agincourt lebte seit vielen Jahren 
unweit von San Trinitä de* Monti in der 
Via Gregoriana, seiner Freundin Ange¬ 
lika Kauffmann gerade gegenüber. 157 ) Er 
nannte hier Haus und Garten sein eigen. 
In dem einen schrieb er sein epoche¬ 
machendes Werk: Histoire de l’art par 
les monuments, die Fortsetzung Winckel- 
manns auf dem Gebiete der neueren 
Kunstgeschichte, in dem andern pflegte 
er die seltensten Blumen, wie sie nur 
unter römischem Himmel gedeihen. Alle 
Wechselfälle Roms hat er hier oben mit 
erlebt, und die allgemeine Verehrung, 
die er genoß, bewahrte ihn vor dem 
Schlimmsten. „Nie verlasse ich die heili¬ 
gen Schatten um seine Wohnung,“ 
schreibt Friederike Brun, „ohne mich bes¬ 
ser zu fühlen, als da ich kam, — und 
wenn ich einst Rom verlassen muß, ist 
unter vielen großen Schmerzen die Tren¬ 
nung von d’Agincourt der tiefste. Was 
aber dieser ehrwürdige Greis bei der 
Rolle empfindet, welche seine Nation jetzt 
in Rom spielt, das sage dir selbst I “ 158 ) 
Er hat es wenigstens einmal vor aller 
Welt bezeugt, als er höflich, aber be¬ 
stimmt die Ehre ablehnte, mit Visconti, 
Gaetano Marini und anderen Römern 
und Franzosen im neugegründeten Natio- 
nal-Institut zu sitzen. 159 ) 

157) Dumesnil, Histoire des plus c£16bres 
amateurs Frangais, Paris 1858, Tome III1—58. 
De la Salle, Notice sur la vie et les travaux 
de J. L. G. Seroux d’Agincourt in Histoire 
de l’art par les monuments depuis sa d£ca- 
dence au IV* siede jusqu’ä son renouvelle- 
ment au XVI* par J. B. L. G. Seroux d’Agin- 
court, Paris 1823, I S. 3—10. 

158) Brun, Briefe aus Rom, geschrieben 
in den Jahren 1808, 1809,1810 über die Ver¬ 
folgung, Gefangenschaft und Entführung des 
Papstes Pius VII., Dresden 1820, S. 79. 

159) Müntz, Les annexions de collections 
in Revue d’histoire diplomatique X (1896) 
S. 488. 


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Courier, mit d’Agincourt befreundet, 
war es auch gelungen, mit Gaetano Ma- 
rini im vatikanischen Archiv bekannt zu 
werden, und er mag ihm, soviel er ver¬ 
mochte, bei seinem Rettungswerk gehol¬ 
fen haben. Was er täglich sah und 
erlebte, und wie er die furchtbare Verwü¬ 
stung Roms durch französische Kommis¬ 
sare und Soldaten beurteilte, das hat er 
in einem Brief an seinen Freund Chle- 
waslri in Toulouse mit Worten ausge¬ 
sprochen, wie sie schonungsloser und 
freimiütiger nicht zu denken sind. 16 °) Er 
schrieb, als alles schon geschehen war, 
am 8. Januar 1799: „Sagen Sie an alle, die 
Rom sehen wollen, daß sie sich beeilen! 
Jeden Tag vernichtet das Schwert der 
Soldaten irgend etwas von den Kostbar¬ 
keiten dieser Stadt, jeden Tag entblättern 
französische Agenten mit ihren Krallen 
mehr und mehr ihre natürliche Schönheit. 
Verzeihung, mein Herr, Sie sind an 
die edle und natürliche Sprache des 
Altertums gewöhnt, und Sie werden 
meine Ausdrucksweise überschwäng¬ 
lich und blumenreich finden! Aber 
ich finde keine Worte, die traurig 
genug wären, um Ihnen den Zustand der 
Zerstörung, des Elends und der Schmach 
zu schildern, in welchen dieses arme Rom 
gesunken ist, das Sie noch in seiner gan¬ 
zen Pracht gesehen haben und das man 
jetzt bis auf die Ruinen zerstört Sonst 
begab man sich von allen Enden der Erde 
hierher. Wie viele Fremde, die nur für 
einen Winter gekommen waren, haben 
hier ihr ganzes Leben verbracht! Jetzt 

160) M6moires, correspondance et opuscu- 
les in6dits de Paul Louis Courier, Paris 1828, 
Tome I 34. Das Buch erschien in Deutsch¬ 
land unter dem Titel: Denkwürdigkeiten 
und Briefe von Paul Louis Courier. Aus 
dem Französischen, Leipzig 1829, I 26—28. 
Herr Professor Cornicelius machte mich auf 
Sainte-Beuve’s geistvolle Studie über Cou¬ 
rier in den Causeries du lundi (2. Aull. 
Bd. 6 S. 263ff.) aufmerksam. 

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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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sind nur noch die geblieben, die nicht zu 
fliehen vermochten, oder solche, die mit 
dem Dolch in der Hand unter den Lum- 
pen eines Volkes, das vor Hunger stirbt, 
nach einer letzten Beute suchen, die allen 
Erpressungen und Räubereien entschlüpft 
ist. Die Einzelheiten würden kein Ende 
nehmen, und überdies in mehr als einem 
Sinne kann ich Ihnen nicht alles sagen. 
Aber aus dem Fragment, das ich hier 
skizzieren will, werden Sie leicht das 
übrige erraten. 

„Das Brot gehört hier nicht mehr zu 
den Dingen, die verkauft werden. Jeder 
behält für sich, was er oft nicht ohne Le- 
bensgefahr erhaschen konnte. Sie kennen 
das Wort: panem et circenses. Die Rö¬ 
mer entbehren heute das eine und das 
andere und noch sonst ungezählte Dinge. 
Kein Mensch, er sei denn Kommissar oder 
General oder Lakai von einem dieser bei¬ 
den, kann heute ein Ei essen. £>ie aller¬ 
notwendigsten Lebensbedürfnisse sind 
den Römern unerreichbar, während zahl¬ 
reiche Franzosen, und zwar nicht immer 
die vornehmsten, offene Tafel halten für 
jedermann. Wahrhaftigl wir rächen den 
bezwungenen Erdkreis! 

„Die Monumente Roms werden nicht 
besser behandelt wie die Römer. Die Tra- 
janssäule ist indes noch so ziemlich, was 
sie war, und unsere Kunstkenner, die nur 
das schätzen, was man fortschleppen und 
verkaufen kann, geben glücklicherweise 
nicht acht auf sie. Die Reliefs, die sie 
schmücken, sind überdies nicht mit dem 
Säbel zu erreichen und dürften deswegen 
erhalten bleiben. Leider ist es nicht das 
gleiche mit den Skulpturen der Villa Bor¬ 
ghese und der Villa Pamphili, wo überall 
Bilder sich finden, die Virgils Delphobos 
ähnlich sind. 161 ) Ich beweine noch ein hüb¬ 
sches Hermeskind, das ich ganz gesehen 

161) Delphobos, Sohn des Priamos. In 
der Unterwelt begegnet sein barbarisch ver¬ 
stümmelter Schatten dem Äneas. 

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hatte. Es war von oben bis unten in eine 
Löwenhaut eingehüllt und trug eine kleine 
Keule auf der Schulter. Es war eine er¬ 
lesene Arbeit griechischer Kunst, wenn 
ich mich nicht täusche. Nur die Basis ist 
übriggeblieben und einige zerstreute 
Stücke. Ich schrieb darauf mit dem Blei¬ 
stift: Lugete, Veneres Cupidinesque! 162 ) 
Mengs und Winckelmann würden vor 
Schmerz gestorben sein, hätten sie das 
Unglück gehabt, lange genug zu leben, 
um dieses Schauspiel zu sehen I 

„Alles, was bei den Karthäusern (S. 
Maria degli Angeli), in der Villa Albani, 
bei den Farnese 166 ), den Onesti, im Mu¬ 
seum Clementi (Pio Clementino), auf 
dem Kapitol vorhanden war, ist fort¬ 
geschleppt, geplündert, verloren oder 
verkauft. Die Engländer haben ihren 
Teil daran gehabt, und die französi¬ 
schen Kommissare, die solchen Handels 
verdächtig waren, sind hier verhaftet wor¬ 
den. Aber natürlich wird nichts darnach 
kommen. Soldaten, die in die Vatikani¬ 
sche Bibliothek eingedrungen waren, ha¬ 
ben unter anderen Kostbarkeiten den be¬ 
rühmten Terenz des Bembo zerstört, um 
sich einige Vergoldungen anzueignen, mit 
denen er geschmückt war. 161 ) Die Venus 
der Villa Borghese ist von einigen Nach¬ 
kommen des Diomedes 166 ) an der Hand 
verwundet worden, und der Hermaphro¬ 
dit — immane nefas — hat einen Fuß 
zerbrochen.“ 

So sprach damals ein Franzose über 

162) Catull III 1. 

163) „Der Palast Farnese und die Farne- 
sina sind von den französischen Kommis¬ 
sären in Rom als ein der Nation zugefalle- 
nes Erbteil vom König von Neapel in Besitz 
genommen worden.“ Vgl. Teutscher Merkur 
1799 I 380. 

164) Dieser Terenz wurde von neapoli¬ 
tanischen Soldaten gestohlen und gelangte 
später in den Vatikan zurück. Vgl. D. Zanelli. 
La Biblioteca Vaticana dalla sua origine 
fino al presente, Roma 1857, S.97. 

165) Ilias V 335-340. 


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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte 


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die Franzosen, indem er ohne alle Bemän¬ 
telungen einfach der Wahrheit die Ehre 
gab. Er sei der letzte, der untrüglichste 
Zeuge, den wir aufrufen für das Zerstö- 
rungswerk der „grande nation“ in der 
ewigen Stadt. Keiner der vielen unwahr- 
heftigen Beschönigungsversuche späterer 
französischer Historiker hat dies häßliche 
Blatt in Frankreichs blutgetränkter Ge¬ 
schichte rein zu waschen vermocht. Und 
was Bonaparte Pius VI. angetan, hat es 
Napoleon Pius VII. erspart? Als Gast des 
Kaisers in Paris und sein Gefangener zu¬ 
gleich besuchte Pius i. J. 1805 auch die 
Säle im Mus6e Napoleon, in denen die 
Bildwerke des Museo Pio Clementino 
prangten. Niemand anders als Visconti 
war sein Führer. Damals sprach der Papst 
die prophetischen Worte, die von Mund 
zu Munde gingen: „Diese Bildwerke wur¬ 
den den Griechen von den Römern fort¬ 
genommen. Den Römern entriß sie jetzt 
aufs neue der Sieg. Aber wer weiß, ob 
man immer wird den Weg zur Seine 
nehmen müssen, um sie wieder zu 
sehn.“ 166 ) 

Man sollte meinen, die Spuren solcher 
Zerstörung hätten niemals wieder aus 
dem Antlitz Roms ausgelöscht werden 
können; nach solchen Schrecken müsse 
die Stadt am Tiber erstarrt gewesen sein, 
als habe sie das Haupt der Gorgo er¬ 
blicht. Aber in der geheimnisvollen Struk¬ 
tur dieser einzigen Stadt wirken die zer¬ 
störenden Kräfte nicht anders als die er¬ 
haltenden. Mag eine Generation geopfert 
werden, die nächste wird zu leben wissen. 
Mag man an einem Tage rauben, was 
Jahrhunderte geschenkt haben — ein 
neues Schicksal wird ersetzen, was ver¬ 
loren ging. Denn der Untergang gehört 
zu Rom wie der Aufgang, und neben dem 
Kolosseum wölbt sich der Petersdom 1 

So fande n die Fremden, die Rom im 

166) Visconti, Opere varie ed. Giovanni 
Labus, Milano 1831, IV S.575 Anm. 1. 


folgenden Jahrzehnt besuchten, wohl ein 
bettelarmes Volk, ausgeraubte Kirchen, 
geplünderte Paläste und einen gänzlich 
zerstörten Staatsorganismus, aber sie ver¬ 
mißten kaum etwas von dem Zauber, den 
hier Natur und Kunst aus unversiegbaren 
Quellen stets aufs neue spenden. Schon 
Femow bekämpfte mit Nachdruck die 
hoffärtige Meinung der Franzosen, Rom 
sei nun ganz in Paris. „Wir wollen es 
mit den Jubelliedern eines sieg- und 
ruhmtrunkenen Volkes nicht so genau 
nehmen,“ schrieb er am 1. Okt. 1798 167 ); 
„sonst ließe sich wohl beweisen, daß 
das, was Rom zu Rom macht, sich 
nicht in Kisten packen und durch Büffel 
nach Paris schleppen läßt.“ 

Aber auch in den vatikanischen Samm¬ 
lungen selbst machten sich die Lücken 
weniger fühlbar als man gedacht. Die 
Mutter Napoleons rief erstaunt, als man 
sie zum erstenmal in den Vatikan führte: 
„Ich glaubte wohl, wir besäßen in Paris 
auch etwas, aber ich sehe, wir haben 
noch gar nichts.“ 168 ) Dazu kam, daß die 
Auswahl der Kommissare keineswegs 
immer auf die besten Stücke gefallen war. 
„Da, wo der Ruf der Meisterwerke sie 
verließ,“ heißt es i. J. 1806 im Journal 
des Luxus und der Moden 169 ), „wählten 
sie schlecht. Daher sind unter den hun¬ 
dert Statuen und Büsten, die das Pariser 
Museum zieren, gegen zwei Drittel sehr 
unbedeutend im Vergleich mit so vielen 
herrlichen Stücken, welche in den päpst¬ 
lichen Sammlungen zurückgelassen wur¬ 
den. Ober alle Bewunderung schön sind 

167) Neuer Teutscher Merkur 1798 III279. 

168) A. v. Kotzebue, Erinnerungen, Berlin 
1805, III, S.26: „Noch jetzt,“ schreibt Kotze¬ 
bue, „nachdem die Franzosen das Museum 
so manchen Schmuckes beraubt haben, bleibt 
es vielleicht das erste der Welt.“ Die vor¬ 
nehmsten der nach Paris entführten Artikel 
waren durch Abgüsse oder auch durch 
Werke Canovas ersetzt worden. 

169) XXI (1806) S. 16. 


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Justus Hashagen, Romanischer Imperialismus 


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die Säle des Pio-Clementinischen Mu¬ 
seums.** 

Vor allem aber wirkte der Geist der 
großen Vergangenheit lebendig weiter 
auch in Tod und Untergang und zeugte 
in flüchtig eilenden Stunden unvergäng¬ 
liche Werte. Courier, der so freimütig 
bezeugt hat, was Rom verlor, er mag auch 
bezeugen, wasRom erhalten blieb, 17 °) und 
die Bilder de6 Grauens mag ein freund¬ 
liches Idyll versöhnend schließen: 

Fragment 

Rom, April 1812. 

Heute morgen in aller Frühe ging ich 
zu d’Agfncourt hinauf, und wie ich die 
Stufen von S. Trinitä del Monte hinauf¬ 
stieg, begegnete er mir, herabkommend 
und sagte: „Sie wollen zu mir?“ — „Ja,“ 
antwortete ich, „doch da Sie eben aus¬ 
gehen wollen ...“ „Nein,“ fiel er ein, 
„gehen Sie zu mir hinauf; im Augen¬ 
blick bin ich zurück “ Ich ging also in 
sein Haus und wartete. Und da er nicht 
kam, ging ich in den Garten hinab, die 
Fülle der seltenen Pflanzen und Blumen 
zu betrachten, die auf eine besonders 
sinnvoll malerische Art geordnet waren. 
Dichtes Gebüsch wird von freundlichen 
Wegen durchschnitten, und an der Mauer 

170) M6moires II 59. 


des Hauses klettert das Grün bis unter 
das Dadi hinauf. Das Haus liegt in einem 
Winkel des Gartens. Schlanke Bäume — 
ich glaube es waren Akazien — ragen 
bis zum Dach empor und halten die 
Sonnenstrahlen ab, ohne die Aussicht 
zu verdecken. So sieht man von hier 
ganz Rom bis hinunter zum Pindo und 
gegenüber die Hügel von S. Pietro in 
Montorio und des Vatikans. Am Ende 
des Gartens in den beiden Ecken plät¬ 
schern zwei Brunnen ihr Wasser in zwei 
Sarkophage. Wie ich so umherwandelte, 
entdeckte ich in hohem, schattigem Ge¬ 
büsch ein antikes Grab aus Marmor mH 
einer Inschrift. Ich näherte mich, um zu 
lesen, entfernte das Gesträuch und be¬ 
mühte mich, nichts mit dem Fuß zu zer¬ 
treten. Da stand d’Agincourt plötzlich 
vor mir, den ich nicht bemerkt hatte: 
„Dies hier ist das Arkadien von Pous- 
sin,“ sagte er, „wenn es hier auch weder 
Tanz noch Schäfer gibt Aber lesen 
Sie die Inschrift.“ Und ich las. Sie war 
lateinisch abgefaßt und auf der ersten 
Linie stand: Den Manen; ein wenig 
darunter: Fauna lebte vierzehn Jahre, 
drei Monate und sechs Tage; und ganz 
unten in kleinerer Schrift: Leicht decke 
dich die Erde, frommes, geliebtes Kindt 


Romanischer Imperialismus. 

Von Justus Hashagen. 


Der Eintritt Frankreichs und selbst Ita¬ 
liens in den Krieg ist auch durch welt¬ 
politische und weltherrschaftliche (im- 
perialis;ische) Beweggründe bestimmt, 
wenn auch in verschiedener Weise. 
Denn Frankreich kämpft mehr für sei¬ 
nen schon vorhandenen weltpolitischen 
Besitzstand. Italien dagegen kämpft für 
eine italienische Weltmacht, deren Da¬ 
sein in der Hauptsache erst der Zukunft 


angehören soll. In der Kriegsliteratur 
beider Länder findet sich ein starker 
imperialistischer Einschlag. 

Wenn man allerdings von den angel¬ 
sächsischen Riesenreichen oder von Ru߬ 
land herkommt, so hat man zunächst 
den Eindruck, als sei der romanische Im- 
peralismus viel schwächer entwik- 
kelt. In der Tat ist wenigstens in frühe¬ 
ren Zeiten sowohl in Frankreich wie 


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Jagtug Hashagen, Romanisdier Imperialismus 


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in Italien eine kräftigere oder gar 
eine phantastische Ausdehnungspolitik 
vielfach lebhaft bekämpft worden, be¬ 
sonders natürlich von edlen wirklich de¬ 
mokratischen und sozialistischen Par¬ 
teien. Sowohl in Frankreich wie in Ita¬ 
lien arbeitet bis zum Ausbruch des 
Weltkrieges je eine ausgesprochene Per¬ 
sönlichkeit, die sich dem imperialisti¬ 
schen Strome entgegenwirft: in Frank¬ 
reich Jean Jaurös, einer der gefährlich¬ 
sten Feinde der halsbrecherischen fran¬ 
zösischen Marokkopolitik, in Italien Gio¬ 
vanni Giolitti, der sich schon im Herbst 
1911, als Italien mit dem Tripoliskriege 
gegen die Türkei sein erstes imperiali¬ 
stisches Abenteuer wagte, bis in die 
zwölfte Stunde hinein dem Kriege wider¬ 
setzte. Schon damals hat er aber unter 
dem Drucke der systematisch aufge¬ 
peitschten sogenannten öffentlichen Mei¬ 
nung nachgegeben und schließlich doch 
in den Krieg gewilligt. In kleinerem 
Maßstabe hat sich schon 1911 ereignet, 
was sich dann 1915 in verhängnisvoller 
Vergrößerung wiederholt. 

Feinde eines politischen Imperialismus 
in Frankreich sind aber nicht nur Jau- 
res, der Sozialismus und andere ihnen 
nahestehende Gruppen gewesen. Die 
Widerstände reichen zunächst noch wei¬ 
ter. Die Gegnerschaft ist noch tiefer 
eingewurzelt. Durch Frankreichs Nie¬ 
derlage von 1870/71 wurde auch der fran¬ 
zösische Weltmachtsgedanke getrof¬ 
fen. Nicht nur Elsaß-Lothringen hatte 
es verloren, sondern auch seine Welt¬ 
machtstellung. Man konnte 1871 über¬ 
haupt zweifeln, ob Frankreich noch eine 
Großmacht war. Nun hat es sich zwar 
von seinem tiefen Falle bewunderungs¬ 
würdig rasch wieder erhoben. Wenn 
man aber in Frankreich nach dem Kriege 
an die Rückeroberung der Weltmacht 
denkt, so faßt man das, wie Eduard 
Wiechßler mit Recht betont, noch in den 


ersten Jahrzehnten nach dem Kriege 
nicht eigentlich politisch auf, sondern 
mehr unpolitisch. Man strebt nach neuen 
Erobemngen auf dem Gebiete von Bil¬ 
dung und Kunst, auf dem Frankreich 
von jeher so große Triumphe gefeiert 
hatte. Wie die Niederlage von 1870/71 
bei den Franzosen zunächst nicht eine 
Hinwendung zum' Staate hervorbringt, 
sondern eine Abwendung vom Staate, 
so zunächst auch nur die Hinwendung 
zur Wiedereroberung der Welt durch die 
und für die französische Kultur, nicht 
aber zur politisch-militärischen Ausdeh¬ 
nung. Eine Hinwendung zu einem neuen, 
mit französischer Zivilisation und Hu¬ 
manität befruchteten antimilitaristischen 
und geradezu pazifistischen Weltbür- 
gertume wird gepredigt zunächst aber 
noch nicht die Hinwendung zu einem 
politischen Nationalismus, der, wie man 
an Rußland sieht so leicht in Imperia¬ 
lismus umschlägt. Auch die Revanche¬ 
stimmung oder wenigstens der Deut¬ 
schenhaß halten sich entsprechend noch 
zurück. Wechßler erinnert daran, daß 
Emile Zola in seinem erschütternden Ge¬ 
mälde von dem französischen Zusam¬ 
menbruche 1870/71, das unter dem Titel 
La Däbäcle erst 1892 erschienen ist, die 
in diesem Romane vorkommenden Deut¬ 
schen noch durchaus ruhig und sach¬ 
lich beurteilt. Die schöne Literatur der 
Franzosen bietet einem erobernden po¬ 
litischen Imperialismus noch in den 
ersten Jahrzehnten nach dem Kriege kei¬ 
nen fruchtbaren Nährboden. Die schär¬ 
feren Töne aber, die bereits hier und da 
in der politischen Publizistik angeschla¬ 
gen werden, halten sich noch im Hinter¬ 
gründe. Ein weiter ausgreifendes impe¬ 
rialistisches Eroberungsideal wird erst 
hier und da deutlicher. Noch auf Jahr¬ 
zehnte hinaus bleibt es mehr unpolitisch 
als politisch. Je mehr die Republik nach 
links rückt, was deutlicher seit 1879 der 


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Justus Hashagen, Romanischer Imperialismus 


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Fall ist, um so ungünstiger anscheinend 
für den Imperialismus. Wenigstens als 
politische Macht führt der französische 
Imperialismus in den ersten Jahrzehn¬ 
ten nach dem Kriege ein ziemlich be¬ 
scheidenes Dasein. 

Es fehlt aber auch noch eine andere 
politische Geistesrichtung, die in Ru߬ 
land dem Imperialismus so mächtigen 
Vorschub leistet, eine Bewegung ähn¬ 
lich der des Panslawismus oder gar des 
Panrussismus. Sie hat bei romanischen 
Mächten wie Frankreich und Italien kaum 
Aussicht auf einen politischen Erfolg. 
Zwar hat schon der alte Giuseppe Gari¬ 
baldi von einer alllateinischen Födera¬ 
tivrepublik geträumt. Auch die beiden 
Napoleon haben, indem sie von Frank¬ 
reich aus sowohl Italien wie Spanien zu 
beherrschen versuchen, eine Art von all¬ 
lateinischem Reich erstrebt, gewisser¬ 
maßen dem politischen Panlatinismus 
gehuldigt. Allein schon die Geographie 
macht ihn unmöglich: an Pyrenäen und 
Alpen ist bisher jede alllateinische Bewe¬ 
gung gescheitert; auch die klimatisch¬ 
wirtschaftlichen Gegensätze schon zwi¬ 
schen Frankreich und Italien sind ganz 
außerordentlich. Das alles wird von 
Deckert mit Recht scharf hervorgehoben. 
Die Fratellanza Latina ist praktisch-po¬ 
litisch anscheinend auf die Lateinische 
Münzkonvention, der sich aber auch 
nichtlateinische Staaten angeschlossen 
haben, zusammengeschrumpft, und auch 
die Begründung eines Zollvereins hat 
sie niemals bewirken können. 

Aber man hat nun hier doch auch eine 
wesentliche Einschränkung zu machen, 
und das führt von den Hemmnissen zu 
den Triebkräften eines romanischen Im- 
peralismus. Mag der alllateinische Ge¬ 
danke politisch und handelspolitisch 
noch so unmöglich sein: bei näherem Zu¬ 
sehen wird er ganz gewiß nicht nur in 
der Lateinischen Münzkonvention sicht¬ 


bar, sondern er ist vor allem eine Kultur¬ 
macht. Mit einer rein politischen Beur¬ 
teilung würde man auch hier nicht aus- 
kommen. Und eben als Kulturmacht hat 
er sich zwischen Frankreich und Italien 
als höchst kräftiges und geradezu unver¬ 
wüstliches Bindemittel erwiesen, wenn 
auch das französische Geld öfters hat 
nachhelfen müssen, um die Kulturbe¬ 
ziehungen enger zu gestalten und vor 
allem: um diese zunächst unpolitischen 
Beziehungen bald politisch auszumün¬ 
zen. 

So angesehen, erscheint der alllateiRt- 
sche Gedanke, der ja auch an Italiens 
Eintritt in den Krieg mit an erster Stelle 
beteiligt ist, als eine gewiß nicht immer 
deutlich faßbare, aber eben deshalb nur 
um so wirksamere Triebkraft auch der 
politischen und wirtschaftspolitischen 
Ausdehnungsbestrebungen. Auch und 
gerade als Kulturmacht steht er in enger 
Beziehung zum Weltmachtstreben in 
Frankreich und Italien. 

In beiden Ländern üben ferner in der¬ 
selben Richtung gewisse geschichtliche 
Erinnerungen eine große Anziehungs¬ 
kraft aus, Erinnerungen an frühere glän¬ 
zendere Zeiten, in denen eine Welt¬ 
machtstellung der Romanen nicht Traum 
war, sondern Wirklichkeit Man sonnt 
sich in einer großartigen imperialisti¬ 
schen Vergangenheit und schöpft aus ihr 
Mut zur Ausdehnung in der Gegenwart 
Trotz der früheren Macht von Demokra¬ 
tie und Pazifizismus, trotz politischer 
Ohnmacht des Panlatinismus gibt es in 
Frankreich und Italien eine Fülle liebe¬ 
voll gepflegter Weltmachtserinnerungeiu 
Auch hier dient wie in Rußland die 
Geschichte der Agitation für mo¬ 
derne Ausdehnung. Diese historischen 
Weltmachtserinnerungen werden nun 
aber wenigstens in dem Frankreich der 
Dritten Republik durch eine glänzendere 
Gegenwart teilweise sogar noch in den 


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Justus Hashagen, Romanischer Imperialismus 


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Schatten gestellt. Man muß einiges von 
der riesenhaften französischen Gegen- 
warts- und Wirklichkeitsgröße, wie sie 
sich besonders im französischen Kolo¬ 
nialreiche mit all seinen Anhängseln ver¬ 
körpert, kennen, wenn man verstehen 
will, wie der imperialistische Gedanke 
trotz aller feindlichen Strömungen etwa 
seit deri*neunziger Jahren des vergange¬ 
nen Jahrhunderts so mächtig anwächst 
und mit.seinen Schössen und Trieben 
edles andere überschattet, nicht zuletzt 
die politische Vernunft. Es ist der Drit¬ 
ten Republik gelungen, ein gewaltiges 
Kolonialreich zu schaffen, in raschem 
Siegesläufe, trotz der hinschwindenden 
Zahl ihrer Bevölkening und trotz aller 
grundsätzlichen Kolonialfeindschaft Die 
praktischen Leistungen dieser neuen 
französischen Kolonial- und Weltpolitik 
begründen den festesten Hort für mo¬ 
derne Weltmachtsgedanken im repu¬ 
blikanischen Frankreich. Gewiß hat 
auch die Kolonialpolitik der Dritten Re¬ 
publik manche bittre Enttäuschung zu 
verzeichnen. Es gab z. B. eine Zeit in 
der die beiden Weltkanäle, der Suez- 
und der Panamakanal, Werkzeuge fran¬ 
zösischer Weltpolitik zu werden schie¬ 
nen. Im allgemeinen gibt es aber 
äußerlich angesehen doch nichts Er¬ 
folgreicheres als die Koloniafpolä- 
tik der neuen Republik. Der franzö¬ 
sische Besitzstand von 1871 verschwin¬ 
det förmlich in der Masse des Besitz¬ 
standes von 1914. Das Ergebnis ist weit 
über 10 Millionen qkm für den Flä¬ 
cheninhalt des französischen Kolonial¬ 
reichs, mit nahezu 50 Millionen Einwoh¬ 
nern. Es ist bemerkenswert, daß Frank¬ 
reich mit seinen Kolonien mindestens 
noch etwa 10 Millionen Einwohner mehr 
hat als das Deutsche Reich mit seinen 
ehemaligen Kolonien, trotz der bekann¬ 
ten Entvölkerung des europäischen 
Frankreich. In seinem Kolonialreiche 


sieht der Franzose seinen beträchtlichen 
Anteil an der Weltherrschaft praktisch 
vor seinen Augen. Und auch militärisch 
ist es sein Trost und seine Zuflucht. Ihm 
entnimmt er seine farbigen Armeen. 
Die Kolonialkriege sind zugleich die 
hohe Schule für die französischen Heer¬ 
führer. 

Neben der praktischen französischen 
Kolonialpolitik ist die praktische fran¬ 
zösische Bündnispolitik einer der stärk¬ 
sten Antriebe des französischen Imperia¬ 
lismus. Sie hat nicht nur praktisch 
der französischen Kolonialpolitik Vor¬ 
schub geleistet, sondern auch theoretisch 
die Begeisterung für Frankreichs Auf¬ 
stieg oder vielmehr Wiederaufstieg zur 
Weltmacht entflammt. Seit 1891 im 
Bunde, mit Rußland und seit 1904 im 
Bunde mit England, also mit Weltmäch¬ 
ten, fängt Frankreich an, sich selbst wie¬ 
der als Weltmacht zu fühlen. Der Fran¬ 
zose ist stolz auf diesen weihnacht¬ 
lichen Bund mit den beiden Riesenrei¬ 
chen. Auch daraus erklärt sich das be¬ 
drohliche Anwachsen der imperialisti¬ 
schen Agitation in Presse und Publizi¬ 
stik. Nicht zuletzt wird in dieser Lite¬ 
ratur die kolonial- und weltpolitische 
Todfeindschaft gegen Deutschland ge¬ 
predigt. Wir wissen heute, daß der 
Lügenfeldzug gegen Deutschland nicht 
nur von England, sondern auch von 
Frankreich ausgegangen ist, und zwar 
teilweise in weltpolitischem Rahmen und 
mit imperialistischen Absichten. 

Nicht nur der allgemeine Deutschen¬ 
haß, sondern auch der französische Im¬ 
perialismus, Frankreichs Wille zur Welt¬ 
macht schafft den neuen unerschöpf¬ 
lichen Nährboden für die Revanche. 
Ohne die französische Bündnispolitik 
und ohne Marokko wäre auch der Re¬ 
vanchegedanke in Frankreich nicht wie¬ 
der so heillos im Kurse gestiegen. Das 
neueste unaufhaltsame Wachstum des 


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Justus Hashagen, Romanischer Imperialismus 


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französischen Revanchebedürfnisses ist 
auch imperialistisch genährt worden. 
Revanche bedeutet nicht nur Rache, cL h. 
Bestrafung des „Räubers“, sondern vor 
allem Wiedereinbringung des Verlore¬ 
nen, Rekuperation, und darüber hinaus 
Schadenersatz, das Verlangen nach 
neuen Siegen, nach Ausdehnung und Er¬ 
oberung. 

Erst von hier aus fällt das rechte Licht 
auf den weltpolitischen und damit den 
weltgeschichtlichen Sinn des gegenwär¬ 
tigen deutsch-französischen Krieges. Die 
Gegenstände sind nicht nur Elsaß und 
Lothringen, sondern Frankreichs wirk¬ 
liche Weltmachtstellung, zusammen mit 
seinen glühend ausgemalten imperiali¬ 
stischen Träumen. 

In abgeschwächtem Maße gilt ähn¬ 
liches auch von Italien. Auch hier wir¬ 
ken geschichtliche Weltmachtserinne¬ 
rungen an die alte römische Weltherr¬ 
schaft und an die mittelalterliche vene¬ 
zianische Weltmacht. Auch Italien hat, 
im Gegensatz zu Frankreich auf einer 
gesunden Volksvermehrung fußend, un¬ 
geachtet aller Mißerfolge eine beträcht¬ 
liche kolonialpolitische Energie entfal¬ 
tet, die noch viel mehr erreicht hätte, 
wenn England und Frankreich nicht ge¬ 
wesen wären. 

Wie es sich im gegenwärtigen deutsch- 
französischen Kriege nicht nur um El¬ 
saß-Lothringen handelt, so handelt es 
sich in dem Kriege zwischen Österreich- 
Ungarn und Italien nicht nur um die von 
der irredentistischen Agitation in An¬ 
spruch genommenen Gebiete der Dop¬ 
pelmonarchie. Das italienische Problem 
des gegenwärtigen Krieges ist auch des¬ 
halb so verwickelt, weil es imperiali¬ 
stische Ziele berührt. In der gegen Öster¬ 
reich-Ungarn schon seit zwanzig Jah¬ 
ren eingestellten Balkan- und Orientpo¬ 
litik Italiens tritt dieser imperialistische 
Grundzug klar zutage. Es ist kein Zu¬ 


fall, daß zwischen Italien und Öster¬ 
reich-Ungarn auch bei Valona und Sa¬ 
loniki gekämpft wird. Nicht nur die paar 
Pinien in Südtirol, wie verständnislose 
Deutsche fabelten, stehen zwischen Ita¬ 
lien und Österreich-Ungarn, sondern Ita¬ 
liens unersättlicher, maßloser Drang 
nach dem Osten, nach Albanien, zu den 
südslawischen Ländern, nach Saloniki, 
nach der Dodekanes, nach Kleinasien 
und Syrien, wo italienische Auswande¬ 
rung und italienisches Kapital seit Jahr¬ 
zehnten fieberhaft und mit steigen¬ 
dem Erfolge gegen die schwerfälligere 
Donaumonarchie gearbeitet haben. 

Man kann das Größenwahn nennen. 
Aber man wird dadurch den italieni¬ 
schen Imperialismus als eine geistige 
Macht nicht aus der Welt schaffen. Die 
Italiener wollen ihre imperialistischen 
Karten noch nicht preisgeben. Diese Kar¬ 
ten sind zwar bereits zerknittert und 
schmutzig geworden. Aber sie werden 
sie nicht eher fortlegen, als bis man sie 
ihnen aus der Hand schlägt. Der Deutsche 
gibt sich auch in bezug auf Italien gerne 
der Illusion eines nahen italienischen 
Zusammenbruchs hin. In der Vogel- 
Straußpolitik hat es der Deutsche vor 
dem Kriege und während des Krieges zu 
einer selbstmörderischen Meisterschaft 
gebracht. Es ist Zfeit, daß er aus seinen 
optimistischen Träumen endlich er¬ 
wache. Wäre der Imperialismus nicht 
auch bei den Italienern eine Macht, so 
hätten sie nicht auch dem Deutschen 
Reiche schließlich kühnlich den Krieg 
erklärt. Diese Kriegserklärung hätte in 
Deutschland nicht nur einem überlege¬ 
nen und spöttischen Lächeln begegnen 
sollen, sondern sie sollte auch als das 
gewürdigt werden, was sie ist, als eine 
neue und verhängnisvolle Etappe in der 
Geschichte des italienischen und damit 
auch des romanischen Imperialismus. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


886 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Rohstoffkunde und Auslandsstudien. 

Die Denkschrift über Auslandsstu¬ 
dien ist ein Zeichen des Friedens, den wir 
erhoffen, d. h. eines solchen, der unsere 
Stellung in der Welt festigt, aber auch ein 
Kind des Krieges insofern, als erst durch 
ihn LOcken, die nun gefüllt werden sollen, 
merkbar wurden. 

Geläutert durch den Krieg greift die Wis¬ 
senschaft in das Räderwerk des Lebens ein. 
Das Leben packt sie an und trägt sie hin¬ 
aus in die weite Welt, die Tochter der Ge- 
ichrtenstube. Mancherlei Hände werden sich 
aus wissenschaftlichem Kreis recken nach 
den lockenden Auslandsstudien (und der 
Verkündung ihrer Forderung) und werden 
neue Fäden spannen zu ihnen und unter¬ 
einander. 

Von einem solchen Netz will ich hier 
reden, das zwischen Heimat und Ausland 
schwebt: Rohstoff lehre, Warenkunde, 
oder wie sonst man es beiden mag, von 
ihr als Forschung, als Lehre, als Bildungs¬ 
element. 

Der Krieg zeigte, was wir besitzen, was 
uns fehlt. Fragen wurden in ihm und durch 
|hn laut: Woher kommt dies oder jenes Er¬ 
zeugnis, warum tritt in dem oder jenem 
Knappheit ein, wie kann es beschafft, er¬ 
gänzt, ersetzt werden? Mochten es Teile 
aus der Munitionsindustrie oder aus anderm 
Bedarf in Heer und Marine sein, mochten 
es Stoffe, Lebensmittel, Chemikalien sein, 
war es Mineral, Tier oder Pflanze — es war 
alter Sache geworden, die an seiner Be¬ 
schaffung hing, aller Interesse galt dem Ge¬ 
genstand, dessen Natur und Entstehung die 
Mehrheit vorher kaum kannte. 

Erst heute wurde Rohstoff- und Waren¬ 
kunde Allgemeingut. Woher stammte die 
Belehrung? Aus Zeitungen, Zeitschriften 
aller Höhen und Tiefen, sie ging von Mund 
zu Mund, entsprang aus Vorträgen und Aus¬ 
stellungen, aus Versuch und Gebrauch. 

Nun mit der vorgeschlagenen großzügi¬ 
gen Hebung der Auslandsstudien fällt uns 
Versäumtes wieder schwer aufs Gewissen. 
Wohl hatten wir Anfänge. Es gab eine For¬ 
schung auf dem bezeichncten Gebiete. An- 
knüpfend an die Zweige der Naturwissen¬ 
schaft, je nach Natur des Gegenstandes 


wurde Herkunft, Art und Weise des Vor¬ 
kommens aller Rohstoffe und ihre Verar¬ 
beitung verfolgt, in prüfenden, beobachten¬ 
den, vergleichenden, analysierenden und 
statistischen Methoden. Wirtschaftskunde und 
Geographie liehen die Hand zur Stütze und 
empfingen selbst, erzeugten vermittelnde 
Gebiete wie Handelsgeographie und Han¬ 
delspolitik, stets im engen Anschluß an Na¬ 
turwissenschaften und Technik. — Sollten 
wir diese praktische oder angewandte Wis¬ 
senschaft von der reinen etwa trennen? 
Nichts wäre gefährlicher als das! Erhält sie 
doch ihre eigentliche Forderung von der 
reinen Disziplin her, aus den Laboratorien 
gehen die Fäden zum Kontor des Kauf¬ 
manns, von der exakt wissenschaftlichen Be¬ 
schreibung und Diagnostik schlägt sich so 
die Brücke zur Farm über See, vom Mu- 
seumsschrank zum Rohstoffspeicher. Durch 
diese lebendig zu erhaltende Verbindung 
erst bekommt der Handel die feinen Or¬ 
gane zu seiner Ausbreitung, die Festigung 
gegen fremde Nebenbuhlerschaft. Die For¬ 
schung mit allen Grundlagen und dem Rüst¬ 
zeug der reinen Wissenschaft soll der Praxis 
dienen können, zugleich aber sidi und ihrer 
Frucht die Wege ins Weite öffnen, daheim 
ans Ausland denken. Und hier freuen wir 
uns buchen zu können, daß z. B. die wis¬ 
senschaftliche Organisation unserer kolonial- 
wirtschaftlichen Naturforschung in Europa 
und draußen eine von manchem unsrer 
Feinde beneidete Höhe längst besaß. 

Der Forschung folgte die Lehre. An¬ 
schließend an diu wissenschaftliche Beleh¬ 
rung in Hochschule, Schule, populärem Vor¬ 
trag, in Lehr- und Lernbuch, Lesebuch und 
Vorschriften, Zeitschriften und Presse ist 
Boden genug für die Verbreitung der Roh¬ 
stoffkenntnisse. Um den Boden zu finden, 
hat auch die Darstellung sidi oft genug an 
die des reinen Stoffes aus gleichem Gebiet, 
also Technologie an Chemie, pflanzliche 
Warenkunde an allgemeine Botanik anzu¬ 
fügen. So wird sie am ehesten verständ¬ 
lich, am sichersten begründet und am reiz¬ 
vollsten vorgebracht. Ist sie dieser Art in 
den Grundzügen an den einzelnen Gegen¬ 
ständen vorbereitet, so wird sich von selbst 
die Möglichkeit neuer Zusammenfassung, 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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Anordnung nach praktischen Gesichtspunk¬ 
ten (vorher vielleicht nach Herkommen, jetzt 
nach Verwendung) ergeben, diese wird dann 
die endgültige und sich einprägende sein. 
Und soll das Bild der einzelnen Stoffe sich 
noch erst lebhaft färben, so darf die Ein¬ 
reihung in die lebendige Lehre von Handel 
und Wandel, in die Betrachtung des eignen 
und fremden Landes nebeneinander nicht 
fehlen. Von draußen lernen wir dabei für 
drinnen, durch Vergleich erfahren wir die 
eignen Werte. Der Kreis der eignen Hei¬ 
mat allein schlösse ohne die Auslandsstu¬ 
dien auch hier die Fruchtbarkeit der Be¬ 
trachtungen aus. . 

Für wen nun letzten Endes das alles? 
Für Forscher und Fachleute? Nein. Für je¬ 
den, der teilnimmt an unsrer Politik, am 
Leben des Volksganzen, der den Krieg als 
Teil dessen miterlebt hat. Kein von der 
Sorge der Kriegszeit allein gehätscheltes 
Kind des Egoismus soll die Rohstoffkunde 
sein, sondern die Frucht patriotischer Ein¬ 
sicht. Allgemeingut sei sie, Bildungs- 
element. Sie werde so selbstverständlich 
wie historisch-literarische Bildung oder wie 
die etwas älteren Naturwissenschaften und 
Technik es in Teilen seit Jahrzehnten zu 
werden begannen. Die angewandten Natur¬ 
wissenschaften sind das jüngste Glied dieser 
Bildungsbestände. Aber 1914—1917 haben 
auch sie ihre Feuertaufe erhalten und wach¬ 
sen nun heran auch als Teil der Volksbil¬ 
dung. Ober den Wall der Feinde hinweg 
richtet sich der Blick, nidit sehnsüchtig, aber 
voll überzeugter Erkenntnis, überlegend, 
bereuend und vorausschauend auch ins ferne 
Ausland, mit dem Vorsatz, audi fernste 
Winkel später zu durchmustern und nutzbar 
zu machen für die Heimat, wo diese Be¬ 
darf hat. In manches trotz erfolgreicher 
Binnenwirtsdiaft uns wertvoll gebliebene 
Rohstoffquartier des Auslands sehen wir um 
so klarer hinaus, je fester unsre Kriegsziele 
werden, getragen wohl auch vom Stolz des 
Wiedergebenden und unentbehrlich Geblie¬ 
benen. Hierfür müssen unsre Kinder bessere 
Bildungsgrundlagen mitbringen, als sie unsre 
Allgemeinheit jetzt besaß, bedürfen sie auch 
der Waren- und Rohstoffkenntnis zu poli¬ 
tischem Verständnis. Wer wollte ohne sie 
an koloniale Fragen rühren? 

Und nun konkreter gesprochen: Rohstoff¬ 
oder Warenkunde, angewandte Naturwissen¬ 
schaft und ihre Verknüpfung mit der Technik, 
wirtschaftliche Geographie brauchen wir in 


Forschung und Unterricht.') Nicht aber 
Neues dafür an Einrichtungen. Grade im 
Verknüpfen mit der reinen Wissenschaft er¬ 
kennt man heute den gebotenen Weg. Und 
groß und wahrhaft gangbar wird er erst 
durch die Erweiterung der Betrachtung auf 
das Ausland. 

Ich denke etwa, um eine Einzelheit hier 
nur anzudeuten, an Ausbau der beschrei¬ 
bend naturwissenschaftlichen (allgemeiner 
als bisher gehaltenen) Vorlesungen bis zu 
Handelspolitik. Der Lehrer der Rohstoff¬ 
kunde, der zu dieser von der reinen Wis¬ 
senschaft (nicht etwa nur von der Unter¬ 
suchungspraxis her) kommt, an sich also 
schon die Einführung seines Gegenstandes 
in den Rahmen des Weltlebens vollzieht, 
gelangt durch eigne Auslandsstudien, Rei¬ 
sen und Politik im Unterricht zur handelst 
politischen Betätigung, für die er — wie 
manche Erfahrung zeigt — ein großes 
Publikum auch von Angehörigen andrer 
Fakultäten zu finden vermag. 

Hier treten die Forderungen der Denk¬ 
schrift, unter deren Eindruck wir zur Zeit 
stehen, auf das erfreulichste in unsem Ge¬ 
dankenkreis ein. Die Auslandsstudien len¬ 
ken, anknüpfend an Ansätze aller Art, die 
schon vorhanden, doch zum erstenmal das 
Interesse weiterer Kreise auf eine Gedan¬ 
kenentwicklung, die durch den Krieg mäch¬ 
tig gefördert ist. Scheinbar ein spezieller 
Gegenstand preußischen Unterrichtswesens, 
bedeuten die Gesichtspunkte der Denkschrift 
doch zugleich eine politische und nationale 
Äußerung. Sie wollen ihren Ausdruck fin¬ 
den nicht eigentlich in neuen Forschungs¬ 
und Unterrichtsstellen und Gebieten, son¬ 
dern — und hier liegt der Kem — in der 
Durchdringung des Vorhandenen, in den 
Gesichtskreis der Auslandsstudien Hereln- 


1) Es interessiert vielleicht, daß von sei¬ 
ten der Vertreter der angewandten Chemie 
Warenkunde als Unterrichtsgegenstand an 
Hoch- und Mittelschulen verlangt wird (vgl. 
die Vorschläge von Krais in .Zeitschrift f. 
angew. Chemie* 10. Okt. 1916. Einzelheit«! 
für den pflanzlichen Rohstoff aus Heimat 
und grade auch Ausland habe ich zusam¬ 
mengestellt und mit dem Bisherigen ver¬ 
knüpft in einem Aufsatz, der im Märzheft 
d. J. in der Zeitschrift .Aus der Natur" er¬ 
schienen ist. Ober die Bedeutungfür Kolonial¬ 
politik vgl. meine Bemerkungen in.Deutsche 
Kolonialzeitung" 20. Nov. 1916. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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ragenden mit den Ideen unserer erstarkten 
Weltpolitik. Sie ist es, die an dem Ereignis 
weite Kreise teilnehmen läßt. Das ist grade 
was wir für unser Sondergebiet erwarten; 
nicht bei Forschungsförderung bleiben die 
»Auslandsstudien“ stehen, Ober den Unter¬ 
richt an der akademischen Jugend als den 
Nächstbeteiligten hinaus deuten sie ihre 
neuen Stoffe als künftiges Bildungsziel aller 
an. Friedr. Tobler. 

Die Volkshochschulen in Schweden. 

Männer wie Justus Möser und Fichte, 
Bluntschli und Holtzendorff sind bereits 
vor langer Zeit in Deutschland mit großer 
Energie für den Gedanken der politischen 
Volksaufklärung eingetreten. Aber erst in 
jüngster Zeit hat sich hier das öffent¬ 
liche Interesse ernstlich den Fragen der 
staatsbürgerlichen Erziehung und 'Bil¬ 
dung zugewendet. Es war, abgesehen 
von Einzelschriften, ein verdienstvolles 
Unternehmen der „Gesellschaft für staats¬ 
bürgerliche Erziehung“ und des Verlages 
Teubner, die in anderen Ländern bereits 
vorliegenden praktischen Erfahrungen in 
einer systematischen Sammlung niederzu¬ 
legen. ln diesen Schriften der Gesellschaft 
haben P. Rühlmann über die staatsbürger¬ 
liche Erziehung in der Schweiz und in 
Frankreich, P. Oßwald über Holland, Chr. 
Gröndahl über Dänemark berichtet. Eine 
wertvolle Ergänzung erfahren diese Schrif¬ 
ten durch das neuerdings von der Zentral¬ 
stelle für Volkswohlfahrt herausgegebene 
Buch Else Hildebrandts: »Die schwedische 
Volkshochschule. Ihre politischen und so¬ 
zialen Grundlagen“ (Berlin 1916, C. Hey- 
mann). Was die Verfasserin zu dieser Un¬ 
tersuchung angeregt hat, war die eigen¬ 
artige Erscheinung, daß die Initiative zur 
Gründung von Volkshochschulen in Schwe¬ 
den von den Bauern ausgegangen ist. 
Diese Erscheinung erklärt sich aus der 
wirtschaftlichen und politischen Entwicke¬ 
lung des schwedischen Bauernstandes. Dem 
Wachstum der Anbaufläche entsprach die 
Vermehrung der landwirtschaftlichen Be¬ 
völkerung nicht in gleichem Grade; daraus 
ergab sich ein immer steigender Wohlstand 
der selbständigen Bauern; gleichzeitig ver¬ 
minderte sich die unselbständige Landbe¬ 
völkerung durch Abwanderung in die 
Städte und Auswanderung nach Amerika. 
Die politfsche Freiheit des schwedischen 
Bauernstandes aber ist noch viel älteren 


j Datums. Die Gemeindefreiheit ist altger- 
I manischen Ursprungs. Schon Ende des 
] 16. Jahrhunderts hatten die Bauern im 
Reichstag ihre Standesvertreter. Zwischen 
1 1789 und 1809 fallen die letzten Adelspri¬ 
vilegien, und mit der neuen Reiclistagsord- 
nung bildet sich 1867 eine eigene Landt- 
mannparti, deren Mitgliederzahl 78 be¬ 
trägt: heute sitzen in der zweiten schwedi¬ 
schen Kammer 96 bäuerliche Vertreter. 
Bereits 1868 fassen unabhängig voneinan¬ 
der zwei Hofbesitzer, Andersson und Nils- 
son, den Plan zu einer Volkshochschule für 
die Landbevölkerung. Unterstützend wirkt 
hierbei das Beispiel der dänischen Volks¬ 
hochschule, die unter der mächtigen An¬ 
regung Grundtvigs sich nach den Nieder¬ 
lagen von 1808 und 1864 zur Trägerin na- 
! tionalen und religiösen Aufschwungs ent¬ 
wickelt. 1 ) 1868 wird die erste schwedische 
Volkshochschule gegründet. Man kann sie 
nach dem Vorangehenden als eine moderne 
Frucht altgermanischer Freiheit bezeichnen. 
Seither und bis 1913 erreichten hier die 
Volkshochschulen die Zahl von 45. Die 
Zahl ihrer Schüler beträgt im gleichen Zeit¬ 
raum 89190. Bezeichnend ist anfangs das 
eifrige Streben, jede, auch nur finanzielle, 
Einmischung des Staates fernzuhalten: die 
Volkshochschule soll mit allen ihren Wur¬ 
zeln im Bauernstand stecken und damit 
ihre organische Daseinsberechtigung er¬ 
weisen. Nach und nach indessen werden 
die Unterstützungen des Staates, der die 
Schulfreiheit wirklich unangetastet läßt, 
angenommen. Sie betragen z. B. 1913 
rund 500000 Kronen. Die Schüler wer¬ 
den durchschnittlich im Alter von 20 Jah¬ 
ren, Frauen von 18 Jahren angenom¬ 
men. »Erst soll die Jugend in praktischer 
Arbeit, die der Beruf bringt, selbst Er¬ 
fahrungen draußen im Leben sammeln, 
die dann in der Volkshochschule innerlich 
verarbeitet werden sollen.“ Das Ziel war 
schon von den ersten Gründern und stets 
in der Folge bestimmt als Erziehung nicht 
nur zur beruflichen Tüchtigkeit, sondern 
zugleich zur tätigen und verständnisvollen 
Teilnahme an kommunalen Angelegenhei¬ 
ten und schließlich an der Volksvertretung 
selbst. Der Aufenthalt in der Schule 
schwankt zwischen 3 und 8 Monaten und 
dementsprechend das Schulgeld zwischen 


1) Zu vgl. A. H. Hollmann, Die dänische 
Volkshochschule, Berlin 1909. 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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20 und 80 Kronen. Aber die selbstlose Hin- 
gäbe des Direktors und seiner Frau sowie 
das enge Gemeinschaftsleben der Schüler 
.ermöglicht es, daß diese kurze Zeit für 
die Schüler soviel bedeutet, wie sonst wohl 
nur mehrere Jahre in dem Lebensgange 
dieser jungen Menschen“. Die Schülerzahl 
schwankt in den einzelnen Schulen zwi¬ 
schen 10 und 60. Der Unterricht umfaßt 
humanistische, naturwissenschaftliche und 
praktische Facher. Zu den ersteren zählen 
insbesondere: Muttersprache, Literaturge¬ 
schichte, Geschichte, Geographie, Bürger¬ 
kunde, Nationalökonomie. In manchen 
Schulen kommt noch die deutsche Sprache 
hinzu. Der Unterricht weckt den histori¬ 
schen Sinn, die Heimatliebe der Schüler. Die 
Bürgerkunde soll einem der Hauptzwecke 
der Volkshochschulen, der staatsbürger¬ 
lichen Aufklärung dienen. Zu diesem Zweck 
sind auch Diskussionsabende eingerichtet, 
in denen sachlicher Meinungsaustausch und 
Meinungskampf und Duldsamkeit gegen 
abweichende Ansicht gepflegt wird. Oft 
wird, zur Vorbereitung für spätere kommu¬ 
nale Tätigkeit, ein dem wirklichen nach- 
geahmter „Gemeinderat“ abgehalten. Durch 
Wanderungen, durch die Pflege der volks¬ 
tümlichen Gewerbekunst wird die Anhäng¬ 
lichkeit an die Heimat gestärkt. — Die 
Wirkungen der schwedischen Volkshoch¬ 
schulen beurteilt unsere Verfasserin in durch¬ 
aus günstigerWeise. Durch die Volkshoch¬ 
schulen wird eine (indirekte, Vorbereitung 
auf die spätere berufliche Tätigkeit gegeben, 
der soziale Geist wirkt unter den früheren 
Schülern über die Schule hinaus und regt 
auch zur gegenseitigen praktischen Selbst¬ 
hilfe an. ln engem Zusammenhänge mit 
der Wirksamkeit früherer Volkshochschüler 
sind z. B. zahlreiche Krankenkassen sowie 
die Genossenschaftsbewegung entstanden. 
Im Norden verwirklicht die Volkshoch¬ 
schule außerdem ein nationales Ziel, indem 
sie unter die dort ansässigen Finnen und 
Lappen das Gefühl der Zugehörigkeit zum 
schwedischen Volksganzen trägt. Die Ent¬ 
wicklung der historisch - volkstümlichen 
Hausgewerbekunst in ganz Schweden ist 
gleichfalls nicht zuletzt durch den Einfluß der 
Volkshochschule gefördert worden. Die alten 
Schüler vereinigen sich von Zeit zu Zeit 
in regelmäßigen Zusammenkünften. Den 
Geist dieser Gemeinschaften können die 
folgenden Sätze aus einer bei dieser Ge¬ 
legenheit im Jahre 1908 gehaltenen Fest¬ 


redecharakterisieren: .Jeder Mensch, Mann 
oder Frau, kann nach Vermögen sich selbst 
als Mensch ausbilden in den körperlichen 
und geistigen Kräften, die ihm verliehen 
wurden. Beide haben die Pflidit und das 
Recht, so viel wie nur irgend möglich aus 
sich selbst im Leben zu machen. ... Es 
ist aber nicht so leicht, das eigene Interesse 
abzuwägen gegen das, was andere för 
Recht halten: viel Gewissenhaftigkeit ge¬ 
hört zur richtigen Abschätzung. Tiefe Le¬ 
benskunst, reife Lebensweisheit verlangt 
dies Tun. Nur langsam, nach und naai 
läßt sich diese staatsbürgerliche Lebens¬ 
weisheit erkämpfen. Eine Jugendschule 
für staatsbürgerliche Bildung muß als 
ihr vornehmstes Ziel ansehen, der rich¬ 
tige Führer für die Jugend in dieser 
Hinsicht zu sein.“ Die jährlichen Versamm¬ 
lungen werden häufig von mehreren hun¬ 
dert Personen besucht. Die früheren Schü¬ 
ler — sagt die Verfasserin — reisen zur 
Volkshochschule wie zu einer alten Freun¬ 
din, zu der man nie vergebens kommt, 
wenn man sich in irgendeiner Sache Rat 
holen will, und die Lehrer betrachten diese 
Tage als ein Fest in ihrer anstrengenden 
Tätigkeit. 

Besonders anziehend ist die Darstellung 
der Volkshochschule für Industriearbeiter 
in Schweden. Sie wurde 1906 von dem 
Sozialdemokraten und Dichter Forsslund in 
Brunnsvik gegründet. Aber trotz dieses par¬ 
teipolitischen Ursprungs ist die Brunnsviker 
Schule 1911 vom Staate anerkannt worden 
und erfreut sich auch seiner materiellen 
Unterstützung. Dies hat in einem doppel¬ 
ten Umstand seinen Grund: zunächst in 
der allgemeinen größeren Parteiduldsam- 
keit in Schweden, sodann aber darin, daß 
die Erziehung und Bildung in der Brunns¬ 
viker Schule durchaus keinen parteipoliti¬ 
schen Charakter trägt. Und hier liegt m. 
E. etwas sehr Bezeichnendes. Der Partei¬ 
zugehörigkeit ihres Gründers und ihrer 
ersten Lehrer, sowie der ausgesprochenen 
Absicht der neu eintretenden Schüler zu¬ 
folge wäre die Schule in einem anderen 
Lande zu einem neuen parteipolitischen 
Kampfmittel der Sozialdemokratie wie prä¬ 
destiniert, tatsächlich aber hat es die Lei¬ 
tung verstanden, ihr lediglich einen wah¬ 
ren, d. h. politisch neutralen, Bildungscha- 
rakter zu bewahren. Ihre Lehrer gehören 
verschiedenen Parteien an. Und für ihr« 
Wirkung sind die eigenen Bekenntnisse 


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Nachrichten und Mitteilungen 


der Schüler bezeichnend: .Nach Absolvie¬ 
rung der Volkshochschule wagt man nicht 
mehr an der absoluten Richtigkeit seiner 
Anschauungen festzuhalten, sondern ver¬ 
sucht, die Ansichten anderer zu verstehen.“ 
.Zum politischen Kampfe in dieser Weise 
(d.h. in der Weise des radikalen sozial¬ 
demokratischen Jungverbandes) fühlt man 
sich nicht mehr fähig und zur Erkämpfung 
eines politischen Zieles überhaupt noch 
nicht reif genug.“ 

In dieser parteipolitischen Neutralität 
Hegt der besondere Wert der Volkshoch¬ 
schulen. Wir haben oben gesehen, daß, 
wenn auch der Staat den schwedischen 
Volkshochschulen Beihilfe gewährt, er doch 
nirgends seinen Einfluß auf die innere 
Organisation der Anstalten geltend macht; 
er steht, wie die Verfasserin sagt, in dieser 
Beziehung in Wahrheit über den Parteien. 
Und das Beispiel der Brunnsviker Schule hat 
uns gezeigt, wie, bei wirklich neutraler päda¬ 
gogischer Gesinnung der Lehrer, selbst aus 
einer der Parteierziehung leicht zugänglichen 
Organisation die Stätte wirklicher Volkser¬ 
ziehung geworden ist. Daß diese Erziehung 
den nationalen Sinn nicht beeinträchtigt, zeigt 
hier z. B. (gleicherweise wie in der Schweiz) 
die erfolgreiche Entwicklung der schwedi¬ 
schen Volkswehr (skarpskyttcrörelsen); und 
ein schwedischer Reichstagsabgeordneter 
nannte die Volkshochschulbildung eine 
„geistige Volksbewaffnung, mit deren Kräf¬ 
ten vor allem ein kleines Volk die unver¬ 
meidlichen Mängel der äußeren Verteidi¬ 
gung ausgleichen muß“. 

Der Gedanke der Volkshochschule hat 
einen kulturell-ästhetischen und kulturell¬ 
politischen Wert: er fördert die Entwicke¬ 
lung freier, durch keine Parteischablonen 
in ihrem geistigen Wachstum verkümmer¬ 
ter Menschen; und andererseits, je allge¬ 
meiner das politische Wahlrecht wird, 
desto dringender wird eine parteipolitisch- 
neutrale, lediglich aufklärende staatsbür¬ 
gerliche Volkserziehung, die das wirksam¬ 
ste Korrektiv der bekannten Mißstände des 
politischen Parteiwesens darstellt. Im gan¬ 
zen kann man die Volkshochschule als die 
Trägerin eines modernen Humanismus be¬ 
zeichnen. 

Schlicht, aber um so eindringlicher hat 
Else Hildebrandt die Richtigkeit dieser Ge¬ 
danken im schwedischen Volksleben dar¬ 
gelegt und mit anerkennenswerter Wärme 


804 


tritt sie') für ihre Verwirklichung auf deut¬ 
schem Boden ein, wo dazu auch, wie ein¬ 
gangs gezeigt wurde, die geistige Saat 
nicht fehlt. 

Dr. E. Hurwicz, Berlin. 

Unser täglich Brot. 

Den alten Kriegern der Spartaner stand 
je eine Portion Fleisch, ihrem Könige aber 
zwei zu. Eine solche kulturhistorisch merk¬ 
würdige Einzelheit der Überlieferung wird 
uns erst recht verständlich in Zeiten, in 
denen wir am eigenen Leibe die Knappheit 
von Fleisch und sonstigen Nahrungsmitteln 
erfahren. Das heutige Griechenland, dieses 
an sich so arme Land, wird mit dem Ver¬ 
stände und mit dem Gefühle die Bedeutung 
jenes alten Königsrechtes voll ermessen 
können. Aber die ganze Welt wird ja dafür 
empfänglich. 

Der Krieg öffnet uns über manches die 
Augen, was wir früher als gegeben, als 
selbstverständlich, als Erbstück undGewohn- 
heitsding hinnahmen, was wir ohne leben¬ 
diges Bewußtsein taten oder sagten. Wie 
viele Millionen haben nicht täglich ge¬ 
dankenlos die vierte Bitte des Vaterunsers 
ausgesprochen oder in Gedanken nachge- 
sprachen! Es ging uns zu gut, als daß 
wir über ihre Bedeutung nachdachten. Wir 
hatten ja alle ohne Ausnahme, was wir 
zum Leben brauchten, und viele mehr als 
das. Wozu darum noch Gott bitten? Eine 
heilige Scheu hielt uns wohl ab, dieser 
Frage näherzutreten oder auch nur an dem 
Wortlaute zu rütteln (er muß eigentlich 
sein: „unser künftiges Brot gib uns heute“), 
weil man das Altehrwürdige besser unan¬ 
getastet läßt; weil es ja doch keinen Zweck 
hatte, sich eine Situation auszumalen, in 
der die Bitte praktische Geltung bekäme; 
weil in ihr etwas Kindliches, dem wirklichen 
Leben mit seinen realen Forderungen durch¬ 
aus Abgewandtes zu liegen schien, das 
Rührung, aber keine Kritik hervorrief. Noch 
weit mehr aber wiederholten mit stumpfen 
Sinnen in brünstigem Glauben die Worte, 
bei denen sie sich wenig oder nichts dachten. 

Sogar Martin Luther ist dieser Bitte nicht 
recht geworden. Er suchte zu viel da¬ 
hinter: nicht nur alles, was zu des Leibes 


1) Am Schlüsse ihres Buches wie neuer¬ 
dings auch in einer Broschüre „Arbeiter¬ 
bildungsfragen im neuen Deutschland“ (Jena, 
Diederichs, 1916). 


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806 


395 Nachrichten und Mitteilungen 


Nahrung und Notdurft gehört, sondern 
schlechthin alles, was ein gesegnetes und 
reiches Leben auf Erden ausmacht, außer 
der Stellung des Menschen zu Gott und der 
Ewigkeit. Drei Bitten des Gebetes des 
Herrn beziehen sich auf Gott (seinen Namen, 
sein Reich, seinen Willen) und drei auf die 
Sündhaftigkeit des Betenden (Schuld, etwa- 
ige Versuchung und Erlösung); dazwischen 
eingeschoben die eine irdische, dürftige 
Bitte um Brot. Aber was hat Luther aus 
diesem einen Worte alles herausgelesen, 
wie reich hat er diesen Ärmlichen Begriff 
entfaltet! Es ist, als ob er durch seine Er¬ 
klärung Kritik an der Spärlichkeit der einen, 
an der Zusammenstellung der sieben Bitten 
hätte üben wollen, als ob er die Einseitig¬ 
keit des allzu transzendentalen Gebetes 
hätte verbessern und ausgleichen wollen, 
wenngleich halb unbewußt. Und so haben 
wir Protestanten die vierte Bitte von klein 
auf auffassen gelernt, das Brot als pars oder 
partiuncula pro toto, als etwas Unwesent¬ 
liches und Selbstverständliches, aber Ge¬ 
nanntes, neben all dem vielen Ungenannten 
und Wesentlicheren. Denn wer könnte 
zweifeln, daß gute Freunde und getreue 
Nachbarn, daß Weib und Kind, Vorgesetzte 
und Dienstboten, Haus und Hof und Beruf 
und Pflichten, jedes einzelne für sich und 
erst recht sie alle zusammen genommen 
wichtiger sind als Essen, Trinken und Klei¬ 
dung? So sollten wir die umgedeutete Bitte 
verstehen. 

Daß Gott unser täglich Brot uns allen 
auch ohne unser Gebet gäbe, war ihm nicht 
zweifelhaft. Wir brauchen es ja wie Luft 
und Wasser und können ohne Nahrung gar 
nicht leben. — Wozu aber dann danken 
für etwas Alltägliches, was uns zusteht und 
selbstverständlich zugeht? Wozu noch um 
das bitten, was wir so wie so empfangen? 
Die wörtlich verstandene Bitte schien fast 
überflüssig. 

Luther hat sie nicht richtig verstanden. 
Hätte er ein Jahrhundert später gelebt oder 
Kriegsschrecken wie die des Dreißigjährigen 
Krieges erlebt, so würde er dem Wortsinne 
des täglichen Brotes oder des erwarteten 
Bedarfes näher geblieben sein, der Nahrung 
und Notdurft des Leibes, ohne die auch all 
das nicht bestehen kann, was das Leben 
erst lebenswert macht, wenigstens für uns 


moderne Kulturmenschen, die den Frieden 
und seinen Luxus gewohnt sind. 

Das Vaterunser stammt aus einfacheren 
Verhältnissen des Orients her und war für 
die bedürfnislosen Jünger Jesu (nach dem 
Vorbilde eines älteren Gebetes des Täufers 
Johannes) zusammengestellt, für Jünger, die 
ganz mit ihrem Gotte und den Geboten 
ihres Meisters beschäftigt, sich nicht einmal 
um Unterkunft und Kleidung mehr sorgten 
als die Vögel und die Lilien auf dem 
Felde. Da hatte das Brot oder die Polenta 
seine volle Bedeutung, ohne Zukost, ohne 
Fett und Fleisch, vielleicht sogar ohne Ge¬ 
müse und Obst. Sie baten Gott um das. 
was sie durchaus brauchten. Denn Not lehrt 
beten. Aber von sieben Bitten war es nur 
eine, die sich um irdische Bedürfnisse drehte. 
Sie war spartanisch gedacht. 

Not lehrt beten. Wir bitten jetzt wieder 
um Brot, Brot im Wortsinne. Der Nord¬ 
länder nährt sich freilich nicht von Getreide 
allein, wie es vielfach der Südländer noch 
heute tut. Aber die Bitte um Brot bedeutet 
lediglich: wir möchten satt werden und die 
Unsrigen satt wissen, ohne Verzögerung 
und ohne Unterbrechung, für heute und bis 
zur nächsten Ernte, für das Kriegsende und 
die folgende Übergangszeit. 

Jetzt verstehen wir wieder die ursprüng¬ 
liche, elementare Bedeutung dieser vierten 
Bitte, ahnen die Bedingungen ihrer ersten 
Aufstellung und würdigen ihre unerwartete 
Geltungsdauer. 

Hunger ist schlimm für den einzelnen, 
aber als Vernichter von Millionen, und 
wären es nur Frauen und Kinder von Bar¬ 
baren und Verbrechern und nicht unsere 
Liebsten und Anverwandten, als erbarmen- 
loser Vernichter von Millionen über Millio¬ 
nen ist der Hunger ein furchtbarer, undenk¬ 
barer Feind. Indem wir um unser tägliches 
oder künftiges Brot beten, werden wir heu- 
tigestages, woran weder Jesus oder Jo¬ 
hannes noch der kühne Erklärer Luther ge¬ 
dacht hat, in Gedanken hinzufUgen: Wir 
erbitten das Waffenglück unserer Heere, 
einen vernichtenden U-Bootkampf, Nieder- 
zwingung Englands, Zersetzung des russi¬ 
schen Riesenreiches und einen unsere Nah¬ 
rung und Notdurft sichernden Frieden. 

A. Gercke. 


?flr die Schrlftleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellns, Berlin W30, LuitpoldstraSe 4. 

Druck von B.O.Teubner in Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 

11. JAHRGANG HEFT 8 1. MAI 1917 


Die Auslandsstudien im preufsischen Landtag. 

Auch in der 70. Sitzung des Abgeordnetenhauses am 1. Mürz haben noch mehrere 
Mitglieder, anknOplend an die Denkschrift des Ministeriums, zu dem Thema der Aus¬ 
landsstudien das Wort genommen. Wieder ist, wie im Aprilheft, aus den bezQglichen Teilen 
ihrer Reden das Wesentliche und die Antwort des Ministers auf die Äußerungen des 
Hauses zu dieser Frage nach dem stenographischen Berichte hier wiedergegeben. M. C. 


. * - 

Haenisch (Soz.-Dem.): ... Die Frage 
der internationalen Beziehungen zwi¬ 
schen den Wissenschaftlern der heute 
kriegführenden Lander leitet mich un¬ 
gezwungen über zu der von dem Herrn 
Kultusminister uns vorgelegten Denk¬ 
schrift über die Förderung der Aus¬ 
landsstudien, und da muß ich aner¬ 
kennen, daß ich in der leider nur sehr 
seltenen, aber desto angenehmeren Lage 
bin, mich einmal über eine Denkschrift 
und über einen Schritt des Herrn Kultus¬ 
ministers aufrichtig und vorbehaltlos — 
oder besser: wenigstens nahezu vor¬ 
behaltlos; denn einige Vorbehalte will 
ich nachher doch machen — freuen zu 
können. Die Förderung der Auslandsstu¬ 
dien, die der Herr Kultusminister ange¬ 
regthat, und die Gedanken in der höchst- 
interessanten Denkschrift, die ich auch 
außerhalb dieses Hauses möglichst wei¬ 
ten Kreisen zu aufmerksamsten Studien 
empfehlen möchte, die Gedanken, die 
der Herr Kultusminister dort angeregt 
hat, begrüßen wir Sozialdemokraten be¬ 
sonders deshalb, weil wir von jeher der 
Meinung gewesen sind, daß jede Förde¬ 
rung der Kenntnis des Auslandes, jede 
Förderung der Kenntnis ausländischen 
Wesens, ausländischer Sprachen, aus¬ 
ländischer Wirtschaft und Politik in ih¬ 
ren Folgewirkungen ganz von selbst 
auch dahin wirkt, daß die Völker sich 

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gegenseitig besser verstehen lernen, daß 
sie sich einander mehr annähem. Gerade 
deshalb, aus diesem prinzipiellen 
Grunde, bin ich im höchsten Maße über 
diese Pläne des Kultusministeriums er¬ 
freut 

Was die Ausführung betrifft, so 
bin auch ich der Meinung, daß sich eine 
Zentralisation, hier in Berlin etwa, kei¬ 
neswegs empfiehlt, sondern daß es 
durchaus zweckmäßig ist, die geplanten 
Auslandsstudien auf die einzelnen Uni¬ 
versitäten je nach ihrer geographischen 
Lage zu dezentralisieren, in der Weise, 
wie wir es schon besprochen haben, daß 
in Bonn etwa Studien über den franzö¬ 
sischen und niederländischen Kultur- 
kreis in Betracht kommen, in Breslau 
und Königsberg Studien über den russi¬ 
schen und überhaupt den slawischen 
Kulturkreis, in Kiel Studien über die 
Kulturkreise der überseeischen Völker... 

Wie notwendig gerade auch für un¬ 
sere Beamten, unsere Beamten im diplo¬ 
matischen Dienst, unsere Beamten im 
konsularischen Dienst, eine bessere 
Kenntnis des Auslandes ist, als sie bis¬ 
her im allgemeinen haben, meine Herren, 
dafür haben uns die Erfahrungen 
vor diesem Kriege und die Erfah¬ 
rungen in diesem Kriege selbst 
manchen sehr deutlichen Beweis gege¬ 
ben. Meine Herren, wenn auch das Aus- 

29 

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INDIANA LNIVERSITY 




899 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


900 


land am besten natürlich an Ort und 
Stelle kennen gelernt wird, so glaube 
ich doch, daß es manchem unserer kon¬ 
sularischen Beamten, auch manchem un¬ 
serer Diplomaten gar nichts geschadet 
hätte, wenn er vor seinem Hinausgehen 
auch schon im Inlande einen recht 
gründlichen Kursus durchgemacht hätte 
über ausländische Kultur, über auslän¬ 
dische Psychologie, über ausländische 
Wirtschaftsverhältnisse usw, so daß er 
nicht so völlig ahnungslos auf seinen 
Posten gegangen wäre, wie wir das 
manchmal erlebt haben... 

Meine Herren, als dann dieses Ver¬ 
sagen unserer Vertretung im Auslande, 
der konsularischen wie diplomatischen, 
am Beginn des Krieges offenbar wurde, 
wurde plötzlich die Parole ausgegeben, 
daß nunmehr weiteste Kreise des Vol¬ 
kes mobilisiert werden müßten zur Be¬ 
einflussung des Auslandes... Meine Her¬ 
ren, da wurden Leute plötzlich auf den 
politischen Boden geschickt, die sich auf 
ihm noch niemals bewegt hatten, die da 
plötzlich in ein völlig fremdes Gebiet 
hineinkamen. Meine Herren, das ging 
natürlich nicht, das mußte Schiffbruch 
leiden, ebenso wie es Schiffbruch leiden 
würde, wenn man Soldaten, die nie ein 
Gewehr in der Hand gehabt haben, plötz¬ 
lich in den Schützengraben hinausläßt 

Meine Herren, dieses Fiasko der welt¬ 
politischen Mobilmachung in den ersten 
Kriegsmonaten hat —wenn ich den Sinn 
der Denkschrift recht verstanden habe 
— den Herrn Kultusminister nicht zum 
wenigsten veranlaßt, der Frage der Aus¬ 
landsstudien, die ja schon vor dem 
Kriege hier erörtert worden ist, nun auch 
wirklich ernsthaft nahezutreten und sie 
endlich in Fluß zu bringen... 

Meine Herren, ich darf aus der Denk¬ 
schrift zwei oder drei Sätze mit Erlaub¬ 
nis des Herrn Präsidenten zitieren, auf 
die ja auch schon gestern hingewiesen 

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worden ist, die mir aber doch auch in ei¬ 
ner anderen, bisher noch nicht erörterten 
Beziehung so bedeutungsvoll erschei¬ 
nen, daß auch ich sie hier nochmals an¬ 
führen möchte. Meine Herren, das sind 
jene — ich möchte beinahe sagen — 
klassischen Sätze derDenkschrift, die 
folgendermaßen lauten: „Der Krieg hat 
auch die, die es noch nicht wußten, dar¬ 
über aufgeklärt, wie erschreckend un¬ 
sere Unkenntnis des ausländischen Den¬ 
kens gewesen ist, wie bitter not uns ein 
staatswissenschaftliches Verstehen der 
Gegenwart tut. Am wichtigsten und 
dringendsten erscheint die Hebung un¬ 
serer außerpolitischen Bildung.“ Die He¬ 
bung außerpolitischen Verständnisses 
wird weiter in der Denkschrift als eine 
der dringendsten Aufgaben der Unter- 
richtsverwaltung bezeichnet. Und dann 
steht folgender klassische Satz in der 
Denkschrift: „Das politische Den¬ 
ken muß geschult, der junge 
Deutsche muß politisiert wer¬ 
den.“ Meine Herren, das sind sehr 
schöne Sätze, die wir Sozialdemokraten 
seit langem vertreten haben; aber es sind 
Sätze, die nichts anderes bedeuten als 
eine Bankerotterklärung des al¬ 
ten Obrigkeitsstaates.—Herr Mi¬ 
nister, Sie schütteln mit dem Kopf; aber 
es ist doch so, wie ich sage. Was, Herr 
Minister, war denn der politische Grund¬ 
gedanke des alten Obrigkeitsstaates? 
Das war der Gedanke, daß für das poli¬ 
tische Wohl und Wehe des Volkes nur 
die hohe Obrigkeit zu sorgen habe; es 
war der Gedanke, daß die „Untertanen“, 
wie man früher so gerne sagte, im all¬ 
gemeinen nur dazu da seien, Steuern zu 
zahlen, Soldat zu werden und im übri¬ 
gen das Maul zu halten. Von diesem Ge¬ 
danken, daß man das Volk vom politi¬ 
schen Leben, von politischer Betätigung 
nach Möglichkeit femhalten müsse, ist 
unsere gesamte Gesetzgebung, unsere 

Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





901 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


902 


gesamte Verwaltung, besonders in Preu¬ 
ßen, jahrzehntelang beherrscht gewesen... 

Der Redner gibt nfiher an, in Ausfüh¬ 
rungen, die das eigentliche Thema ver¬ 
lassen, was für ihn diese Behauptung be¬ 
gründet: 

Dinge, die dadurch nicht mit der heu¬ 
tigen Losung des Herrn Kultusministers 
im Einklang stehen: „Das politische 
Denken muß geschult, der junge Deut¬ 
sche muß politisiert werden.“ Diesen 
Satz des Ministers möchte ich doppelt 
und dreifach unterstreichen, und 
ich freue mich, daß ein preußischer Kul¬ 
tusminister es gewesen ist, der diesen 
Satz ausgesprochen hat.. 

Meine Herren, als ich vorhin die 
Denkschrift des Herrn Ministers mit 
Freude bergrüßte, wurde mir aus den 
Reihen der Fortschrittler zugerufen, daß 
das nur mit Vorbehalt zu geschehen 
habe. Meine Herren, gestatten Sie mir, 
daß ich die Vorbehalte, die ich mir sowie¬ 
so vorgenommen hatte, jetzt selbst mache. 
Ich habe zunächst zu bemerken, daß es 
für uns selbstverständlich ist, daß diese 
neue Einrichtung der Auslandshoch¬ 
schule in keiner Weise, sei es di¬ 
rekt, sei es indirekt, von irgend¬ 
welchen wirtschaftlichen Inter¬ 
essentengruppen abhängig ge¬ 
macht werden darf, daß wirtschaft¬ 
liche Interessentengruppen in keiner Be¬ 
ziehung irgendwelchen Einfluß auf diese 
Studienzweige ausflben dürfen. Meine 
Herren, ferner fordere ich besonders 
dringend... daß weiten Volksschichten 
ermöglicht werde, auch an diesen neuen 
Zweigen unseres Unterrichts teilzuneh- 
men. Endlich, meine Herren, fordern wir 
daß neben der außerpolitischen Bildung 
neben der weltpolitischen auch die in¬ 
nerpolitische Bildung, die staatsbürger¬ 
liche Erziehung nicht vernachlässigt 
werde. In beiden Beziehungen, sowohl 
was die außerpolitische Bildung, wie 

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was die innerpolitische, staatsbürger¬ 
liche Bildung betrifft, müssen die 
Grundlagen schon in den Oberklassen 
der höheren Schulen gelegt werden, da¬ 
mit die jungen Leute nicht völlig unvor¬ 
bereitet in diese Auslandsschulen auf 
den Universitäten eintreten, in den hö¬ 
heren Klassen der höheren Schulen, von 
denen wir wünschen, daß auch sie weiteren 
Volkskreisen zugänglich gemacht werden. 

Meine Herren, das sind die wichtig¬ 
sten Vorbehalte und Wünsche, die ich 
bei dieser Gelegenheit auszusprechen 
habe. Aber diese Vorbehalte können 
mich nicht hindern, alles in allem diese 
Denkschrift als erfreulich zu bezeichnen, 
weil sie wesentlich dazu mithilft, den 
alten Untertanenbegriff in Preußen und 
Deutschland, den wir staatsrechtlich 
schon seit 1848 nicht mehr haben, der 
aber in der politischen Praxis leider im¬ 
mer noch herumspukt, endgültig auszu- 
merzen und aus dem „Untertanen“ end¬ 
lich, auch in Preußen und Deutschland, 
auch tatsächlich sich einen modernen 
freien Staatsbürger entwickeln zu lassen... 

Kanzow (fortschr. V.-P.) . . . Dabei 
komme ich auf die Denkschrift über 
die Auslandsstudien, weil wir ge¬ 
rade von der Wirkung im Auslande 
sprechen. Auch meine Partei ist dem 
Herrn Kultusminister dankbar für die 
ausgezeichnete Denkschrift und dankbar 
für die Ausführungen, die er uns gestern 
gemacht hat. Meine Herren, ich möchte 
aber zweierlei betonen: Man soll immer 
unterscheiden zwischen dem Theoreti¬ 
schen, was notwendig ist, und dem un¬ 
mittelbar praktisch Wirkenden, was zu¬ 
nächst noch notwendiger ist, und darum 
halte ich für ganz dringend geboten — 
und die Reichsleitung legt hoffentlich 
darauf den entscheidenden Wert —, daß 
möglichst bald in intensivster Weise un¬ 
ser Nachrichtensystem, das vollständig 
versagt hat, in anderer Weise ausgebaut 

29* 

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INDIANA UNiVERSITY 



903 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


wird, damit die Wirkung auf die neutra¬ 
len Staaten erreicht werden kann. Im 
übrigen hat der jetzige Herr Reichskanz¬ 
ler vor drei Jahren einmal gesagt: das 
deutsche Volk sei schon genug politi¬ 
siert. Daß das falsch ist, davon wird er 
sich inzwischen wohl selbst überzeugt 
haben. Ich halte es mit dem Fürsten Bü- 
low, der gesagt hat, das deutsche Volk 
müsse noch mehr politisiert werden, wie 
das in dankenswerter Weise in der 
Denkschrift auch hervorgehoben betont 
worden ist. Fürst Bülow hat dabei auch 
richtig hervorgehoben, was der Fehler 
von uns Deutschen, von so vielen Deut¬ 
schen ist: sie treten zu sehr mit speku¬ 
lativer und konstruierender Philosophie 
an das politische Leben heran, während 
man im politischen Leben als Naturfor¬ 
scher an das herantreten soll, was da 
ist. Und so wünschen wir, daß der Deut¬ 
sche, der nach dem Ausland geht, mit 
unbescholtenen Augen kennen lernt, 
was vorhanden ist, und daß wir von dem 
Auslande auch das lernen, was ler¬ 
nenswert ist. Im übrigen kann ich Herrn 
Kollegen Irmer nur beistimmen, der ge¬ 
sagt hat: Jeder Deutsche, der ins Aus¬ 
land geht, soll immer daran denken, daß 
er ein Deutscher ist... 

D. v. Trott zu Solz, Minister der 
geistlichen und Unterrichtsangelegen¬ 
heiten: Wenn ich gestern bei meinen 
einleitenden Worten der Freude darüber 
Ausdruck geben konnte, daß die von mir 
eingereichte Denkschrift über die 
Auslandsstudien bei ihrem Erschei¬ 
nen vielfach Zustimmung gefunden 
habe, so kann ich das im Hinblick auf 
die zu Ende gegangene Debatte nur wie¬ 
derholen. Die Denkschrift hat auf al¬ 
len Seiten dieses Hohen Hauses zustim- 
mende Aufnahme gefunden; sie ist nach 
allen Seiten hin erörtert und mit Scharf¬ 
sinn, Sachkunde und warmherziger Zu¬ 
stimmung beleuchtet worden. Ich kann 


904 


darüber nur meine Genugtuung aüsspre- 
chen und sagen, daß in dieser Stellung 
des Hohen Hauses eine wertvolle Un¬ 
terstützung für die Ausführung meiner 
Pläne liegt. 

Dabei sind auch eine Reihe von wert¬ 
vollen Anregungen gegeben worden, die 
gewiß bei der weiteren Behandlung der 
Dinge werden beachtet werden. Freilich 
muß ich diesen Anregungen gegenüber 
doch darauf hinweisen, daß die Denk¬ 
schrift selbst nicht erschöpfend sein 
wollte, und daß manche von den An¬ 
regungen, die hier gegeben werden, auch 
von uns schon erwogen worden sind, und 
daß sie zu gegebener Zeit in die Tat um¬ 
gesetzt werden sollen. 

Auch einige Anregungen, die von der 
Tribüne dieses Hauses gemacht wurden, 
sind schon in der Denkschrift ange¬ 
deutet, so z. B. der Wunsch, der hier ge¬ 
äußert wurde, daß auch aus der Praxis 
Persönlichkeiten als Lehrer auf diesem 
Gebiete herangezogen werden möchten. 
Das ist, wie gesagt, auch schon in der 
Denkschrift berührt worden. Wenn da¬ 
bei Herr v. Campe auf die Verhältnisse 
in Frankreich hinwies, wo frühere Mi¬ 
nister nicht selten auf die Lehrkanzel 
stiegen, so wird man dabei doch berück¬ 
sichtigen müssen, daß es in Frankreich 
sehr viel mehr zurückgetretene Minister 
gibt als bei uns. Ich weiß nicht, meine 
Herren, ob Sie darin einen Vorzug er¬ 
blicken; aber man wird doch immerhin 
diese Frage nicht lediglich von dem Ge¬ 
sichtspunkt aus ansehen dürfen, mög¬ 
lichst viel Lehrkräfte für Auslandsstu¬ 
dien zu gewinnen. Ich hatte bei meinen 
früheren Ausführungen von dem Vor¬ 
wurfe gesprochen, der meinen Plänen 
gegenüber in der Richtung erhoben wor¬ 
den sei, daß ein zu langsames Tempo an¬ 
geschlagen werde. Herr v. Campe muß 
mich in dieser Beziehung mißverstanden 
haben. Dieser Vorwurf war nicht pro 


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005 


Die Auslandsstudien im preußischen Landtag 


900 


praeterito, sondern pro futuro gemeint, 
daß es in der Natur des Vorschlages 
läge; daß seine Ausführung nur unter 
langsamen Fortschritten möglich wäre. 
Ich habe das ja in meinen Ausführungen 
des näheren auseinandergesetzt, indem 
ich zwischen Bildungspolitik und Pro¬ 
pagandapolitik schied. Die letztere kann 
rasch ins Werk gesetzt werden, Bil¬ 
dungspolitik kann nur allmählich, in 
langsamer Ausreifung Erfolg haben. So 
waren meine Ausführungen zu verstehen. 

Es ist dann der Wunsch ausgesprochen 
worden, daß ich auf diesem Gebiete auch 
mit den übrigen Bundesstaaten, die Uni¬ 
versitäten und Hochschulen besitzen, in 
Fühlung treten möchte. Das ist bereits 
geschehen. Ich bin mit meinen Herren 
Kollegen in diesen Bundesstaaten in 
Verbindung getreten, und ich würde 
mich sehr freuen, wenn auch auf diesem 
Gebiete ein gemeinschaftliches Wirken 
zum Segen der Sache stattfinden würde. 

Einer der Herren hat der Auffassung 
Ausdruck gegeben, daß sich die Univer¬ 
sitäten gewiß gern in den Dienst der ih¬ 
nen hier zugewiesenen Aufgabe stellen 
würden. Ich teile durchaus diese An¬ 
sicht; auch ich bin der Überzeugung, 
daß sich unsere Universitäten dieser 
wichtigen Aufgabe bereitwillig widmen 
werden, von deren Lösung schließlich 
die weltpolitische Zukunft unseres Vol¬ 
kes abhängen wird. Ich nehme an, daß 
wir dort keine Absage, sondern volles 
Verständnis und reiche Erfüllung unse¬ 
res Verlangens finden werden. Dann 
wird das erreicht, was ich erstrebe, daß 
diese wichtige Aufgabe voll zur Erfül¬ 
lung gelangt. Sie werden aus meinen 
Ausführungen entnommen haben, wel¬ 
che große Bedeutung ich ihr beilege, und 
wie sehr ich es für erforderlich halte, 
sie zu fördern... 

Auch Herr Abgeordneter Haenisch hat 
sich zu der Denkschrift zustimmend 

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geäußert. Ich heue mich, daraus entneh¬ 
men zu können, daß auf diesem Boden 
sich edle politischen Parteien einigen. 
Aber er hat doch nicht der Versuchung 
widerstehen können, auch aus dieser 
Blume Honig für seine politischen 
Zwecke und Ideale zu saugen. Daß ich 
seiner Auffassung da nicht zustimmen 
kann, wird er sich selbst gesagt haben. 
Ich will ihm aber in den Fragen über 
vormärzliche und nachmärzliche Politik, 
die er mir mit seinen Ausführungen et¬ 
was durcheinander zu mengen schien, 
nicht folgen, um den Frieden auf diesem 
Gebiete nicht zu stören; es gehört das 
ja auch nicht unmittelbar zu den Kul- 
turaufgaben, die wir hier vertreten, es 
liegt doch wohl etwas daneben... 

Nach dem Schluß der Besprechung nahm 
erst zur Geschäftsordnung, dann zu einer 
persönlichen Bemerkung der Abgeordnete 
Dr. v. Campe das Wort: 

Ich habe ausgeführt, daß ich wünsche, 
daß auf die Lehrstühle für AuslEinds- 
kunde auch Praktiker berufen würden, 
nicht nur lediglich abgegangene Mini¬ 
ster. Es ist mir erwidert worden, wir 
hatten nicht so viel abgegangene Mini¬ 
ster. Ich habe eine ganze Reihe von Na¬ 
men genannt, die doch jedenfalls zur 
Verfügung standen. Demgegenüber ist 
mir nichts entgegengehalten worden. 

Auf diese Bemerkung erwiderte der 
Minister: 

Was den zweiten Punkt anlangt, den 
der Herr Abgeordnete Dr. v. Campe be¬ 
rührt hat, so habe ich darauf hingewiesen, 
daß Männer aus der Praxis auch zur Lehr¬ 
tätigkeit auf dem Gebiete der Auslands¬ 
studien herangezogen werden sollen und 
daß diese Absicht auch schon in der 
Denkschrift angedeutet worden ist Nur 
nebenher bin ich auch auf die Speziali¬ 
tät eingegangen, die der Abgeordnete v. 
Campe hervorgehoben hatte, daß in 
Frankreich frühere Minister derartige 
Lehrstühle übernehmen. 

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907 


Fr. Mein ecke, Reich und Nation seit 1871 


908 


Reich und Nation seit 1871. 

Von Friedrich Meinecke. 


Zwiefacher Art sind die Kräfte, die 
den nationalen Staat, gleichgültig, wel¬ 
che Regierungsform er trage, lebendig 
und stark erhalten, die einen von 
festerer und härterer Art, die anderen 
flüssiger und beweglicher. Fest und 
hart sind und müssen die Institu¬ 
tionen des Staates sein, die Macht und 
Autorität seiner leitenden Organe, die 
Zuverlässigkeit seiner Verwaltung, die 
Zucht und Straffheit vor allem seines 
bewaffneten Armes, und durch edle In¬ 
stitutionen durchgehend die Kontinui¬ 
tät geschichtlich verwurzelter und be¬ 
währter Traditionen und Grundsätze. 
Aber auch nicht eine dieser Einrich¬ 
tungen und Oberlieferungen könnte 
durch sich selbst allein oder durch den 
bloßen Zusammenhang mit den übrigen 
sich auf die Dauer aufrechterhalten, 
wenn nicht das flutende Leben hin¬ 
durchginge, das von der Volksgemein¬ 
schaft und ihren gesellschaftlichen 
Schichten, im letzten Grunde aber von 
der Seele der Individuen ausgeht. Aus 
ihm stammen die geistigen und sittli¬ 
chen Energien und Ziele, die die Macht 
des Staates tragen und ihn selbst 
zur Idee, zu einer der größten gei¬ 
stigen Mächte des Kulturlebens er¬ 
heben. 

Durch die Macht des preußischen 

Zweites Kapitel der historisch-politischen 
Einführung in das öffentliche Leben der 
Gegenwart, die ich auf Anregung des Ober- 
regierungsrats Dr. Negenborn und im Zu¬ 
sammenhänge mit den von ihm seit Jahren 
gepflegten Bestrebungen staatsbürgerlicher 
Erziehung übernommen habe, und deren 
Eingangskapitel im vorigen Jahrgang dieser 
Zeitschrift, Heft 8 und 9, erschien. 

Der Verfasser. 

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Staates verwirklichte Bismarck die 
Idee der deutschen Nation. Macht and 
Idee zugleich nun war das neue Deut¬ 
sche Reich. Viel reichere Ideenströme, 
als bisher dem preußischen Staate, 
konnten fortan dem Deutschen Reiche 
zufließen aus der so sehr viel weiteren 
Volksgemeinschaft. Wir dürfen uns 
heute mit Genugtuung sagen, daß es ge¬ 
schehen ist. Allein schon durch die Lei¬ 
stung Deutschlands im Weltkriege ist 
es dargetan. Ein unerhörtes Maß 
nicht nur von physischer Kraft, sondern 
auch von geistigen und sittlichen Ener¬ 
gien ist entfaltet worden, um das uner¬ 
hörte Übermaß rein physischer Kräfte, 
über das die Gegner gebieten konnten, 
auszugleichen. Doch wäre es falsch 
und würde sofort zur Oberhebung ver¬ 
führen, eine solche Kraftprobe allein 
zum Wertmaßstabe einer geschichtli¬ 
chen Entwicklung zu nehmen. Alle 
Ideen, die mit und in uns jetzt gestritten 
haben, waren zugleich Ideale von et¬ 
was noch Höherem und Vollkomme¬ 
nerem, Gestirne, die uns leiteten, aber 
uns oft verdeckt waren durch Wolken 
und Nebel. Alles Wollen bleibt hinter 
dem eigentlich Gewollten zurück. Wenn 
wir uns heute Rechenschaft ablegen von 
den geistigen Kräften, die aus den Tie¬ 
fen der Nation heraus unserem Staats¬ 
leben seit 1871 zugeflossen sind, so wird 
Strenge und Nüchternheit das erste Er¬ 
fordernis sein, damit der Abstand der 
Wirklichkeit vom Ideale zum ehrlichen 
Ausdrucke komme. 

Das Ideal, das den geistigen Vor¬ 
kämpfern der Einigung vorschwebte, 
sprach Heinrich von Treitschke 1863 am 
Vorabend der Einigungskämpfe einmal 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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aus, als er das englische Volk mit dem 
deutschen verglich. „Ein unendlich 
großes Volk,“ sagte er vom englischen, 
„je naher man es kennen lernt; und doch 
möchte ich unser deutsches Unglück 
nicht gegen die englische Glorie ver¬ 
tauschen. Ich sehe immer klarer: wenn 
es je einen wahrhaft freien Staat, einen 
Staat innerlich freier Menschen geben 
wird, kein anderer kann es sein als der 
deutsche.“ Die rechte Freiheit war ihm 
nicht die Freiheit vom Staate, jene Ell¬ 
bogenfreiheit und Ungestörtheit durch 
die Polizei, die uns heute unsere Gegner 
als den Vorzug ihrer Freiheit rühmen, 
sondern die Freiheit im Staate, die un¬ 
trennbare Verbindung innerlich gei¬ 
stiger Freiheit und Selbstbildung mit 
den Freiheitsrechten, Pflichten und Op¬ 
fern des einzelnen gegenüber dem 
Staate. Wir erkennen den organischen 
Staatsgedanken aus der Zeit der Erneu¬ 
erung wieder. Bismarcks Werk und 
Treitschkes Denken waren von ihm er¬ 
füllt Und doch, so deuteten wir an, hat 
Bismarcks Werk durch die Art wie es 
von ihm fast allein geschaffen wurde, die 
Selbsttätigkeit der Nation etwas zurück¬ 
drängen müssen. Wohl gab er ihr die 
Möglichkeit, sie künftig auszuüben, in 
reichem Maße, aber die Umwandelung 
vom alten Herrschaftsstaate in den Ge¬ 
meinschaftsstaat in der Reformzeit be¬ 
gonnen und jetzt wieder aufgenommen, 
sollte nur langsam und vielfach gehin¬ 
dert weitergehen. Bismarck übte auch im 
neuen Reiche eine Art von Diktatur aus, 
die wohl getragen wurde vom Vertrauen 
des Monarchen und der Mehrheit der 
Nation und ihre Lebensinteressen nach 
außen und innen großartig vertrat, 
aber naturgemäß auch manche wert¬ 
volle Kräfte zurückhielt oder gar ab- 
stieß. Es blieb also immer noch viel vom 
alten Dualismus zwischen Regierung 
und Regierten übrig, und selbst die An- 

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hänger des Gewaltigen konnten sich 
wund reiben an ihm. Auch er wiederum 
rieb sich wund an den Parteien, diezwar 
nicht mitregieren durften, aber vieles zu 
verhindern vermochten, was er, der Re¬ 
gierende, ausführen wollte. Es war ein 
steter, aufreibender Kampf um die 
Macht zwischen ihm und seiner Schöp¬ 
fung, dem Reichstage, dernichtsein blo¬ 
ßes Geschöpf bleiben wollte. Dieses 
eifersüchtige Mißtrauen von hüben und 
drüben hat, wie uns die Betrachtung der 
einzelnen Fragen noch deutlicher zeigen 
wird, manchen schweren Schaden ge¬ 
stiftet. Der Reichstag hat dem Reiche 
die Grundlage zur finanziellen Selbstän¬ 
digkeit vorenthalten, die Bismarck ihm 
geben wollte. Die Kämpfe um den 
Heeresetat erzeugten Oppositionsstim¬ 
mungen, die das Verhältnis der Parteien 
untereinander und zum Staate verhäng¬ 
nisvoll störten. Aber gerade in diesen 
Kämpfen um das Heer konnten Bis¬ 
marck und seine Nachfolger ihren 
Willen immer wieder durchsetzen, wenn 
sie vom Reichstage an die Wähler ap¬ 
pellierten, weil hinter ihrem Willen das 
Lebensgesetz und die Existenzbe¬ 
dingung des Reiches standen. Dieses 
Lebensgesetz bestand darin, daß alle in¬ 
neren politischen Freiheitsrechte sich bei 
uns nun einmal unterordnen müssen der 
ehernen Notwendigkeit, unsere äußere 
Freiheit, Selbständigkeit und Macht 
zu behaupten. Unsere kontinentale 
Lage inmitten großer, mächtiger 
und günstiger situierter Nachbarn 
läßt uns nur die Wahl, entweder 
sehr schwach oder sehr stark zu 
sein. Dieser Zwang ist es im letzten 
Grunde, der den Obergang vom Herr¬ 
schaftsstaate zum Gemeinschaftsstaate 
bei uns so sehr erschwert und verzögert 
Der Herrschaftsstaat darf erst dann die 
Bastionen der Macht in die Hände des 
Gemeinschaftsstaates ausliefem, wenn 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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dieser seine volle Befähigung und Kraft, 
de zu behaupten, erwiesen hat. Wohl 
ist die Einsicht in diese Notwendigkei¬ 
ten bei der Nation von Jahrzehnt zu 
Jahrzehnt gewachsen, aber ehe sie nicht 
zur vollen Reife gedeiht, ehe nicht die 
großen Machtinteressen mit unbeding¬ 
ter Sicherheit der Entscheidung des 
Reichstages überlassen werden können, 
wird der alte Dualismus zwischen Re¬ 
gierung und Regierten immer etwas 
nachwirken. Freilich darf man die Frage 
stellen, ob nicht auch ein übertriebenes 
Mißtrauen der Regierenden und ihr na¬ 
türlicher Wunsch, sich in der Macht zu 
behaupten, die Schranken für die Mit¬ 
wirkung der Volksvertretung oft zu 
enge gezogen und das Zusammenwach¬ 
sen von Staat und Nation dadurch er¬ 
schwert hat Bismarcks unsterbliche Lei¬ 
stung für die Nation verträgt es, daß 
man auch ihre Schattenseiten und un¬ 
günstigen Nebenwirkungen prüft. Auf¬ 
gabe der Nachkommen ist es, sie all¬ 
mählich zu überwinden durch das Beste, 
was er ihnen hinterlassen hat in seiner 
neuen Staatskunst, in dem Sinne für die 
Staatsnotwendigkeiten, den die Er¬ 
fordernisse unserer Weltlage uns tiefer 
und tiefer einprägen werden. 

Und vielleicht fehlte es gerade etwas 
an dem erzieherischen Drucke dieser 
Weltlage, als das neue Reich seine Lauf¬ 
bahn begann. Deutschland stand jetzt so 
mächtig in Europa da, daß es auf ge¬ 
raume Zeit die Gefahren eines Kampfes 
um Sein und Nichtsein nicht zu fürchten 
hatte. Die mannigfaltigen Richtungen 
und Bedürfnisse im Inneren konnten 
sich mit einer gewissen Sorglosigkeit ein¬ 
mal ausleben, und das Selbstgefühl und 
der Stolz über die neu errungene Größe 
schwellte die Brust Man möchte die 
siebziger Jahre eine Zeit des Luxu- 
rierens auf allen Gebieten nennen. Aller¬ 
gröbstes Luxurieren materieller Art trat 


in den Exzessen der Gründerzeit zu¬ 
tage, — wiewohl man ihr nicht gerecht 
wird, wenn man in ihr nicht zugleich 
die vielleicht unvermeidlichen Flegel¬ 
jahre junger, jetzt ins Weite strebender 
wirtschaftlicher Kräfte sieht Aber es 
luxurierten jetzt auch die geistigen und 
politischen Parteien, sowohl diejenigen, 
die in der Gründung des Reiches ihre 
höchsten Wünsche erfüllt sahen und nnn 
genußfreudig auch alle übrigen Wün¬ 
sche rasch befriedigen wollten, wie die¬ 
jenigen, die zwar den Charakter dieses 
Reiches nicht liebten, aber in seiner 
großen, weit geöffneten Arena einen zur 
Eroberung lockenden Tummelplatz er¬ 
blickten. Nun stürmten und prallten die 
Parteien mit einer Heftigkeit aufeinan¬ 
der, die noch mehr dem Kraftgefühle 
und Untemehmungsdrange als einer in¬ 
neren Notwendigkeit entsprang, und 
weil es ihnen an Augenmaß und Erfah¬ 
rung fehlte, konnte man sich dabei hü¬ 
ben und drüben die Stirn bald blutig 
stoßen an ehernen Schranken. Das war 
das Schicksal des Liberalismus, als er 
den von Bismarck aufgenommenen 
Kampf um die kirchenpolitischen Rechte 
des Staates zum allgemeinen Kultur¬ 
kampf des modernen Geistes gegen 
das ganze ultramontane System er¬ 
weiterte und mit großem Getöse 
führte. Zwei Offensiven stießen hier 
gegeneinander, denn auch die Ul¬ 
tramontanen gelüstete es, eine Kraft¬ 
probe zu wagen gegen das Reich, das 
der protestantische preußische Staat Im 
Bunde mit dem unkirchlichen Libe¬ 
ralismus geschaffen hatte. Keiner aber 
rannte den anderen um, jeder 
täuschte sich in der Festigkeit der feind¬ 
lichen Stellungen. Auch Bismarch 
schätzte sie falsch ein und überschätzte 
die Wirkung der staatlichen Zwangs¬ 
mittel, mit denen er kämpfte. Wohl 
gingen dann Reich und Einzelstaaten 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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ungeschwächt aus dem Kampfe hervor, 
aber auch das katholische Deutschland 
schuf sich eine machtvolle Organisation, 
wie es sie zur Zeit der staatlichen Zer¬ 
splitterung der Nation nie gehabt hatte, 
und nutzte damit den neuen Lebensstrom 
aus, der durch sie ging. 

Mit wild schäumenden Wogen brach 
auch die sozialdemokratische Bewegung 
Ober die Industriereviere des neuen 
Deutschlands ein, maßlos in ihrer Agi¬ 
tation wie in ihren Forderungen und 
Hoffnungen. Staat und bürgerliche Ge¬ 
sellschaft, überrascht Und empört, sahen 
sie an wie eine unterirdische Gewalt, 
die nicht in die nationale Gemeinschaft 
hineingehörte, und hielten sich für be¬ 
rechtigt und verpflichtet, sie in Acht und 
Bann zu tun. Der bürgerliche Liberalis¬ 
mus, stolz auf seine Leistung, der freien 
Bewegung der individuellen Kräfte im 
geeinten Reiche eben erst Tor und Tür 
erschlossen zu haben, sah sein reinli¬ 
ches Konzept verdorben und wollte noch 
nicht zugeben, daß in dem Kampfe des 
Sozialismus gegen die entfesselten 
Mächte des Kapitals das tiefe und 
berechtigte Bedürfnis nach neuen sozial¬ 
politischen Bindungen und Schranken 
sich mit ausspräche. Bismarck versuchte 
es seit 1878 mit Zwangs- und Gewalt¬ 
mitteln gegen die neue Massenpartei, 
aber das Sozialistengesetz hat so wenig 
wie die Kulturkampfgesetzgebung den 
Gegner zerbrechen können, ihn vielmehr 
erst recht zusammengeschweißt und ge¬ 
härtet Ebensowenig freilich hat die So¬ 
zialdemokratie die Grundlagen des 
neuen Reiches je ernstlich erschüttern 
können. 

Es wurde also die schwere und nie- 
derdrückende Erfahrung gemacht, daß 
der neue Reichsgedanke, diese heiß er¬ 
sehnte und schwer erkämpfte Errungen¬ 
schaft des deutschen Volkes, an breiten 
Schichten dieses Volkes versagte. Zen- 

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trum und Sozialdemokratie leugneten 
nicht den Wert der nationalen Einheit 
überhaupt, — Reichsfeinde in diesem 
Sinne sind sie nie gewesen, und sie zö¬ 
gerten auch nicht, sie für ihre eigenen 
Zwecke auszubeuten. Aber sie lehnten 
sich auf gegen die Art wie sie ge¬ 
schaffen war, und gegen die besonderen 
Kräfte, die sie geschaffen hatten. In der 
tiefen Abneigung gegen den preußi¬ 
schen Staat und den bürgerlichen Libe¬ 
ralismus begegneten sich die beiden 
neuen Massenparteien. Ihre eigenen 
Weltanschauungen klafften dabei so 
weit auseinander, wie die Abgrundtiefen 
verschiedener Zeiten es nur tun, und die 
eine erschien der anderen wie die 
Macht der Finsternis. Wiederum aber 
trafen beide darin zusammen, daß sie ge¬ 
gen die Idee des neuen Nationalstaates, 
die das begeisternde Panier ihrer kon¬ 
fessionellen und bürgerlichen Gegner 
war, die Macht großer über- und inter¬ 
nationaler Ideen und Interessen aus¬ 
spielten. Die Nation, so lehrten siebeide 
ihren Anhängern, ist noch nicht die 
höchste und wertvollste Form mensch¬ 
lichen Gemeinschaftslebens. Sie kann 
nicht, sagten die einen, mit der göttlichen 
Aufgabe der Kirche wetteifern, jeder 
Menschenseele das Heil zu bringen und 
alle Völker in ihrem Namen zu vereini¬ 
gen. Sie bietet, sagten die anderen, dem 
darbenden Proletarier Steine statt Brot; 
das internationale Unheil des Kapitalis¬ 
mus kann nur durch internationale Ver¬ 
brüderung der unter ihm Leidenden 
überwunden werden. 

Die Kampfesmittel, die die Träger des 
neuen Reichsgedankens gegen Zen¬ 
trum und Sozialdemokratie anwandten, 
waren, wie wir bemerkten, unwirk¬ 
sam. Verrieten sie durch diese Wahl 
falscher Waffen vielleicht eine eigne 
innere Schwäche? Waren Kraft, Größe 
und Inhalt der nationalen Idee 

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Pr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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und der mit ihr verbündeten preu¬ 
ßischen und liberalen Ideen nach 
erreichtem Ziele vielleicht doch jetzt, 
trotz alles Luxurierens, im inneren 
Niedergange? Es ist das Schicksal jeder 
energischen Konzentrierung von Ideen 
auf ein Ziel, daß sie an Tiefe und Fülle 
verlieren, was sie an realer Wirksam¬ 
keit gewinnen. Das ist das Opfer, 
das der Handelnde dem Geiste abnö¬ 
tigen muß. „Ich brachte reines Feuer vom 
Altar. — Was ich entzündet, ist nicht 
reine Flamme.“ Auch der nationale Ge¬ 
danke war in Deutschland in der Zeit, 
als idealische und romantische Winde 
wehten, feiner und geistiger gewesen 
und hatte damals den Glauben an über¬ 
nationale menschheitliche Werte, das 
kosmopolitische Element, das jetzt, frei¬ 
lich in sehr viel gröberen Mischungen, 
die *beiden neuen Massenparteien er¬ 
füllte, mit umfaßt. Aber wir sahen, daß 
die Ideologien weichen mußten, um 
Raum zu schaffen für den Waffenschritt 
Bismarcks, für die neue Staatskunst der 
nationalen Realpolitik. Und im allge¬ 
meinen Obergange zum Realismus war 
auch die liberale Bewegung stark durch¬ 
drungen worden von den besonderen 
wirtschaftlichen Interessen der Kauf¬ 
leute und industriellen Unternehmer. 
Alle diese Körperlichkeiten, die der na¬ 
tionale Gedanke in der Bismarckschen 
Reichsgründung annahm, wurden von 
den Gegnern, obwohl auch diese dem 
Zeitgeiste ihren Tribut leisteten und 
ihren Balken im eigenen Auge trugen, 
weidlich ausgebeutet. Die deutsche Ein¬ 
heit, die ihr uns bietet, ist eine kapi¬ 
talistische und militaristische Unter¬ 
nehmung, sagten die Sozialdemokraten. 
Sie ist das Werk des ungläubigen Vul¬ 
gärliberalismus und des herrschsüch¬ 
tigen Ketzerstaates, sagten die Kleri¬ 
kalen. 

Ohne Zweifel also büßte der neue 


Reichsgedanke durch den spezifisch 
preußischen und spezifisch bürgerlichen 
Beigeschmack, den er hatte, an werben¬ 
der Kraft unter den Massen der Nation 
ein. Auch war etwas an dem Vorwürfe, 
daß der Liberalismus vulgär geworden 
sei. Er hatte wohl immer eine Spielart 
von platter, rationalistischer Aufklärung 
mit sich herumgetragen, aber sie zeigte 
jetzt in der satten Gründerzeit und im 
Geschrei des Kulturkampfs ihre ganze 
Blöße. Der junge Friedrich Nietzsche 
goß Spott und Hohn über das seichte 
Evangelium der Bourgeoisie. In der Lite¬ 
ratur und Kunst des Tages, die auf die 
liberale Weltanschauung sich stützte, 
blieb der erhoffte Aufschwung und Gei¬ 
stesfrühling aus. Die Ebbe im philoso¬ 
phischen Denken hielt an. Der Durch¬ 
schnittsgeschmack der Gebildeten verlor 
die Maßstäbe für die Tiefen der Kunst 
und des Lebens. Aber war die geistige 
Kraft und der schöpferische Idealismus 
der Nation, wie es im Rückblicke auf 
diese Zeit zuweilen behauptet worden 
ist, wirklich im Erlahmen? 

Man dürfte es doch im Ernste dicht 
sagen. Die Zusammenhänge von Kultur 
und Staat, von politischen und geistigen 
Leistungen einer Nation sind zu verbor¬ 
gen und verwickelt, um in jedem Augen¬ 
blicke einheitlich und eindeutig hervor¬ 
zutreten. Ein zeitweiliger Schlummer be¬ 
deutete noch keinen Tod. Der idealisti¬ 
sche Geist war auch nur übertönt vom 
Tageslärme, aber spann in der Stille sich 
weiter. Es fehlte auch nicht an einsamen, 
originellen Köpfen, an energischer und 
universaler Forschungsarbeit. Und eben 
jetzt begann Heinrich v. Treitschke die 
Bindeglieder und den vielgestaltigen 
Reichtum unserer geistigen und politi¬ 
schen Entwicklung mit hinreißender Lei¬ 
denschaft und Pracht darzulegen. Audi 
er berührte sich wohl etwas mit dem 
luxurierenden Zuge der Zeit durch seine 


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Fr. Meinecke, Reidi und Nation seit 1871 


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oft zu grellen Farben und Urteile, aber 
seine hohen und stolzen Gedanken und 
Empfindungen von der Schönheit und 
WOrde des Nationalstaates und von der 
Mission des deutschen Geistes weck« 
ten in dem heranwadisenden Ge- 
schlechte den Drang und die Zuversicht, 
das von den Vätern geschaffene Reich 
mit eigenem, neuem Leben auszufüllen. 

Und ehe noch das erste Jahrzehnt des 
neuen Reiches um war, wuchs ein sol¬ 
ches neues Leben schon hervor aus drän¬ 
genden Bedürfnissen des Staates, der 
Wirtschaft ja doch wohl auch des natio¬ 
nalen Geistes, der den neuen realen Auf¬ 
gaben einen tieferen Sinn zu geben ver¬ 
suchte. Zunächst aber fing alles ganz 
konkret und nüchtern an. Das Reich be¬ 
durfte für seine rasch wachsenden Aus¬ 
gaben stärkerer Finanzmittel, als man 
anfangs geglaubt hatte. Landwirtschaft 
und Industrie aber sahen sich mit einem 
Male schwer bedroht von der Konkur¬ 
renz des Auslandes, die der Industrie 
durch die Aufhebung der letzten Eisen¬ 
zölle, der Landwirtschaft durch die ge¬ 
steigerten überseeischen Produktionen 
und Verkehrsmittel bereitet wurde. Die 
sich entfaltende Weltwirtschaft klopfte 
damit zum ersten Male an die Tore des 
neuen Reiches und zwang es sich in Po¬ 
situr zu setzen. Für den deutschen Libe¬ 
ralismus wurde es nun verhängnisvoll, 
daß er sich in seiner Wirtschaftspolitik 
zu sehr auf den Individualismus festge¬ 
legt und zu eng mit den freihändleri¬ 
schen Interessen verknüpft hatte. Und 
weil er, wie wir sahen, auch durch 
seine parlamentarischen Ansprüche dem 
Reichskanzler immer unbequemer wurde, 
so hatte dieser nun Gelegenheit zu einem 
dreifachen großen Schlage. Er ließ den 
Kulturkampf, für den er bisher die Hilfe 
des Liberalismus gebraucht hatte, ab- 
flauen, forderte Schutzzölle für Indu¬ 
strie und Landwirtschaft, die zu¬ 


gleich die neue Finanzquelle für das 
Reich mit bilden sollten, spaltete die vor 
diese Fragen gestellte nationallibe¬ 
rale Partei und setzte mit Hilfe ihres 
rechten Flügels, der Konservativen und 
des Zentrums die neue Finanz- und 
Wirtschaftsreform 1879 durch. Der Kurs 
ging fortan nun nach rechts — einer 
der tiefsten Einschnitte in der inneren 
Geschichte des neuen Reiches, reich an 
Wirkungen auf allen Gebieten des 
öffentlichen Lebens. Mit dem Unterneh¬ 
men der Liberalen, die Reichsverfassung 
im Sinne des parlamentarischen Systems 
auszubauen, war es vorbei. Nur wenn 
sie eine starke und ausschlaggebende 
Regierungspartei geblieben wären, hätte 
es vielleicht gelingen können. Aber der 
jetzt zersplitterte und zum größten Teile 
in die Opposition gedrängte Liberalis¬ 
mus war nicht mehr imstande dazu. 
Auch eine aus allen Oppositionspar¬ 
teien gebildete Mehrheit, wie sie in den 
achtziger Jahren meist möglich war, 
konnte nicht an gegen die Bollwerke 
der Bismarckschen Regierung, die sich 
nun nicht nur auf den Bundesrat, son¬ 
dern auch auf die jetzt wieder konser¬ 
vativ werdende Mehrheit des preußi¬ 
schen Landtags stützte. Auch war ja 
das Zentrum unter der Führung des 
klugen Welfen Windthorst jetzt nicht 
mehr schlechthin Oppositionspartei, son¬ 
dern wirtschaftspolitisch hilfsbereit für 
Bismarck und wuchs so allmählich 
durch Geben und Nehmen, Fordern und 
Feilschen in den Reichsorganismus, wenn 
auch noch nicht mit vollem Herzen hin¬ 
ein, so doch aus Einsicht und Berech¬ 
nung an ihn hinan. Aber immer ließ es 
dabei den Kanzler seine Macht fühlen, 
zum schweren Schaden für die Finanzen 
des Reiches, die dabei nie ganz gesun¬ 
den konnten, weil sie abhängig bleiben 
sollten von der Gunst des Zentrums. So 
erwies sich jetzt die Zersplitterung und 


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Schwächung des Liberalismus, durch die 
das Zentrum in die Höhe gekommen 
war, als ein zweischneidiger Erfolg der 
Bismarckschen Politik. Sie kam aus der 
Scylla in die Charybdis, sie mußte müh¬ 
sam und keuchend jedes Stück ihres 
Weges erobern, weil das Zentrum 
jeden Augenblick jn der Lage war, in 
das Oppositionslager zum Linkslibera¬ 
lismus und zur Sozialdemokratie abzu- 
rücken. Diese wieder sogen sich in ihrem 
Kampfe gegen Zölle, Sozialistengesetz 
und konservative Einflüsse voll mit 
Bitterkeit und Grimm gegen das Bis- 
marcksche Regime. Die Geister der Par¬ 
teien verengten sich in dieser Lage zu 
Geistern der Fraktionen und Fraktions¬ 
führer und wurden schier noch härter 
und unbiegsamer als bisher. Auch die 
alte Unbiegsamkeit der Konservativen 
wurde dem Kanzler nur so lange nicht 
fühlbar, als ihm die Hilfe des Libera¬ 
lismus nichts bedeutete. Wie im moder¬ 
nen Stellungskampfe waren Fraktionen 
und Kanzler gegeneinander festgefah¬ 
ren, ohne einer den andern bezwingen 
zu können. „Die Fraktionen“, sagte Bis¬ 
marck 1882 ganz prägnant, „bilden für 
mich einen Ring, den ich nicht durch¬ 
brechen kann und auch nicht zu durch¬ 
brechen brauche.“ 

Nicht nur das Parteiwesen, sondern 
auch der Reichsgedanke standen da¬ 
durch in Gefahr, sich wieder zu 
verengen. Schon begannen die um 
Bismarck gescharten Parteien ihren 
Gegnern den Vorwurf zu machen, 
daß sie nicht national seien, und 
in den Begriff dessen, was „natio¬ 
nal“ sei, schlichen sich wieder, wie in 
den siebziger Jahren, Merkmale von 
parteimäßiger und vorübergehender Na¬ 
tur ein. Wie sich damals der hitzige Kul¬ 
turkämpfer besonders national erschien, 
so jetzt der, der den Bismarckschen 
Kampf für den Schutz der nationalen 


Arbeit zu einem Kampfe gegen das sie 
auswuchemde Judentum zuspitzen 
wollte. 

Und dennoch, in und trotz all dieser 
Vergröberungen und Verengerungen 
hat sich der nationale und der Reichs¬ 
gedanke seit 1879 vertieft und ist in eine 
neue Epoche eingetreten. Der Schutz der 
nationalen Arbeit, den Bismarck in sein 
Programm aufnahm, bedeutete mehr als 
nur den Schutz einzelner gefährdeter Ge¬ 
werbe. Das Entscheidende war, daß der 
Staat damit Gebiete zu organisieren an¬ 
fing, die er in der liberalen Ära dem 
Spiele der wirtschaftlichen Kräfte über¬ 
lassen hatte. Auch früher hatte er natür¬ 
lich seine Zolltarife immer den Bedürf¬ 
nissen der heimischen Arbeit angepaßt, 
aber in dem vergrößerten Wirtschafts¬ 
gebiete des Reiches und in dem Zwange 
und Drange der weltwirtschaftlichen 
Umwälzung griffen diese Fragen jetzt 
viel tiefer Ln das nationale Leben ein. 
Es trat jetzt wirtschaftlich für das Reich 
eine ganz ähnliche Notwendigkeit ein, 
wie sie politisch für das alte Preußen, 
den von allen Seiten gepreßten Kern¬ 
staat des Reiches, immer bestanden hatte. 
Der Druck von außen hatte es ge¬ 
zwungen, stärker zu rüsten, sich schär¬ 
fer zu konzentrieren, als es die Nach¬ 
barn durchschnittlich nötig hatten. Nun 
erfuhr Deutschland mit seiner auf engem 
Raume wachsenden Bevölkerung auch 
wirtschaftlich die Ungunst seiner Lage 
und den Druck der größeren, auf brei¬ 
terer Basis beruhenden Wirtschafts¬ 
mächte. Es blieb nichts anderes übrig, 
als aus der Not eine Tugend zu machen, 
sich in sich energischer zusammenzu¬ 
fassen, aus dem heimischen Boden und 
dem eigenen Volke so viel herauszuholen 
wie nur möglich, sich so viel wirtschaft¬ 
liche Autarkie zu erobern, als es die 
Bedürfnisse seiner Einfuhr und Ausfuhr 
nur erlaubten. Mochte dieses Ziel nicht 


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Fr. Meinecke. Reich und Nation seit 1871 


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gleich im ganzen Umfange vor Augen 
stehen, so führte doch jeder Schritt auf 
der neuen Bahn zu ihm naher. Hatte man 
einmal begonnen, neue Dämme aufzu¬ 
richten gegen die ungefesselte Flut 
der modernen wirtschaftlichen Bewe- 
wegung, so konnte man bei Zolltari¬ 
fen nicht stehen bleiben. Die Existenz 
der Sozialdemokratie mahnte daran, daß 
die Errungenschaften der Großindustrie 
mit schweren physischen und morali¬ 
schen Schädigungen der Volkskraft er¬ 
kauft waren, und beanspruchte noch 
eine andere, tiefere, organischere Be¬ 
handlung als die der äußeren Nieder- 
drückung durch das Sozialistengesetz. 
Wie nun aus mannigfachen Wurzeln her 
die Gedanken der Kaiserlichen Bot¬ 
schaft vom November 1881 keimten und 
ins Leben traten, wird uns die genauere 
Betrachtung der staatlichen Sozialpoli¬ 
tik später zeigen. Die Kaiserliche Botr 
scbaft wurde in noch höherem Grade 
zum Markstein der inneren Entwicklung 
des neuen Deutschlands als die Wirt¬ 
schaftsreform von 1879, weil sie die gei¬ 
stige Grundlage des Neuen, was man 
begonnen hatte, aufdeckte und es in die 
Sphäre der großen historischen Idee er¬ 
hob. Der organische deutsche Staatsge¬ 
danke trat damit auf eine höhere Stufe. 
Er setzte sich zum Ziele, entschlossen 
den Kampf aufzunehmen mit allen Pro¬ 
blemen und Schwierigkeiten der moder¬ 
nen Kulturentwicklung und überall da, 
wo sie zum Chaos zu entarten droht, 
sie zum Kosmos zu gestalten. Neue Bin¬ 
dungen der Gesellschaft und der ein¬ 
zelnen durch den Staat und ein weiteres 
Wachstum staatlicher Macht waren da¬ 
bei unvermeidlich. Dieser antiindividu¬ 
alistische und sozialistische Zug konnte 
denen bedenklich erscheinen, die in der 
inneren Freiheit und Selbständigkeit der 
Individuen die Grundkraft echter Kul¬ 
tur und auch echter Staatsgesinnung 


sahen und zu allen übrigen Beeinträch¬ 
tigungen der Persönlichkeit durch die 
modernen Massengewalten nun auch 
einen verstärkten Druck der Staatsge¬ 
walt auf sie fürchten mußten. Es gab 
in Zukunft nur eine Sicherung dagegen. 
Der Staat mußte seinen geschichtlichen 
Weg vom Herrschaftsstaate zum 
Gemeinschaftsstaate weitergehen, der 
Dualismus zwischen Regierenden und 
Regierten noch mehr zusammenschmel- 
zen, der Staat noch tiefer damit 
hiineinwachsen in das Innenleben des 
einzelnen. Daß der Wille des Staates 
schließlich zum freien Willen des 
einzelnen wurde, war dann das letzte, 
restlos nie zu erreichende und doch 
zur Erreichung anspornende Ziel. Und 
nicht nur der politische Idealismus 
durfte es fordern. Wie schon Bis¬ 
marcks Macht- und Nationalpolitik 
aus wohlverstandenem Realismus das 
demokratische Zugeständnis des allge¬ 
meinen gleichen Wahlrechts gemacht 
hatte, so machte auch seine neue Sozial¬ 
politik über kurz oder lang gewisse de¬ 
mokratische Komplemente erforderlich, 
damit sie dem Arbeiter nicht nur als 
staatlich dekretierte und abgemessene 
Wohltat, sondern als selbst mitgewollte 
und erarbeitete Leistung erschien. Keine 
neue Bindungen des Volkes durch den 
Staat ohne neue Verschmelzungen zwi¬ 
schen Volk und Staat 
Bismarch und die wenigsten derer, die 
ihm folgten, haben damals die künftigen 
demokratischen Konsequenzen der mon¬ 
archischen Sozialpolitik schon im 
vollen Umfange ermessen. Sehen wir sie 
doch erst jetzt nach den Erfahrungen 
des Weltkrieges vernehmbarer sich an¬ 
melden. Aber die große organisatorische 
Idee allein schon, die er vertrat war da¬ 
mals imstande, das nationale Denken 
unermeßlich zu befruchten. Man lernte 
tiefer nachzusinnen über die Zusammen- 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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häftge der wirtschaftlichen, sittlichen 
und politischen Welt, Qber das Verhält» 
nis dessen, was sein soll und dessen, was 
Ist, Ober die Abwehrmittel der natio¬ 
nalen Gemeinschaft gegen die Wirkun¬ 
gen des blinden wirtschaftlichen Mecha¬ 
nismus. Die Lehren der ethischen Na¬ 
tionalökonomie gingen jetzt auf im jun¬ 
gen Geschiechte, und wie es in einer zu¬ 
kunftsreichen Jugend sein muB, gingen 
die Richtungen in ihr stark durch- und 
auseinander. Die einen ließen sich durch 
Bismarck noch tiefer hineinziehen in die 
konservative Welt, die jetzt wieder zu 
Ehren kam, begeisterten sich fflr die 
preußisch - monarchischen Institutionen, 
fflr die Idee des sozialen Königtums, 
auch wohl fflr die Verbindung monar¬ 
chischer, sozialer, positiv kirchlicher und 
selbst antisemitischer Interessen, die 
der Hofprediger Stöcker in seiner 
christlich-sozialen Bewegung mit agi¬ 
tatorischer Kraft, freilich nur mit 
begrenztem Erfolge herzustellen ver¬ 
suchte. Andere aber beruhigten sich 
nicht mit der staatlich-monarchischen 
Lösung des sozialen Problems, kehrten 
gegen sie einen neuen, jetzt aber ganz 
sozial interessierten Individualismus 
und Subjektivismus heraus, der an den 
radikalen Fragestellungen Ibsens und 
dem unerbittlichen Naturalismus franzö¬ 
sischer, nordischer und russischer 
Dichter sich nährte. Das freie Ich ver¬ 
schmähte die überlieferten Konven¬ 
tionen von Staat und Gesellschaft, das 
soziale Mitleid führte es wieder zur 
Volksgemeinschaft zurück und rang un¬ 
klar, aber sehnsüchtig nach neuen, hö¬ 
heren Formen für sie durch Verwirkli¬ 
chung irgendwelcher sozialistischer 
Träume. Sie waren nicht zu verwirkli¬ 
chen, aber ein anderes begann sich da¬ 
für aus dieser Jugend gegen Ausgang 
der achtziger Jahre und nach ihnen zu 
verwirklichen: die Hoffnung auf einedie 

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Tiefen des Lebens neu anschauende 
Dichtung und Kunst. 

So war das zweite Jahrzehnt des neuen 
Deutschlands reicher an jungen Trieben 
und an neu auftauchenden Horizonten 
als das erste. Und es begann jetzt hin¬ 
auszudrängen in die Welt. Die durch die 
Bedrängnis der Landwirtschaft seit Ende 
der siebziger Jahre anschwellende Aus¬ 
wanderung entführte dem Volkstum un¬ 
ersetzliche Kräfte, die in überseeischen 
Pflanzungen ihm vielleicht erhalten wer¬ 
den konnten. Es war ein alter Traum na¬ 
tionaler Idealisten, daß Deutschland 
noch einmal neben den älteren See - und 
Kolonialmächten seinen Anteil an der 
überseeischen Welt finden müsse. Aber 
erst mußte sich wirkliche Unterneh¬ 
mungslust deutscher Kaufleüte und Sied¬ 
ler regen, ehe Bismarck seine Hand da¬ 
zu bot. Auf diesem Gebiete wollte er von 
einer staatlichen Initiative grundsätzlich 
nichts wissen, weil sie in das Abenteuer 
führen konnte. Nicht eigentlich um einer 
pressenden wirtschaftlichen Notwendig¬ 
keit, sondern um einer nationalen Pflicht 
des Reiches zu genügen, meinte er 
den Pionieren deutscher kolonialer Un¬ 
ternehmungen seinen Schutz geben und 
sie energisch vertreten zu müssen gegen 
die Eifersucht Englands. Audi das Aben¬ 
teuer einiger junger kühner Leute, das 
uns unser Siedlungsgebiet in Ostafrika 
verschafft hat, billigte und stützte er 
schließlich, alses gut auslief. Wieder wa¬ 
ren es erste Atemzüge eines jungen 
nachbismarckschen Deutschlands, die in 
der von ihm geschaffenen Welt sich reg¬ 
ten und nun sie schon etwas zu eng fan¬ 
den. Es war ein großer und charak¬ 
teristischer Zug an Bismarck, daß 
er, ohne diese wachsenden Triebe 
der Zukunft zu unterdrücken, doch fest¬ 
hielt an denjenigen Schranken deutscher 
Machtpolitik, die den gegebenen Zustän¬ 
den seinerzeit entsprachen. Er wußte. 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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daß das durch ihn mächtig gewordene 
Deutschland auch mit mächtigen Gegner¬ 
schaften auf dem Kontinente zu rechnen 
haben werde, und er hatte den Gefahren 
einer großen antideutschen Koalition 
während seiner eigenen Reichsgrün- 
dungspolitik zu tief in das Auge ge¬ 
schaut, um sie durch eigenen weiter 
ausgreifenden Ehrgeiz jetzt noch zu 
steigern. 

Dennoch, trotz aller „Saturiertheit“, 
kamen solche Gefahren schon zu seiner 
Zeit Ober Deutschland, als seit 1879 rassi¬ 
scher Panslawismus und französisches 
Revanchebedürfnis zur Flamme zusam¬ 
menzuschlagen drohten. Er hielt sie aus¬ 
einander durch die Meisterschaft seiner 
Diplomatie — aber mit den sturmfreien 
Zeiten, die Deutschland in den siebzi¬ 
ger Jahren genossen hatte, war es nun 
bis auf den heutigen Augenblick vorbei. 
Die Möglichkeit eines großen kontinen¬ 
talen Existenzkampfes war seitdem,bald 
leiser, bald lauter, ein Unterton in unse¬ 
rem politischen Hoffen und Sorgen und 
hat deshalb auch, bald stärker, bald 
schwächer, unsere nationalen Ideale und 
unsere innerpolitischen Ziele mitbe¬ 
stimmt. Nicht zu ihrem Schaden I Denn 
in der Luft der Gefahr wachsen die Ener¬ 
gien und werden die Augen heller und 
weiter. 

Schon Bismarck wußte, daß die Na¬ 
tion im Ernste einer weltpolitischen 
Stunde nicht den Bannern der Parteien, 
sondern dem Banner des Staates fol¬ 
gen will. Das war der Sinn der Sep- 
tennatswahlen von 1887 — mag man 
auch heute, wie wir noch sehen werden, 
über den Gegenstand des Septennats- 
streites etwas anders denken als Bis¬ 
marck und die für ihn damals votieren¬ 
den Reichstagswähler. Er erreichte durch 
sie noch einmal eine Mehrheit nach sei¬ 
nem Sinne, gebildet aus dem Kartell der 
Konservativen, Freikonservativen und 

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Nationalliberalen und baute die Wehr¬ 
kraft des Reiches wirksam aus. Man 
fühlte sich in der Stimmung jener Tage 
zurückversetzt in die ersten Jahre des 
neuen Reiches und freute sich, daß auch 
die preußischen Konservativen, die da¬ 
mals nur mit manchen Vorbehalten und 
Ausnahmen den Wegen Bismarcks ge¬ 
folgt waren, jetzt als zuverlässige Diener 
des Bismarckschen Reichsgedankens er¬ 
schienen. Aber an den beiden Massen- 
Parteien des Zentrums und der Sozial¬ 
demokratie fand er noch immer, bei 
der einen ganz geschlossene Türen, 
bei der anderen nur halb geöffnete 
Nebenpforten. Mit direkter Propaganda 
für die nationale Idee kam man ihnen 
gar nicht bei Im Gegenteil, sie lachten 
darüber und erklärten sie so, wie sie ver¬ 
treten wurde, für konventionelle Ideo¬ 
logie und Hurrapatriotismus. Darum 
muß man die Bedeutung der im engeren 
Sinne so genannten nationalen Bewe¬ 
gungen, wie sie seit den achtziger 
Jahren in immer neuen Anläufen, den 
Vereinen deutscher Studenten, der Ko- 
lonialbegeisterung, der Bismarckbegei¬ 
sterung, den großen nationalen Schutz¬ 
vereinen usw. verliefen, vom höchsten 
nationalgeschichtlichen Standpunkte aus 
etwas einschränken. Sie bewegten sich 
immer und immer nur wieder in densel¬ 
ben sozialen und geistigen Schichten, die 
schon vor 1870 Träger der Einheitsbe¬ 
wegung gewesen waren, nur daß jetzt 
auch die preußischen Konservativen mit 
den Intellektuellen des bürgerlichen Mit¬ 
telstandes zusammenarbeiteten. Für 
diese Schichten, wie sie jetzt zusammen¬ 
gefaßt waren in den Kartellparteien von 
1887, war es, trotz mancher Veräußer¬ 
lichung, ein immer wieder lebendiges 
Bedürfnis, das Feuer der Idee, die einst 
unter ihnen erwacht war, zu hüten. Auch 
fehlte es ihrer nationalen Arbeit, wie wir 
sahen, keineswegs an neuen großen Zie- 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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len, wohl aber an solchen neuen geisti¬ 
gen Fermenten, die die Widerstrebenden 
hätten durchdringen und gewinnen kön¬ 
nen. Wohl war der neue soziale Idealis¬ 
mus ein solches Ferment, das schon zu 
wirken begann. Aber es konnte schon 
deswegen nicht durchgreifend wirken, 
weil es die innere Politik Bismarcks 
selbst noch nicht ganz durchdrungen hatte. 

Das sollte man bald erleben. Bismarck 
benutzte die willkommene Mehrheit der 
Kartellparteien nicht so schöpferisch, wie 
es für die innere und äußere Überwin¬ 
dung der Oppositionsparteien nötig ge¬ 
wesen wäre. Auch er war, wie diese, 
durch den langen verbitterten Kampf 
härter und starrer geworden und ver¬ 
schloß sich dadurch manche Wege, die 
zu einer Ausgleichung und Milderung 
der inneren Spannungen führen konnten. 
Die soziale Versicherungsgesetzgebung 
brachte er wohl noch 1889 zum gro߬ 
artigen Abschluß, aber eine durchgrei¬ 
fende Arbeiterschutzgesetzgebung und 
Erweiterung der Arbeiterrechte hielt er 
nicht für ratsam. Das Sozialistengesetz 
sollte bleiben und die trotz Sozialistenge¬ 
setz wachsende Sozialdemokratie sollte, 
wenn sie über die Stränge schlüge, aus¬ 
schließlich mit physischer Gewalt nie¬ 
dergeworfen werden. Er spürte, daß die 
nächsten Reichstagswahlen die Kartell¬ 
mehrheit sprengen, die alte leidige Op¬ 
positionsmehrheit wieder zurückführen 
würden. Sein eigenes Werk, das Reichs¬ 
tagswahlrecht, erschien ihm nun als Un- 
segen, weil es den unreifen und, wie er 
meinte, revolutionär verseuchten Massen 
zu viel Macht in die Hand gab. Nicht bie¬ 
gen und lösen, sondern brechen wollte 
er die harte Kruste, die durch die feind¬ 
lichen Parteien zwischen Volk und Staat 
gelegt worden war. Er hatte schon ein¬ 
mal mit seiner Riesenkraft das Leben der 
Nation in neue, gesündere Bahnen geris¬ 
sen, aber diesmal täuschte er sich. Wie 


menschlich und tragisch berührt der 
Zorn und Ingrimm des alten Helden, der 
das Schicksal der Nation auf dem Her¬ 
zen trug und nun für schwere Vergiftung 
an ihr hielt, was nur eine sehr schwere 
Wachstumskrisis des Organismus war. 
Wohl aber wäre das Nationalleben ver¬ 
giftet worden, wenn es zum blutigen 
Bürgerkriege gekommen wäre, denn der 
moderne Nationalstaat ist sehr viel 
empfindlicher gegen jede Zerreißung der 
eng ineinander gewebten Volksgemein¬ 
schaft als das primitive Gefüge älterer 
Staatsformen, in denen die physische 
Gewalt des Machhabers leichter wieder- 
hersteilen kann, was der Hader der Par¬ 
teien zerstört hat Keine Wohltaten 
staatlicher Sozialpolitik hätten je das 
Vertrauen der niedergeworfenen Arbei¬ 
terschaft zum Staate wiederherstellen 
können. Deutschland, gewaltsam gebun¬ 
den im Inneren, hätte vermutlich auch 
seine wirtschaftlichen Kräfte nicht mehr 
frei walten lassen können, wäre im 
Agrarstaate stecken geblieben und hätte 
den Weg zum Weltvolke mit seinen Ge¬ 
fahren, aber auch mit seiner Größe viel¬ 
leicht nicht gefunden. 

Man kann streiten darüber, in wel¬ 
chem Grade sich Bismarcks Gedanken 
über die Niederwerfung der Sozialdemo¬ 
kratie schon zu festen Entwürfen ver¬ 
dichtet hatten, als die Krisis zwischen ihm 
und dem jungen Kaiser im Frühjahr 1890 
ausbrach. Daß sie zu dem tieferen Hin¬ 
tergründe des Konfliktes, der zur Ent¬ 
lassung Bismarcks führte, gehörten, ist 
nicht zweifelhaft Die Nation wurde er¬ 
schüttert durch den Fall ihres größten 
Staatsmanns; sie hatte ein Recht zu kla¬ 
gen, daß ein unersetzliches Gut ihr ge¬ 
nommen sei Aber ohne historische Un¬ 
dankbarkeit hat sich noch keine neue 
Epoche aus dem tragenden Schoße der 
alten losgerissen. Die neue Zeit hat kei¬ 
nen Bismarck wieder hervorgebracht. 


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Fr. Meinecke, Reidi und Nation seit 1871 


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aber sie war selbst durch Bismarcks 
Weik hervorgebracht und durfte nicht 
' anders handeln, wie er selber einst ge¬ 
handelt hatte: auf eigenes Wagnis den 
Ideen zu folgen, die in ihr lebten und 
frei sich selbst zu bestimmen. 

Des Kaisers Entschluß, auf das Sozia¬ 
listengesetz zu verzichten und die Sozi¬ 
alpolitik auszubauen zur Arbeiterschutz¬ 
gesetzgebung und zu den Ansätzen einer 
Arbeitervertretung, hat, wie wir jetzt er¬ 
kennen, einer neuen, aber Bismarck hin¬ 
ausfahrenden Entwicklung im Inneren 
die Bahn geöffnet. Man muß nur die 
Nah- und Femwirkungen dabei unter¬ 
scheiden. Die Nahwirkung bestand zwar 
in einem erheblichen Fortschritte der Ge¬ 
setzgebung, aber zu einer Wand¬ 
lung der Sozialdemokratie, zu einer in¬ 
neren Überwindung ihrer revolutionä¬ 
ren und staatsfeindlichen Tendenzen 
kam es noch lange nicht Und doch wur¬ 
den die ersten Voraussetzungen dafür 
geschaffen, indem der Staat seinen Wil¬ 
len zeigte, die berechtigten Wünsche der 
Arbeiterschaft zu erfOllen, und das Ziel 
aufstellte, Arbeitgeber und Arbeiter in 
ein friedliches und organisches Verhält¬ 
nis zueinander zu setzen. 

Auch in Preußen gelangen jetzt Refor¬ 
men, die der alternde Bismarck verzögert 
hatte, obschon sie in der Richtung sei¬ 
nes einstigen größten Wollens lagen. 
Das galt von der Steuerreform Miquels 
wie von der Landgemeindeordnung 
Herrfurths. Im Reiche setzte der neue 
Kanzler Caprivi, um das militärische 
Gleichgewicht mit den Nachbarn im 
Osten und Westen endlich durchgreifend 
zu sichern, die größte der bisherigen 
Heeresvermehrungen durch und erfüllte 
dabei nun auch den alten liberalen 
Wunsch nach zweijähriger Dienstzeit 
Eine bedeutsame Verbindung von 
Machtpolitik mit populären Zugeständ- 
. nissen.. Hierdurch und durch seine neuen 

Internationale Monatsschrift 

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Handelsverträge, die die Getreidezölle 
etwas herabsetzten, gelang es ihm, 
Bresche zu schlagen in das kompakte 
System der linksliberalen Opposition, 
das Bismarck so viel Mühsal und Herze¬ 
leid bereitet hatte. Die deutschfreisin¬ 
nige Partei spaltete sich, und diese Spal¬ 
tung des Linksliberalismus, die ihm im 
Augenblicke Eintrag tat, wurde ihm 
dennoch wohltätig. Der unfruchtbare 
Doktrinarismus Eugen Richters ver¬ 
lor an Geltung, und neue Gedanken 
konnten allmählich in die aufgelocker- 
ten Schollen eindringen. 

Ehe dies geschehen konnte, wurde 
freilich der Boden des ganzen Partei¬ 
lebens noch tiefer aufgewühlt und um¬ 
gebildet durch die Verschärfung der 
wirtschaftlichen Kämpfe. Und diese wie¬ 
derum war die unvermeidliche Folge 
und Begleiterscheinung des Größten und 
Fruchtbarsten, was Deutschland in den 
neunziger Jahren erlebte. Es begann die 
Augen der erstaunten Welt auf sich zu 
lenken durch das rasche Tempo seines 
wirtschaftlichen Aufschwungs, der 
ebensowohl von der Intelligenz und 
Energie seiner Unternehmer wie von der 
Tüchtigkeit seiner Arbeiterschaft zeugte 
und diesen wie jener zugute, kam. 
Schon damals konnten auswärtige 
Beobachter urteilen, daß die Disziplin 
und Zuverlässigkeit des deutschen Ar¬ 
beiters aus der Schulung der allgemei¬ 
nen Wehrpflicht stamme. Dieselbe Schu¬ 
lung aber kam auch der straffen Organi¬ 
sierung in Genossenschaften und sozial¬ 
demokratischer Partei zu statten — und 
doch blickte der sozialdemokratische Ar¬ 
beiter nur mit Groll und Mißtrauen auf 
die Unternehmer wie auf das Heer und 
sah alle sozialpolitischen Leistungen des 
Staates einschließlich der jüngsten nur 
als eine dürftige Abschlagszahlung an. 
Die Arbeitgeber aber klagten über den 
Terrorismus der aufgehetzten Arbeiter, 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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der bei Lohnkämpfen die Arbeitswilli¬ 
gen vergewaltigte und durch Kontrakt- 
brache den Arbeitsvertrag untergrub. 
Der Kaiser, schwer enttäuscht in seinen 
ersten Hoffnungen, lieh den Klagen der 
Arbeitgeber sein Ohr, sprach harte 
Worte in ihrem Sinn und ließ 1899 einen 
Gesetzentwurf ausarbeiten, der f flr terro¬ 
ristische Ausschreitungen das Zuchthaus 
androhte für den Fall, daß Arbeiteraus- 
stände oder Arbeitersperrungen die öf¬ 
fentliche Sicherheit gefährden würden. 
Der Entwurf wurde vom Reichstage ab¬ 
gelehnt, aber hinterließ bitterste Stim¬ 
mungen in allen Parteilagem. 

Die natürlichen Lebenszusammen- 
hänge waren wieder schwer bedroht 
durch diese Zuspitzung der sozialen Ge¬ 
gensätze. Arbeitgeber und Arbeiter wa¬ 
ren ja im Grunde eng auf einander ange¬ 
wiesen, standen im Dienste einer und der¬ 
selben gemeinsamen nationalen Auf¬ 
gabe, schufen gemeinsam die neue Ex¬ 
portindustrie Deutschlands und trugen 
gemeinsam alles Auf und Ab ihrer 
Schicksale, die in immer höherem Grade 
zu Schicksalen der Gesamtheit wurden. 
Die Auswanderung ließ seit Anfang der 
neunziger Jahre nach, weil die wach¬ 
sende Bevölkerung in der heimischen 
Industrie ihre Nahrung fand. Von 
ihrem Gedeihen hing es fortan ab, ob 
Deutschland reicher oder ärmer an 
Volkskraft wurde. Der Streit der Arbeit¬ 
geber und Arbeiter untereinander um 
Anteil am Gewinn der gemeinsamen Lei¬ 
stung, so .berechtigt und natürlich er für 
jeden von ihnen war, gefährdete diesen 
Gewinn selbst, wenn er mit Zwangs- und 
Gewaltmitteln von hüben und drüben 
geführt wurde. Die rücksichtslose Ent¬ 
schlossenheit, mit der jede der mitein¬ 
ander streitenden Interessengruppen 
sich organisierte und wehrte, war wohl 
auch eines der Zeichen der allgemeinen 
aufsteigenden Lebenskraft des wirt¬ 


schaftlichen Deutschlands, aber einer 
noch nicht vollkommen ausgereiften und 
disziplinierten. Aber man versteht es, 
daß in der raschen Aufwärtsbewegung 
die Lage der einen und der anderen 
Gruppe von Verschiebungen bedroht 
wurde und daß man heiß und erregt dar¬ 
um kämpfen konnte, in der vordersten 
Linie zu bleiben. Das glaubte jetzt auch 
die deutsche Landwirtschaft tun zu mtts- 
sen, als durch die Caprivischen Handels¬ 
verträge ein Stück ihres Zollschutzes 
fiel und gleich darauf die Getreide¬ 
preise des Weltmarktes rasch sanken. 
Der Bund der Landwirte wurde 1893 ge¬ 
gründet, um das älteste und ursprüng¬ 
lichste Gebiet der Nationalwirtschaft 
kräftig zu behaupten inmitten der zu¬ 
nehmenden Industrialisierung. Er dürfte 
sich darauf berufen, daß- nicht nur 
der Großgrundbesitz, sondern auch die 
Mehrheit des deutschen Bauernstandes 
seiner Fahne folgte. Und die deutsche 
Landwirtschaft insgesamt durfte sich 
rühmen, nicht zurückgeblieben zu sein 
in ihren eigenen Methoden und in eben¬ 
so modernem und rationellem Geiste zu 
arbeiten wie die neuen Erwerbszweige, 
aber sie war von fast fiebernder Sorge 
erfüllt, von diesen überschattet zu wer¬ 
den. Hinter allen Kämpfen um Zollsätze 
und um Gewinn und Verlust standen 
hier, wie auch bei dem Gegensätze zwi¬ 
schen Unternehmern und Arbeitern, auch 
immer soziale und politische Macht- und 
Geltungsansprüche, kulturelle Wün¬ 
sche und geistige Lebensideale. Der 
Agrarier rühmte die ungebrochene 
Frische des Erdschollendaseins, den 
Jungbrunnen natürlicher Volkskraft der 
in ihm sprudelte und die sichere, altbe¬ 
währte Stütze, die der Staat in Gottes¬ 
furcht, Königstreue und konservativer 
Gesinnung der Landbevölkerung besitze 
und deren er doppelt bedürfe gegen¬ 
über den anwachsenden zucht- und 

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Fr. Mein ecke, Reich und Nation seit 1871 


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autoritätslosen Massen der Industrie re- 
viere und Großstädte. Deutschland geht 
unter, so klang es aus ihren Worten her* 
aus, wenn die Landwirtschaft untergeht 
im Industriestaate. Der sozialdemokra¬ 
tische Arbeiter bäumte sich freilich auch 
auf gegen den ganzen alten Autoritäts¬ 
staat, den die Agrarier behaupten woll¬ 
ten, und bestritt nicht nur ihre soziale 
Herrenstellung, sondern auch den Wert 
aller alten politischen und kirchlichen 
Bindungen einschließlich der Monar¬ 
chie. Auch ihn erfüllte dabei ein eigen¬ 
tümliches Kulturideal, das trotz aller so¬ 
zialistischer Bindung, die es für die Ge¬ 
sellschaft der Zukunft forderte, doch 
einen ganz individualistischen Kern 
hatte, weil es jedem einzelnen Mitgliede 
der Gesellschaft vollen Anteil an den 
materiellen und geistigen Lebensgütem 
erobern wollte. Aber solange die Sozial¬ 
demokratie dabei verharrte, daß ihr Ide¬ 
al nur auf den Trümmern der bestehen¬ 
den staatlichen und gesellschaftlichen 
Gliederung verwirklicht werden könne, 
drängte sie auch alle Vertreter derselben 
zur Verteidigung nicht nur ihrer Inter¬ 
essen, sondern auch ihrer tief empfun¬ 
denen nationalen und monarchischen 
Ideale eng zusammen. Die Unternehmer, 
vor allem die der schweren Industrie, 
näherten sich innerlich den Agrariern, 
und die konservativen Agrarier wieder¬ 
um dem katholischen Zentrum. Der Li¬ 
beralismus, soweit er nicht auch unter 
dem Einflüsse der Arbeitgeber nach 
rechts hin Fühlung suchte, war in einer 
höchst undankbaren und mühseligen 
Zwischenstellung zwischen den sich 
schroff gegenüberstehenden Lagern des 
alten Autoritätsstaates und des revolu¬ 
tionären Zukunftsstaates. 

Zusammengedrückt und zersplittert, 
konnte er auch der Regierung keine 
sichere Stütze bieten. Nach dem Sturze 
Caprivis 1894 suchten seine Nachfolger, 

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Fürst Chlodwig Hohenlohe (bis 1900) 
anfangs auch Bülow — wie es übrigens 
auch Caprivi schon mitunter getan hatte, 
—, vorwiegend in den Konservativen 
und dem Zentrum die Mehrheit, die sie 
für die gesetzgeberischen Arbeiten 
brauchten, suchten gleichzeitig aber 
auch immer sich selbst im Sinne der alten 
preußischen und Blsmarckschen Tradi- 
dition eine eigene und unabhängige Stel¬ 
lungzuwahren. Ohne die Konservativen 
gab es jedenfalls in Preußen überhaupt 
keine Mehrheit und im Reiche keinen 
festen Kern zu einer für die Regierung 
brauchbaren Mehrheit Die Regierung 
war selber von konservativen Gesinnun¬ 
gen mannigfach durchtränkt, hatte 
aber dabei mancherlei verschiedene 
Tendenzen in ihrem eigenen Schoße 
auszugleichen. Sie verfügte über be¬ 
deutende staatsmännische Persönlich¬ 
keiten, wie Miquel, Bülow, Posa- 
dowsky, aber über keine schlechthin 
beherrschende und zusammenhaltende 
Bismarcknatur. Der Kurs, den sie steu¬ 
erte, führte in einige wunderliche Zick¬ 
zacklinien und peinliche Erfahrungen 
Der Plan der preußischen Regierung, 
dem wachsenden Bedürfnisse des Güter¬ 
verkehrs einen neuen Weg zu bahnen 
durch einen Mittellandkanal, stieß 1899 
auf den entschlossenen und in der 
Hauptsache erfolgreichen Widerstand 
der preußischen Konservativen, die von 
dem Kanalverkehr eine neue Über¬ 
schwemmung des heimischen Marktes 
mit ausländischem Getreide fürchteten. 
Die Regierung strafte zwar die konser¬ 
vativen Landräte, die im Abgeordneten¬ 
hause gegen sie zu stimmen gewagt hat¬ 
ten, aber brach darum doch nicht mit 
den Konservativen überhaupt Ihr Leit¬ 
gedanke war ohne Frage zwischen den 
Bedürfnissen der Landwirtschaft und In¬ 
dustrie, der Produzenten und Konsu¬ 
menten besonnen zu vermitteln und die 

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6NDIANA UNiVERSITY 




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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


036 


Gedanken der Parteien von den inneren 
Interessenkämpfen hinzulenken auf die 
aus der gesamten Wirtschaftsbewegung 
jetzt neu aufsteigenden großen Natio¬ 
nalinteressen. 

Da war es nun der junge Kaiser, der 
mit glühender Überzeugung die Augen 
der Nation auf das hohe Meer zu richten 
unternahm und die Notwendigkeit einer 
starken deutschen Kriegsflotte zum 
Schutze aller überseeischen Interessen 
unermüdlich einprägte. Es mag sein, daß 
ihn ein gewisser persönlicher Ehrgeiz 
an trieb, hinter dem bewunderten Vor¬ 
bilde Englands nicht zurQckzubleiben, 
aber dieser Ehrgeiz drückte auch das na¬ 
türliche Bedürfnis Deutschlands und die 
Konsequenzen seines wirtschaftlichen 
Wachstums aus. Wir werden später 
noch zu zeigen haben, wie sich ganz 
neue weltpolitische Horizonte jetzt öff¬ 
neten und wie Deutschlands Zukunfts¬ 
interessen nun ein ganz anderes Gesicht 
erhielten. Es war nicht leicht, Nation 
und Parteien aus ihrer bisherigen bin¬ 
nenländischen Orientierung herauszu¬ 
führen, aber stufenweise ging es damit 
um die Wende des Jahrhunderts voran, 
und die Flottengesetze von 1898 und 
1000 legten den Grund für eine stärkere 
deutsche Seemacht. 

War es möglich, in Weltwirtschaft 
und Weltpolitik einzutreten mit einer 
gespaltenen Nation, die den Ausgleich 
zwischen Autorität und Freiheit, zwi¬ 
schen Agrar- und Industriebevölkerung 
nicht zu finden vermochte? Es galt jetzt, 
angesichts dieser sich aufdrängenden 
Frage die fruchtbarsten Erfahrungen der 
achtziger und der neunziger Jahre mit¬ 
einander zu vereinigen. Die neuen wirt- 
schafts- und sozialpolitischen Fermente 
der achtziger Jahre hatten, wie wir Sa¬ 
hen, eine neue Form des konservativen 
Geistes geschaffen und eine höhere 
Empfindung für die organisatorische 


Mission des Staates geweckt. Aber das 
innere Verhältnis von Staat und Masse 
war dabei vernachlässigt worden und 
die Spaltung zwischen rechts und links 
schroffer geworden. Jetzt schlug nun die 
Stunde, wo es möglich, ja wo es drin¬ 
gend nötig und unaufschiebbar wurde, 
die wertvolle Errungenschaft der acht¬ 
ziger Jahre hinüberzutragen in das La¬ 
ger der Linken und mitten unter ihnen 
die Lehre zu verkünden, daß Freiheit 
und Monarchie, Macht und Masse zusam¬ 
menrücken müßten, um die Stoßkraft zu 
schaffen, die die neuen Aufgaben der 
Nation zu bewältigen vermochte. Es war 
Friedrich Naumann, der 1900 die Losung 
ausgab: Demokratie und Kaisertum. In 
seinen politischen Anfängen war er als 
Führer einer jüngeren, radikaleren 
christlich-sozialen Richtung über Stök- 
kers orthodox und konservativ gebun¬ 
denes Programm wohl rasch hinausge¬ 
wachsen, aber die Eindrücke der Bis- 
marckschen Realpolitik und die Ideale 
des sozialen Königtums waren in ihm 
tief haften geblieben. Unablässig suchte 
und forderte fortan seine starke Emp¬ 
findung und seine kühne konstruktive 
Phantasie den Ausgleich zwischen den¬ 
jenigen Mächten des modernen Lebens, 
die er als die stärksten und zukunfts¬ 
reichsten herausfühlte: Militärmonar- 
chie, Industrialismus und Massenbewe¬ 
gung. Er wollte die Monarchie nach 
links und die Massenbewegung nach 
rechts führen. Erforderte von der Mon¬ 
archie, daß sie den Mut habe, ihre 
Stützen zu vertauschen, und von der ver¬ 
altenden Schicht des ostelbischen Agrar¬ 
adels sich losreiße. Er forderte von den 
Massen, daß sie den Mut habe, Utopien 
zu opfern, und die Realitäten des Lebens, 
die Notwendigkeit, alle wirtschaftliche 
Arbeit und alle von ihr erstrebten Kul¬ 
turgüter mit einem starken Panzer zu 
umgeben, aneikenne. Mit großem Sinne 


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Fr. Meinecke, Reich und Natten seit 1871 


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erkannte er, obgleich sein eigenes Herz 
ihn mehr zu den Aufgaben der inneren 
Politik hinzog, daß die äußere Politik 
in ihrem Gesamtverlaufe doch noch 
wichtiger und folgenschwerer sei als die 
innere. „Das soziale Kaisertum", be¬ 
kannte er, „ist nur möglich, wenn sich 
der Kaiser in seinem Hauptberuf, in der- 
Vaterlandsverteidigung, auf soziale und 
freiheitliche Volksteile stützen kann. . . 
Wer aber will ein Deutschland überwin¬ 
den, in dem der Kaiser und die Masse 
sich gefunden haben?" 

Ahnungsreiche Gedanken dieser Art 
entspringen immer aus Wirklichkeits- 
sinn und Phantasie zugleich. Aber weil 
Wunsch und Leidenschaft sie beflügeln, 
suchen sie nur die geraden Wege zum 
Ziele und verkennen, daß alle geschicht¬ 
lichen Lebensströme sich winden und 
biegen müssen. Zwischen der alten Mon¬ 
archie und den neuen Massen, die er ver¬ 
einigen wollte, lag nun einmal die ganze 
Welt der staatlichen und gesellschaft¬ 
lichen Mächte, innerhalb deren die Mon¬ 
archie emporgekommen, mit der sie tau¬ 
sendfältig verwachsen war. Sie sah auch 
keineswegs nach unvermeidlichem Nie¬ 
dergang aus, sondern strotzte von Le¬ 
bens- und Widerstandskraft. Der ost¬ 
elbische Rittergutsbesitzer, der seinen 
Betrieb modernisierte und sich genos¬ 
senschaftlich organisierte, der es ver¬ 
stand, auch den ländlichen Kleingrund¬ 
besitz in sein Interesse zu ziehen, war 
dem Kampfe ums Dasein vollauf ge¬ 
wachsen. Jede einzelne lebendige Schicht 
der Nation aber trägt bei zu ihrem 
Reichtum und ist unentbehrlich, wenn 
es gilt, ihre politische Gesamtkraft neu 
zu organisieren. Die neue Gemeinschaft 
von Demokratie und Kaisertum, die 
Naumann forderte, war groß gedacht 
und früher oder später unabweisbar, 
wenn das nationale Leben nicht ausein¬ 
anderfallen sollte. Aber sie enthielt zu 

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wenig. Es mußte auch alles, was von 
lebensfähiger Aristokratie noch da war 
in Deutschland, mit hinein, wenn die 
Synthese genügen sollte. Freilich war 
die Fonnel „Kaisertum, Aristokratie und 
Demokratie" sehr viel schwerer und 
komplizierter auszurechnen als die 
alte Formel „Monarchie und Ari¬ 
stokratie" und die neue Formel „De¬ 
mokratie und Kaisertum". Ein auf 
drei Gewalten beruhendes politi¬ 
sches System kann im gewöhnlichen 
Tagesbetriebe nie so glatt funktio¬ 
nieren wie ein nur auf zwei Gewalten 
beruhendes. Reibungen und abermals 
Reibungen stören es, Kompromisse und 
abermals Kompromisse müssen es wie¬ 
derherstellen. Aber sein eigentlicher 
Sinn und Zweck geht dahin, über Tages- 
bedürfnis und Tagesstreit hinaus einen 
gemeinsamen Boden von Staatsnotwen¬ 
digkeiten für alle Parteien zu schaffen 
und für die großen Existenzfragen der 
Nation alle ihre Kräfte so geschlossen 
und wuchtig zusammenzufassen wie nur 
möglich. 

Und, wenn auch nur in Biegungen 
und Windungen und mit zeitweiligen 
Rückstößen, so ging doch die Entwick¬ 
lung §eit 1900 auf dieses Ziel hin. Die 
Naumannschen Gedanken wirkten über¬ 
aus stark auf die heran wachsen de Ge¬ 
neration. Es ist nicht zu viel gesagt, daß 
sie insbesondere den Linksliberalismus 
allmählich innerlich umformten. Der 
alte doktrinäre Individualismus, der 
jede Steigerung der Staatsgewalt mi߬ 
trauisch ansah,« schmolz in ihm zusam¬ 
men und der Sinn der staatlichen So¬ 
zialpolitik wurde tiefer gewürdigt. So 
wurde der neue soziale Idealismus zum 
Schrittmacher für die Anerkennung 
der Staatsnotwendigkeiten. Die Hee¬ 
resvermehrungen, die bis dahin Kno¬ 
tenpunkte des innerpolitischen Strei¬ 
tes zwischen Regierung und Reichs- 

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Fr. Meineoke, Reich und Nation seit 1871 


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tag gewesen waren, wurden mit ge¬ 
ringerer Reibung und ohne daß noch 
einmal, wie 1887 und 1893, ihretwegen an 
die Reichstagswähler appelliert werden 
mußte, durcbgesetzt. Die Zentrumspar¬ 
tei lernte dabei noch früher wie der 
Linksliberalismus die machtpolitischen 
Notwendigkeiten verstehen und Heeres¬ 
und Flottenforderungen bewilligen. 
Freilich konnte sie als mitregierende 
Partei durch ein Zusammenwirken von 
Einsicht und Berechnung auch rascher 
in dies Verständnis hineinwachsen. Ein¬ 
mal aber ließ sie es doch zu ihrem 
schweren Schaden vermissen. Sie hielt 
darauf, daß die Kolonialverwaltung 
ihren öffentlichen und geheimen Ein¬ 
flüssen sich beuge, und als 1906 Dem- 
bürg, der neue Direktor des Kolonial¬ 
amtes, sie von sich abzuschütteln unter¬ 
nahm, rächte sie sich und brachte 
im Bunde mit der Sozialdemokratie die 
militärischen Forderungen der Regie¬ 
rung für Südwestafrika, die ein Wieder- 
auflodem des eben niedergeworfenen 
Aufstandes verhindern sollten, zu Falle. 
Die freisinnige Volkspartei aber hielt es 
jetzt mit der Regierung, und so konnte 
es der Reichskanzler Fürst Bülow wa¬ 
gen, den Reichstag aufzulösen. I£s war 
das erste Mal, daß die Linksliberalen mit 
den alten Kartellparteien von 1887, den 
Konservativen und Nationalliberalen, in 
einer machtpolitischen, einer überseei¬ 
schen Frage sich zusammenfanden ge¬ 
gen Zentrum und Sozialdemokratie. Das 
Zentrum vermochte seine alten, festge¬ 
fügten Sitze gegen ihren Anprall zwar 
leidlich zu behaupten, aber die Sozial¬ 
demokratie verlor nahezu die Hälfte ih¬ 
rer Sitze, und eine neue, noch nie erlebte 
Mehrheit zog 1907 als konservativ-libe¬ 
raler Block in den Reichstag ein. 

Damit war der Bann gebrochen, der 
die Linksliberalen bisher von der Regie¬ 
rung ferngehalten hatte. Die dauernde 

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Bedeutung des Bülowblockes also liegt 
darin, daß der alte Gegensatz, der seil 
der Konfliktszeit, ja seit der März re vo- 
lution weite Schichten des liberalen Bür¬ 
gertums an herzhafter Mitarbeit bei den 
positiven Aufgaben des Staatslebens ge¬ 
hindert hatte, einen großen und wesent¬ 
lichen Teil seiner Schärfen verlor. Der 
Linksliberalismus gab zwar seine alten 
demokratischen Wünsche und sein 
Ideal eines streng parlamentarisch re¬ 
gierten Staatswesens nicht auf, aber 
ließ nicht mehr wie früher darum den 
Staat in seinen machtpolitischen Bedürf¬ 
nissen darben. Auch das Zentrum zog 
sich seine Lehre aus den Erfahrungen des 
Wahlkampfes von 1907. Und unter der 
starren Decke der Sozialdemokratie 
begannen sich nun auch schon seit den 
neunziger Jahren hier und da die alten 
Marxistischen Dogmen zu lockern. Marx 
hatte verkündet, daß, je weiter der Ka¬ 
pitalismus fortschreite, um so größer 
das Elend der Massen werden würde. 
Die Erfahrung widerlegte ihn, es ging 
nicht abwärts, sondern aufwärts mit der 
Lebenshaltung der Massen. Eine revi¬ 
sionistische Richtung entwickelte sich, 
die auch schon im vorhandenen, gege¬ 
benen Staate nach friedlichen Fort¬ 
schritten strebte, mit den bürgerlichen 
Parteien zu paktieren bereit war und 
vereinzelt sogar die wirtschaftspoli¬ 
tischen und machtpolitischen Über¬ 
zeugungen ihrer bürgerlichen Gegner 
zu verstehen versuchte. Nun konnte auf 
süddeutschem Boden schon etwas ge¬ 
wagt werden, was in Preußen bei 
der stärkeren Spannung zwischen den 
aristokratischen und demokratischen 
Mächten der Gesellschaft und der schär¬ 
feren Ausprägung des Herrschafts¬ 
staates noch lange nicht möglich er¬ 
schien. Seit 1905 verbanden sich in Ba¬ 
den die liberalen Parteien bei den Land¬ 
tagswahlen mit den Sozialdemokraten 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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gegen das Zentrum und arbeiteten mit 
ihnen auf manchen Gebieten der Lan¬ 
desgesetzgebung sogar parlamentarisch 
zusammen. 

Ganz unverkennbar standen alle diese 
Symptome einer Gesundung, einer Poli¬ 
tisierung der einst gegen Bismarck 
kämpfenden Parteien in einem ge¬ 
schichtlichen Zusammenhänge, der an- 
hub mit dem Jahre 1890, mit der Preis¬ 
gabe des Sozialistengesetzes, den neuen 
sozialpolitischen Wegen des Kaisers, 
den Versuchen Caprivis zu einem flüs¬ 
sigeren Verhältnisse der Regierung zu 
den Parteien. Die Naumannschen Ge- 
dankengünge gaben diesen Wandlungen 
zwar noch keinen vollständigen Aus¬ 
druck, aber einen wuchtigen Impuls, 
ohne den die Entstehung des Bülow- 
blockes kaum denkbar wäre. Dieser wie¬ 
der ging über das Naumannsche Pro¬ 
gramm dadurch bedeutsam hinaus, daß 
er den ernsten Versuch machte, unter vol¬ 
ler Wahrung aller monarchischen und 
machtpolitischen Interessen Konserva¬ 
tive und Liberale zu einer vernünftigen 
Ehe zu verbinden; er mußte dabei das 
ideale Ziel, auch die Massen des 
Industrievolkes für den Staat zu 
gewinnen, freilich vertagen. Immer¬ 
hin aber war die Frontstellung des 
Bülowblockes gegen die Sozialdemo¬ 
kratie sowohl wie auch gegen das 
Zentrum von anderem und milde- 
derem Charakter als der Kampf, den 
einst die Anhänger Bismarcks in den 
siebziger Jahren gegen diese beiden 
neuen Massenparteien geführt hatten. 
Man erklärte sie nicht mehr durch¬ 
gängig und schlechthin als die unver¬ 
besserlichen Erz- und Erbfeinde des Rei¬ 
ches. Mochten die Konservativen auch 
(he Sozialdemokratie noch so ansehen, 
so waren doch die liberalen Parteien 
nicht gemeint, den Kampf gegen ihre 
radikalen Forderungen zu einem Kampfe 


der ganzen bürgerlichen Gesellschaft ge¬ 
gen die sozialistische Massenbewegung 
zu steigern. Den Gegensatz gegen das 
Zentrum wiederum empfanden die Li¬ 
beralen allein schon aus Gründen der 
Weltanschauung tiefer als die Konser¬ 
vativen, aber hüteten sich jetzt doch, in 
die Fehler des Kulturkampfes zurückzu¬ 
fallen. Der Bülowblock stand also seinen 
beiden Gegnern nicht in einheitlicher 
Geschlossenheit gegenüber, sein linker 
Flügel wollte den Graben nach links, 
sein rechter Flügel den Graben nach 
rechts, der ihn vom Zentrum trennte, 
nicht zu tief werden lassen. Es war vom 
höchsten Standpunkte des nationalen 
Staatslebens aus gesehen wohl er¬ 
wünscht, daß kein zu tiefer, unversöhnli¬ 
cher Riß die Parteien voneinander schied, 
daß Verständigungs- und Anlehnungs¬ 
möglichkeiten nach allen Seiten hinüber 
bestanden. Aber die praktische Halt¬ 
barkeit des Bülowblockes selbst mußte 
freilich darunter schwer leiden. In der 
ungewohnten Gemeinschaft der preu¬ 
ßischen Konservativen mit der ein¬ 
stigen Partei Eugen Richters traute 
keiner dem anderen ganz über den Weg, 
war jeder Partner in Sorge, die Gemein¬ 
schaft zu teuer zu bezahlen durch das 
Opfer alter, heiliger Grundsätze und In¬ 
teressen. 

Auch war der alte wirtschaftspoliti- 
sehe Kampf zwischen der landwirt¬ 
schaftlichen Bevölkerung und den städ¬ 
tisch- industriellen Schichten, die zum 
Linksliberalismus und zur Sozialdemo¬ 
kratie hielten, unvergessen und hatte 
erst wenige Jahre zuvor, 1902, als beim 
Ablauf der Caprivischen Handelsver¬ 
träge ein neuer Zolltarif mit höheren 
Sätzen und stärkerer Belastung der 
Nahrungsmittel durchgesetzt wurde, 
noch leidenschaftlich getobt. Der neue 
Tarif und die neuen auf ihm beruhen¬ 
den Handelsverträge traten seit 1906 in 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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Kraft, der wirtschaftliche Aufschwung 
Deutschlands hielt vor wie nach an, trotz 
der neuen Zollsätze. Neuen Hader aber 
unter den alten, jetzt im BQlowblock ver¬ 
einigten Gegnern entzündete 1909 das 
Problem einer durchgreifenden Reichsfi¬ 
nanzreform. Ihre drängende Notwendig¬ 
keit wurde von keinem geleugnet, aber 
über die billige Verteilung der Lasten, 
die sie dem Steuerzahler bringen mußte, 
gerieten Konservative und Liberale hart 
aneinander, und die von der Regierung 
und den Liberalen geforderte, von den 
Konservativen bestrittene Erbanfall¬ 
steuer wurde zum Zankapfel innerhalb 
des Blockes. Hinter dem agrarischen In¬ 
teresse, das die Konservativen dabei zäh 
verteidigten, wirkte noch ihre Sorge, daß 
eine Fortsetzung der Blockpolitik zu 
einer Reform des preußischen Dreiklas¬ 
senwahlrechts, der Grundlage ihrer par¬ 
lamentarisch«! Machtstellung in Preu¬ 
ßen, führen werde; das Zentrum benutzte 
mit kluger Taktik die Situation, ver¬ 
lockte die Konservativen dazu, mit ihm 
zusammen die Finanzreform ohne Erb¬ 
anfallsteuer zu machen, sprengte damit 
den Block und brachte den ihm mißlie¬ 
bigen Staatsmann, der ihn geschaffen 
hatte, zu Falle. 

Die neue Regierung des Kanzlers v. 
Bethmann Hollweg nahm die von Kon¬ 
servativen und Zentrum, dem sogenann¬ 
ten schwarzblauen Block angebotene Fi¬ 
nanzreform an. Man wagte es nicht an 
die Wähler zu appellieren und einen 
Wahlkampf unter liberalen Vorzeichen 
gegen die Konservativen zu entfesseln. 
Vielleicht hätte die ernste Drohung mit 
Neuwahlen die Konservativen diesmal 
noch bei der Stange halten und zur An¬ 
nahme der Erbanfallsteuer bestimmen 
können. Aber eine durch Zwang und 
Drohung aufrechtgehaltene Blockpolitik 
hatte keine Gewähr der Dauer, und über 
kurz oder lang wäre sie doch auseinan- 

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dergebrochen. So mußte sich die Regie- 
rung jetzt 6chon fragen, ob sie es auf 
einen Bruch mit den Konservativen an¬ 
kommen lassen dürfe. Der Boden, den 
die Regierung damit nach links hin hatte 
betreten müssen, erschien ihr zu unsi¬ 
cher und gefährlich; hätte sie doch in 
diesem Falle auch die Hilfe der Sozial¬ 
demokratie sich gefallen lassen müssen I 
So wurde jetzt gewissermaßen die erste 
Probe auf das Exempel gemacht ob 
die Dinge schon reif seien zum Bünd¬ 
nisse von Demokratie und Kaisertum. 
Der Linksliberalismus war seit 1906 
bündnisfähig geworden, die Sozialde¬ 
mokratie aber noch lange nicht und so 
glaubte die Regierung, vor die scharfe 
Wahl zwischen Rechts und Links ge¬ 
stellt, sich für Rechts entscheiden zu 
müssen. Man darf fragen, ob sie es nicht 
doch hätte wagen dürfen, kühn in die 
Wogen nach links hin zu steuern, ob 
nicht gerade dadurch, daß der Staat zur 
Sozialdemokratie kam, auch die Sozial¬ 
demokratie vielleicht gezwungen wor¬ 
den wäre, zum Staate zu kommen und 
positive Mitarbeit an ihm zu leisten. 
Aber der Ausgang dieses Wagnisses 
war, im Lichte des damaligen Momentes 
gesehen, unbestimmt. 

Indem die Regierung den dunklen und 
unberechenbaren Weg nach links hin 
vermied, trieb sie nun freilich aus der 
Scylla in die Charybdis, denn Zeiten tief¬ 
ster Spaltung und Verbitterung zwi¬ 
schen Rechts und Links folgten nun. Die 
Konservativen erschienen den städti¬ 
schen Massen nur noch als eine Partei 
des nackten materiellen Interesses und 
ihr Bündnis mit dem Zentrum, dem die 
Regierung sich beugte, als der Beginn 
eines reaktionär-klerikalen Herrschafts¬ 
systems, das alle freieren Ideale und zu¬ 
gleich die wirtschaftlichen Interessen 
des neuen Deutschlands bedrohte. Da¬ 
für klagten die Konservativen wieder 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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Ober den leidenschaftlichen Radikalis¬ 
mus, der in die Parteien der Linken ent¬ 
zöge, Ober die bedenkliche Annäherung 
der liberalen Schichten an die Sozial¬ 
demokratie. Die Liberalen freilich glaub¬ 
ten gerade deswegen jetzt so scharf den 
schwarzblauen Block bekämpfen zu 
müssen, um die flutenden und erregten 
Massen ihrer Wähler bei ihrer Fahne 
zu halten und vor dem Übergange in 
das sozialdemokratische Lager zu be¬ 
wahren. Völlig gelingen konnte auch das 
nicht. In den Stürmen des Wahlkampfes 
von 1912 schwang sich die Sozialdemo¬ 
kratie, die 1907 durch den Bülowblock 
auf 43 Sitze zusammengedrückt worden 
war, zur stärksten Partei des Reichs¬ 
tages mit 110 Sitzen und nahezu 4 1 /* Mil¬ 
lionen Wählern auf.Alle übrigen großen 
Parteien verloren, am stärksten die der 
Rechten, so daß die vereinigten Parteien 
der Linken die gesamte Rechte um ein 
paar Stimmen überwogen und der 
schwarzblaue Block im wesentlichen ge¬ 
brochen war. Aber war es möglich mit 
diesem Reichstage zu regieren? Und 
welche dunklen Befürchtungen drängten 
sich nicht auf, wenn der Riß zwischen 
den Massen und dem Staate immer noch 
tiefer wurde, während gleichzeitig die 
Weltlage für Deutschland sich immer 
stärker umwölkte! Seit 1904 trieb Eng¬ 
land seine Einkreisungspolitik gegen 
Deutschland, seit 1907 stand es nicht nur 
mit Frankreich, sondern auch mit Ru߬ 
land zusammen. Eben hatte man die 
Marokkokrisis von 1911 hinter sich, 
die schon zum Weltkriege hätte füh¬ 
ren können. Im Herbste 1912 aber 
begann der Krieg und Siegeslauf der 
Balkanstaaten gegen die Türkei, der 
alle Orientfragen und panslawistischen 
Triebe Rußlands in Fluß brachte und 
weiter wirkend das Staatsgefüge des 
verbündeten Österreich-Ungarns be¬ 
drohen mußte. 

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Die Egoismen der Parteien und wirt¬ 
schaftlichen Interessengruppen, die sich 
so leidenschaftlich und beinahe wach¬ 
send von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ent¬ 
laden hatten, entsprangen im Grunde 
aus einer allgemein wachsenden Le¬ 
benskraft der Nation. Sie wurde durch 
ihre gewaltig ausgreifende Arbeit und 
Anstrengung nicht nur stetig reicher 
an materiellen Gütern, sondern auch an 
neuen Energiequellen, die nun in jedes 
sich öffnende Flußbett des Lebens hin¬ 
einströmten. Arbeiten und Streiten war 
die Signatur. Man widmete sich der Ar¬ 
beit mit der trotzigen Gesinnung des 
Kämpfers, der unbedingt sich durch¬ 
setzen will. Man stürzte sich in den 
Kampf mit der zähen, geduldigen und 
hingebenden Gesinnung, die die Ar¬ 
beit verlangt, mit jenem pedantischen 
Pflichtgefühl für die gewiesene Auf¬ 
gabe, das dem Deutschen durch Anlage 
und jahrhundertelange Erziehung tief 
eingedrückt war. Die Zahl und Art der 
Aufgaben aber war in dem modernen, 
von Menschen strotzenden, in die Welt¬ 
wirtschaft hinausdrängenden Deutsch¬ 
land so sehr viel größer und mannigfal¬ 
tiger als in den alten einfacheren Zeiten, 
wo die deutsche Arbeitsgesinamng treu 
am Webstuhle der Tradition und Auto¬ 
rität gesessen hatte, daß ein wildes 
Durch-und Gegeneinander im Feuereifer 
des Kampfes und der Arbeit entstehen 
mußte. Insbesondere galt das aber vom 
Treiben der Parteien. Der alte partiku- 
laristische Geist der Deutschen warf sich 
jetzt, wie Fürst Bülow einmal richtig be¬ 
obachtet hat, auf das Parteiwesen. Die 
Parteien haben alle eigentlich erst im 
letzten Menschenalter die volle Technik 
des Parteiwesens ausgebildet, die Or¬ 
ganisation ihrer Vereine, Vorstände, Bu¬ 
reaus, Parteibeamten Und Preßpropa- 
ganda. Sie wurden dadurch staatsähn¬ 
liche Gebilde im Staate, ebenso wie die- 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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ser durch Disziplin, Pflichtgefühl, Ehr¬ 
geiz und Machtwillen in sich zusammen- 
gehalten. Und weil sie, wie wir noch 
zu erörtern haben' werden, nach dem 
Charakter unseres Regierungssystems 
immer nur zur Beeinflussung des Staats¬ 
lebens, nie zur vollen Verantwortlich¬ 
keit für das Staatsganze gelangen konn¬ 
ten, so entwickelte sich ihr Verantwort¬ 
lichkeitsgefühl in erster Linie gegen sich 
selbst und ihre Wühler, wurden sie sich 
zu Selbstzwecken und erst recht wurden 
sie dies, als die verschiedenen materi¬ 
ellen Interessen, die sie vertraten, in der 
allgemeinen raschen Aufwärtsbewegung 
der Wirtschaft immer kompakter und 
massenhafter wurden. Die Schwierig¬ 
keit, die Sozialdemokratie hinüberzufüh- 
ren auf den Boden des nationalen 
Staates, rührt nicht zum geringsten da¬ 
her, daß in ihr jener Doppelgeist 
des Kampfes und der Arbeit, jenes 
zähe Eigenleben der modernen deut¬ 
schen Großpartei fast am höchsten ent¬ 
wickelt und organisatorisch am stärk¬ 
sten verankert ist. Gelang es dann ein¬ 
mal, wie beim Bülowblock, die Geister 
verschiedener Parteien unter einen Hut 
zu bringen, so brachen sie doch bald 
wieder auseinander. Gegen die Herr¬ 
schaft des neuen, an seine Stelle treten¬ 
den schwarzblauen Blockes aber revol¬ 
tierten alle übrigen Parteien sogleich 
mit Erfolg. Das Ende vom Liede schien 
nach den Reichstagswahlen von 1912 
eine Art von negativem Gleichgewichts¬ 
zustand zwischen den Parteien zu sein, 
in dem ihre starken Egoismen sich ge¬ 
genseitig in Schach hielten. Man war zu¬ 
nächst ratlos, was daraus werden sollte. 

Die Arbeits- und Kampfesgesinnung 
des neuen Deutschlands, die die Parteien 
so stark und starr gemacht hatte, schien 
in ihnen doch zu entarten und ins Kraut 
zu schießen. Die Oberfülle organisatori¬ 
scher Kraft, die in ihnen sich aus¬ 


wirkte, drohte das politische Gesamtle¬ 
ben der Nation zu desorganisieren. Und 
doch sahen wir deutliche Symptome 
einer anderen, gesünderen, nicht vom 
Staatsganzen weg, sondern zu ihm 
hinführenden Entwicklung bei ihnen, die 
nur eben durchkreuzt, aber nicht ganz 
gehemmt werden konnte durch das 
trotzige Eigenleben der einzelnen Par¬ 
teien. Was gegeneinander kämpft, färbt 
auch voneinander ab; das ist eine alte 
geschichtliche Erfahrung. Geistige Ge¬ 
meinsamkeiten werden zwischen den 
Kämpfenden geschaffen, die lange un¬ 
bewußt bleiben und doch schließlich 
zur Synthese der streitenden Kräfte füh¬ 
ren können. Und je reger im National¬ 
leben eines großen Volkes alles aufein¬ 
ander stößt, um so enger greift es auch 
ineinander ein. Der Mangel an Ellbo¬ 
genraum, über den wir so oft gestöhnt 
haben, hat uns auch miteinander ver¬ 
schmolzen. Und zugleich führte das 
mächtig pulsierende, Altes um gestal¬ 
ten de, Neues formende Leben in Gesell¬ 
schaft, Wirtschaft und Kultur, die Aus¬ 
dehnung in die Welt und wiederum der 
Gegendruck der feindlichen Weltmächte 
auf Deutschland unablässig neuen Ge¬ 
dankenstoff, neue Horizonte, neue Sor¬ 
gen und Probleme herauf, mit denen die 
Denkenden aller Parteien sich leiden¬ 
schaftlich beschäftigten. Das Revidie¬ 
ren alter Programme, das Um- und Neu¬ 
lernen war überall im Gange, und wäh¬ 
rend die Parteien in ihrem Handeln sich 
oft ganz hart und unbiegsam zeigten, 
spannen sich in ihrem Denken mannig¬ 
fache neue Fäden von einer zur andern. 
Es wehte durch Deutschland jetzt wieder 
die scharfe Luft der Gefahr, die die Men¬ 
schen zwingt, sich auf das zu besinnen, 
was das Ganze stark und widerstands¬ 
fähig macht. Zwar trug das Bild der Ge¬ 
fahr, in die uns ein großer Existenz¬ 
kampf stürzen würde, trotz aller schon 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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durchlebten Krisen noch undeutliche 
und schwankende Züge. Aber wem sie 
vor Augen trat, wurde sich sofort be¬ 
wußt, daß sie ein trotz alles Haders in 
sich festverwachsenes, von Kraft und 
Willen erfülltes, zum Äußersten ent¬ 
schlossenes Volk finden würde. 

Es war eine eigentümliche Schickung, 
daß der 1912 gewählte Reichstag, der 
an den Maßstäben der Bismarckschen 
Zeit gemessen der schlechteste aller bis¬ 
herigen Reichstage war, vor Entschei¬ 
dungen über nationale Existenzfragen 
gestellt wurde, wie sie so groß und 
schwer noch nie ein Reichstag zu fällen 
hatte. Nun sollte sich aber zeigen, daß 
die einstige Mehrheit Windthorst-Rich- 
ter-Grillenberger, die in den achtziger 
Jahren der Bismarckschen Politik so viel 
Hemmung und Kummer bereitet hatte, 
in Bismarcks Werk zum großen Teile 
schon hineingewachsen war und auch in 
ihren noch widerstrebenden Teilen hin¬ 
einzuwachsen begann. 

Das Vorspiel dieser Entscheidungen 
brachte das Jahr 1913. Die neuen Macht- 
Verhältnisse, die durch die unerwartet 
starke Entfaltung der jungen Balkan¬ 
staaten geschaffen wurden und Öster¬ 
reichs Stellung im Südosten gefährdeter 
machten, dazu die gesteigerten Rü¬ 
stungen in Rußland und Frankreich 
zwangen die Reichsregierung, über das 
Maß der bisherigen Heeresvermehrun¬ 
gen weit hinauszugehen und mit einem 
kräftigen Rucke den Friedensstand um 
136000 Köpfe, auf eine Friedensstärke 
von insgesamt rund 800000 Mann zu 
vermehren. Ungewöhnlich war auch das 
Maß und die Art der finanziellen Opfer, 
die hierfür vom deutschen Volke zu 
bringen waren. Waren die Lasten der 
Reichsfinanzreform in der Hauptsache 
von den breiteren Massen zu tragen ge¬ 
wesen, so wurden diesmal in erster Linie 
die begüterten Schichten in Anspruch 

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genommen durch einen einmaligen 
Wehrbeitrag und durch eine Besitz¬ 
steuer, durch die nun auch die Forde¬ 
rung der Linken nach höherer Besteue¬ 
rung der Erbschaften tatsächlich miter- 
füllt wurde. Die Sozialdemokraten ent¬ 
schlossen sich nun, obschon sie die Hee- 
resvermehrung ablehnten, an der Dek- 
kungsfrage mitzuarbeiten. Gegen den 
Wehrbeitrag stimmten nur Polen und 
Elsässer. Gegen das Besitzsteuergesetz 
stimmten die Konservativen. Die Wehr¬ 
vorlage selbst wurde durch die Mehrheit 
von Konservativen, Liberalen und Zen¬ 
trum durchgebracht Ein höchst bemer¬ 
kenswerter Hergang. Die alten Risse 
zwischen Parteiwillen und Reichsgedan¬ 
ken waren noch nicht verschwunden. 
Man konnte die eine Hand noch in alter 
Gesinnung zurückhalten, aber die an¬ 
dern doch schon hinüberstrecken. 

Als dann der Weltkrieg über Deutsch¬ 
land hereinbrach, kam der Tag der Ernte 
für die Nation. Der Kaiser sprach das 
Wort das allen Zwist der letzten Jahr¬ 
zehnte begrub: „Ich kenne keine Par¬ 
teien mehr, ich kenne nur noch Deut¬ 
sche.“ Die Nation, hochatmend, ergriff 
seine Hand mit dem tiefen, alle Seelen 
durchzitternden Gefühle, daß sie mit 
ihm vereint einer unerhörten Prüfung 
des Schicksals entgegengehe und nur in 
sich selbst die Kraft, es zu bestehen, 
finden könne, aber auch finden werde. 

Man war ernst und froh, erschüttert 
und zuversichtlich zugleich in dem An¬ 
blicke des Wunders, wie die Nebel rissen 
und der Geist des Volkes rein und groß 
aus allen Seelen emporstieg, lebend 
durch ihre Seelen und doch unsterblich 
über alles Einzeldasein erhaben; alle 
Einzelwillen aber jetzt in eine einzige 
stählerne Spitze zusammen drängend. 
Und was die tieferen Beobachter des 
Volkslebens schon längst ahnten, bestä¬ 
tigte sich jetzt. Auch die Millionenpartei 

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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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der Sozialdemokratie erklärte sich derungen, die der Krieg an Deutschlands 
schlecht und recht als deutsch, und ihre Finanzkraft stellte. Der Bann war ge- 
Vertreter bewilligten in der Reichstags- brachen, das Werk Bismarcks umschloß 
Sitzung vom 4. August mit allen übrigen nun die ganze Nation. 

Parteien zusammen die gewaltigen For- (Schluß folgt) 

Goethes Anschauung vom sittlichen Leben. 

Von Jonas Cohn. 

Goethe hat über sittliche Fragen nicht I Äußerungen, opfern auch Farbigkeit 


in der Art nachgedacht wie der Philo¬ 
soph, der Ethiker es tut. Weder kam 
es ihm auf ein umfassendes, wider¬ 
spruchsfreies System, noch auf die Klä¬ 
rung der Grundbegriffe, auf die präzise 
Stellung der Fragen, auf ihre richtige 
wohlbewiesene Beantwortung an. Es 
hat daher wenig Sinn, etwa seine ge¬ 
legentlichen Aussprüche über Pflicht, 
Recht, Schuld, über Willensfreiheit usf. 
zusammenzustellen. Vielmehr: im Han¬ 
deln und Dulden des Lebens ent¬ 
wickelte sich ihm aus der Notwendig¬ 
keit seines Wesens heraus eine An¬ 
schauung des sittlichen Lebens, die er 
in Dichtungen darstellte, aus der heraus 
er in Gesprächen und Briefen über man¬ 
nigfache Angelegenheiten urteilte und 
riet, deren einzelne Seiten er endlich 
in Sprüchen und Strophen zusammen¬ 
faßte. Was Goethe von den Wander¬ 
jahren zu sagen pflegte, kann man auf 
seine Äußerungen über sittliches Leben 
allgemein anwenden: Sie sind nicht aus 
einem Stück, aber aus einem Sinn. Eine 
Fülle verschiedener Bilder bietet er dar, 
bald in dieser, bald in jener Per¬ 
spektive gesehen. Im Stil freilich stim¬ 
men alle diese Bilder überein, und auch 
die in ihnen dargestellte Welt ist ein¬ 
heitlich. Projizieren wir sie gleichsam 
auf eine Ebene, um eine schematische 
Umrißzeichnung des Ganzen zu gewin¬ 
nen, so üben wir bereits Gewalt an der 
freien Beweglichkeit der einzelnen 

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und Reichtum; aber das ist unvermeid¬ 
lich, soll das Mannigfaltige, das der 
Dichter uns bietet, als Einheit gesehen 
werden. Wenn wir dagegen an diese 
lebendigen Gebilde die Frage stellen, 
ob sie diesem oder jenem unter den 
verschiedenen ethischen Systemen ent¬ 
sprechen, so werden wir kaum eine 
eindeutige Antwort erhalten und schwer¬ 
lich für unser eigenes Denken viel ge¬ 
winnen. 

Es hat wohl nie einen positiveren 
Menschen gegeben als Goethe war. Ich 
meine mit positiv: zugewandt dem Sein, 
dem Leben, allen Seiten des Univer¬ 
sums wie allen Betätigungen seiner 
mannigfachen Kräfte, stets ganz auf¬ 
gehend in dem, was er tat und doch 
mit weit offenen Augen für alles, was 
ihm entgegenkam. Einem solchen Jüng¬ 
ling mußte die alte Idee einleuchten, 
daß der Mensch ein „Mikrokosmos** 
sei, ein verkleinertes Abbild des großen 
Kosmos, der geordneten Welt. So hat 
Goethe sich in seinen höchsten Augen¬ 
blicken gefühlt, aber diese Begeiste- 
rung konnte ihn nicht dauernd erfüllen. 
Das ungewisse Menschenlos, die Gren¬ 
zen der Menschheit lassen sich nicht 
übersteigen. Die Schranken jeder, auch 
der größten Individualität machen sich 
fühlbar — der „Dämon** warnt, treibt 
zurück von dem, was seinem Wesen 
j widerstrebt Er muß sich nun als be- 
| sondere, begrenzte Kraft ansehen 1er- 

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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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nen, muß einsehen, daß sein Gesetz 
auch Ausschließung, Abschließung for¬ 
dert, daß er die Grenzen seines Wesens 
ehren muß, um sich in diesen Grenzen 
rein auszubilden. Das ist die erste 
große Entsagung. Ober die notwendige 
Enge des einzelnen Daseins weist hin¬ 
aus die Liebe, wenn die beschrankte 
Seele das ihr Versagte im Geliebten 
ergreifen will, weist hinaus die mit 
anderen gemeinsame Arbeit, wenn der 
einzelne das Bruchstück seines We¬ 
sens zur Leistung verdichtet und in 
den Kreis fremder Leistungen einfügt. 
Aber mit diesem Herai^streten aus 
dem Kreise des geschlossenen Einzel- 
lebens ist eine zweite Entsagung ver¬ 
bunden, der Verzicht auf das rück¬ 
sichtslose Entfalten und Auswirken 
aller eigenen Kräfte. In dieser doppel¬ 
ten Spannung und ihrer immer nur teil¬ 
weisen Lösung bewegt sich das sitt¬ 
liche Leben. Aber das alte Bild des 
Mikrokosmos ist nicht entschwunden 
— es schwebt als Idealbild vor, dem 
sich anzunähem nun doch höchste 
Gnade bleibt. 

Das Schema: ursprüngliche Positivi- 
töt — doppelte Einschränkung durch 
Individualität und Gesellschaft, dop¬ 
pelte Entsagung — endlich mikrokos- 
misches Ideal — soll nun ausgefüllt 
werden. 

Dinge und Menschen mit liebender 
Gewalt an sich heranziehen, den Augen¬ 
blick, wie er sich bietet, auskosten, 
jedem Gefühle sich ganz überlassen, 
überschwenglich in Freuden und Lei¬ 
den sein Leben fühlen — das ist des 
jungen Goethe Verlangen. Überall sieht 
er Verlockendes, Liebenswertes — sein 
Schmerz ist, daß diese Fülle das Gefäß 
zersprengt Als ein Liebender tritt er 
ins Reich der Dichtung — und noch der 
Greis antwortet auf die Frage, was Ihm 

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die Jahre, die räuberischen, denn ge¬ 
lassen hatten: 

.Mir bleibt genug! Es bieibtldee und Liebe!* 
Der liebende Blick entdeckt das 
Wertvolle im geliebten Gegenstand: je 
weiter, umfassender die Liebe, um so 
reicher die Erkenntnis der Werte. 
Goethe hat nicht an die Täuschung 
durch Liebe geglaubt; im Gegenteil, es 
ist eine seiner Grundüberzeugungen, 
daß in der Liebe die Wahrheit liegt 
daß man nur erkennt, was man liebt 
Nach zwei Richtungen entfaltet sich 
diese liebende Hingabe: sie versenkt 
sich intensiv in den Augenblick, in das 
eine Erlebnis, das jetzt die Seele erfüllt, 
und sie erweitert sich extensiv zur Teil¬ 
nahme an allem, was da lebt und wiikt 
Dem Augenblicke sich hingeben, leisten, 
was er fordert, genießen, was er bietet 
— alles Große, Schöne, Edle, auch alle 
glückliche Heiterkeit, allen unbefange¬ 
nen Frohsinn, das ist stets Goethes 
Mahnung. Übellaune, die durch ihren . 
Krittel den unbefangenen Genuß, die 
gesellige Heiterkeit stört hat er stets in 
sich und bei anderen bekämpft, wie ihm 
auch aller Spott auf Großes, alle Kari¬ 
katur zuwider war. So schreibt er am 
26. Juni 1824 an Zelter: „Wie ich ein 
Todfeind von allem Parodieren und 
Travestieren bin, hab’ ich nie verhehlt; 
aber nur deswegen bin ich’s, weil die¬ 
ses garstige Gezücht das Schöne, Edle, 
Große herunterzieht um es zu vernich¬ 
ten. Ja, selbst den Schein seh’ ich nicht 
gern dadurch verjagt.“ 1 ) 


1) Zelter hatte, obwohl kein .Gönner des 
Travestierens*, sich an Shakespeares Troilus 
undCressida ergötzt. Er sieht etwas Positives 
in dieser Farce, Goethe stimmt in der Fort¬ 
setzung der zitierten Satze zu: .Die Alten 
.. und Shakespeare .. setzen an die Stelle 
dessen, was sie uns zu rauben scheinen, 
wieder etwas höchst Schätzenswertes, Wür¬ 
diges und Erfreuliches.* Goethe denkt da¬ 
bei an den Kyklops des Euripides. Vgl. die 

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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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Alle diese Mahnungen gehen hervor 
aus der tiefen Überzeugung, dafi Liebe 
und Verehrung richtiger sehen als Haß 
und verkleinernder Tadelsinn. Darum 
haben wir das Wertvolle, wenn wir 
es genießen, mitfAhlen; wir verlieren 
es, wenn wir uns dem Augenblick der 
Hingabe entfremden. 

Extensive Bejahung, Heranziehung 
alles Wertvollen, was in das eigne Be¬ 
reich kommt, war stets Goethes Grund¬ 
satz. Er spricht ihn einmal aus in den 
,.Annalen“ für das Jahr 1813: „Von dem 
Standpunkt aus, worauf es Gott und 
der Natur mich zu setzen beliebt, und 
wo ich zunächst den Umständen gemäß 
zu wirken nicht unterließ, sah ich mich 
überall um, wo große Bestrebungen sich 
hervortaten und andauernd wirkten. Ich 
meinesteils war bemüht durch Studien, 
eigene Leistungen, Sammlungen und 
Versuche ihnen entgegenzukommen und 
so auf den Gewinn dessen, was ich 
. nie selbst erreicht hätte, treulich vor¬ 
bereitet, es zu verdienen, daß ich unbe¬ 
fangen, ohne Rivalität und Neid, ganz 
frisch und lebendig dasjenige mir an¬ 
eignen durfte, was von den besten Gei¬ 
stern des Jahrhunderts geboten ward.“ 

Das Gemeine, die Notdurft das 
Schlechte 6md in ihrer Macht keines¬ 
wegs verkannt. 

,Übers Niederträchtige 
Niemand sich beklage; 

Denn es ist das Mächtige, 

Was man dir auch sage.“ 

Aber beachtet wird es nur, weil es 
nötig ist um Not zu lindern, um das 
Schlechte zu bekämpfen. Wo wir nicht 
berufen sind es abzuwehren, sollen wir 
uns davon fortwenden. Selbst im Buche 
des Unmuts, dem diese Verse entnom- 


Beilage zu dem Briefe an Beust vom 13. Juni 
1827. Gerade diese Ausnahmen und ihre 
Rechtfertigung zeugen von der entschie¬ 
densten positiven Gesinnung. 

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men sind und in dem man die höchste 
positive Gesinnung nicht suchen darf, 
wird dem Schlechten die Gemütsruhe 
des Wanderers entgegengesetzt: 

»Wandrer, gegen selche Not 
Wolltest Du Dich sträuben? 
Wirbelwind und trocknen Kot 
Laß sie drehn und stäuben I“ 

Darum ist Goethe stets Gegner einer 
larmoyanten Versenkung in das Elend 
gewesen; „hilfreich und gut“ — sor¬ 
gend und tätig trat er als Privatmann 
wie als Beamter den Unglücklichen und 
der Not der Massen entgegen; als Be¬ 
trachtender,. als Künstler, wandte er 
seine Gedanken von dem Jammer ab. 
Aus Venedig schreibt er am 4. Mai 1790 
an Caroline Herder: „Daß Sie aber in 
Ihrem Briefe, meine Liebe, die hohen 
Trümmern und Künste herunter¬ 
setzen und uns dafür Fleiß, Mühe 
und Not anpreisen, soll als eine Haus¬ 
frauenlaune verziehen werden. Diese 
drei letzten allerliebsten Schwestern sind 
freilich des Menschen Gefährten, aber 
warum soll man nicht alles verehren, 
was das Gemüt erhebt und uns durchs 
mühselige Leben hindurchhilft I Wenn 
Ihr das Salz wegwerft, womit soll man 
salzen?“ 

Mit diesen Zugeständnissen an die 
Macht des Wertlosen und Wertwidri¬ 
gen wird die Posltivität zum Problem. 
Goethes von Jugend auf scharfer Blick 
für das Wirkliche auch in seinen ge¬ 
meinen Erscheinungen ist einmal, gleich 
im Beginn seines Schaffens, für ein 
ganzes Werk bestimmend geworden, 
für die Mitschuldigen. Es ist recht be¬ 
merkenswert, daß die breite Darstel¬ 
lung des Gemeinen fast am Anfang von 
Goethes Werk steht und seither nicht 
wiederkehrt. Später wird das Negative 
tragisch. — Weither verzweifelt, weil 
die Fülle seines Gefühls von der Ge¬ 
liebten nicht erwidert, von der Ge- 

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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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Seilschaft zurQckgestoßen wird, weil 
auch die Natur dem Verzweifelnden als 
ewig gebärendes, ewig zerstörendes Un¬ 
geheuer entgegentritt Faust wird hin 
und her geworfen von Sehnsucht nach 
Hingabe an das Wertvolle und Zweifel 
an der Möglichkeit irgend etwas 
wahrhaft Lebenswertes zu erringen. 
Die Negativität tritt als Mephisto, als 
Geist der stets verneint, ihm gegenQber. 
Erst durch dieses Hineintreten des Ne¬ 
gativen, des Kampfes, entsteht über¬ 
haupt was wir sittliches Leben nennen 
— aber für Goethes Auffassung ist 
wichtig, daß alles Positive wertvoll 
bleibt, nicht zu einer verderblichen Ab¬ 
lenkung von dem einen, das nottut, 
wird, daß ferner überall das Positive 
innerlich überlegen ist, selbst wo es 
äußerlich als das Schwächere erscheint. 
Faust ist nur Mensch, der Teufel über¬ 
ragt ihn an Macht und Klugheit; aber 
Mephistopheles reicht nirgends an die 
Sphäre heran, der Faust angehört, so 
oft er sich leidenschaftlich dem Wert¬ 
vollen. hingibt. Er versteht Fausts gren¬ 
zenloses Streben so wenig wie sein 
inniges Leben in der Natur oder wie 
Gretchens schlichte Frömmigkeit. In 
Auerbachs Keller, in der Hexenküche, 
im leeren höfischen Getriebe führt Me¬ 
phisto — hier ist Faust passiv —, aber 
sobald etwas Echtes, wahrhaft Wert¬ 
volles naht, vermag der kluge Teufel 
nur noch die äußeren Mittel zu seiner 
Erlangung anzugeben und herbeizu¬ 
holen, dem Wertvollen selbst darf er 
nicht nahen. Er macht die Gelegenheit 
zu Gretchens Verführung — aber so¬ 
wie Faust sich über das bloße sinn¬ 
liche Begehren zu echter Liebe erhebt, 
sowie Gretchens eigene Liebe erwacht, 
steht er als Feind außerhalb. Er weiß 
den Weg zu den Müttern, aber nur der 
schönheitsdurstige Faust vermag He- 
lenens Schatten zu beschwören. Wie 

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man von dem bedrängten Kaiser den 
Meeresstrand zu Lehen gewinnt, ist ihm 
bekannt, Fausts großen Herrscher¬ 
gedanken als freier Fürst mit freiem 
Volk auf meerentrungenem Land sein 
Leben selbst zu gestalten, vermag er 
nicht zu ahnen. Aber das Negative ist 
nötig, damit der Mensch im Streben be- 
harrt. Das Positive besitzen wir in der 
Hingabe an das augenblicklich gege¬ 
bene Wertvolle — gewiß — aber dieses 
ist stets nur begrenzt. Der Fülle des 
Wertvollen bemächtigen wir uns nur, 
wenn wir über jeden glücklichen 
Augenblick doch wieder hinausgehen. 
Man mißversteht das „Streben“ im 
Sinne Goethes, wenn man meint, der 
Wert liege hier am Ende der Bahn — 
— er liegt in jedem Wegabschnitt, er 
wird aber nur ergriffen im Weiter¬ 
schreiten. — Alles Echte und Große 
e'rgreifen — und gerade dadurch immer 
Höheres sehen, in jedem Augenblick 
alles Zugängliche fassen und doch über 
ihn hinauswollen — das ist Goethes 
Bild des echten Strebens. Darin aber 
liegt ein Zwiespalt — und das ist der 
Zwiespalt in Fausts Seele. Der alte 
Faust entgegnet der Sorge: 

.Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück, 
Er unbefriedigt jeden Augenblick.“ 

Er genießt den Augenblick — aber er 
verharrt nicht in ihm — darum unbe¬ 
friedigt, darum frei. Dies allgemeine 
Los des echten Menschen ist hier ge¬ 
steigert zum Titanischen, weil Faust 
alles, die Gott-Natur selbst oder doch, 
als er resigniert, die ganze Menschheit 
in sich aufnehmen will. 

Gegenüber dem unbedingten über¬ 
fliegenden Streben Fausts behält Me¬ 
phistopheles recht, weil er die Schranke 
sichtbar macht Faust will, da der 
Weltgeist sich ihm entzieht, wenigstens 
die ganze Menschheit in seiner Per¬ 
son umspannen — Mephisto spottet 

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Jonas Cohn, Qoethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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über Herrn Mikrokosmos, und Faust hat 
auf sein Wort: 

.Du bleibst doch immer, der du bist* 
nichts mehr zu antworten. 

Solange der Jüngling sich seinem 
starken Qefühl, seinem unbedingten 
Streben überläßt, kann er die eigene 
Besonderung und Beschränkung ver¬ 
gessen — sobald das Versagen des Ge¬ 
fühls, das Mißlingen des Strebens ihn 
zwingen, den Blick auf sich selbst, auf 
den Mittelpunkt jenes schrankenlosen 
Dranges zurückzuwenden, wird er sei¬ 
ner Eigenart gewahr. Aus dem unbe¬ 
dingten Streben muß nun, wenn der 
Mensch nicht verkümmern oder ver- 
flattern will, ein bestimmtes werden — 
dazu aber ist Selbsterkenntnis nötig. 
Immernoch ist Positivität, Fülle das Ziel, 
aber nun bewußt erfaßt als die für diese 
Individualität mögliche Fülle. Ferner ist 
der Sinn jetzt nicht mehr auf den Au¬ 
genblick allein gerichtet, weder auf den 
gegenwärtigen noch wie im Streben auf 
den künftigen, sondern auf das Leben 
als Ganzes. Der Genuß des Augenblicks, 
das Leben in erfüllter Gegenwart bleibt 
wertvoll, aber der Augenblick stellt sich 
zugleich als Glied des ganzen Lebens¬ 
ganges dar. Von hier aus versteht man 
den großen Wert, den Goethe zuneh¬ 
mend auf Erinnerung, auf Rückblick 
legt. Goethe hat über sich selbst sehr 
klar und unbefangen geurteilt, er hat bei 
allen, auf die er Einfluß übte, ein ähnli¬ 
ches Urteil hervorbringen wollen. Das 
Unbewußte, Dunkle, Undurchleuchtete 
hat er stets als den Urgrund aller Pro¬ 
duktivität verehrt — aber nachdem er 
einmal die Dumpfheit des Sturmes und 
Dranges überwunden hatte, weilte sein 
Geist nicht gern auf der Nachtseite. Er 
ließ den Urgnrnd gelten — aber er arbei¬ 
tete sich aus ihm ans Licht empor, und 
nur, was die Helle des Bewußtseins ver- 
trug, durfte ihn anziehen. Auch von der 

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heilenden Macht des Wissens um seine 
Zustände — man könnte von seelischer 
Lichtheilkunst reden — hielt er vieL Von 
seiner übergroßen Reizbarkeit, die sich 
beim Hören von Musik offenbart, einer 
Folge seiner Leidenschaft für Ulrike v. 
Levetzow, schreibt er am 24. August 
1823 an seinen Sohn: „Da aber dieses bis 
zum Bewußtsein emporgehoben ist, so 
wird auch darauf zu wirken sein.“ So be¬ 
greift sich sein Drängen auf Selbster¬ 
kenntnis. Aber es ist nun entscheidend, 
wie diese Selbsterkenntnis erreicht wird: 
„Wie kann man sich selbst kennen ler¬ 
nen? Durch Betrachten niemals, wohl 
aber durch Handeln. Versuche Deine 
Pflicht zu tun und Du weißt gleich, was 
an Dir ist.“ 

Selbsterkenntnis bedeutet hier zu¬ 
nächst: wissen, wie weit man es ge¬ 
bracht hat und was einem an Willens¬ 
kraft und Fertigkeiten fehlt. Das Mit¬ 
tel der Erkenntnis ist zugleich Mittel der 
Ausbildung und Besserung. „Pflicht“ de¬ 
finiert Goethe als „die Forderung des 
Tages.“ Wir stehen immer nur vor be¬ 
stimmten Aufgaben, die wir kräftig an- 
packen sollen, um uns an ihnen zu be¬ 
währen. Aber neben dieser Einsicht in 
den erreichten Grad enthalt die Selbst¬ 
erkenntnis durch Handeln noch die Ein¬ 
sicht in die unabänderliche Art unseres 
Wesens. Wir müssen, um das zu ver¬ 
stehen, den Begriff „Handeln“ in seinem 
vollen Umfang nehmen. „Handeln“ be¬ 
deutet bei Goethe jede Art der bewußten 
Tätigkeit — auch das Forschen, das 
künstlerische Darstellen fällt ihm unter 
diesen Begriff. Indem der Mensch mit al¬ 
ler Kraft in einer bestimmten Richtung 
wirkt, lernt er die Größe seiner Kraft im 
ganzen und seine Eignung für diese be¬ 
stimmte Richtung kennen. Er sieht 
so auch, ob sein Streben einer „fal¬ 
schen Tendenz“ entspringt Als falsche 
Tendenz hat Goethe z. B. seine zeich- 


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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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ne rischen Bemühungen aufgefaßt, eine 
falsche Tendenz hat er in Wilhelm 
Meisters schauspielerischen Versuchen 
(in der späteren Fassung der „Lehr¬ 
jahre“) geschildert. Aber auch die fal¬ 
sche Tendenz bildet, wenn sie nur red¬ 
lich und kräftig zu Ende gelebt und dann 
rechtzeitig als falsch erkannt wird. So 
wird Wilhelm belehrt(Lehrjahre 7. Buch, 
9.Kap.): „Nicht vor Irrtum zu bewahren, 
ist die Pflicht des Menschenerziehers, 
sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn 
seinen Irrtum aus vollen Bechern aus¬ 
schlürfen zu lassen, das ist Weisheit der 
Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, 
hält lange damit Haus, er freut sich 
dessen als eines seltenen Glücks, aber 
wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn 
kennen lernen, wenn er nicht wahnsin¬ 
nig ist.“ 

Goethe hat das an sich selbst erfahren. 
Er schreibt an Eichstädt 15. Sept. 1804: 
„Bei strenger Prüfung meines eigenen 
und fremden Ganges in Leben und 
Kunst fand ich oft, daß das, was man 
mit Recht ein falsches Streben nennen 
kann, für das Individuum ein ganz un¬ 
entbehrlicher Umweg zum Ziele sei. Jede 
Rückkehr vom Irrtum bildet mächtig den 
Menschen im einzelnen und ganzen aus, 
so daß man wohl begreifen kann, wie 
dem Herzensforscher ein reuiger Sünder 
Heber sein kann, als neunundneunzig 
Gerechte.“ 

Alles Streben bricht hervor aus den 
dunklen Tiefen unseres Wesens. Die An¬ 
lage ist dem Menschen auf den Weg ge¬ 
geben, und jede Kraft, die in ihm ist, 
will sich äußern. Aber nicht jedes Stre¬ 
ben, nicht jeder Wunsch entspringt 
gleich stark aus der Notwendigkeit un¬ 
seres Wesens, aus der Kraft unserer An¬ 
lage. Hier ist dem Menschen eine erste 
Entsagung auferlegt — er muß ver¬ 
zichten auf das, was er wünscht, obwohl 
es seinem Wesen ungemäß ist. Diese 

Internationale Monatsschrift 

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„notwendige, bei der Geburt unmittelbar 
ausgesprochene, begrenzte Individuali¬ 
tät der Person, das Charakteristische, 
wodurch sich der einzelne von jedem 
andern bei noch so großer Ähnlichkeit 
unterscheidet, *) hat Goethe „Dämon“ 
genannt. 

Wir müssen wissen, daß dieser 
Dämon in uns unabänderlich ist: „Dir 
kannst du nicht entfliehn.“ Ein Dämon 
steckt in jedem Menschen — auch der 
Einfachste, Unbedeutendste hat seine 
Anlage und Notwendigkeit in sich. In 
engerem Sinne „dämonisch“ aber nannte 
Goethe solche Naturen, deren ganzes 
Leben von einer gewaltigen Urkraft be¬ 
stimmt ist; die mit Notwendigkeit und 
Gewißheit ihren Weg gehen, gleichsam 
verbündet mit dem Schicksal — das 
größte Beispiel hierfür war ihm Napo¬ 
leon, aberauchden Herzog Carl Au¬ 
gust rechnete er „zu den Urdämonen, 
deren granitartiger Charakter sich nie¬ 
mals beugt und die gleichwohl nicht un¬ 
tergehen können“.*) Goethe benutzte als 
Dichter solche „Urworte“ wie „dämo¬ 
nisch“ mehr in einem bestimmten Ge¬ 
fühl als mit einer ganz festen Bedeutung. 
So dürfen wir beim Dämon füglich auch 
an das warnende Daimonion des Sokra¬ 
tes denken, an jene Stimme, die in ent¬ 
scheidenden Augenblicken das Gemäße 
fordert, das Ungemäße abweist. Die 
warnende Stimme übertönen ist Schuld 
Je reiner, zarter, höher ein Mensch ist, 
um so zerstörender wirkt diese Schuld. 
Ottilie in den Wahlverwandtschaften 
weiß nur zu wiederholen: „Ich bin aus 
meiner Bahn geschritten“ — sie büßt 
diesen Abweg mit strenger Entsagung 
und erlangt so im Tode Heiligung. Kräf¬ 
tiger, siegreich offenbart sich die innere 

2) Urworte orphisch. Erklärung: Kunst 
und Altertum II, 3, 68. 

3) Gespräch mit Fr. v. Müller 1809. Bie¬ 
dermann 14 , 106. 

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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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Stimme in Iphigenien, die jede Täu¬ 
schung ihres Gastfreundes Thoas als Be¬ 
fleckung ihrer Natur von sich ablehnt 
und durch reine Wahrheit «die Irrungen 
löst. Die Verletzlichkeit eines Wesens, 
seine Empfindlichkeit für sittliche Be¬ 
fleckung steht in genauem Zusammen¬ 
hang mit seiner Reinheit und Hoheit. 
Was Ottilien zerstört, wäre derberen 
Naturen wohl Oberwindlich, was Iphi¬ 
genie schaudernd von sich weist, er¬ 
scheint dem Pylades als rechtmäßige 
Selbsthilfe. Dabei ist Pylades durchaus 
ein hochstehender Mensch, voll Liebe 
und Aufopferung, tätig, tüchtig, klug — 
nur eben derber, irdischer als Iphigenie. 
Daß die sittliche Forderung in jedem 
sich anders, nach der Notwendigkeit 
seines Wesens ausspricht, hat Goethe oft 
dargestellt. Hierin ist auch eine Ein¬ 
schränkung der Positivität begründet. 
Was uns fremd ist, unserer Natur feind¬ 
lich, das abzulehnen haben wir ein 
Recht. Aber mehr und mehr erkennt 
Goethe darin nur eine subjektive Ein¬ 
engung — um sich in seinem Kreise um 
so kräftiger, freudiger zu behaupten. 
Grundsätzlich wird der Wert dessen, 
was so jeder aus dem eigenen Bereiche 
entfernt, nicht angetastet. Das ist wichtig 
für die ganze geistige Haltung — ob¬ 
wohl Goethe so wenig wie irgendein 
leidenschaftlicher Mensch die Hoheit 
dieser Gesinnung stets wahren konnte. 
Es ist jedem Menschen aufgegeben, sein 
Leben seiner Anlage gemäß zu gestal¬ 
ten, dabei die Steile, an der er steht, 
auszufüllen, die Mittel, die ihm das 
Schicksal darbietet, tüchtig zu benutzen. 
Goethe hat stets Naturen geliebt, die 
so in starker aufbauender Tätigkeit ih¬ 
ren Kreis, so groß oder klein er sei, er¬ 
füllen und aus ihrem Leben ein geschlos¬ 
senes, befriedigtes Ganzes gestalten, die 
das Unglück durch ihre Tätigkeit über¬ 
winden und im Ganzen, Großen, Schö¬ 


nen „resolut leben". Schon Götz v. Ber- 
iichingen ist ein so gearteter Mensch, 
seine Tragik liegt nicht in ihm, sondern 
darin, daß die Zeit solchen Vollnaturen 
nicht mehr Raum und Luft bietet. In 
Hans Sachs feierte Goethe eine solche 
runde, starke Existenz, die doch alles 
Erreichbare in ihrer Weise aufnahm. 
Der Freund seines Alters, Zelter, der 
Berliner Maurermeister und Musiker, 
war ihm durch seine bei aller Vielsei¬ 
tigkeit auf das ihm Gemäße beschränkte 
Tüchtigkeit, durch die volle großartige 
Ausfüllung seines Kreises so nahe und 
lieb. Aber auch im begrenzten Leben des 
schlichten Menschen erkannte Goethe 
diese klare in sich ruhende, das Ihre fest 
ergreifende Tüchtigkeit an. Hermann 
(in Hermann und Dorothea) ist das Ur¬ 
bild einer solchen Natur. Es ist höchst 
wichtig, zu erkennen, daß begrenzte, in 
sich beruhigte Tätigkeit, Beharren im 
eignen Kreise für Goethe nicht im ent¬ 
ferntesten etwas Philisterhaftes hatte, 
denn den Philister hat er allerdings zeit¬ 
lebens bekämpft. 

„Ihr könnt mir immer ungescheut 
Wie Blachern Denkmal setzen; 

Von Franzen hat er euch befreit. 

Ich von Philisternetzen.“ 

Aber was ist ihm Philister? „Ein hoh¬ 
ler Darm — mit Furcht und Hoffnung 
ausgefüllt —, daß Gott erbarm’!“ Furcht 
und Hoffnung sind auf die Zukunft ge¬ 
richtet, sie halten ihr Opfer in einer ste¬ 
ten gespannten Erwartung auf das, was 
vielleicht einmal, vielleicht niemals ein- 
treten wird, lenken ihn ab von dem „re¬ 
soluten Leben“ in der Gegenwart, von 
unbefangenem Genüsse ebenso wie von 
einer der Sache ganz hingegebenen Tä¬ 
tigkeit. Denn der wahrhaft Tätige stellt 
die Frage nach dem Erfolge gar 
nicht — er tut einfach sein Bestes. Das 
Hinschauen auf die Zukunft und vor al¬ 
lem die damit verbundene Erregung 

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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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hemmt die Tätigkeit. Eine allegorische 
Gruppe im Karneval-Maskenzug des 2. 
Teils Faust stellt Viktorie, die siegreiche 
Göttin aller Tätigkeiten dar, getragen 
von einem Elefanten. Die Klugheit führt, 
gefesselt gehen zur Seite Furcht und 
Hoffnung, »zwei der größten Menschen¬ 
feinde“. Wer immer zwischen Furcht 
und Hoffnung schwankt, wer schließlich 
der Sorge anheimfällt, der wird gehalt¬ 
los; denn jeden Gehalt können wir 
nur in der Gegenwart durch volle Hin¬ 
gabe an sie in uns aufnehmen. Es wird 
auffallen, vielleicht manchen abstoßen, 
daß Furcht und Hoffnung hier einander 
gleichgestellt werden. Übrigens fin¬ 
det sich diese gleichmäßige Verurtei¬ 
lung von Furcht und Hoffnung schon 
bei den Stoikern. Seneca im 5. seiner 
moral. Briefe führt einen Ausspruch des 
Rhodiers Hekato (Schüler des Poseido- 
nios, 1. vorchristl. Jahrh.) an: „Höre zu 
hoffen auf und du wirst aufhören zu 
fürchten“ (Desines timere, si sperare de- 
sieris.) Seneca erwartet von seinem 
Freunde die Frage: Wie können zwei 
so verschiedene Wesen sich so gleich 
verhalten? und antwortet darauf: Bei¬ 
de gehören einem schwebenden Gemüte 
an, beide werden aufgeregt durch Er¬ 
wartung der Zukunft Die bedeutendste 
Ursache beider ist daß wir uns nicht 
dem Gegenwärtigen anpassen, sondern 
unsere Gedanken auf Fernliegendes hin¬ 
ausschicken. Es ist wahrscheinlich, daß 
Goethe diese stoische Lehre durch Spi¬ 
nozas Vermittelung überkam. *) Übri¬ 
gens verurteilt Goethe nur die mit 
Furcht verbundene Hoffnung; wo er die 
Hoffnung allein vor sich sieht preist er 
sie — so im letzten der orphischen Ur- 
worte, so schon 1780 in dem Hymnus 
»meiner Göttin*. Hier ist sie die ältere 
gesetztere Schwester" der Phantasie; 

4) Vgl. Ethik 3. Teil, Lehrsatz 50 Anm. 
und Def. 13. Erläuterung. 4. Teil, Lehrsatz47. 

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„meine stille Freundin“ nennt sie der 
Dichter und fleht: 

„O daß sie erst 

Mit dem Lichte des Lebens 

Sich von mir wende. 

Die edle Treiberin, 

Trösterin, Hoffnung.“ 

Hier also erscheint Hoffnung mit der 
Tätigkeit, mit dem echten, erfüllten Le¬ 
ben verbündet. Wir können den Gegen¬ 
satz vielleicht so ausdeuten: die enge, 
auf einen bestimmtes! begrenzten 
Glücksfall gerichtete, seine Wahrschein¬ 
lichkeit abwägende Hoffnung ist not¬ 
wendig mit Furcht verbunden, gehört ei¬ 
nem schwankenden Gemüte an -* an¬ 
ders die gesetztere Schwester der Phan¬ 
tasie: sie wägt nicht ab, sondern sie 
stellt das Erhoffte als lebendig, ge¬ 
genwärtig hin, treibt also doppelt zur 
Tätigkeit und tröstet zugleich durch die 
vorausgenommene Gegenwart, wie etwa 
der erblindete Faust sein großes Werk: 
das freie Volk auf meerentrungenem 
Lande mit dem Auge des Geistes schaut. 

Der Philister also ist der ewig zwi¬ 
schen Furcht und Hoffnung hin- und 
hergeworfene Mensch, der immer sorgt, 
nie mit der Gegenwart ganz eins, nie 
in reinem Streben den Erfolg vergißt. 
Da Goethe für sein Leben und seine 
Werke das Wort Fausts sich zueignen 
darf: 

»Ich habe nur begehrt und nur vollbracht 
Und abermals gewQnscht und so mit Macht 
Mein Leben durchgestärmt; erst groß und 

mächtig — 

Nun aber geht es weise, geht bedächtig.“ 

da er seine Deutschen dazu aufgerufen 
hat, jeder Stunde Wert zu verleihen, ih¬ 
nen gezeigt hat, wie sie das tun sollen, 
fühlt er sich als Befreier aus Philister¬ 
netzen. Das nicht beharrende, sondern 
strebende, aber jeweils dem gegenwär¬ 
tigen Tun ganz hingegebene Leben be¬ 
reichert den Menschen, das Lauern und 
Horchen auf die Möglichkeiten der Zu- 

31* 

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Jonas Cohn, Qoethes Anschauung vom sittlichen Leben 


968 


kunft entleert ihn, so daß eine bloße 
Höhlung übrig bleibt, in der nun die Ge¬ 
spenster Furcht und Hoffnung ihr Un¬ 
wesen treiben. 

Der Gegensatz wird vollends deut¬ 
lich, wenn wir den Kreis der Be¬ 
trachtung erweitern, nicht die innere 
Entwicklung des einzelnen Menschen, 
sondern sein Verhältnis zu andern be¬ 
trachten. Da alles, woran unser Herz 
hängt, die Qual der Sorge vermehrt, 
wenn erst einmal der Mensch zum 
Knecht der Sorge geworden ist, so engt 
der Philister seinen Kreis ein. Der Apo¬ 
theker in Hermann und Dorothea, wohl 
die entschiedenste Philistergestalt in 
Goethes Werken, sagt: 

a O glücklich, wer in den Tagen 
dieser Flucht und Verwirrung in seinem 
Haus nur allein lebt, 

wem nicht Frau und Kinder zur Seite bange 
sich schmiegen!“ 

Der echte Mensch dagegen liebt und 
teilt mit, er will und sieht den Gewinn 
der Liebe und Teilnahme und nimmt 
den Schmerz des Verlustes auf sich, 
wenn er ihn trifft. Goethes Gestalten 
sind fast durchweg Liebende; selbst der 
kalte Carlos im Clavigo wird durch seine 
hingebende Freundschaft für Clavigo 
gehoben — ganz jenseits der Liebe steht 
nur Mephisto. Auch Goethe der Dichter 
steht seinen Gestalten meist als Lieben¬ 
der zur Seite — nur sehr wenige episodi¬ 
sche Figuren, wie die Luciane in den 
Wahlverwandtschaften, sind ohne jede 
Wärme geschildert. Daß Goethe Anlage 
zum Karikieren hatte, zur scharfen, zer¬ 
störenden Beleuchtung der Schwächen, 
zeigen manche Jugenddichtungen und 
gelegentliche Aussprüche. Aber er hat 
diese Neigung nicht gepflegt, sie ver¬ 
schwand mehr und mehr vor seiner po¬ 
sitiven Gesinnung. Die Liebe an sich als 
Gefühl, als Hingabe ist bei Goethe stets 
klar, einheitlich, herrlich. Die Kämpfe 


der Liebe liegen bei ihm nicht, wie oft 
bei den Romantikern und vielen Spa¬ 
teren im Gefühl als solchem. Gefühls¬ 
verwirrung wie Heinrich v. Kleist 
Schweben zwischen Liebe und Haß, 
Kampf von Mann und Weib noch in der 
Liebe wie Hebbel hat er nie geschildert 
Ich glaube, den einheitlichen Glanz der 
Liebe zu zerlegen, wäre ihm noch wi¬ 
driger gewesen, als die Zerspaltung des 
weißen Lichtes. Nicht im Wesen, nur im 
Schicksal der Liebe liegt für Goethe ihr 
Problem. Der Gegensatz des Aufgehens 
im Augenblick und des rastlosen Fort¬ 
strebens greift auf die Liebe zu anderen 
über. Im Augenblicke des Liebens fühlt 
die Liebe sich als ewig, d. h. als hinausge¬ 
hoben aus dem Werden und Vergehen 
alles Zeitlichen. Aber die Gewalt solcher 
Augenblicke läßt sich nicht festhalten— 
und so kommt die Treue gegen einen an¬ 
dern Menschen in Streit mit der Treue 
gegen das eigne sich umwandelnde 
Wesen. In dem Verhältnis zu einem ge¬ 
liebten Menschen entsteht aus dem Kon¬ 
flikt zwischen Augenblick und Weiter¬ 
streben nicht nur Qual, sondern Schuld, 
wenigstens für den titanischen Men¬ 
schen, mit dem der andere, der geliebte 
Mensch nicht Schritt zu halten ver¬ 
mag. Goethe hat die Schuld und das Leid 
des Verlassens oft dargestellt, einmal — 
in der Elegie „Amyntas" — Schuld und 
Leid des Festhaltens an einem geliebten 
Wesen, das der Liebende doch zugleich 
als hemmende Fessel fühlt. Dabei weiß 
Goethe, daß alles Heil der Menschen in 
der Dauer liegt. Die Ehe war ihm heilig 
— er wollte ihre hohe Idee, ihre Unauf¬ 
löslichkeit gewahrt wissen, ob auch ein¬ 
zelne Paare einander das Leben verbit¬ 
tern — sie hätten sonst andere Leiden. 
Die Wahlverwandtschaften beruhen 
ganz auf dieser Anerkennung der Ehe 
Das bedeutet natürlich nicht: sie sind eine 
Predigt über den Text der Ehe; viel* 


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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


970 


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mehr: sie stellen dar, wie die geheimsten, 
stärksten Leidenschaften der Menschen 
fQreinander entstehen, mächtig werden, 
und im Kampfe mit den Forderungen der 
Sittlichkeit edle Naturen zerstören. Aber 
für einen Dichter, der es mit der Lösung 
geknüpfter Bande leicht nähme, liegt 
hier gar kein Konflikt vor. Wenn Edu¬ 
ard und Charlotte sich scheiden ließen, 
könnten die wahlverwandten Paare ein¬ 
ander angehören. In der Ehe sieht Goe¬ 
the eine der großen Ideen, durch die die 
Menschheit erhöht wird, eine „Synthese 
des Unmöglichen“, sofern dem Gefühle 
Dauer abgefordert wird, sofern zwei 
Menschen zur Einheit verwachsen. Zwei 
Ehegatten schulden einander soviel, sind 
so verbunden, daß sie sich gar nicht mehr 
trennen können, ohne in den Tiefen des 
eigenen Wesens zerrissen zu werden. 
Wie mit der Ehe, so ist mit jeder 
menschlichen Verbindung eine Selbstbe- 
schränkung, eine Entsagung verbunden. 
Goethe hat das erlebt, als er einen Herr¬ 
scher leitend selbst an der Herrschaft 
über ein kleines Land teilnahm. 

.Wer andre klug zu leiten strebt, 

muß fähig sein, viel zu entbehren* — 

heißt es in dem Gedicht Ilmenau, dem 
Rückblick auf die ersten Weimarer Jahre. 
Entsagen — das bedeutet für Goethe ei¬ 
nen freiwilligen Verzicht, um Höheres 
zu erlangen. Wem wir entsagen, dessen 
Wert erkennen wir an — echte Entsa¬ 
gung schließt Entwertung dessen, dem 
entsagt wird, nicht ein, sondern aus. Ent¬ 
sagung ist nicht bloßer Verzicht als 
welcher auch erzwungen und dann in¬ 
nerlich wertlos sein kann — sondern 
freier und williger Verzicht. Schon um 
das eigne Leben zu einem Ganzen zu 
gestalten, muß — so sahen wir — vie¬ 
lem entsagt werden, was augenblicklich 
lockt. Noch mehr, wenn dieses eigne Le¬ 
ben fruchtbar werden soll für andere. 
Da der Besitz nach einem bekannten 


Worte in Wilhelm Meisters Lehrjahren 
nicht aufgegeben, aber als „Gemeingut“ 
im Sinne größter Förderung aller ver¬ 
waltet werden soll, so muß die dem 
Freunde des glücklichen Augenblicks 
gemäße Verschwendung bekämpft wer¬ 
den. Das Ökonomische, das Novalis dem 
Wilhelm Meister zum Vorwurf machte, 
gewinnt so höhere Bedeutung. Ebenso 
gilt es, die eigenen Kräfte zu Rate zu hal¬ 
ten, in Handeln und Auftreten Rück¬ 
sicht zu nehmen auf die Wirkung, die 
man vorbildlich oder abstoßend auf an¬ 
dere übt. Was wirken soll, muß folge¬ 
recht sein, d. h. das augenblickliche Be¬ 
lieben einem weitschauenden Plane un¬ 
terordnen. In Wilhelm Meisters Lehrjah¬ 
ren ist diese Wirksamkeit auf andere 
noch .verbunden mit allseitiger eigner 
Ausbildung. Edelleute werden geschil¬ 
dert, kleine Herrscher auf ihren Gütern, 
die durch ihre mannigfaltige geordnete 
Tätigkeit Leben und Segen um sich ver¬ 
breiten, gemäß dem Wunschbilde, das 
Goethe in den ersten Weimarer Jahren 
von seiner und des Herzogs Tätigkeit in 
der Seele hegte. Diesem Wunsche ver¬ 
sagte sich die Erfüllung. Goethe fand 
sich in Italien als Dichter wieder und 
schränkte seine amtliche Tätigkeit auf 
die künstlerischen und wissenschaftli¬ 
chen Angelegenheiten ein. So staunens¬ 
wert der Umfang seiner Tätigkeiten und 
Interessen blieb, er lernte ab weisen, um 
zu leisten, und vor allem,er lernte die ver¬ 
schiedenen Gebiete streng auseinander¬ 
halten. Zuerst sondert er alles Amtliche 
sorgsam ab von seinem dichterischen 
Schaffen und seinem persönlichen Le¬ 
ben. Die ersten Akten des Frankfurter 
Rechtsanwaltes sind im Sturm- und 
Drangstil geschrieben, der Weimarer Mi¬ 
nister verschmäht die umständlichen 
Formeln der damaligen Kanzleisprache 
nicht. Später, besonders seit der Freund¬ 
schaft mit Schiller, wird auch die wis- 


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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben 


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senschaftliche Arbeit entschieden von 
der Dichtung getrennt. Gewiß alle Sei¬ 
ten des Goetheschen Wirkens fließen 
aus einem Quell und bauen an einem 
Leben. Aber in der Ausführung trennen 
sie sich. In der Tagesarbeit teilt sich 
Goethe gleichsam in eine Anzahl geson¬ 
derter Fachmenschen, deren Leistungen 
er freilich als überschauender Präsident 
dieser Akademie in einheitlichem Stile 
hält und zu einem Ganzen fügt. So führt 
ihn eigene Erfahrung dem Typus des 
Berufsmenschen näher. Entscheidend 
aber wirkt auf ihn die Änderung der 
Zeitverhältnisse durch die französische 
Revolution, die ihr folgenden Kriege, 
wirtschaftlichen und politischen Umwäl¬ 
zungen. Es ist jetzt dem Menschen nicht 
mehr möglich, in ruhiger Sicherheit an 
dem Platze zu wirken, auf den die Ge¬ 
burt ihn gestellt hat, er muß bereit sein, 
sich durch nützliche Tätigkeit bestimm¬ 
ter Art seinen Platz zu verdienen. So 
wird in den Wanderjahren der Berufs¬ 
mensch Problem. Im Berufe liegt eine 
neue Entsagung, eine neue Einschrän¬ 
kung. Es ist Goethes Sorge, daß sie sich 
im richtigen Geiste vollzieht. Die Wan¬ 
derjahre wären ein sehr triviales Buch, 
wenn sich ihr Gehalt in der Forderung 
eines bestimmten Berufes erschöpfte. 4 ) 
Sie wollen in Wahrheit zeigen, wie sich 
freie Menschlichkeit, volle Persönlich¬ 
keit, positives Verhältnis zu allem Wert¬ 
vollen mit der Hingabe an einen be¬ 
stimmten, den ganzen Menschen for¬ 
dernden Beruf vereinigt. Jarno, derent- 
schiedenste Vertreter strenger Beschrän¬ 
kung auf sein Handwerk sagt: „Für 
den geringsten Kopf wird es immer ein 
Handwerk, für den besseren eine Kunst 


5) Meine Auffassung der Wanderjahre 
habe ich dargestellt und zu begründen ge¬ 
sucht in dem Aufsatz „Wilhelm Meisters 
Wanderjahre, ihr Sinn und ihre Bedeutung 
für die Gegenwart“. Logos I, 228. 1910/11. 

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und der beste, wenn er eines tut, tut 
er alles, oder, um weniger paradox zu 
sein: in dem einen, was er tut, sieht 
er das Gleichnis von allem, was recht 
getan wird.“ Sehr eng hängt diese Auf¬ 
fassung des Berufes mit der Ehrfurcht 
zusammen, die in dem pädagogischen 
Teil des Romans als sittlich-religiöse 
Leitidee der Erziehung dargestellt wird. 
Wer gelernt hat, jeder tüchtigen Arbeit 
und jedem fremden Leben Ehrfurcht zu 
erweisen, der wird sich nicht vom Be¬ 
rufshochmut dazu verkümmern lassen, 
die Besonderheiten seines Tuns als 
Grenzen der Menschheit anzusehen. Er 
wird aus der Hingabe an das eigne Werk 
fremde Arbeits- und Betrachtungsarten 
als ebenbürtig, als Ergänzung verstehen 
und schließlich, so sehr er sich seiner 
Arbeit hingibt, doch im Tiefsten seines 
Wesens vom Arbeitsstaube rein bleiben. 
Dann wird er es vermögen, den Geist 
über die Enge des eignen Tuns zu erhe¬ 
ben, ohne darum seine Berufsarbeit ge¬ 
ringzuschätzen, vielmehr erblickt er 
nun in ihr das ihm gemäße, seinem 
Blick überschauliche Bild von allem, 
was recht getan wird. 

Die Wanderjahre führen den Unter¬ 
titel: die Entsagenden und enthalten be¬ 
sonders in den eingefügten Novellen na¬ 
hezu eine Formenlehre der Entsagung 
und der höheren Vollendung des Men¬ 
schen durch Entsagung. Das Ganze be¬ 
wegt sich in den irdischen Kreisen tä¬ 
tigen Lebens, aber die höchste Gestalt 
des Romans Makarie, jene wunderbare 
Frau, deren Geist und deren Gegenwart 
sittliche Konflikte löst, ragt durchaus 
über die irdische Sphäre hinaus. Sie 
durchschaut die Menschen mit der Kraft 
der Liebe. Als Wilhelm mit ihr über ge¬ 
meinsame Freunde spricht, heißt es: 
„Die Personen, welche Wilhelm kannte, 
standen wie verklärt vor seiner Seele; 
das einsichtige Wohlwollen der un- 

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Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Lehen 


schätzbaren Frau hatte die Schale losge- 
gelöst und den gesunde Kern veredelt 
und belebt.“ 

Diese liebende Hellsichtigkeit für alle 
sittlichen Verhältnisse ist aber nur die 
eine Seite ihres Wesens. Sie lebt in ge¬ 
heimnisvoller Einheit mit den Bewe¬ 
gungen des Sonnensystems. Wie Goethe 
diese Andeutungen verstanden wissen 
will, sagt er selbst: auch wer die kosmt- 
mischen Erfahrungen Makariens als ein 
dem Roman wohlziemendes Märchen 
belächeln könnte, dürfte sie doch immer 
als ein Gleichnis des Wünschenswertes¬ 
ten betrachten. Das hat einen doppel¬ 
ten Sinn: einerseits bedient sich Goe¬ 
the hier wie öfter des alten Gedankens, 
daß die ewige Ordnung der himmlischen 
Bewegungen Vorbild und Urbild eines 
richtig geordneten Innern sei. Darüber 
hinaus aber ist das Wünschenswerteste 
die mikrokosmische Spiegelung der Na¬ 
tur im Menschen. Durch alle Erkennt¬ 
nis der Kämpfe und Bedingtheiten, der 
Begrenzungen und Entsagungen unseres 
Lebens hat Goethe die mikrokosmische 
Idee festgehalten. Makarie steht in den 
Wanderjahren neben allen den in Ent¬ 
sagung und Begrenzung tätigen Arbeits¬ 
menschen als ein Zeichen, daß die alte 
Sehnsucht nach mikrokosmischer Voll¬ 
endung nicht aufgegeben, nur in die 
Stellung des Ideals gebracht ist, als 
Warnung davor, den Sinn des Werkes 
zu eng zu fassen. Daß* solche Interpreta¬ 
tion nichts gewaltsam unterlegt, viel¬ 
mehr die Bilder des Dichters wirklich 
auslegt, darüber beruhigt, was Goethe am 
27. Sept. 1827 an Iken (zunächst über „He¬ 
lena“) schreibt: „Da sich gar manches 
unserer Erfahrungen nicht rund aus¬ 
sprechen und direkt mitteilen läßt, so 
habe ich seit langem das Mittel gewählt. 


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durch einander gegenübergestellte und 
gleichsam einander abspiegelnde Ge¬ 
bilde den geheimen Sinn dem Aufmer¬ 
kenden zu offenbaren.“ Während Goethe 
in seiner Jugend hin- und hergeworfen 
wurde zwischen brünstig ergriffenen 
Momenten der Einheit mit der Gottna¬ 
tur und hellsichtiger Verzweiflungbeim 
Anblicke der menschlichen Schwäche, 
sieht er nun in dem geordneten Ganzen 
eines Lebens, das sich in seiner be¬ 
stimmten Weise zur Ordnung aufbaut, 
die wahne tätige Teilnahme an der Ord¬ 
nung des Ganzen. Von dem Unend¬ 
lichen, das wir nicht schauen können, 
dürfen wir so wenigstens eine Ahnung 
gewinnen. Dabei bleibt gemäß dem po¬ 
sitiven Grundzuge alles Einzelne in sei¬ 
nem Wert erhalten. Wir erheben uns 
über das Begrenzte nicht, indem wir es 
verneinen und entwerten, sondern in¬ 
dem wir es ganz zu erfassen und zu ge¬ 
stalten uns bemühen. Man kann die 
Kunstform des Goetheschen Faust als 
ein Abbild dieser Gesinnung verstehen. 
Jeder Teil ist so reich, so voll ausge¬ 
bildet, als stände er nur um seiner selbst 
willen da. Ungeduldige Frager nach der 
Idee des Ganzen hat Goethe gern auf 
das einzelne verwiesen, ohne dessen le¬ 
bendigen Genuß in der Tat der Sinn der 
Dichtung verborgen bleibt. Und doch 
deuten überall beziehungsreiche Worte 
über den einzelnen Teil der Dichtung 
hinaus, deren Held ja der Ruhe im Au¬ 
genblick abgeschworen hat. Die Dich¬ 
tung endet im Oberirdischen, und wenn 
wir Goethes Sinn sonst wohl in die For¬ 
mel zusammenfassen dürfen: Alle 8 Ver¬ 
gängliche ist ein Gleichnis, so belehrt 
uns zuletzt der Chorus mysticüs: Alles 
Vergängliche ist nur ein Gleichnis. 


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Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation 


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Mission und Kolonisation. 

Von Friedrich Wiegand. 


Was niemand erwarten konnte, ist 
eingetreten: der europäische Krieg hat 
in starkem Maße das öffentliche Inter¬ 
esse auf die Heidenmission gelenkt 
Es gibt viele unter den ihr bisher Ferner- 
stehenden, die sich mit einem Male leb¬ 
haft um sie kümmern. Kein Verständi¬ 
ger wird freilich diese plötzliche Be¬ 
kehrung überschätzen; sie ist eher ge¬ 
eignet, mißtrauisch zu machen. Denn 
was die meisten, die heute über Hei¬ 
denmission schreiben und sprechen, zu 
bieten haben, ist noch immer nicht 
eigentlich Rat und Hilfe als vielmehr 
Tadel und Forderung. Und diese For¬ 
derung, die sich bezeichnenderweise 
immer nur an die evangelische Mission 
richtet, sie lautet: Weg mit aller deut¬ 
schen Missionsarbeit aus fremden Ge¬ 
bieten, weg vor allem aus den engli¬ 
schen Kolonien I 

In der Tat, wenn etwas heute unsere 
Empörung wachrufen muß, so ist es 
die brutale Unsachlichkeit, mit der 
England den von ihm heraufbeschwo- 
renen Krieg führt, die Frivolität, mit der 
es die scharfe Linie zwischen weißer 
und schwarzer Rasse verwischt, die 
Schamlosigkeit, mit der es in den Ko¬ 
lonien die Eingeborenen gegen die Deut¬ 
schen losläßt, um schließlich auch nicht 
einmal vor einer rohen Störung der 
missionarischen Friedensarbeit zurück¬ 
zuschrecken. Missionare werden gefan¬ 
gengesetzt, ihre Familien ausgewiesen, 
die seit langer Hand gesammelten 
christlichen Gemeinden mit der Auf¬ 
lösung bedroht. Wenn man sich ver¬ 
gegenwärtigt, daß hier Werte, die im 
Laufe von Jahrzehnten mühsam gesam¬ 
melt und angebaut wurden, mit einem 


Schlage und ganz unnützerweise ver¬ 
wüstet werden, Werte nicht bloß mate¬ 
rieller, sondern vor allem kultureller 
und geistiger Art, so liegt freilich der 
Wunsch nahe, deutsche Missionen für 
kommende Zeiten vor einer ähnlichen 
Schädigung gesichert zu sehn. Oben¬ 
drein erscheint der Vorschlag ebenso an¬ 
ziehend als praktisch einfach und leicht 
durchführbar. Immerhin geht ein Abkoni' 
mandieren deutscher Missionare etwa 
von Indien nach Ostafrika nicht so 
glatt, wie es sich ausspricht, und es 
ist obendrein für Deutschland noch eine 
sehr zweischneidige Sache. Man wird 
sich daher die Eigenart aller Missions¬ 
arbeit aus der geschichtlichen Entwick¬ 
lung klarmachen müssen, ehe man das 
entscheidende Wort spricht. 

I. 

Die Mission ist so alt wie das Chri¬ 
stentum selbst. Schon Paulus war ein 
Missionar, der mit genialem Griff in 
weit auseinanderliegenden Gebieten eine 
Reihe von Christengemeinden gegrün¬ 
det und damit einen Zustand geschaf¬ 
fen hat, der bis heute nachwirkt. Er hat 
zugleich durch seinen lebhaften Brief¬ 
wechsel, in welchem er auf die religiö¬ 
sen, sittlichen und persönlichen Fra¬ 
gen dieser Gemeinden verständnisvoll 
einging, dafür gesorgt, daß dem äuße¬ 
ren Erfolge die innere Festigung und 
Entwicklung nach Möglichkeit ent¬ 
sprach. Aber sein Wirken vergleicht 
sich doch mehr der Arbeit des wan¬ 
dernden Philosophen, der durch Vor¬ 
träge für eine neue Richtung Anhänger 
gewinnt und sie zu einem großen Ver¬ 
eine zusammenschließt. Paulus hat nie 


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Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation 


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daran gedacht, das scharf umgrenzte 
Gebiet der griechisch-römischen Bil¬ 
dung, die Provinzen des römischen Rei¬ 
ches, zu überschreiten. Die heidnischen 
Germanen, die Perser im Osten, die 
Stamme von Innerafrika lagen außer¬ 
halb seines Gesichtskreises. Er würde 
sich auch nicht um sie gekümmert 
haben, selbst wenn er noch so alt ge¬ 
worden wäre. Seine letzten und höch¬ 
sten Ziele waren Rom und Spanien, 
Gipfel und Grenze der römischen Kul¬ 
tur. Innerhalb dieser Welt drehte sich 
seine Aufgabe obendrein nur um reli¬ 
giöse und sittliche Fragen. Von den 
hundert Kleinigkeiten, die heute das Le¬ 
ben eines Missionars ausmachen, durfte 
er absehen. Wer auf den bequemen rö¬ 
mischen Landstraßen in kurzen Tage¬ 
reisen von einer Stadt zur anderen 
fahrt, ist der Anforderungen überhoben, 
die ein unbekanntes und unkultiviertes 
Gebiet an den Missionar stellt Wer im 
Lande bleibt, kommt mit seiner Mutter¬ 
sprache aus und hat nicht not sich in 
mühsamem Ringen mit einem anders 
gearteten Denken und einem fremden 
Sprachgeiste auseinanderzusetzen. 

Und das gleiche gilt von der Missions¬ 
arbeit der ersten sechs Jahrhunderte 
überhaupt. Zwar will die eigensinnige 
Legende von diesem oder jenem Apo¬ 
stel wissen, daß er sich bis an die 
äußerste Grenze des Reiches gewagt 
oder diese wohl gar überschritten habe. 
Aber selbst wenn solchen Erzählungen 
ein bescheidener geschichtlicher Kern 
zugrunde liegen sollte: an der Haupt¬ 
sache ändern derartige Ausnahmen 
nichts. Die sich automatisch voll¬ 
ziehende Ausbreitung des Christentums 
bleibt vorläufig noch auf die Bürger 
des römischen Reiches beschränkt und 
gilt etwa Germanen, Syrern oder Kop¬ 
ten nur insofern, als sie innerhalb des 
römischen Machtbereiches wohnen. Die 


Kirche sucht die Heiden nicht in fer¬ 
nen Ländern auf, sondern läßt sie zu 
sich kommen. Die Mission der alten 
Zeit bleibt immer und überall national 
gebunden. 

Eine Mission in anderem Sinne hat 
erst Papst Gregor der Große ins Auge 
gefaßt. Seit 597 gewinnt er die außer¬ 
halb der Reichsgrenzen wohnenden An¬ 
gelsachsen für die römische Kirche. 
Sorgfältige diplomatische Verhandlun¬ 
gen hatten die Bahn freigemacht, auf 
der in mehreren Schüben römische Be¬ 
nediktinermönche als Missionare ihren 
Einzug in den angelsächsischen König¬ 
reichen. hielten. Was Gregor zu dem 
sehr kostspieligen Unternehmen veran- 
laßte, waren nicht eigentlich religiöse 
Gesichtspunkte und noch viel weniger 
Gefühlsgründe. Vielmehr hat die Kir¬ 
chenpolitik auch in diesem Falle min¬ 
destens instinktiv seine Gedankenwelt 
beherrscht und seine Maßnahmen gelei¬ 
tet. Es galt, das Machtgebiet des Papst¬ 
tums um eine neue zukunftsreiche Pro¬ 
vinz zu vermehren. Der Osten war ver¬ 
sperrt, seit mit Justinian das byzanti¬ 
nische Reich auch kirchlich sehr be¬ 
wußt seine eigenen Wege ging. Nur im 
Norden war die Welt noch frei. Gregor 
hat sich ihrer planmäßig bemächtigt 
Zum ersten Male wird das Wort: 
„Gehet hin in alle Welt“ in die Wirk¬ 
lichkeit umgesetzt. 

Und doch ist auch Gregor eigentlich 
nur dem Schritte der Legionen gefolgt 
die früher einmal den Süden von Eng¬ 
land besetzt hielten; ideell konnte Eng¬ 
land noch immer für ein Stück des 
römischen Reiches gelten. Dement¬ 
sprechend ist denn auch diese schein¬ 
bar sehr kühne Überseemission vorläu¬ 
fig die einzige geblieben, und auch das 
Papsttum hat in den nächsten Jahrhun¬ 
derten nicht daran gedacht ihr ähn¬ 
liche Unternehmungen folgen zu lassen. 


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Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation 


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Denn auch die Mission des Mittelalters 
war so gut wie ausschließlich Kolonial- 
mission. Sie lag in den Händen der 
fränkischen und deutschen, der mähri¬ 
schen und polnischen Könige. Sie ver¬ 
folgte den Zweck, die eroberten Grenz¬ 
gebiete von Staats wegen fest an das 
Hauptland zu binden und das Tren¬ 
nungsmoment zu beseitigen, das mit 
einer anders gearteten Religion ohne 
Frage gegeben ist. So förderten die 
von den Frankenkönigen empfohlenen 
oder beauftragten Kleriker die allmäh¬ 
liche Christianisierung des östlichen Ko¬ 
loniallandes, und zwar von Friesland 
Ober Hessen, Thüringen und das Main¬ 
land bis in die Schweiz. In noch größe¬ 
rem Stile hat dann Karl der Große 
überall, wohin sein erobernder Fuß trat, 
zugleich die kirchliche Frage ins Auge 
gefaßt und mit wechselndem Geschick, 
aber überall mit gleicher Kraft geför¬ 
dert: zwischen Regnitz und Fichtel¬ 
gebirge unter den Mainslawen, im We¬ 
sergebiet unter den Sachsen, an der 
mittleren Donau unter den Avaren. Und 
Ludwig der Fromme, der kein Erobe¬ 
rer war, aber wenigstens einen politi¬ 
schen Einfluß in den skandinavischen 
Ländern geltend zu machen suchte, 
glaubte diese seine Pläne am besten ge¬ 
fördert, wenn der sanfte Ansgar die 
friedlichen Beziehungen noch kirchlich 
unterstrich. So gingen auch im Nor¬ 
den die missionierenden Benediktiner¬ 
mönche nur im Gefolge der kaiserlichen 
Diplomatie. Und dasselbe Bild bleibt 
unter den Ottonen und den fränkischen 
Kaisern bis in die Tage Heinrichs des 
Löwen und Albrechts des Bären. Es hat 
mehr als lange gedauert, bis die schma¬ 
len Streifen zwischen Saale, Elbe und 
Havel und dann die Oder entlang mit 
Deutschland fest zusammengeschweißt 
waren. Und ebenso lange, bis man diese 
Slawenstriche als christliche Länder an¬ 


sprechen konnte. Denn auch hier blieb 
die Mission überall abhängig von der 
Kolonisation, von ihren Erfolgen, aber 
auch von ihren Rückschlägen. Der 
deutsche Militär- und Garnisonpfarrer 
und der Slawenmissionar waren ein 
und dieselbe Person. 

Vom 8. bis zum 12. Jahrhundert gilt 
als Missionssubjekt der christliche Staat 
im Sinne Augustins. Er steigert seine 
Macht und hebt die Kultur, indem er 
zugleich das Reich Gottes fördert und 
dafür sorgt, daß das Christentum in 
derjenigen Form und Verfassung, in 
denen er es selbst besitzt, weitergege¬ 
ben wird. An dieser Grundstimmung 
ändert es auch nichts, wenn besonders 
ausdrucksvolle Persönlichkeiten, wie 
etwa Willibrord, Bonifatius oder Ans¬ 
gar kräftig in den Vordergrund treten. 
Gewiß hat jeder von ihnen den Mis¬ 
sionsgedanken eigenartig ausgeprägt 
und dementsprechend besondere Er¬ 
folge gehabt. Diese Männer waren in 
den praktischen Einzelfragen wohl die 
treibenden Kräfte. Aber selbst Bonifa¬ 
tius, der Missionar des Mittelalters 
schlechthin, hat sich bei allen seinen 
Unternehmungen wie selbstverständlich 
im Rahmen der fränkischen Politik hal¬ 
ten müssen. Seine Tätigkeit schloß sieb 
überall der von den fränkischen Köni¬ 
gen und Hausmeiern für nötig erachte¬ 
ten Evangelisierung der neustrischen 
Grenzgebiete an. Und nur die persön¬ 
liche Kraft und Eigenart, mit der er 
seine Aufgabe erfaßte und die zweck¬ 
entsprechenden Mittel zu finden wußte, 
brachte er als Neues hinzu. 

Nicht anders lagen aber auch die 
Dinge im Osten. Byzantinische Kaiser 
beschäftigten hier die Griechen Metho¬ 
dius und Kyrill in Mähren und Öster¬ 
reich. Dies brachte die ersten gro¬ 
ßen Grenzkonflikte in der Missioas- 
geschichte. Die Bischöfe von Salzburg 


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Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation 


982 


und Passau setzten sich zur Wehr, nicht 
bloß aus Ehrgeiz oder Eitelkeit son¬ 
dern weil es sich um die entscheidende 
Frage handelte, ob lateinische oder sla¬ 
wische Kirchensprache, ob Deutschtum 
oder Griechentum, ob das germanische 
oder das slawische Element im heu¬ 
tigen Österreich den Vorspmng gewin¬ 
nen sollten. Hinter dem, was wie ödes 
Theologengezänk aussieht, standen die 
großen nationalen Gegensätze. Dem na¬ 
tionalen Gedanken ordnete sich auch 
bei dieser Missionsarbeit alles übrige 
unter. 

In gleicher Weise will der viel¬ 
gerühmte Pommernapostel Otto von 
Bamberg vorzugsweise als ein vom Kö¬ 
nige von Polen im Dienste der polni¬ 
schen Eroberungspolitik berufener und 
verwendeter kirchlicher Agent gewertet 
sein. Er sollte die Pommern, die west¬ 
wärts durch eine breite heidnische Sla- 
wenschicht abgesperrt waren und mit 
allen ihren Beziehungen, den politi¬ 
schen wie merkantilen, nach Osten 
schauten, die obendrein der Annahme 
des Christentums nicht spröde gegen¬ 
überstanden, mit Polen kirchlich und 
politisch zusammenschließen. Darum 
nahm der von Bamberg kommende Otto, 
heute für uns schwer verständlich, da¬ 
mals hingegen ganz naturgemäß, seinen 
Weg nach Pyritz und Kammin über 
Gnesen und drang n?ch dem Westen 
Pommerns erst über Stettin vor. 

Vergegenwärtigt man sich diese ein¬ 
heitliche Entwicklung, so muß es min¬ 
destens für den kirchlichen Romantiker, 
der seinen Standpunkt in dem frommen 
deutschen Mittelalter nimmt, sofern er 
dieses fromme deutsche Mittelalter über¬ 
haupt wirklich kennt, sehr nahe liegen, 
daß der Bischof mit dem Könige geht, 
daß ach auch heute die kirchliche Ar¬ 
beit eng an die kolonisatorische des 
Staates anzuschließen hat. 

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Im 15. Jahrhundert haben dann die 
großen Entdeckungen und überseei¬ 
schen. Eroberungen eingesetzt und mit 
ihnen hat sich auch das missionarische 
Bild zum ersten Male völlig verschoben. 
Spanien und Portugal erwarben Kolo¬ 
nien in Amerika, Indien, Afrika. Die lei¬ 
tenden Gesichtspunkte waren überall 
für Regierung wie Volk der Erwerb und 
die Macht während ihnen sittliche oder 
gar religiöse Ziele innerhalb dieser Fra¬ 
gen durchaus femlagen. Hatte sie doch 
inzwischen der mittelalterliche Katholi¬ 
zismus dahin belehrt daß religiöse An¬ 
gelegenheiten nicht Sache des Laien, 
also auch nicht Sache der Staatsregie¬ 
rung seien, sondern allein vom Klerus 
auszugehen hätten, der, in jeder Weise 
zentralisiert, seinerseits wiederum An¬ 
stoß und Leitung allein von der Kurie 
in Rom bekam. Diese Kurie konnte man 
wohl gelegentlich durch Wünsche be¬ 
einflussen; man durfte aber nicht wagen, 
an ihr vorüberzugehen. 

So ist es von jetzt ab die organisierte 
Kirche, welche die Missionsarbeit in 
den spanischen und portugiesischen Ko¬ 
lonien in die Hand nimmt. Sie bean¬ 
sprucht das geistliche Leben in den 
neuentdeckten Gebieten für sich. Die 
Leiber der Eingeborenen mögen Spanien 
oder Portugal gehören, auf die Seelen 
hingegen hat zweifellos Rom allein An¬ 
spruch. Es darf sich die Macht in jenen 
unermeßlichen Gebieten nicht entgehen 
lassen. 

Es waren Renaissancepäpste, die sich 
aus jenen Erwägungen heraus jetzt auf 
die Mission warfen. Sie waren weder 
geistlich interessiert noch fromm; trotz¬ 
dem stellten sie sich an die Spitze eines 
Unternehmens rein geistlicher Art Der 
dem Papsttum zu allen Zeiten eigen¬ 
tümliche Scharfblick hat sie auch dies¬ 
mal geleitet; mit staunenswertem Spür¬ 
sinn folgten sie dem Gange derWeltge- 

Original fro-m 

INDIANA UNtVERSITY 










983 


Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation 


984 


schichte. Alexander VI. aus dem Hause 
Borgia teilte die Neue Welt zwischen den 
beiden Entdeckerstaaten, indem et hun¬ 
dert Meilen westlich vom Kap Verde 
und den Azoren eine Linie vom Nord¬ 
pol bis zum Südpol zog: der Westen 
sollte Spanien, der Osten Portugal ge¬ 
hören. So freigebig zu sein, wurde ihm 
leicht; denn für sich selbst, den dritten 
im Bunde, verlangte er, daß die beiden 
Konkurrenten rechtschaffene, gottes- 
fürchtige, gelehrte und praktische Män¬ 
ner in die neuen Weltteile schicken soll¬ 
ten, um die Eingeborenen dem römi¬ 
schen Glauben zuzuführen. 

Die Durchführung des neuen Mis¬ 
sionsprogramms fiel den Bettelorden, 
in erster Linie den Franziskanern, zu 
Sie haben in kurzer Zeit den Missions¬ 
gedanken auf der Pyrenäenhalbinsel 
volkstümlich zu machen gewußt. Hier 
fand ihn auch Ignatius von Loyola vor 
und nahm ihn in den Kreis seiner Le¬ 
bensaufgaben mit auf. Er steckte eben 
damals in allen klerikalen Köpfen der 
beiden großen Kolonialvölker. Auf diese 
Weise wurden die Jesuiten für Jahr¬ 
hunderte die bevorzugten Missions¬ 
arbeiter; ihre verblüffenden Erfolge 
haben die Welt lange in Atem gehalten. 
Denn sie verstanden es vortrefflich, 
sich den Gepflogenheiten und einge¬ 
wurzelten Empfindungen der Eingebo¬ 
renen weitherzig anzupassen; sie waren 
zufrieden, wenn sich die Getauften zur 
römischen Kirche bekannten und sich 
ihren kirchenregimentlichen wie liturgi¬ 
schen Ordnungen fügten. Weniger lag 
ihnen dagegen an der ins einzelne 
gehenden Seelengewinnung, die, um Er¬ 
folg zu haben, Jahrhunderte in An¬ 
spruch genommen hätte. Sie wollten 
rasche Erfolge sehen, wollten im Hand¬ 
umdrehen unbegrenzte Völkermassen 
für die römische Kirche erobern und 
kirchenpolltisch nutzbar machen. Dar- 

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um durften sie nicht allzu peinlich sein. 
So sind Indien, Mexiko, Südamerika 
fast ebenso schnell in den Besitz der 
römischen Kirche gekommen wie poli¬ 
tisch in den von Portugal und Spanien. 
In diesem ganzen Abschnitt ist die rö¬ 
mische Mission also auch nicht viel 
etwas anderes als eine Kolonialmission. 
Sie wird von Rom aus nicht unter dem 
Gesichtspunkte des persönlichen Chri¬ 
stentums betrieben, sondern in idealer 
Konkurrenz mit den weltpolitischen Er¬ 
oberungen der beiden katholischen Vor¬ 
mächte, mit Rücksicht auf sie und ge¬ 
wissermaßen als ihr Vormund. 

An dieser Tatsache ändert es auch 
nichts, wenn die Jesuiten schon früh in 
Japan und China, also außerhalb der 
spanisch-portugiesischen Kolonien, ge¬ 
arbeitet, oder wenn sie im 18. Jahrhun¬ 
dert in Paraguay mit höchst auffälliger 
Methode geradezu eine eigene jesui¬ 
tische Ordensmission in Szene gesetzt 
haben. Ein von den größten Erfolgen 
gekröntes Missionswerk von zweihun¬ 
dert Jahren mußte leicht selbsttätig 
weitergreifen und Gesichtspunkte* auf¬ 
nehmen, die ihm ursprünglich fern¬ 
lagen. An den eigenen Leistungen 
wächst die missionarische Kraft, von 
ihnen beherrscht erweitert sich der 
ursprüngliche Plan. Diese Jesuiten 
konnten es als die ersten wagen, 
auch außerhalb des Schutzes und der 
Interessen einer europäischen Kolonial¬ 
macht gewissermaßen auf eigene Faust 
in Japan und China Mission zu treiben. 
Damit schufen sie einen vollkommen 
neuen Tatbestand, der verblüffend wirkte 
und nicht am wenigsten von weit¬ 
blickenden Protestanten in Frankreich 
und Deutschland, an ihrer Spitze von 
Leibniz, lebhaft bewundert wurde. 


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Fr. Wiegand. Mission und Kolonisation 


986 


II. 

Wie hat sich nun der Protestantis¬ 
mus zur Mission gestellt? 

Eine zunächst rein geistige Bewe¬ 
gung, der es nur um die Frage des Ge¬ 
wissens, nicht aber um kirchliche Macht 
zu tun war, fand zu einem Missions- 
betriebe, wie er sich inzwischen ent¬ 
wickelt hatte, keine Brücke. Man hat 
wohl von dem engen Gesichtskreise 
des Kleinstaatlers Luther gesprochen, 
der aus partikularistischer Beschränkt¬ 
heit für überseeische Pläne nicht zu 
haben war. Aber auch Calvin hat trotz 
weiteren Blickes und reicherer Bildung 
nicht an die Mission gedacht, und zwar 
aus guten Gründen. Denn so paradox 
es klingt: gerade wer den evangeli¬ 
schen Standpunkt richtig erfaßt hatte, 
mußte damals die Hand von der Mis¬ 
sion fortlassen. Soll doch nach refor- 
matorischer Anschauung der Mensch 
nur das anpacken, wozu er einen Be¬ 
ruf hat, in diesem Berufe aber mit nüch¬ 
terner Hingabe seine Pflicht tun. Für 
die Mission aber hatte der damalige 
Protestantismus noch keinen Beruf. Er 
war noch keine Weltkirche; seine Auf¬ 
gaben waren noch eng umschlossen 
durch die religiösen Bedürfnisse der 
christlichen Länder, in denen er auf¬ 
gekommen war und in denen er erst 
tiefere Wurzel fassen mußte. Von einem 
Missionsberufe konnte für den Prote¬ 
stanten erst geraume Zeit später die 
Rede sein, etwa damals, als die Hollän¬ 
der sehr bescheiden und wenig erfreu¬ 
lich auch an der heidnischen Bevölke¬ 
rung ihrer indischen Kolonien so etwas 
wie Seelsorge trieben. Sie taten es nicht 
als Calvinisten oder weil sie besonders 
fromm gewesen wären, sondern als 
Seefahremation, der die koloniale Ar¬ 
beit auch diese religiösen Gesichts¬ 
punkte nahegelegt hatte. Dagegen kam 
für Deutschland auch im 17. Jahrhun- 

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dert die Mission noch nicht in Frage, 
und seine führenden Theologen verhiel¬ 
ten sich ihr gegenüber während des 
ganzen 17. Jahrhunderts noch durch¬ 
aus ablehnend. Vor allem wollte die 
erlauchte und unbedingt rechtgläubige 
theologische Fakultät zu Wittenberg 
von Mission grundsätzlich nichts wis¬ 
sen. Heidenbekehrung sei wohl eine 
Aufgabe der Apostel gewesen; wir 
Männer von heute aber seien nur der 
Kirche verpflichtet, in die uns Gott ord¬ 
nungsgemäß berufen habe. Dazu wirke 
der von den Aposteln gegebene Anstoß 
selbsttätig weiter, und wer sich ihm 
entziehe, trage an seinem Heidnisch¬ 
bleiben allein die Schuld. Obendrein 
stehe jedes weitere Vorgehen in sol¬ 
chen Dingen bei der Staatsregierung, 
der die Pflicht, für Predigt und Unter¬ 
richt zu sorgen, allein obliege. Also: 
wir deutschen Lutheraner haben zur 
Mission keinen Beruf; diese gehört viel¬ 
mehr in den Rahmen einer kolonialen 
Tätigkeit; sie ist nicht denkbar ohne 
ein Zusammengehen mit den Bedürf¬ 
nissen des Staates. 

An einer solchen Auffassung, die der 
reformatorischen Wertschätzung der 
natürlichen Lebensmächte, vor allem 
des Staates, durchaus entsprach, mu߬ 
ten alle Anträge opferbereiter, aber kon¬ 
fuser Idealisten und Individualisten ab- 
prallen. Auch des JustinianusvonWeltz, 
eines echten Dilettanten, der sich als 
Tummelplatz für seine aristokratische 
Unbeschäftigtheit die Mission auser¬ 
sehen hatte. Als gefühlsseliger Pietist 
\var er leider fünfzig Jahre zu früh auf 
die Welt gekommen. Und doch hat ge¬ 
rade dieser Phantast für die evange¬ 
lische Mission das bis heute entschei¬ 
dende Wort gesprochen: er verlangte 
als treibendes Organ eine jesusliebende 
Gesellschaft, d. h. also einen Privatver¬ 
ein frommer Christen. Nicht der Landes- 

Original fro-m 

INDIANA UNIVERSIT7 





987 


Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation 


988 


herr, nicht das Kirchenregiment nimmt 
die Mission in die Hand, sondern ein 
frommer Kreis, dem es darum zu tun 
ist, für Jesus zu arbeiten, wo und wie 
er kann. 

So hat der Pietismus die Mission 
aufgefaßt und machtvoll betrieben. 
Francke wollte Jesu Seelen gewinnen 
daheim und draußen, in jeder Zunge, in 
jeder Farbe. 

Diese pietistische Mission war die 
erste, die keine staatlichen und keine 
kirchlichen Gesichtspunkte kannte noch 
kennen wollte, die vielmehr beiden nach 
Kräften aus dem Wege ging. Denn der 
Staat ist für den Pietisten Welt. Aber 
auch das Kirchenregxment, weil es ihm 
durchaus nicht in allen Stücken zu Wil¬ 
len ist, gehört dahin. 

Zu diesem prinzipiellen Standpunkt 
traten dann Selbstverständlich noch 
die geschichtlichen Verhältnisse. Selbst 
wenn die Pietisten gewollt hätten, so 
hätten sie keine nationale Mission trei¬ 
ben können. Wollten die Pietisten Hei¬ 
denseelen für Christus gewinnen, so 
konnten sie diese nur unter ganz freien 
Eingeborenen finden oder in einem 
fremden Kolonialgebiete. Deutsche Ko¬ 
lonien gab es nicht. Die Pietisten 
haben beide Wege eingesch lagen. 
Francke, indem er von der dänischen 
Kolonie Trankebar in Vorderindien aus¬ 
ging, die Brüdergemeinde, indem sie 
nach Belieben in allen Zonen und in 
allen Weltteilen einsetzte. 

An Stelle des Staates und der Kirche 
war das Interesse der Partei getreten. 
Auch die Mission ist für den Pietisten 
im eigentlichen Sinne Parteisache, Ver¬ 
einssache. So sehr, daß es zu allen 
Zeiten als Unbequemlichkeit, ja als je- 
suswidrige Störung empfunden wurde, 
wenn auch andere gute Christen, etwa 
die Orthodoxen, die eben keine Pieti¬ 
sten waren, sich daran beteiligten. Sie 


gehörten in diese Vereins- und Partei¬ 
sache nicht hinein, sie trübten das hei¬ 
lige Feuer. Nur die um Francke 
gescharte Gruppe steuerte die Mittel 
bei, nur sie durfte die Leitung haben, 
nur die in Halle abgestempelten Theo¬ 
logen waren als Missionare möglich. 
Jeder andere wurde kräftig ferngehaiten. 

Andererseits war der Pietismus vom 
ersten Augenblicke an international. Die 
Erweichung nationaler und kirch¬ 
licher Abgeschlossenheit bildet bis m 
die Gegenwart 9eine Stärke und seine 
Schwäche. Nichts lag Francke fer¬ 
ner als etwa die Verbindung der Be¬ 
griffe Mission und Deutschtum. Er 
wollte das Reich Gottes bauen, das 
eben nicht von dieser Welt ist Was 
kümmerten ihn die Interessen irdischer 
Politik? Jedenfalls nur so weit, als sie 
ihm nützliche Dienste für das Reich 
Gottes leisten konnten. 

Etwas gemildert ist dies der Grund¬ 
satz aller Pietisten bis in unsere Tage 
und aller Missionsarbeit bis in die 
jüngste Vergangenheit geblieben. Was 
die zufälligen Verhältnisse geschaffen 
hatten, wurde später sogar mehr und 
mehr zum Grundsatz erhoben. 

Denn mit den zwanziger Jahren 
des 19. Jahrhunderts trat der alte 
Pietismus in neuer Verpuppung wie¬ 
der kräftig ain die Oberfläche und 
zog allerorten die Aufmerksamkeit aaf 
sich. Daß er ein Jahrzehnt später viel¬ 
fach eine konfessionelle Färbung be¬ 
kam und sozusagen eine Vereinigung 
mit der alten Orthodoxie einging, darf 
dabei nicht beirren. In der Hauptsache 
war und blieb er der alte Pietismus, der 
deshalb auch die Heidenmission, und 
zwar nach der Methode des 18. Jahr¬ 
hunderts, als sein liebstes Kind ansah. 
Erst jetzt ist die pietistische Mission, 
deren Ansätze im 18. Jahrhundert rasch 
wieder verkümmert waren, zur vollen 


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• Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation 


990 


Entfaltung gelangt. Der Privatverein 
galt wieder als das normale Missions¬ 
subjekt. Denn mit Regierungen und 
Kirchenregiment war noch immer keine 
Fühlung zu gewinnen. Ihrer bureaukra- 
tischen Schwerfälligkeit fehlte alles zu 
einem kühnen Gedanken oder zu einer 
mutigen Tat. 

Diese jüngste Missionsperiode wird 
vielmehr von einem genialen Autodidak¬ 
ten, dem Baptistenprediger William Ca- 
rey, eingeleitet. Seiner baptistischen 
Missionsgesellschaft folgte in England 
rasch eine zweite, vorwiegend inde- 
pendentistische und eine dritte, vorwie¬ 
gend hochkirchliche. Und ganz ähnlich 
entwickelten sich etwas später die Dinge 
in Deutschland. Auch hier bildeten sich 
die Missionsgesellschaften nicht eigent¬ 
lich unter dem missionarischen Gesichts¬ 
punkte, sondern entweder nach konfes¬ 
sionellen und kirchenpolitischen Rück¬ 
sichten oder unter dem Einflüsse einer 
starken originellen Persönlichkeit oder 
eines landsmannschaftlichen Bedürfnis¬ 
ses. Jedenfalls herrschte überall bei 
Gründung einer Missionsgesellschaft die 
Willkür des pietistischen Parteigedan¬ 
kens. 

Nicht anders lagen die Dinge, wenn 
es sich um die Wahl des Arbeitsgebie¬ 
tes draußen handelte. England besaß 
wohl wachsende Kolonien; auf sie sahen 
sich die englischen Missionsgesellschaf¬ 
ten naturgemäß in erster Linie hingewie¬ 
sen. Aber für Deutschland fehlte noch 
immer eine solche Richtlinie. Bei allen 
Missionsuntemehmungen blieb der va¬ 
terländische Gedanke deshalb ausge¬ 
schaltet. Und würde er sich irgendwo 
hervorgewagt haben, so hätte ihn die 
pietistische Denkweise und der in den 
Missionskreisen herrschende Partikula¬ 
rismus rasch zurückgedrängt. Statt sei¬ 
ner entschied eine gelegentliche Anre¬ 
gung, die Lieblingslektüre der leitenden 

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Persönlichkeiten oder ihre Bekannt¬ 
schaft mit einem, der draußen gewesen 
war. Schließlich nahm man die Karte 
zur Hand und suchte nach einer noch 
nicht besetzten Stelle mit der stür¬ 
misch vorgetragenen Forderung: Jetzt 
endlich müsse mit einem Schlage die 
ganze Welt für Christus gewonnen und 
es müsse deshalb in allen Ländern zu 
gleicher Zeit mit dem Angriff einge¬ 
setzt werden. Als ob Geistliches sich 
nicht immer allmählich entwickelte. Und 
als ob es nicht der Grundsatz jeder ge¬ 
sunden Strategie wäre, die Streitkräfte 
an den wichtigsten Punkten zu Haupt¬ 
stößen zusammenzuhalten, statt sie zu 
verzetteln. 

Viel Enges und Ungesundes ist bei 
diesem Missionsbetriebe in Deutschland 
mit untergelaufen. Nicht nur die Ungunst 
der Verhältnisse, sondern vor allem 
eigene Fehler haben die Mission Jahr¬ 
zehnte hindurch nicht volkstümlich wer¬ 
den lassen. Sie blieb die Liebhaberei 
der Pfarrer und kleinen Leute, und ihre 
Kreise deckten sich nicht mit jenen, die 
für nationalen und wissenschaftlichen 
Fortschritt eintraten. So traf sie, viel¬ 
fach nicht mit Unrecht, der Schein der 
Kleinlichkeit und Lächerlichkeit Ganz 
im Gegensätze zu England, wo sie, ver¬ 
flochten mit den kolonialen Interessen 
der Nation, auch bei den einflußrei¬ 
chen Männern des gebildeten Bürger¬ 
tums lebhaftes Entgegenkommen fand. 

Dies alles muß zugegeben werden, 
und doch läßt sich nicht leugnen, daß 
die Mission des 19. Jahrhunderts bei 
allen ihren Schwächen in vier Welttei¬ 
len eine höchst bedeutende Kulturarbeit 
geleistet hat Durch seelsorgerliche 
Treue, planmäßigen Unterricht und 
praktische Organisationen hat sie sogar 
schon in manchen Ländern ihr abschlie¬ 
ßendes Ziel, die Bildung selbständiger 
Volkskirchen, erreicht. 

Original from 

[ND1ANA UNIVERSITY 




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Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation. 


992 


III. 

So lagen die Dinge, als Deutschland 
seit den achtziger Jahren rasch in die 
Reihe der Kolonialstaaten eintrat Der 
Jubel in den Missionskreisen war ehr¬ 
lich und groß. Im Handumdrehen wur¬ 
den sämtliche deutsche Kolonien mit 
einem Netze von Missionsstationen über¬ 
zogen, ungeachtet der Schuldenlast in 
welche dadurch die alten Gesellschaften 
gerieten und unter der sie heute noch 
seufzen. Ja, der Übereifer war so 
stark gewesen, daß schon nach einigen 
Jahren bei den Grenzregelungen in Ost¬ 
afrika von den rasch entstandenen 
neuen deutschen Stationen zwei den 
Engländern und eine dem Kongostaate 
zum Opfer fielen. 

Niemandem aber kam es damals in 
den Sinn, die alten, in fremden Gebie¬ 
ten blühenden deutschen Missionsge- 
meinden aufzugeben oder ihre Leiter 
in eine deutsche Kolonie herüberzu¬ 
nehmen. 

Aus guten Gründen. Denn der Kauf¬ 
mann verlegt wohl sein Geschäft leicht 
und rasch. Schwerer wird es schon für 
den Farmer. Schier unmöglich aber ist 
es für den Missionar, der sich immer 
erst mühsam in ein fremdes Volk hin- 
einarbeiten muß. Und noch ernster liegt 
die Frage für die Gemeinden selbst 
Soll man sie als Ruinen sich selbst über¬ 
lassen oder wie Waren an den Meist¬ 
bietenden verschachern? Sie hängen 
eben doch zu eng mit der heimischen 
Missionsleitung zusammen. Dies haben 
wir nicht nur vor 15 Jahren bei den 
Hereroaufständen erlebt sondern erst 
jüngst wieder in Kamerun und auf dem 
fremden Boden von Indien. Wie jeder 
Annektierte, so würden darum auch sie 
einen Wechsel schmerzlich empfinden. 
Freilich gewöhnt man sich schließlich 
an alles, und auch die von deutsch¬ 
evangelischen Missionaren herangebil¬ 


deten Gemeinden müßten allmählich in 
hochkirchliche oder methodistiscbe oder 
baptistische Anschauungen hineinwach- 
sen, wenn man sie an England abtreten 
würde. Aber ob eine solche Verschie¬ 
bung — ich will nicht einmal sagen, für 
den deutschen Protestantismus, sondern 
für das Deutschtum überhaupt — sehr 
erwünscht wäre, ist eine andere Frage 
Es schien und scheint auch heute nicht 
wohlgetan, wenn Hunderttausende, die 
bisher zu uns Beziehungen hatten, lang¬ 
sam dem Engländertum, Buren tum, Ja- 
panertum verfallen. Denn es ist min¬ 
destens sehr einseitig, die Missions¬ 
arbeit nur als einen den fremden Völ¬ 
kern geleisteten Dienst anzusehen, wohl 
gar als Verschwendung von deutscher 
Arbeit und deutschem Gelde. Jede Mis¬ 
sionsgemeinde draußen bedeutet viel¬ 
mehr ein größeres oder geringeres Stück 
deutschen Einflusses und deutscher Be¬ 
ziehungen. Wem würden wir also mit 
einem solchen Rückzuge nützen? Liegt 
es wirklich im Interesse des deutschen 
Volkes, daß wir eine Pionierarbeit von 
Menschenaltern mit einem Schlage auf¬ 
geben? Daß wir uns aller jener Ver¬ 
trauensstellungen berauben, die wir 
durch die Mission bei Tausenden von 
britischen, burischen und japanischen 
Untertanen gewonnen haben? Würden 
es wohl die Japaner als Schädigung 
empfinden und bedauern, wenn Deutsch¬ 
land sofort nach dem Falle von Tsing¬ 
tau seine Missionare aus Schantung zu¬ 
rückgezogen hätte, ohne zuvor — ein 
schlechter Lohn für ihr mutiges Aus¬ 
halten — ihr Urteil über die Möglich¬ 
keit einer Fortführung der Arbeit ge¬ 
hört zu haben? 

Man hat wohl entgegnet, die Frage 
würde sich vermutlich sehr einfach in 
der Weise lösen, daß uns eben nach 
dem Kriege keine andere Wahl mehr 
bliebe als die Zurücknahme unserer Mis- 


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Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation 


99 * 


M 

sjonare aus fremden Kolonien. Unsere 
erbitterten Feinde vgn heute würden • 
auch fernerhin innerhalb ihrer Grenzen 
keine deutschen Missionare mehr dul¬ 
den. Ich halte diese Ansicht für falsch. 
Der Handelsverkehr zwischen den Tod- 
feinden von heute wird wieder ins Ge¬ 
füge kommen. Wissenschaft, Kunst und 
Technik werden von neuem ihre Gedan¬ 
ken fruchtbringend austauschen. Warum 
sollten nicht auch die religiösen 
Beziehungen und unter ihnen wie¬ 
derum die missionarischen von der nach 
dem Frieden mit Sicherheit zu erwar¬ 
tenden Beruhigung der Nationen Vor¬ 
teil ziehen? 

Freilich, was unrettbar zerstört ist, 
soll man nicht künstlich in seinen alten 
Zustand zurückversetzen wollen. Der 
Krieg ist nun einmal der große Korrek¬ 
tor, von dem sich die Völker belehren 
lassen müssen. Er schafft Ruinen und 
er löst Verbindungen, um für neue 
Schöpfungen Raum zu haben. In ganz 
Europa müssen heute Hunderttausende 
das Alte vergessen und für eine anders 
geartete Zukunft neue Gedanken suchen. 
So wird auch die deutsche Missions¬ 
arbeit nach dem Kriege einer breiteren 
Grundlage bedürfen, und zwar muß 
diese Grundlage unbedingt nationaler 
Art sein. Bei aller Hochachtung vor den 
Leistungen der deutsch-evangelischen 
Mission im 19. Jahrhundert: ihre Form 
ist nicht für alle Zeiten die allein be¬ 
rechtigte und mögliche. Dies hat sie 
selbst angefangen einzusehen. Die pie- 
tistische Willkür, mit der sie sich bis¬ 
her ihre Missionsgebiete zusammen¬ 
suchte, muß in stärkerem Maße einem 
vertrauensvollen Zusammenarbeiten mit 
den Plänen und Aufgaben des Deut¬ 
schen Reiches in den Kolonien wei¬ 
chen. Auch die evangelische Mission 
Deutschlands muß wieder wie ihre Vor¬ 
gängerin im Mittelalter es lernen, in den 

Internationale Monatsschrift 

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Bahnen der Reichspolitik zu gehen und 
ihr die Wünsche und Neigungen der - - 
einzelnen Missionsgesellschaften anzu¬ 
passen. 

Haben doch diese Missionsgesell- * 
schäften selbst die in der National¬ 
spende vom Jahre 1913 zum Ausdruck 
kommende freundschaftliche Betätigung 
von Kreisen, die sonst dem Missions- 
betriebe völlig fremd gegenübergestan¬ 
den hatten, mit großer Freude begrüßt. 
Haben sie doch nicht minder in der 
unter dem Protektorate des Kaisers 
stehenden Deutschen evangelischen Mis- 
sionshiife ein sehr willkommenes Mit¬ 
tel gesehen, um der durch die gestei¬ 
gerte Arbeit in den Kolonien hervor- 
geiufenen Schwierigkeiten Herr zu wer¬ 
den. Man braucht sich ja nur diese bei¬ 
den Worte „national" und „deutsch" zu 
vergegenwärtigen, um sofort einzu- 
sehen, welche starke Umbiegung bereits 
in den letzten dreißig Jahren die aus 
dem Pietismus stammende Missions¬ 
denkweise sich hat gefallen lassen. 
Wer das deutsche Missionsleben etwas 
näher kennt, der weiß, daß diese bei¬ 
den Begriffe „national“ und „deutsch“ 
vor vierzig Jahren noch in jedem deut¬ 
schen Missionshause starken Wider¬ 
spruch und unzweideutige Ablehnung 
gefunden hätten. Nach dieser Seite hin 
sind unsere Kolonien bereits vortreff¬ 
liche Erzieher der Missionskreise ge¬ 
worden, so daß wir auf diesem Wege 
• nur einen Schritt weiterzugehen brau¬ 
chen. i 

Die Mission muß auf hören, Vereins¬ 
sache zu sein und ein wohlgemeintes 
Spiel, das seine Kräfte verzettelt Sie muß 
um unserer Kolonien willen Sache der 
ganzen Nation werden. Unsere Handels¬ 
kreise stehen nicht mehr, wie die be¬ 
rüchtigten englischen und holländischen 
Handelskompanien, jenseits von allem 
sittlichen Empfinden; an die Schiffe un- 

32 

Original fro-m 

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995 


Max J. Wölfl, Shakespeare als Künstler des Barocks 


serer Kaufleute knüpft das Gute sich 
überall an. Wie wir unsere Kolonien 
militärisch schützen und wirtschaftlich 
heben, so werden wir sie auch geistig 
und religiös entwickeln. Zu dieser 
selbstverständlichen Pflicht muß sich 
die ganze Nation bekennen, wenn anders 
sie wirklich den Anspruch erhebt, ein 
Kolonialvolk, ein Weltvolk zu werden. 
Nationalspende und Deutsche evange¬ 
lische Missionshilfe sind dazu die 
ersten vielversprechenden Anzeichen. 

Wie das einzelne sich zu gestalten 
hat, darüber zu befinden gehört zu den 
zahlreichen wundervollen Aufgaben un¬ 
serer großen Zukunft. Verheißungsvoll 
ist es jedenfalls, daß auch die Organe 
der Landeskirche, Kirchenregiment und 
Synoden, die der Mission gegenüber 
lange Zeit eine bewunderungswürdige 
Verständnislosigkeit zur Schau trugen, 
gegen sie seit dreißig Jahren in zuneh¬ 
mendem Maße Wohlwollen bekunden 
und dieses in Zukunft ohne Frage stei¬ 
gern werden. 

Und unsere Stellung zu den jetzt 


«06 

feindlichen Völkern und ihren Kolo¬ 
nien? 

Wohl wird der Geschmack an Edin- 
burg-Konferenzen den an englischem 
und amerikanischem Wesen sich gern 
berauschenden Missionsfreunden einst¬ 
weilen vergehen. Denn der Bruch zwi¬ 
schen uns und dem Angelsachsentum 
braucht auch nach dem Kriege zu seiner 
Heilung noch längere Zeit Es kann aber 
nicht unser Wunsch sein, diesen Bruch, 
der durch den Krieg in den Protestan¬ 
tismus gekommen ist, zu vergrößern 
und zu verewigen. Wenn wir also 
in fremden Gebieten die deutsche Mis¬ 
sion aufrechterhalten, so tun wir es 
nicht aus Schwäche oder aus Mangel 
an patriotischem Empfinden, sondern 
weil wir hoffen, gerade dadurch den 
deutschen Einfluß in der Welt zu stärken. 

Aber das Natürliche ist immer 
Beste Und natürlich ist es, wenn man 
in erster Linie an seine Hausgenossen 
denkt. Unsere Hausgenossen aber sind 
und bleiben die Bewohner unserer Ko¬ 
lonien. 


Shakespeare als Künstler des Barocks. 

Von Max J. Wolff. 


Die Überschrift dieses Aufsatzes ist 
einer Arbeit O. Walzels im 52. Band des 
Shakespeare-Jahrbuches entnommen, in 
der er die dramatische Baukunst des 
Dichters behandelt. Er verwahrt sich 
zwar ausdrücklich gegen die Prägung ei¬ 
nes neuen Schlagwortes, aber er meint 
doch, daß sich in Shakespeares poeti¬ 
schem Sch affen die gleichen Erscheinun¬ 
gen finden lassen, die man in der bil¬ 
denden Kunst unter dem Ausdruck 
B a r o ck zusammenzufassen pflegt. 
Unter diesem Gesichtspunkt solle 
man Shakespeares dramatische Kunst 
an den Stellen zu begreifen ver¬ 


suchen, die noch immer vielen als 
verfehlt und verbesserungsbedürftig 
schienen. An der Hand von Wölfflins 
Kunstgeschichtlichen Grundbe¬ 
griffen findet Walzel das Wesen des 
Barocks im Gegensatz zur vorausgehen¬ 
den Renaissance darin, daß der ge¬ 
schlossene Stil durch den offenen ersetzt 
wird, der tektonische durch den atekt- 
tonischen. Die symmetrische Gliederung 
weicht der Asymmetrie, die strenge Re¬ 
gelmäßigkeit löst sich in scheinbare Re¬ 
gellosigkeit auf, die Regel wird ver¬ 
steckt, die Dissonanz kommt auf und der 
Eindruck des Zufälligen entsteht Als 


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997 


Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks 


Vertreter des gebundenen dramatischen 
Stiles erscheint Corneille, als der des of¬ 
fenen Shakespeare. Diese Ausführungen 
haben gewiß etwas Bestechendes, und 
zweifellos ist ja auch, daß in dem fran¬ 
zösischen Drama der klassischen Zeit — 
bei Racine fast noch stärker als bei Cor¬ 
neille — die technischen Richtlinien kla¬ 
rer hervortreten, daß die Form strenger, 
der Stil gebundener ist als in Shake¬ 
speares freiem Schaffen; es fragt sich nur, 
ob dieses freiere Schaffen, der Form Wille 
des Dichters, wie Walzel sich ausdrückt, 
mit Erfolg aus dem Wesen des Barocks 
erklärt werden kann, ob überhaupt die 
Eiitwicklung der dramatischen Kunst 
der der bildenden entspricht und ob auch 
hier eine Wandlung von den festen Li¬ 
nien der Renaissance zu den lockeren 
des Barocks stattfindet. 

Ein erstes Bedenken ergibt sich aus der 
zeitlichen Folge der beiden als typisch 
betrachteten Dichter. Shakespeare ist der 
Vorgänger Corneiiles, während es nach 
WalzelsTheorie umgekehrt sein müßte. 
Freilich waren beide voneinander unab¬ 
hängig, so daß keine direkte Linie von 
dem Engländer zu dem Franzosen führt, 
aber dieser lebte doch zu einer Zeit, 
wo das Barock längst die Renaissance 
überwunden hatte, während zu Shake¬ 
speares Zeit die jüngere Kunstrichtung 
in England noch in den Anfängen stand, 
mochte sie sich in Frankreich und Italien 
damals auch schon durchgesetzt haben. 

Freilich kann nicht geleugnet werden, 
daß das Barock einen Einfluß auf die 
Dichtung im allgemeinen und auf die 
Shakespeares im besonderen ausgeübt 
hat. Seine beiden kleinen Epen Venus 
und Adonis und Lucrezia sind so 
gutwieTassos Befreites Jerusalem 
oder Markus Adone Erzeugnisse des 
Barocks. Auch die sprachliche Mode oder, 
wie man meistens sagt, die Sprachver- 
derbnis, die sich in den verschiedenen 

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Ländern an die Namen Marinis Gongar¬ 
ras, Dubartas’ und Lilys knüpft, wird 
man als Ausfluß oder gar als Aus¬ 
wuchs dieser Kunstrichtung betrach¬ 
ten müssen. Das sind Tatsachen, die 
gewiß für Walzel sprechen, und noch 
mehr eine Bemerkung, die Tasso in einer 
seiner theoretischen Schriften macht. 
Er scheidet dort eine strenge und 
klassische unitä und eine romantische 
unitä di molti, eine Einheit in der 
Vielheit. In der Terminologie Walzels 
und Wölfflins entspricht das dem ge¬ 
bundenen und dem offenen Stil Aber 
Tassos Scheidung gilt nur für die epi¬ 
sche Dichtung; sie sollte die Berechti¬ 
gung des romanzo mit seinen bunten 
Wechselfällen und seiner Vielheit von 
Helden gegenüber der streng einheitli¬ 
chen Aeneis dartun; auf dramatisches 
Gebiet hat Tasso sie nicht übertragen, 
weil dort die Regeln des Aristoteles, 
vielfach in der verschärften Auslegung 
des 16. Jahrhunderts, in seinen Au¬ 
gen unbedingte Gültigkeit besaßen. Eine 
andere Art des Dramas kannte er nicht, 
oder wenn er sie kannte, wie vermutlich 
die Celestina, so war sie für ihn kein 
Drama, ja überhaupt kein Kunstwerk. 

Die italienische Tragödie des 16. Jahr¬ 
hunderts lehnt sich sklavisch an die an¬ 
tiken Vorbilder an. Sie bewegt sich in¬ 
nerhalb der bekannten drei Einheiten, 
ihre Handlung ist knapp, häufig sogar 
dürftig, zur Darstellung gelangt nur die 
Katastrophe, die Zahl der auftretenden 
Personen ist beschränkt, sie gruppieren 
sich eng um den Helden und werden 
nur gezeichnet, soweit sie zu ihm Be¬ 
ziehung haben. Alles Nebensächliche 
scheidet aus, die Episode ist unstatthaft, 
die Gliederung möglichst symmetrisch 
mit der kanonischen Teilung in fünf Auf¬ 
züge, von denen der dritte den Wende¬ 
punkt des Dramas bildet oder wenig¬ 
stens nach der Absicht des Verfassers bil- 

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Max J. Wolff, Shakespeare als Kflnstler des Barocks 


1000 


MO 


den soll. Wenn man auf diese Tragödie 
eine Bezeichnung aus der Baukunst über* 
tragen darf, so ist ihr Stil zweifellos ge* 
bunden. Und diesem gebundenen Stil 
bleiben die Italiener unbedingt treu. Ob 
man ein Drama aus dem Anfang oder 
dem Ende des Jahrhunderts in die Hand 
nimmt, ein Werk von Trissino, RuoeUai, 
MarteUi oder ein solches von Tasso.Zi- 
nano, Torelli, in der Form besteht kein 
Unterschied. Es wäre unmöglich, aus 
dem Stil dieser Stücke einen Schluß auf 
ihre Entstehungszeit zu ziehen. Die ein* 
zige Wandlung, die allenfalls vor sich 
geht, ist stofflicher Natur. Bei den spate¬ 
ren Dichtern sind Stoffe aus dem Mittel- 
alter häufiger, wenn sie auch in der alte¬ 
ren Zeit nicht völlig fehlen, und die Vor¬ 
geschichte ist bei ihnen verwickelter, 
ohne daß sich jedoch die Lösung, die al¬ 
lein zur Darstellung gelangt, mannigfalti¬ 
ger gestaltete. Hier zeigt sich der Ein¬ 
fluß der gleichzeitigen Epik, und wenn 
man will, mittelbar ein solcher des Bar 
rocks, der jedoch auf die Technik in kei¬ 
ner Weise abfarbt. Dasselbe gilt für die 
italienische Komödie des 16. Jahrhun¬ 
derts. Nach dem Vorbild des Terenz wa¬ 
ren allerdings zwei Liebespaare in ei¬ 
nem Lustspiel zulässig, ja sie wurden 
sogar als besonderer Vorzug betrachtet, 
und dadurch entsteht eine Neigungzur 
Doppelhandlung, aber selbst wo eine 
solche vorliegt, wird sie in der üblichen 
strengen Form der antiken Komödie dar¬ 
gestellt. Die Doppelhandlung zieht kei¬ 
ne stilistische Änderung nach sich. Ein¬ 
zelne Autoren wie Aretin oder Grazzini 
strebten zwar unter Benutzung von 
volkstümlichen Motiven nach einer Lok- 
kerungder Form und freieren Gestal¬ 
tung des Lustspieles, da diesen Versu¬ 
chen aber meist die ganze Ungeschick¬ 
lichkeit der Anfangerschaft anklebt, ver¬ 
schwinden sie, ohne die Komödie zu be¬ 
einflussen. Was die Italiener im Laufe 

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eines Jahrhunderts lernten, war eine 
größere Gewandtheit in der Verwendung 
dieses tektonischen Stiles, aber sie wird 
nur benutzt, um die Handlung noch ener¬ 
gischer und straffer zusammenzufassen. 
Dieser Zug beherrscht selbst die Steg- 
reifkomödie, sie strebt danach, mit der 
Commedia eruditaai wetteifern und 
begibt sich, je mehr sie aufsteigt und das 
geschriebene Lustspiel verdrängt, immer 
mehr in den Zwang der klassischen Re¬ 
geln. 

Die Tragödie und Komödie Frank¬ 
reichs im 16. Jahrhundert ist zunächst 
eine genaue Nachahmung der italieni¬ 
schen, deren gebundener klassizistischer 
Stil übernommen wird. Auf den Pariser 
Theatern hatte sich aber die eigenartige 
mittelalterliche Kombinationsbühne er¬ 
halten, die die Möglichkeit bot, auf einer 
Szene mehrere Schauplatze zu vereini¬ 
gen, also einen Ortswechsel ohne Deko¬ 
rationswechsel vorzunehmen. Durch die¬ 
se Freiheit und nicht minder durch den 
lebhaften Einfluß der Spanier erwuchs ei¬ 
ne gewisse Neigung zur Ungebundenbeit 
und Lockerung der strengen Form, die 
man bei Alexander Hardy, diesen begab¬ 
ten Vielschreiber, beobachten kann. Aber 
die Bewegung wurde rasch überwunden, 
als die Kombinationsbühne aus äußeren 
Gründen verschwand und gegenüber 
den Spaniern eine nationalere Rich¬ 
tung zum Durchbruch kam. Corneille, 
der seine ersten Werke noch für die 
Kombinationsbühne schrieb, ist bereits 
für Walzel der mustergültige Vertreter 
des gebundenen tragischen Stiles, und 
was für ihn gilt, trifft in noch höherem 
Maße auf Racine und im Lustspiel auf 
Moliöre zu. Gerade sein Streben ist auf 
eine äußerst einfache Handlung gerich¬ 
tet, die sich unter möglichst wenig Per¬ 
sonen in möglichst gerader Linie ab¬ 
spielt. Ein Vergleich der Jugendwerke 
des Dichters Etourdi, Döpit amou- 

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Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks 


1002 


reux und Don Garcia, mit denen 
der Reifezeit, etwa Tartuffe oder 
Femmes savantes, beweist, mit wel¬ 
cher Energie Moli&re diese Tendenz ver¬ 
folgt hat. Es unterliegt keinem Zweifel, 
daß es auch mit vollem Bewußtsein ge¬ 
schah, nicht etwa unter dem zufälligen 
Druck der erwählten Stoffe. Das italieni¬ 
sche und französische Renaissance d rama 
wird von Anfang an im tektonischen Stil 
gehalten und sie bewahren diesen auch 
zu einer Zeit, wo in den bildenden Kün¬ 
sten das Barock längst die Herrschaft ge¬ 
wonnen hatte. Eine Entwicklung findet 
überhaupt nur in sehr beschrankter Wei¬ 
sestatt, wo aber eine solche Platz greift, 
zielt sie auf eine strengere Anspannung 
der Form, sie nimmt also gerade den 
umgekehrten Weg als die Malerei und 
die Baukunst. Ein Einfluß des Barocks 
auf die dramatische Technik ist weder 
in Italien noch in Frankreich erkennbar. 
Die Entspannung des Stils, der Übergang 
von der geschlossenen zur offenen Förm, 
beruht bei den bildenden Künsten aüf 
einer inneren Notwendigkeit; eine solche 
besteht für das Drama offenbar nicht, 
und wenn im Gegensatz zu der Tragö¬ 
die der Italiener und der Franzosen die 
der Engländer in Übereinstimmung mit 
den bildenden Künsten diesen Verlauf 
genommen hat, wie Walzel behauptet, 
so wftre es eine Eigentümlichkeit Shake¬ 
speares und seiner Zeitgenossen. 

Auch in England entstand in der Mit¬ 
te des 16. Jahrhunderts in lateinischer 
und heimischer Sprache ein klassizisti¬ 
sches Drama, aber es blieb dort auf die 
Gelehrten beschrankt, während es in 
Frankreich und Italien sich auf weitere 
Kreise ausdehnte. Aufführungen waren 
nicht selten, aber sie fanden an den Uni¬ 
versitäten, Juristenschulen und ähnli¬ 
chen akademischen Anstalten ausschlie߬ 
lich vor einem humanistisch gebildeten 
Publikum statt Diese klassizistische 

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Richtung hat zweifellos einen sehr er¬ 
heblichen Einfluß auf das englische Dra¬ 
ma ausgeübt, schon dadurch, daß ein grö- * 
ßer Teil der Dichter aus den Reihen der 
Akademiker hervorging, aber die ei¬ 
gentlichen Wurzeln der elisabethani- 
schen Tragödie und Komödie liegen 
in der aus dem Mittelalter übernom¬ 
menen Volksbühne mit ihrem reichen 
Schatz von Mysterien; Moralitäten,* 
Interludes und Possen. Wenn man 
bei diesen überhaupt von einer be¬ 
stimmten Form (und einem Stil sprechen' 
kann, so bestehen sie in der unbe¬ 
schränktesten Freiheit und Regel¬ 
losigkeit. Es wird dargestellt, was ge- 5 
rade geeignet erscheint, die Aufmerk¬ 
samkeit und Schaulust der großen Masse 
zu fesseln, und für die Art der Darstel¬ 
lung gibt es auch nur einen Grundsatz: 
Spannung. In bunter Abwechslung muß 
möglichst viel geschehen. Ist die eigent¬ 
liche Handlung zu langweilig, so muß 
eine zweite aushelfen, oder der Clown 
springt herein und sorgt für Abwechs¬ 
lung. Sind die Taten des Helden er¬ 
schöpft oder augenblicklich nicht unter¬ 
haltend genug, so geht man zu denen 
einer Nebenperson über. Zwischen den 
mehr odfer weniger ernsten Teilen wird 
eingeschobenen Faustkämpfen, Akroba¬ 
tenkünsten, gesungenen Liedern, beson¬ 
ders aber den beliebten und derb aus¬ 
geführten Prügelszenen ein breiter 
Raum überlassen. Es fehlt jedes Stilge¬ 
fühl oder Stilbewußtsein, iind dieser 
Mangel setzt sich noch in eine sehr späte 
Zeit fort, bis zu den unmittelbaren Vor¬ 
läufern, ja sogar bis zu den Zeitgenos¬ 
sen Shakespeares. Greene z. B. findet, daß 
der III. Akt seines Dramas J dm es fV. 
zu trahrig ist, und so verspricht er den 
Zuschauern, den Erbst durch einige 
Scherze zu erleichtern: 1 

Der Rest ist ernst, dodi daß ihr euch erquickt, 
ist er mit Späßen und mit Reim gespickt 


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Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks 


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Peele stellt die reizende Liebesge¬ 
schichte des Alten Testamentes von Da¬ 
vid und Bathseba dar, sie fülltaber 
die üblichen Spielstunden nicht aus, 
und so verlängert er das Stück dadurch, 
daß er in . rein äußerlicher Weise den Tod 
Davids anschließt, mit der einzigen Mo¬ 
tivierung, er habe in der Quelle noch et¬ 
was Stoff für einen third discourse 
of David’s life gefunden. Heywood 
endlich dramatisiert zu einer Zeit, als 
Shakespeares Meisterwerke schon Vor¬ 
lagen, die bekannte Sage von der keu¬ 
schen Lucrezia, und das an der Heldin 
begangene Verbrechen wird in diesem 
ernsten Jambendrama in Form eines 
Bänkelsftngerliedes mit abwechselnden 
Stimmen berichtet, d. h. wirklich ge¬ 
sungen : 

Valerius: Packte er Lucrezia bei der Zeh an? 
Horatius: Zeh’ an? 

Valerius: Ja, Mann. 

Clown: Ha ha ha ha, Mann. 

Horatius: Tat er ihr ein weiteres Weh an? 
Clown: Weh an? 

Valerius: Ja, Mann. 

Clown: Ha ha ha ha ha, Mann. Trallallala 

trallallala! 

So geht es durch mehrere mit Zoten 
gewürzte Verse fort. In der nächsten 
Szene erscheint dann Lucrezia und for¬ 
dert in einer pathetischen Deklamation, 
daß die Götter ihre geschändete Un¬ 
schuld rächen mögen! Diese Stücke sind 
eine Anhäufung von Zufälligkeiten; die 
Verfasser haben noch kein Verständnis 
für die Gesamtwirkung, sondern suchen 
aus jeder Einzelheit soviel Spannung 
als möglich herauszuholen, Einzel- 
wirkungeo, die sich gegenseitig auf- 
heben und zerstören. Jeder einsichtige 
oder auch nur mit einem angeborenen 
Stilgefühl begabte Dichter mußte ge¬ 
genüber diesem Unfug ein Bedürfnis 
nach einer strengeren Gliederung und 
schärferen Zusammenfassung der Hand¬ 
lung empfinden. In Anlehnung an die 


klassizistische Richtung drängen Mar¬ 
lowe und Kyd alles Überflüssige und 
Nebensächliche energisch zu rück, suchen 
die Handlung einheitlich zu gestalten 
und der einheitlichen Handlung den an¬ 
gemessenen Ausdruck zu geben. Die Tei¬ 
lung in 5 Akte wird kanonisch; das Ko¬ 
mische empfindet man in der Tragödie 
schon als stilwidriges Zugeständnis an 
den Volksgeschmack, und bezeichnend 
ist, daß das chronicle play, diese frei¬ 
este Blüte des englischen Dramas, der 
selbst der junge Shakespeare noch hul¬ 
digt, langsam abstirbt. Auf diese Weise 
entwickelte sich aus der Unform des 
Volksstückes ein Drama, das allerdings 
noch frei bis zur Willkür bleibt Im 
Sinne Walzeis ist sein Stil offen, un¬ 
gebunden, atektonisch; aber es trug 
schon durch die Art seines Werdens den 
Zug nach größerer Strenge und nach ei¬ 
nem geschlosseneren Stil in sich. Um 
dies zu erkennen, bedarf es nur eines 
Vergleiches zwischen den Werken von 
Shakespeares Vorgängern, den Peele, 
Greene, Lodge, und denen seiner Nach¬ 
folger wie Ben Jonson, Beaumont und 
Fletcher. Diese sind stolz, regelrechte 
kunstvolle Dramen zu schreiben, wenn 
ihr Stil auch im Vergleich zu dem der 
französischen und italienischen Dichter 
ein offener im Sinne Walzeis ist Es 
blieb ihren Nachfolgern in der Restaura¬ 
tionszeit Vorbehalten* mit der stilisti¬ 
schen Überlieferung einer freieren und 
besseren Zeit völlig zu brechen. Also 
auch für das englische Drama trifft die 
Behauptung Walzeis und die von ihm an¬ 
genommene Parallelentwicklung mit den 
bildenden Künsten nicht zu. Es fehlt die 
grundlegende Voraussetzung eines tek¬ 
tonischen Dramas, aus dem sich das 
atektonische entwickelt haben soll. Der 
Bau ist von Anfang an offen und die 
Entwickelung verläuft gerade in der um¬ 
gekehrten Richtung zu einer geschlos- 


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1005 Max J. Wolf!, Shakespeare als Künstler des Barocks 


seneren Form,soweit die:e sichun'er den 
gegebenen Verhältnissen überhaupt er* 
reichen ließ. Das Drama in England, 
Frankreich und Italien geht den entge* 
gengesetzten Weg von den bildenden 
Künsten: der Einfluß des Barodcs ist ent¬ 
weder gar nicht vorhanden oder er äu¬ 
ßert sich wenigstens nicht in einer Lok- 
kerung und Entspannung des Stils. 

Bisher ist nur die Entwickelung des 
englischen Dramas im allgemeinen be¬ 
handeltworden, unter Ausschaltung von 
Shakespeare, soweit das möglich war, 
da dessen Stilgebung einer besonderen 
Prüfung bedarf. Daß er im, Einklang mit 
seinen Zeitgenossen der offenen, atekto- 
nischen Form huldigt, bedarf keines 
Nachweises. Obgleich er das klassizisti¬ 
sche Drama hochschätzte, wie aus der 
lobenden Beurteilung eines solchen im 
Hamlet hervorgeht, hat et keinen Ver¬ 
such gemacht, sich in dieser Richtung zu 
betätigen. Es ist möglich, daß praktische 
Rücksichten ihn daran hinderten, daß es 
ihm wie Lope de Vega erging, der er¬ 
klärte, er wisse wohl, wie man ein gutes 
Stück schreibe, sei aber gezwungen, sei¬ 
nen Spaniern innerhalb zweier Stunden 
die ganze Weltgeschichte vorzuführen; 
es ist aber auch möglich, daß Shake¬ 
speares künstlerische Unbewußtheit und 
sein Dichterinstinkt ihn an dem nationa¬ 
len Stil festhalten ließen. Auf diese Frage 
gibt es keine Entscheidung, wir müssen 
uns mit der Tatsache begnügen, daß in 
allen Dramen Shakespeares der offene 
Stil herrscht, allerdings mit leichten 
Schwankungen nach einer größeren An¬ 
oder Entspannung der Form. In seiner er¬ 
sten Tragödie, in Romeo und Julia, 
fällt bei aller sonstigen Freiheit die her¬ 
vortretende Symmetrie in der Verteilung 
der Personen auf, die regelmäßig bis zur 
Steifheit ist, in der nächsten, in Ri¬ 
eh a r d IIL wird durch das mächtige Her¬ 
vortreten des Heiden eine straffere Glie¬ 


derung erreicht, ähnlich im Othello, 
Macbeth und Coriolan, während in 
Hamlet, Lear und Antonius und 
Cleopatra eine stärkere Lok- 
kerung der Form zu bemerken ist Auch 
bei den Komödien geht ein festeres oder 
loseres Gefüge bunt durcheinander. Das 
früheste und das späteste Werk des 
, Dichters sind hier die relativ am meisten 
gebundenen, die Komödie der Ir¬ 
rungen und der Sturm. Dazwischen 
liegen andere wie Verlorene Lie- 
besmüh.S ommer nachts träum und 
der Kaufmann von Venedig, die 
selbst für Shakespeares Kunst und die 
seiner Zeit einen sehr leicht gezimmer¬ 
ten Bau aufweisen. Aber weder ist eine 
Entwickelung noch eine bestimmte Ab¬ 
sicht des Dichters zu erkennen, weder 
die freiere noch die strengere Form ist 
an eine bestimmte Periode seines Schaf¬ 
fens gebunden, daß die eine vielleicht 
in der Jugend, die andere in der Spät¬ 
zeit die ausschließliche oder wenigstens 
die überwiegende wäre; sie scheinen al¬ 
lein durch die Bedürfnisse des jeweili¬ 
gen Stoffes bedingt zu sein. Shake¬ 
speare verwendet in „Lear" eine Doppel¬ 
handlung, aber es bleibt ein einmaliger 
Fall, der sich in den folgenden Tragödi¬ 
en nicht wiederholt und nicht zur Regel 
erhoben wird, wie es in der Komödie 
schon von den Italienern geschehen war. 
Aus dem einmaligen Gebrauch der Dop- 
pelhandlung läßt sich weder folgern, 
daß der Dichter in ihr eine Bereicherung 
seiner Technik erblickte, noch darf man 
annehmen, daß er diesen Versuch als 
fehlerhaft oder mißlungen verwarf, weil 
er später nicht wieder darauf zurück¬ 
kam. 

Shakespeare übernahm die Technik, 
die er vorfand, als etwas Gegebenes und 
Notwendiges; die Wege seiner Zeitge¬ 
nossen sind auch die seinen, und soweit 
bei ihnen von einer Entwickelung des 


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Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks 


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Stils die Rede sein kann, macht er sie 
auch mit. Als der Geschmack für das lo¬ 
se gefügte chronicle play vorüber 
war, schreibt auch Shakespeare keines 
mehr, er dachte nicht daran, sich dem 
Strom der Zeit entgegenzustemmen und 
meinen Typus am Leben zu erhalten, ob¬ 
gleich er ihm zu unvergleichlichen Er¬ 
folgen verholfen hatte, ln den späteren 
Tragödien zeigt er die Neigung, die ko¬ 
mischen Bestandteile möglichst zurück- 
zudrängen, aber auch das ist keine per¬ 
sönliche Besonderheit, keine kritisch 
erwogene Maßnahme, sondern der 
Zug findet sich bei allen gleichzeitigen 
Dramatikern, deren verfeinertes Stil¬ 
empfinden die unmotivierte groteske- 
Komik der ältem Zeit innerhalb der Tra¬ 
gödie nicht mehr ertrug. Zweifellos 
entsprach die Beschränkung des Komi¬ 
schen der eigenen Gemütsstimmung des 
Dichters während und nach der Hamlet¬ 
periode, aber nicht er hat den Anstoß da¬ 
zu gegeben, sonderh er schloß sich nur 
den schon vorhandenen Bestrebungen 
an. Der Dichter hat vier ältere, noch er¬ 
haltene Dramen neu bearbeitet: The 
troublesome raigne of kingJohn 
in seinem König Johann, die Fa- 
mous victories of Henry the 
Fifth in Heinrich IV. und V., Whet- 
stones Promos and Cassandra in 
Maß für Maß und die Historie of 
King Leir im Lear. Die alte 
Taming of a Sh re w kommt nicht 
in Betracht, denn wie auch das Ver¬ 
hältnis zu Shakespeares Stück sein 
mag, so läßt sich so viel mit Sicher¬ 
heit nachweisen, daß sie die Quelle un¬ 
seres Dichters nicht gewesen ist. Wenn 
wir Shakespeares Formwillen erkennen 
wollen, so. müßten gerade die Bearbei¬ 
tungen durch den Vergleich mit den Ur- 
werken eine günstige Gelegenheit bie¬ 
ten, eine günstigere als die anderen 
Stücke, die Shakespeare auf Grund ei¬ 


nes erzählenden Materiales geschaffen 
hat. Leider wird diese Erwartung nur 
zum geringen Teile erfüllt Die Fa¬ 
mo us victories stehen auf einer so 
tiefen Stufe, daß von einer künstlerischen 
Form noch kaum die Rede sein kann. 
Ein Vergleich mit Shakespeares Werk 
hat nur insofern Bedeutung, als er zeigt 
wie das englische Drama aus der volks¬ 
tümlichen Unformerwachsen ist wie be¬ 
sonders der offene Stil in dem un¬ 
gebundensten Stück unseres Dichters 
auf die Zersplitterung der alten Vorlage 
zurückgeht. Im König Johann dage¬ 
gen übernahm er den uneinheitlichen und 
zerfahrenen Aufbau der alten Historie 
im wesentlichen ohne Änderung. Das 
ist um so erstaunlicher, als er an den 

; % r 

Charakteren sehr viel verbessert hat; 
das Drama muß "ihm also in technischer 
Beziehung genügt haben. Nur an unter¬ 
geordneten Stellen griff er eilt er tilgte 
die Ausräubung des Klosters und die 
zweite Krönung des Königs, er ver¬ 
kürzte die Vorgänge mit dem Pro¬ 
pheten aus Pomfiet, faßte die Kärtipfe 
des letzten Aktes energischer zusam¬ 
men und ließ am Schluß die Thron¬ 
besteigung des neuen Herrschers Hein¬ 
rich weg. Hier zeigt Shakespeare das 
Bestreben, Überflüssiges auszuscheiden, 
das Stück von episodenhaftem Ballast 
zu entlasten und außerhalb der Hand¬ 
lung liegende Vorgänge abzustoßen, 
ohne daß jedoch der Verlauf des 
Stückes selbst dadurch beeinflußt 
würde. Energischer kommt dieser Zug 
in Maß für Maß zum Ausdruck, 
schon dadurch, daß der Dichter aus 
den zehn Akten des alten Doppel¬ 
dramas ein einziges Stüde von fünf 
Akten machte. In Promos und Cas¬ 
sandra ist Andrugio (Claudio) mir 
eines der vielen Opfer, die dem neuen 
Sittengesetz gebracht werden; Shake¬ 
speare konzentrierte die gesamte 


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m. 


Max J. Wollt, Shakespeare als Künstler des Barocks 


Handlung um ihn und schied die 
Nebenhandlung aus, die sich dort um 
die Dirne Lamia und ihr Schicksal 
dreht Was von diesen Teilen übrig* 
blieb, dient in dem neuen Stück nur zur 
Schilderung des Milieus ^ind empfängt 
sein Interesse erst durch die Haupt- 
handlung, nachdem es eine gründliche 
Umgestaltung erfahren hat Auf der 
anderen Seite mußte der Dichter sein 
Werk vielfach breiter anlegen. Sein 
Vorgänger Whetstone ist überhaupt 
kein Dramatiker, sein Promos und 
Casstfndra kein Drama, sondern eine 
in weitschweifige Dialoge zerhackte 
Novelle. Die wichtigsten Vorgänge wer¬ 
den nur kurz berichtet, Shakespeare 
führt sie in dramatischer Gegenständ¬ 
lichkeit vor, und damit verband sieh 
notwendigerweise eine weiter ausho- 
lende Darstellung. Den verwickelten 
Vorgang der Unterschiebung eines an¬ 
deren Toten an Stelle des verurteilten 
Andrugio kann Whetstone beispiels¬ 
weise in drei Versen erledigen, Shake¬ 
speare braucht mehrere Szenen dazu 
und muß mehrere Hilfspersonen ein- 
fOhren, um diesen Tatbestand in Form 
der Handlung darzustellen. Der Ver¬ 
gleich der beiden Stücke kann infolge¬ 
dessen für unsere Zwecke nur wenig 
bieten, da das neue Drama nicht einem 
älteren gegenübersteht, sondern einer 
Erzählung, die nur in Wechselreden 
vorgetragen wird. So kommt von den 
älteren Stücken für uns eigentlich nur 
die Geschichte von König Lear 
in Betracht. Als bedeutsamster Unter¬ 
schied zwischen diesem und dem jün¬ 
geren Shakespearischen Stück fällt auf, 
daß unser Dichter der Haupthandlung 
eine ähnliche aus dem Hause Glosters 
hinzufügt, daß er also hier eine Doppel¬ 
handlung einführt, während er in Maß 
für Maß die in der Quelle vorhandene 
unterdrückt. Schon oben ist gezeigt 


HU? 

worden, daß der Doppelhandlung eine 
grundsätzliche Bedeutung nicht zu- 
konunt, sie dient aber auch nur scheinbar 
zur Verbreiterung und Lockerung des. 
Aufbaues. Im Gegenteil, wenn wir uns 
zunächst an die Vorgänge halten, die dem 
älteren und jüngeren Stück gemeinsam, 
sind, so hat Shakespeare sie in kraft¬ 
vollster Weise zusammengefaßt und 
vereinfacht Das zeigt sich schon äußer¬ 
lich darin, daß er den ganzen ersten, 
sieben Szenen enthaltenden Aufzug sei¬ 
nes Vorgängers zu einer einzigen Szene 
verarbeitet. Er tilgt ferner alle Vor¬ 
gänge, die in Frankreich spielen, oder 
verlegt sie nach England, offenbar, um 
das zersplitternde Hin und Her zu ver¬ 
meiden, die Liebesgeschichten der bei¬ 
den älteren Töchter, die die Quelle in 
süßlicher Phrasenhaftigkeit schildert, 
werden gestrichen, wie auch die Wer¬ 
bung des Königs von Frankreich um 
Cordelia auf das geringste Maß einge¬ 
schränkt wird. Shakespeare übernimmt 
von dem Vorgänger nur so viel, als un¬ 
mittelbar für das Schicksal Lear» er¬ 
forderlichist. Der König wird in macht¬ 
vollster Weise in den Mittelpunkt ge¬ 
stellt, so daß aus dem alten chronicle 
play ein wirkliches geschlossenes 
Drama herauswächst, in dem sich alles 
um den überragenden Helden gruppiert. 
Bei dem Vorgänger geht dessen Schick- > 
sal unter dem überflüssigen und über¬ 
wuchernden Beiwerk stellenweise völlig 
verloren, bei Shakespeare ist Lear all¬ 
gegenwärtig, selbst wenn er nicht auf 
der Bühne steht, oder sich in einem 
handlungsunfähigen Zustand befindet. 
Daran kann auch die Doppelhandlung 
nichts ändern. Freilich wird der Auf¬ 
bau durch sie mannigfaltiger, das Stück 
selbst reicher an Ereignissen, aber eine 
Lockerung tritt doch nicht ein, weil 
die einheitliche Idee desto stärker zum 
Ausdruck kommt. Die Doppelhandlung 


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Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks 


101 ? 


steht nur in einem scheinbaren Wider¬ 
spruch zu dem festeren Gefüge, das 
■Shakespeare dem Lear im Gegensatz 
zu dem alten Stück gegeben hat. Be¬ 
säßen wir nur das eine Stück des Dich¬ 
ters, so wären wir zu der Behauptung 
berechtigt, daß seinStreben, im Gegen¬ 
satz zu seinen Vorläufern, auf eine 
strengere Stilisierung gerichtet war. 
Andere Werke, beispielsweise der 
König Johann, der die alte Technik 
unbeanstandet übernimmt, schließen die 
Annahme aus, daß Shakespeare dabei 
nach klar erkannten Grundsätzen ver¬ 
fuhr, oder daß eine bewußte Kunst- 
Obung vorliegt. Er übertraf nur die älte¬ 
ren Verfasser an dramatischem Empfin¬ 
den, und das führte ihn mit Notwen¬ 
digkeit dazu, das Obermaß ihrer 
Zwanglosigkeit einzudämmen. Er brach 
nicht mit ihrer Technik, so wenig wie 
Beaumont, Fletcher oder Massinger, aber 
gleich diesen Männern schwebte ihm 
bei seinem Schaffen eine mehr drama¬ 
tische Wirkung im Gegensatz zu der 
■mehr epischen der älteren Dichter vor, 
und dies führte unwillkürlich zu einer 
schärferen Anspannung der Form. 
■Shakespeare nahm keine Ausnahme¬ 
stellung ein, mit seinen Zeitgenossen 
teilte er den Ungebundenen Stil, aber 
auch den Zug, diese Ungebundenheit 
so weit zu beschränken, daß die drama¬ 
tische Wirkung sich nicht verflüchtigt. 
Die Freiheit blieb, aber die Willkür 'der 
älteren Zeit mußte verschwinden. 

Nach Walzels Ansicht soll ähnlich 
wie in der bildenden Kunst im Drama 
•eine Entwicklung des geschlossenen 
-Stiles zum offenen stattfinden. Unsere 
bisherigen Ausführungen sprechen da¬ 
gegen, Italiener und Franzosen haben 
den geschlossenen Stil von Anfang an 
und bleiben ihm dauernd treu, während 
in der englischen Literatur mit dem 
■Entstehen des Dramas auch der offene 


Stil herrscht, ohne daß ein Wechsel 
Platz greift Der Obergang von der 
einen Stilart zur anderen scheint aber 
auch begrifflich unmöglich, solange die 
dramatische Kunst sich naturgemäß aus 
sich selber entwickelt und nicht durch 
äußere Einflüsse aus ihrer Bahn ge¬ 
lenkt wird. Goethe vermochte mit dem. 
, offenen Stil seiner Jugendwerke 
zu brechen und in der Iphigenie 
den geschlossenen anzunehmen, als er 
sich den Wetteifer mit deif griechischen 
Tragikern zum Ziel gesetzt hatte;. 
Shakespeare hätte selbst bei gründlich¬ 
ster Lektüre des Seneka kein klassizisti¬ 
sches Stüde auf seine Bühne bringen 
[ können, so wenig wie Corneille eines in 
der freien Art der Engländer oder auch 
nifr Lope de Vegas auf die seine. Der 
Stil ist bei ihm, wie überhaupt in jeder 
Kunst, die nicht das Erzeugnis wider- 
streitender Theorien bildet, keine Sache 
der Oberlegung und der freien Wahl, son¬ 
dern das Werk innerer und äußerer Not¬ 
wendigkeiten. Unter ihnen steht die 
Bühne an erster Stelle. Für den Mo¬ 
dernen ist die Aufführung nur eine. 
Erscheinungsform des dramatischen 
Kunstwerks,, das ebensogut durch die 
Lektüre genossen werden kann; im 
16 . Jahrhundert dagegen wurden Stücke 
zwar auch gelesen, aber wirkliches 
Leben erhielten sie erst durch die szeni¬ 
sche Darstellung, die einen integrie¬ 
renden Teil des Kunstwerkes selber bil¬ 
dete. Drama und Bühne waren noch 
keine getrennten Begriffe, sondern 
standen in innigster Wechselwirkung. 
Die Gestalt der Bühne zog auch die des 
Kunstwerkes nach sich. Stellte die 
Bühne wie bei Italienern und Fran¬ 
zosen einen feststehenden, unveränder¬ 
lichen, einheitlichen Schauplatz dar, so 
mußte das zu einer einfachen Gestal¬ 
tung des Dramas führen, d. h. zu dem 
sog. geschlossenen Stil. Dagegen ist. 


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Max J. Wolff, Shakespeare als KOnstler des Barocks 


eine Böhne mit unbegrenzter Wand¬ 
lungsfähigkeit Voraussetzung des offe¬ 
nen Stiles. Ob sie von ihr in jedem ein¬ 
zelnen Fall Gebrauch macht, ist gleich- 
göltig, sie muß nur die Möglichkeit 
besitzen, den Ereignissen überallhin zu 
folgern Die Mannigfaltigkeit, die das 
Wesen des offenen Stiles bildet, kann 
sich nur auf einer Bühne entwickeln, die 
die gleiche Mannigfaltigkeit bietet. Eine 
Handlung kann sich in der Wirklich¬ 
keit an einem Orte abspielen, doch das 
ist die Ausnahme, in der Regel wird 
sich jede Handlung von größerem Um¬ 
fang, wie sie schon Aristoteles für die 
Tragödie fordert, über mehrere Schau¬ 
plätze ausdehnen. Die Bühne des offe¬ 
nen Stiles kann diesem Wechsel folgen, 
die des geschlossenen muß die Viel¬ 
heit in den feststehenden einheitlichen 
Ort wie in einem Brennpunkt zu¬ 
sammenfassen. Dazu bedient sie sich 
der Erzählung. Während die Wechsel¬ 
bühne die Ereignisse, gleichgültig, wo 
sie sich begeben, bildlich darstellt oder 
wenigstens darstellen kann, kann die 
Einheitsbühne aus der Fülle der Ge¬ 
schehnisse nur die vorführen, die sich 
gerade an dem einen Ort begeben. Alles 
übrige bleibt der Erzählung überlassen. 
Diese wird bei ihr einen überwiegen¬ 
den Raum einnehmen, vor allem wird 
der Fortschritt der Handlung in Be¬ 
richten erfolgen, nicht durch die Dar¬ 
stellung selbst. Durch den starken Ge¬ 
brauch der Erzählung wird das Drama, 
das auf der Einheitsbühne erwachsen 
Ist, knapper, straffer zusammengefaßt 
und äußerlich einheitlicher erscheinen 
als eines des darstellenden Stiles auf der 
Wechselbühne. In Shakespeares Romeo 
und Julia werden die Straßenkämpfe 
in Veröna, dieLiebesszenen im Haus und 
Garten Capulets, die Familienangele¬ 
genheiten beider Häuser, die Vorgänge 
in Mantua und auf dem Kirchhof unmit¬ 


telbar dargestellt Denselben Stoff hat 
Groto für die einheitliche Bühne drama¬ 
tisiert. und von all diesen Ereignissen 
wird nur das dargestellt, was sich ge¬ 
rade im Hause der Julia (Hadriana) zu¬ 
trägt. Als Goethe wiederum das Stück 
des großen Engländers bearbeitete, d. h. 
es einfacher und klassischer zu gestalten 
versuchte, verfuhr er in der Weise, daß er 
die weitmaschige Handlung in Erzäh¬ 
lung zusammenzog. Handlung und Er¬ 
zählung, das sind die beiden Darstel¬ 
lungsmöglichkeiten des Dramas, und da¬ 
durch, daß es zwei Darstellungsarten be¬ 
sitzt, unterscheidet es sich von den bil¬ 
denden Künsten, die nur über eine ver¬ 
fügen. Die Ausdrücke offner und ge¬ 
schlossener Stil bezeichnen hier Un¬ 
terschiede innerhalb derselben Darstel¬ 
lungsart, im Drama dagegen zwei ver¬ 
schiedene Darstellungsarten. In den bil¬ 
denden Künsten ist der Übergang von 
dem einen zum andern das Werk einer 
naturgemäßen Entwickelung, die sich im 
16. Jahrhundert genau in derselben 
Weise vollzog wie zweitausend Jahre 
früher bei den Hellenen; im Drama ist 
dieser Stilwechsel durch eine Entwicke- 
lung niemals erreicht worden und kann 
auch nicht erreicht werden, sondern nur 
durch einen Bruch mit der Vergangen¬ 
heit, durch eine Preisgabe der Überlie¬ 
ferung. Dazu ist aber notwendig, daß 
zuerst die Vorstellung, die Dichter und 
Publikum von der Bühne haben, von 
Grund auf geändert wird. Erst wenn die 
Bühne den unbestimmten Charakter an¬ 
genommen hat wie die unsere, können 
Dramen des geschlossenen und offenen 
Stiles gleichmäßig auf ihr gespielt wer¬ 
den. Schlegel meint, das klassische Dra¬ 
ma verhalte sich zum romantischen wie 
eine Skulptur zu einem Gemälde. Man 
darf den Vergleich nicht zu wörtlich neh¬ 
men und daraus folgern, daß nach Schle¬ 
gel das Drama des gebundenen und des 


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Max J. Wollt, Shakespeare als Künstler de« Barocks 


offenen Stiles geradezu zwei verschie¬ 
dene Künste seien, zunächst hat er wohl 
sagen wollen, daß ersteres den Gegen¬ 
stand allein, befreit von altem Neben¬ 
sächlichen, das zweite innerhalb einer 
Umwelt darstellt, aber sein Vergleich 
trägt doch der Kluft, die zwischen beiden 
vorhanden ist, Rechnung. Pas Trennende 
zwischen dem geschlossenen und dem 
offenen Stil im Drama ist wesentlich grö¬ 
ßer als zwischen einem Bilde Fra Angeli- 
cos und Rubens’ oder selbst einem Bau¬ 
werk Palladios und Berninis. Die Ver¬ 
bindungsglieder, die zwischen diesen 
bestehen, lassen sich in jedefm Handbuch 
der Kunstgeschichte finden, zwischen 
einem Drama Shakespeares und Gor- 
neilles gibt es solche überhaupt nicht, 
sondern nur eine sehr lose Seitenver¬ 
wandtschaft durch das antike oder besser 
das klassizistische Drama. Eine Kunst 
als etwas Organisches steht nie still, son¬ 
dern befindet sich immer im Fluß, ein 
Brach aber, daß die Einheitsbühne sich 
plötzlich in eine Wechselbühne verwan¬ 
delte, daß die erzählende Darstellung 
zur handelnden überginge, wie es eine 
Vertauschung des geschlossenen Stiles mit 
dem offenen voraussetzen würde, ist bei 
naturgemäßer Entwickelung unmöglich. 

Im Gegenteil, wir haben gesehen, daß 
das Drama in Italien, Frankreich und 
England innerhalb- des einmal vorhan¬ 
denen Stiles nach einer Befestigung der 
Form strebt. Das gleiche gilt für Spa¬ 
nien, wie ein Vergleich des jüngeren 
Calderon mit dem älteren Lope de Vega 
beweist, und für die griechische Komö¬ 
die, wo das Lustspiel Menanders aus 
dem des Aristophanes erwächst. In der 
attischen Tragödie bildet die Zurück- 
drängung der Chöre eine ähnliche Er¬ 
scheinung. Im Gegensatz zu den bilden¬ 
den Künsten tritt im Drama keine Locke¬ 
rung, sondern eine schärfere Anspan¬ 
nung ein. Wenn sich der gleiche Vor¬ 
gang Überall wiederholt, so kann das 


!01ß 


nicht auf einem Zufall beruhen, sondern 
muß aus dem Wesen des Dramas selber 
folgen. Das Drama ist die späteste der 
drei literarischen Gattungen, es entsteht, 
wenn auch nicht gerade aus Lyrik und 
Epik, so doch nach ihnen; die Stoffe, die 
es behandelt, zumal in der ältesten Zeit, 
wo der Dichter kaum an die selbstän¬ 
dige Erfindung einer Handlung denken 
wird, sind bereits in epischer Form vor¬ 
handen. Bei ihrer Umsetzung in die dra¬ 
matische ergibt sich aber, daß dies ohne 
Veränderungen nicht möglich ist. Diese 
Veränderungen werden aber zunächst 
unbewußt, später in klarer Erkenntnis 
des Verfassers darin bestehen, daß das 
Zufällige ausgeschieden wird, daß die 
Geschehnisse in ein deutlicheres Kausa¬ 
litätsverhältnis gebracht werden, daß die 
Aufeinanderfolge des Epos durch die 
Notwendigkeit des Dramas ersetzt wird. 
Das Zufällige ist der Gegensatz des Dra¬ 
matischen. Die Dramatiker werden die 
Erfahrung machen, daß die Wirkung ih¬ 
rer Stücke um S9 größer, der Eindruck 
um so stärker ist, je mehr diese Not¬ 
wendigkeit, die innere Verknüpfung der 
Ereignisse, herausgearbeitet ist. Das 
wird erreicht durch eine strengere Glie¬ 
derung und eine straffere Anspannüng 
der Form. Sie erhöhen innerhalb gewis¬ 
ser Grenzen die dramatische Wirkung, 
Die Entwickelung jeder Kunst bringt es 
aber mit sich, daß ein steigender Wert 
auf die Form gelegt wird; die Kunstfer¬ 
tigkeit überwindet allmählich die Kunst* 
Am Schluß einer jeden Epoche stehen 
die Virtuosen der Technik, die ihre Wir¬ 
kung im besondern Maße von der Form 
bei Erschöpfung des innem Gehaltes er¬ 
warten. Zahlreiche Bilder der Barock¬ 
zeit sind nur aus der Lust an der Über¬ 
windung technischer Schwierigkeiten 
entstanden. Man gab, um neue formelle 
Wirkungen zu erreichen, die einfache, 
geradlinige Anordnung der Frühzeitauf, 
man suchte die Regel zu verstecken und 


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Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks 


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strebte nach dem Eindruck des Unregel' 
mäßigen. In dieser Weise äußert sich die 
raffiniertere Technik in der bildenden 
Kunst, im Drama dagegen gerade in der 
entgegengesetzten Richtung. Der Künst¬ 
ler vermeidet hier alles Nebensächliche 
und Zufällige und sucht sich auf das 
Notwendige zu beschranken, nicht weil 
Ihm die Beschränkung und Vereinfa¬ 
chung Selbstzweck waren, sondern weil 
durch sie die stärkste formelle Wirkung 
erreicht wird, die aus dem Drama gezo¬ 
gen werden kann. Gemeinsam in der 
Entwickelung der bildenden Kunst und 
des Dramas ist die allmähliche stärkere 
Bewertung der Technik, spater ihr Über¬ 
wiegen Ober den Gehalt; jedoch derselbe 
Zug äußert sich bei beiden in grundver- 
schiedenerWeise, bei der bildenden Kunst 
in einer Lockerung, beim Drama in einer 
schärferen Anspannung des Stiles, wie es 
eben der Eigenart beider entspricht. 

Es scheint aber, daß der Höhepunkt 
der Technik niemals mit dem Höhepunkt 
der Kunst zusammenfallt, im Gegenteil, 
die gelungensten technischen Leistungen 
werden häufig durch Preisgabe materi¬ 
eller Vorzöge erreicht, wie man über¬ 
haupt in der Steigerung der Kunstfertig¬ 
keit ein Zeichen oder zum mindesten ein 
Vorzeichen des Verfalles sehen kann. Es 
ist also nur ein bedingter Tadel, wenn 
man Shakespeare nicht die höchste Voll¬ 
endung der Technik zuspricht und im 
Aufbau seiner Stöcke Stellen findet, die 
ln formeller Beziehung nicht voll be¬ 
friedigen. Das geschieht nicht, um den 
Dichter zu „belehren“, wie Walzel meint, 
und darf gewiß nicht in der Weise ge¬ 
schehe^ daß man den Maßstab der heu¬ 
tigen Bühne an Shakespeares Werke 
legt. Die Bühne mit ihren Anforderun¬ 
gen ist etwas Zeitliches, das mehr oder 
weniger von praktischen Rücksichten be¬ 
stimmt wird, aber unabhängig von ihr 
gibt es gewisse Anforderungen, keine 
willkürlich festgesetzten Regeln, die aus 

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dem Wesen des Kunstwerkes selber her¬ 
vorgehen. Niemand wird die selbstaus- 
gesprochene Charakteristik z.B. in Ri¬ 
chard IIL 1,1 (»Ich bin gewillt, ein Böse- 
wicht zu werden“) oder in Heinrich IV., 
Erster Teil 1,2 („Ich kenn’ euch alle“) 
billigen, der Monolog des Belarius 
(Cymbeline III, 3), in dem er sich und 
seine Pflegesöhne unter ihrem richtigen 
und angenommenen Namen dem ver¬ 
sammelten Publikum vorstellt, ist ver¬ 
fehlt. Es sind Unfertigkeiten, die sich 
durch die Nahe der alten Volksstücke er¬ 
klären, technische Verstöße gegen das 
Wesen des Dramas. So lassen sich auch 
einzelne Stellen und Szenen finden, wo 
dem Dichter die Übertragung des epi¬ 
schen Stoffes in die dramatische Form 
nicht völlig gelungen ist, wo die Hand¬ 
lung in eine Fülle von nebensächlichen 
Ereignissen zersplittert. Es handelt sich 
dabei nicht um den häufigen Sze¬ 
nenwechsel, der dem Bühnenleiter 
von heute Schwierigkeiten bietet, 
sondern um Fälle, wo der Dichter 
über Gebühr von der Hauptsache 
abschweift, wo der Fortschritt in der* 
Handlung stockt, wo diese, um' einen 
Ausdruck Ernst v. Wildenbruchs zu ge¬ 
brauchen, die dramatische Linie aus dem 
Auge verliert. Das hat mit der Bühne 
nur insoweit etwas zu tun, als die Sha¬ 
kespeares in ihrer schrankenlosen Un¬ 
gebundenheit eine solche Zersplitterung 
begünstigte und sie dem Publikum, viel¬ 
leicht auch dem Dichter weniger zum 
Bewußtsein kommen ließ. Solche Fälle 
sind in den ersten Königsdramen, die aus 
der Lehrzeit des Dichters stammen, nicht 
selten, sie finden sich aber auch noch in 
den reifsten Werken, und unter diesen 
besonders in Antonius und Cleopa¬ 
tra. Es ist dabei gleichgültig, daß das 
Herrscherpaar, vor allem die Ägypterin 
längere Zeit von der Bühne verschwin¬ 
det, denn es kommt nicht darauf an, daß 
der Zuschauer den Helden immer leib- 

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Max J. Wolf!, Shakespeare als KQnstler des Barocks 


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haftig vor Augen hat, sondern daß die- 
ser stets allgegenwärtig ist, selbst wenn 
er nicht auf den Brettern steht. Tartuffe 
erscheint in den ersten beiden Akten 
überhaupt nicht, aber Seine Gegenwert 
spüren wir, sobald der Vorhang sich 
hebt. So ließe sich auch im Gegensatz 
zu Walzels Ansicht eine Iphigenie 
denken, wo die Titelheldin während ei¬ 
nes ganzen Aktes von der Bühne ver¬ 
schwände, selbst in einer Tragödie des 
geschlossenen Stiles. In Antonius und 
Cleopatra aber handelt es sich nicht 
nur darum, daß wir den oder die Helden 
zeitweilig aus den Augen verlieren, son¬ 
dern es fehlt vielfach die nötige Bezie¬ 
hung zu ihnen. Walzel sucht die Berech¬ 
tigung solcher Szenen zu beweisen; sie 
hätten den Zweck, die Größe des Anto¬ 
nius anschaulich zu machen. Gewiß sind 
sie nicht so überflüssig, daß sie einfach 
mit dem Rotstift durchgestrichen wer¬ 
den können, und sie mögen auch die Be¬ 
deutung, die Walzel ihnen beilegt, be¬ 
sitzen; aber wenn das Shakespeares Ab¬ 
sicht war, so stehen Mittel und Erfolg 
nicht im richtigen Verhältnis. Die Cha¬ 
rakterzeichnung einer Person im Drama 
darf nicht auf Kosten der Handlung, 
nicht unter Preisgabe des dramatischen 
Fortschrittes erkauft werden, sondern 
muß aus der Handlung selber hervor¬ 
gehn. Der Epiker mag, wenn er die 
Größe seines Helden schildern will, zu 
dessen früheren oder anderweiten Ta¬ 
ten abschweifen, ja es ist ihm sogar ge¬ 
stattet, zukünftige Ereignisse zu diesem 
Zweck vorauszumelden, der Dramatiker 
sprengt dadurch den Rahmen des Kunst¬ 
werkes. Diesezerspütternden Szenen sind 
epische Schlacken, die der Tragödie an¬ 
haften, und dasselbe gilt von den un¬ 
entschiedenen Kämpfen, die wir in An¬ 
tonius und Cleopatra finden. Der 
Epiker folgt den Ereignissen, wie sie 
sich der Reihe nach zu tragen, für den 
Dramatiker sind nur die Geschehnisse 

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bedeutsam, die den Charakter der han¬ 
delnden Personen, in erster Linie den 
des Helden, beeinflussen. Wechselnde 
Kämpfe können diesen Erfolg haben, ge¬ 
rade Shakespeare versteht es, sowohl 
in der vorliegenden Tragödie als in 
Richard III. und Macbeth in mei¬ 
sterhafter Weise, die schwankende Ent¬ 
scheidung des Krieges für die Cha¬ 
rakterentwicklung zu verwerten, aber 
wo das Hin- und Herwogen der 
Schlachten nur um der Schlachten wilr 
len dargestellt wird, hört die drama¬ 
tische Wirkung auf. Die Ereignisse als 
solche sind eben für das Drama nichts, 
sondern nur um der Menschen willen 
vorhanden. 

Die-technischen Mängel Shakespeares, 
wenn man den Ausdruck „Mängel" bei¬ 
behalten will, erklären sich aus dem 
überschnellen Wachstum des elisabe- 
thanischen Dramas, das die Eierschalen 
des alten Volkstückes noch nicht völ¬ 
lig abgestreift hat. Sie haben mit dem 
Einfluß des Barocks nichts zu tun. Die¬ 
ser Begriff würde uns niemals das 
Verständnis dafür erschließen, wie ein 
Dichter von stärkstem angeborenen dra¬ 
matischen Gefühl, der schon Werke 
wie R ichard III. geschrieben hatte, sich 
mit dem zerfahrenen Aufbau des König 
Johann zufrieden geben konnte. Zie¬ 
hen wir aber die Quelle der Tragödie 
heran, so begreifen wir die Möglichkeit, 
und was für ein ganzes Stück gilt, 
trifft auch in anderen Werken auf ein¬ 
zelne Szenen zu. Das Barock käme nur 
dann in Frage, wenn man in dieser 
Kunstrichtung eine volkstümliche Reak¬ 
tion gegen den strengen Klassizismus 
der Renaissance erblicken könnte. Dann 
allerdings würden die Stilentspannung, 
die sich in den bildenden Künsten voll¬ 
zieht, und der von Anfang an offene 
Stil des englischen Dramas auf den¬ 
selben Hauptnenner zurückgehen, auf 
die Volkstümlichkeit 

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Nachrichten und Mitteilungen 


1022 



Nachrichten und Mitteilungen 


Die Getreidenahrung im Wandel der Zeiten. 

Ursprünglich lebte der Mensch im Natur- 
zustande von dem Wild, das er erlegte oder 
fing; das Fleisch bildete die Hauptnahrung, 
denn keines der Früchte, Knollen, Wurzeln 
und. anderer Pflanzenteile, die der Mensch 
unter unsäglichen Mühen sammelte, ver¬ 
mochte ihn genügend zu ernähren, wie 
A. Maurizio in seinem unlängst erschie¬ 
nenen Buche hervorhebt. ’) Die Pflanzen 
gaben damals also nicht die Qrundnahrung 
ab, sondern wurden nur als Beigabe ver¬ 
wertet. Dabei stellte sich heraus, daß die 
Gräser alle andern Pflanzen überragende 
Vorzüge aufwiesen. Ohne viel Mühe konnte 
man von ihren Früchten einen Vorrat an- 
legen, der im gleichen Raume mehr Nähr¬ 
stoffe enthielt, als irgendein Erzeugnis der 
übrigen Gewächse. Ein eigentliches Wild¬ 
getreide kennen wir nicht, doch durfte die 
Prüfung von allerhand Ackerunkräutern viel¬ 
leicht manchen Aufschluß noch ergeben. 
Bei der Auswahl der Früchte der Wildgrä- 
ser war sicher die Grüße derselben haupt¬ 
sächlich bestimmend. Unsere heutigen Ge¬ 
treidearten gehören ja auch zu den groß- 
früchtigsten Grasarten, die wir im Laufe der 
Zeiten herangezüchtet haben. Ursprünglich 
genoß man die Grassamen wohl als Brei, 
wie noch heute der Brei die Hauptnahrung 
vieler Naturvölker ist. Dabei stellt sich her¬ 
aus, daß die neue Welt kein echtes Brot¬ 
getreide besitzt, während die Breipflanzen 
dort einen weit höheren Wert, als in der 
alten Welt aufweisen. Als Breipflanzen großer 
Verbreitung können wir Hafer, Mais und 
Reis hinstellen, dem sich einige HUlsen- 
früchte anschließen. Für Europa allein kommt 
eigentlich nur der Hafer in Betracht, wäh¬ 
rend der Mais für Amerika charakteristisch 
ist, Reis in Indien, China und Japan sein 
Hauptzentrum hat. Aber weder Mais noch 
Reis geben an sich eine vollwertige Nah¬ 
rung ab, sie bedürfen im höheren Maße als 
die übrigen Getreidearten des Zusatzes von 
stickstoffreichen Stoffen. 

Neben dem Brei müssen wir den Auf¬ 
guß, die Suppe erwähnen, die ja nur eine 
verdünnte Form des Breies darstellt. Dabei 
ergeben sich wieder interessante Ausblicke 


1) Die Getreidenahrung im Wandel der 
Zeiten. Zürich, Orell Füßli, 1916. 

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auf die Getränke, doch dürfte es zu weit 
führen, darauf näher einzugehen. Mit der 
ältesten Getreidenahrung gehen dann eine- 
Reihe von Arten des Verarbeitens der Kör¬ 
ner einher, die sich hauptsächlich in der 
Weise des Zermalmens der Naturprodukte- 
äußem. Von der Steinzeit an bis weit ins. 
Mittelalter mahlten die Menschen das Ge¬ 
treide auf allerlei Reibplatten und in Mahl¬ 
trögen, denen sich der Mörser zugesellte. 
Bald kam man darauf, die entstehende Masse* 
den Brei, zu backen und zu rösten, um den 
Wassergehalt zu vermindern. Dadurch kom¬ 
men wir zu der Geschichte des Fladens, 
welcher einen recht bedeutenden Fortschritt 
in der Verwertung des Getreidekorns dar¬ 
stellt Freilich waren diese Produkte noch 
recht reichlich mit Sand und Asche verun¬ 
reinigt, womit die auffallend starke Abnut¬ 
zung der Zähne bei vielen wilden Völkern 
erklärlich wird. Die ältesten Fladen, die wir 
kennen, sind die der Pfahlbauem; das Über¬ 
gewicht unter den Fruchten hatte damals 
entschieden die Hirse, während die herr¬ 
schende Klasse wohl Fladen von Gerste- 
und Weizen bevorzugte. Was den Fladen 
hauptsächlich kennzeichnet, ist, daß dieses 
Gebäck ohne Gärmittel bereitet wird, und 
zwar durchschnittlich nicht aus wenigen oder 
einer Getreideart wie unser Brot, sondern 
aus vielen sich hierzu irgendwie eignenden 
besteht. Später machte der Fladen dem 
Brote mehr und mehr Platz, blieb aber stets 
als die Nahrung der Armen bestehn. Die 
guten Breilieferer taugen erfahrungsgemäß 
schlecht zur Brotbereitung: Hirse, Buch¬ 
weizen, Mais, Reis, Hafer und Gerste geben 
schlechtes, schweres Gebäck. Trotzdem ver¬ 
suchte man immer wieder, Brot aus diesen 
Getreidesorten herzustellen. Erst die Säue¬ 
rung des Teiges als Auftreibmittel ver¬ 
mochte ein richtiges Brot zu schaffen. Da¬ 
bei kann man nicht behaupten, daß Brot 
aus einer Getreidesorte durchaus junger ist 
als das Mischbrot; doch ging nach und nach 
die Bevölkerung mehr und mehr Überall zu 
einem einheitlichen Brot Uber, wobei man 
unter Korn die in der betreffenden Ge¬ 
gend vorwiegende als Brotfrucht dienende 
Getreideart zu bezeichnen pflegt: Für den 
Norden Deutschlands ist es der Roggen, für 
den Süden der Weizen. Wo jetzt diese bei¬ 
den Getreidesorten um den Vorrang kämp- 

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1023 


Nachrichten und Mitteilungen 


10M 


fen, haben sie früher die andern Getreide* 
arten erst besiegen müssen. Interessant ist, 
daß wir Weizenbrot in Süddeutschland erst 
vom 12. Jahrhundert an kennen, Gersten* 
brot halt sich noch heute in Nordeuropa, 
in Skandinavien nennt man die Gerste 
schlechtweg das Korn. 

Ursprünglich mußte man das Brot viel* 
fach würzen, der veränderte Geschmack 
lehnte erst nach und nach viele der früher 
am meisten verbreiteten Gewürze ab. Außer 
dem Kümmel haben sich meistens nur noch 
Brotwürzen auf dem Lande erhalten, wo 
man hier und da Mohn, Fenchel, Anis, Ko* 
riander usw. verwendet. Der Weg vom 
Schwarzbrot zum Weißbrot förderte haupt* 
sachlich diese Änderung. Der Weizenesser 
kennt außer Salz fast keine Würze. 

Zuerst wurde Brot nur selten gebacken, 
der Vorrat des Brotes reichte lange, aber 
selbst jetzt hatte Maurizio nur geringe 
Mühe, zwei* und mehrjähriges Brot zu 
Analysenzwecken zu erhalten. Brot galt 
früher für etwas Kostbares, das man nicht 
alltäglich genoß. Im Zusammenhang mit 
dem jetzt täglichen Backen steht, daß der 
Weizen beharrlich in Mitteleuropa vordringt 
von Westen nach Osten und von Süden 
nach Norden. Die Vorzüge des Weizen* 
brotes sind ja auch wohlbekannt, sdion vor 
zweihundert Jahren verlangte der Städter 
in Frankreich sein Weißbrot. Deutsch und 
Welsch unterschied sich bis in die neuste 
Zeit durch sein Brot, es war ein Gegensatz 
der Völker, fast der Weltanschauung. Mit 
dem Oberblick über das zur Frage stehende 
Thema, den wir hier an der Hand unseres 
bewahrten Führers Maurizio nur geben konn* 
ten, ist der Inhalt des höchst interessanten 
Buches bei weitem noch nicht erschöpft. 
Die Leser werden dort so manchen Finger* 
zeig, so manche Aufklärung finden, die hier 
nicht einmal angedeutet werden konnte. 

Prof. Dr. E. Roth. 

Vermittlungsstelle für technisch •wissenschaft¬ 
liche Untersuchungen. 

Der Vorstand des Deutschen Verbandes 
technisch'Wissenschaftlicher Vereine hat 
beschlossen, in seiner Geschäftsstelle eine 
Einrichtung zu schaffen, die für die Aus* 
führung von wissenschaftlich -technischen 
Untersuchungen zwischen der Technik und 


den wissenschaftlichen Instituten, den Uni¬ 
versitäten und Technischen Hochschulen 
vermitteln soll. 

Sehr viele Probleme und ebenso die be¬ 
sondere Kenntnis der Arbeitsgebiete sipd 
heute so spezialisiert, daß bisweilen für ein 
bestimmtes Problenf in den wissenschaft¬ 
lichen Instituten nur wenige geeignete Be¬ 
arbeiter zur Auswahl sich finden. Wenn es 
nun gelingen könnte, alle solche Probleme 
den jeweils geeigneten Bearbeitern zuzufüh¬ 
ren, würde ein sehr erheblicher Nutzen mit 
dem geringsten möglichen Arbeitsaufwand 
geschaffen werden. Einerseits könnten die 
großen geistigen und materiellen Weite, 
die in den Einrichtungen der wissenschaft¬ 
lichen Institute der Universitäten und Tech¬ 
nischen Hochschulen und in den Kennt¬ 
nissen und Erfahrungen ihrer Leiter gege¬ 
ben sind, in höherem Maße als bisher der 
deutschen Industrie nutzbar gemacht wer¬ 
den. Andrerseits würde der Industrie, so¬ 
weit sie nicht selbst durch ihre Einrich¬ 
tungen und sonstigen Verbindungen dazu 
in der Lage ist, also besonders den mitt¬ 
leren und kleineren Werken, die Möglich¬ 
keit gegeben, die Lösung ihnen sich bie¬ 
tender Probleme mit Hilfe des Verbandes 
einzuleiten. Und auch für die großen indu¬ 
striellen Werke könnte es manchmal er¬ 
wünscht sein, auf diese Weise Anknüpfung 
mit Akademikern zu erhalten, die kompli¬ 
zierte Fragen zugleich wissenschaftlich und 
im Zusammenhang mit der Technik zu be¬ 
urteilen geneigt sind. 

Eine große Zahl von Institutsleitern auf 
dem Gebiete der angewandten und physi¬ 
kalischen Chemie, der Physik, der Elektro¬ 
technik und der Ingenieiirwissenschaft ha¬ 
ben sich bereit erklärt, derartige Arbeiten... 
die ihnen durch die Vermittlungsstelle des 
Deutschen Verbandes zugeführt werden, 
zu übernehmen; und fachkundige Herren aus 
jedem der genannten Gebiete haben sich der 
Geschäftsstelle zur Verfügung gestellt, um 
sie bei der Auswahl der jeweils in Betracht 
kommenden Bearbeiter zu unterstützen. 

Der Deutsche Verband richtet daher an 
die industriellen Werke der genannten Ge¬ 
biete die Bitte, sich seiner Vermittlungs¬ 
stelle Berlin NW 7, Sommerstr. 4 a zu Hän¬ 
den des geschäftsführenden Vorstandsmit¬ 
gliedes, zu bedienen. 


Für die SdirlfUeltung verantwortlich: Professor Dr. Max CornlcelI u;, Berlin W30, Lnitpoldstrafle 4. 

Drude von B.Q.Teubner in Leipzig. 

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Original from 

INDIANA UNIVERSITY 








INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 

11 . JAHRGANG HEFT 9 L JUNI 1917 

Denkschrift über die Einrichtung der 
Auslandsstudien an den deutschen Universitäten. 

Von Eduard Spranger. 


Einleitung. 

Die Lehren, die man in Deutschland 
aus den Erfahrungen des Krieges für das 
Bildungsleben gezogen hat, weisen in 
zwei ganz entgegengesetzte Richtungen 
— ein Beispiel dafür, daß die gleichen 
Erlebnisse in verschiedenen Geistern 
sehr abweichende Bewegungen auslösen 
können. Die einen verlangen, daß wir 
uns stärker auf deutsche Wesensart zu¬ 
rückziehen und selbstbewußter das Ei¬ 
gentümliche des deutschen Geistes her¬ 
ausarbeiten sollen. Die anderen meinen, 
daß wir uns zu stark im eignen Hause 
eingesponnen haben und deshalb in ent¬ 
scheidender Stunde von den andern Völ¬ 
kern ebenso unverstanden geblieben 
waren, wie wir für sie kein Verständnis 
finden konnten. Man spricht auch kurz 
von dem Wege nach Weimar und dem 
Wege zu weltpolitischem Denken. Viel¬ 
leicht schließt sich beides nicht so stark 
aus, als es auf den ersten Anblick er¬ 
scheinen will. Denn in demselben Grade, 
wie man sich selbst begreift, nähert man 
sich auch dem Besonderen abweichen¬ 
der Geistesverfassung, und nur, wenn 
man in andre Naturen hingebend und 
lernend eingedrungen ist, kehrt man be¬ 
reichert und zuversichtlicher in sich 
selbst zurück. 


Entstanden auf Anregung des Herrn Mini¬ 
sterialdirektor D. Dr. F. Schmidt vom April 
1916 und dem Kgl. Preußischen Ministerium 
der geistlichen und Unterrichtsangelegenhei¬ 
ten am 1. März 1917 eingereicht. Der Verf. 

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Aber den Ton wird man unvermeid¬ 
lich auf das Neue zu legen haben, und 
so soll denn in dieser Denkschrift, unbe¬ 
schadet der „rechten Verehrung für das 
einheimische Große“, nur von dem die 
Rede sein, was uns bisher gefehlt hat. 
Zwei Gedanken sind es, die ich im vor¬ 
aus als wesentlich herausheben 
möchte, damit sie nicht unter den einzel¬ 
nen Erwägungen verloren gehen: Ein¬ 
mal lege ich das Schwergewicht auf den 
wissenschaftlichen Charakter der 
Beschäftigung mit dem Auslande. Nur 
in diesem Sinne kann sie den Universi¬ 
täten zugemutet werden. In diesem 
Sinne ist sie aber auch ihre echte Auf¬ 
gabe und Pflicht. Von der wissenschaft¬ 
lichen Spitze aus mag dann die Verbrei¬ 
terung zur praktischen Auslandsbildung 
und „allgemeinen Auslandskenntnis“ er¬ 
folgen; der umgekehrte Weg führt nie¬ 
mals zur Höhe. — Andererseits aber ist 
vor einem schädlichen Übereifer zu war¬ 
nen. Es ist nicht möglich und ist nicht 
nötig, daß jede deutsche Universität ihr 
eignes Balkaninstitut begründe. Viel¬ 
mehr muß auf diesem Gebiete endlich 
eine geregelte Arbeitsteilung zwischen 
den deutschen Universitäten angebahnt 
werden. Die Hochschulen stecken viel¬ 
fach noch im Banne des Partikularismus 
und jenes unproduktiven Wetteifers, 
der im Grunde Nachahmungssucht ist. 
Es ist Zeit, daß auch an ihnen der deut¬ 
sche Gedanke sich Bahn breche und 
daß jede sich in erster Linie als deutsche 

33 

Original ffo-m 

INDIANA UNIVERSITY 




1027 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1028 


Bildungsstätte, dann erst als Landesuni¬ 
versität fühle. Nur wenn eine Ver¬ 
ständigung Ober den Gesamtplan der 
Auslandsstudien vorangegangen ist, 
kann unzweckmäßige Verdopplung von 
Ausgaben und vor allem das Aufkom¬ 
men vieler minderwertiger Konkurrenz- 
Institute vermieden werden. Jede Uni¬ 
versität pflege ihren Kulturkreis, diesen 
aber in unerreichbarer Vorzüglichkeit! 
Damit hat sie teil am großen Leben der 
Welt, während sie sonst Gefahr läuft, 
durch Einmischung in diese neuen Auf¬ 
gaben nur ihren eilten geschlossenen Zu¬ 
sammenhang zu verlieren. 

Deshalb ist es auch nicht zu empfeh¬ 
len, allmählich, mit den gerade auftre¬ 
tenden Forderungen der Zeit, einzelne 
Professuren für fremde Kultur bald an 
dieser, bald an jener Fakultät zu grün¬ 
den und so das Ganze scheinbar von 
selbst wachsen zu lassen. Eine neue 
Sache fordert auch einen neuen Plan. 
Hat man diesen gefaßt, so mag man in 
seinem Rahmen langsam vorgehen und 
Einzelheiten dem freien Spiel der Ent¬ 
wicklung überlassen; aber das Ganze 
muß man im voraus überschauen. 

Schon die Gründe der Sparsamkeit ra¬ 
ten zu einem zielbewußten Verfahren, 
wenn es auch anfangs unorganisch er¬ 
scheinen könnte. Denn die gelegentliche 
Begründung einzelner Professuren ist 
nur scheinbar billiger. Jede Universität 
wird dann danach streben, dasselbe zu 
haben wie die großen und größten. Die 
Kolonialinstitute, die England- und 
Amerikaprofessuren, die Lektorate für 
tausend Sprachen werden bald wie Pilze 
emporwachsen. Keine dieser Einrichtun¬ 
gen würde wirklich auf der Höhe stehen. 
Denn so viele Dozenten ersten Ranges 
für Spezialgebiete sind in Deutschland 
nicht zu finden. Und keiner würde eine so 
große Hörerzahl haben, daß der Auf¬ 
wand sich entfernt lohnte. 

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Oberläßt man die Dinge sich selbst, 
so haben wir in einigen Jahren vielleicht 
in Deutschland 4—5 allgemeine russische 
Professuren. Da jede nur auf einer einzi¬ 
gen Kraft beruhte, und die anderen poli¬ 
tisch wichtigen Länder doch auch an der 
betreffenden Universität zur Geltung 
kommen wollten, würde sich nirgends) 
ein wirklich großer Mittelpunkt rassi¬ 
scher Auslandsstudien entwickeln. Ei¬ 
nigte man sich darüber, statt des¬ 
sen an einer Universität drei oder 
vier nach sachlichen Kulturgebieten 
differenzierte Professuren für Rußland 
zu begründen und diese mit Gelehrten 
ersten Ranges zu besetzen, so würde die 
betreffende Universität im ganzen Reich 
den Vorrang für das Studium des russi¬ 
schen Kulturkreises erhalten, während 
andere eine andere Spezialität entwik- 
keln könnten. Oder mit einem weiteren 
Beispiele: 10 Lektorate für Bulgarisch 
an verschiedenen Universitäten leisten 
nicht dasselbe wie ein einziges höher 
ausgestaltetes Balkaninstitut, in dem 
ein Zusammenwirken der .besten Ken¬ 
ner und die entsprechende Konzentra¬ 
tion des interessierten Hörerkreises 
stattfände. 

Kurz: das Verfahren, gelegentlich 
„zeitgemäße“ Professuren zu gründen, 
muß zugunsten einer planmäßigen Ge¬ 
samtorganisation aufgegeben werden. 
Auf diesem Gebiet, dessen Bedeutung 
sich aus der politischen Stellung des Rei¬ 
ches ergeben hat, muß sich auch der 
erste Anfang einer Organisation 
entwickeln, die auf bewußter 
Arbeitsteilung der Reichsuni¬ 
versitäten beruht, im Gegensatz 
zu dem bisher herrschenden Prinzip 
des Wetteifers, das gerade bei großen 
neuen Aufgaben ein Entgegenarbeiten, 
nicht ein Zusammenarbeiten bedeuten 
würde. 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





1029 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien_1030 


L Hochschule und Kultur* 
Zusammenhang. 

Der Name Universität wird seit 
Jahrhunderten nicht mehr ausschließ' 
lieh auf die Gesamtheit der Leh¬ 
renden und Lernenden bezogen, sondern 
auf das Ganze der Forschung und der 
Wissenschaft. Nachdem bis gegen Ende 
des 17 . Jahrhunderts ein enzyklopädi¬ 
sches Ideal geherrscht hatte, kam durch 
die Leibniz-Wolffische Philosophie der 
Gedanke einer philosophischen Totali¬ 
tät des Wissens empor. Noch weitere 
Vertiefung erfuhr das Streben nach phi¬ 
losophischer Umrahmung der Wissen¬ 
schaften durch den deutschen Idealis¬ 
mus der Kant, Fichte, Scheliing. Ins¬ 
besondere der Letztgenannte machte 
den Versuch, die Organisation der 
Universität aus der philosophischen 
Idee des Wissens selber abzulei¬ 
ten, andern er die Gliederung der 
Fakultäten und Fächer als die genaue 
Spiegelung der Einheit des Wissens und 
seiner Besonderung ansah. Auf diesem 
spekulativen Wege sind ihm Fichte und 
Steffens, und in gemäßigterer Form 
Schleiermacher und W. v. Humboldt ge¬ 
folgt Wie die Philosophie alle Wissen¬ 
schaften umspannte, so rückte auch die 
philosophische Fakultät in den Mit¬ 
telpunkt der Hochschule und wurde 
für die Arbeit aller anderen von vorbild¬ 
licher Bedeutung. 

Noch heute gehört nach allgemeiner 
Auffassung zum Wesen der Universität 
das Streben nach Universalität und Ein¬ 
heit der Wissenschaft. Aber der Sinn 
dieser Auffassung hat sich doch nicht 
unerheblich verschoben. Zu Beginn des 
19 . Jahrhunderts suchte und fand man 
das zusammenhaltende Band aller Fa¬ 
kultäten in der systematischen Ein¬ 
heit des Wissens, heute in der Ein¬ 
heit der Kultur. Damals ver¬ 
stand man das ganze Leben aus einem 

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fertigen, flberweltlichen Ideenzusam¬ 
menhang, der in die Wirklichkeit über- 
getreten sei, heute nimmt man es als ei¬ 
nen unendlich verzweigten, sich entwic¬ 
kelnden und umbildenden Wirkungs¬ 
zusammenhang, den die Wissen¬ 
schaft erst in ein Gedankengebdlde zu 
verwandeln habe. 

Dazwischen liegen tiefgreifende 
Schicksale der Menschheit und unsres 
Volkes. Die Kultur ist — unter dem Ein¬ 
fluß der national-demokratischen Bewe¬ 
gung, der Technik und der industriellen 
Produktion — verwickelter geworden; 
unser Blick für diese Welt ist realisti¬ 
scher geworden, da die im voraus fer¬ 
tige Idee nicht weit genug ist, diesen 
Zusammenhang zu umspannen. Auch 
die Universität hat diese Wandlung an 
sich erfahren. Schon im Laufe des 18 . 
und 19 . Jahrhunderts hat sie eine An¬ 
zahl von Kulturgebieten aus ihrem Zu¬ 
sammenhänge entlassen müssen, da sie 
der alten Wissenschaftseinteilung und 
Lehrorganisation nicht einzuordnen wa¬ 
ren. Die Landwirtschaft, die Technik, 
der Bergbau, der Handel haben ihre 
Pflegestätte an besonderen „Fach¬ 
hochschulen“ gefunden. Schon die¬ 
ser Name zeigt, daß man die alte 
Hochschule nicht als eine Fachbil¬ 
dungsanstalt ansah, sondern ihr einen 
allgemeineren Charakter zuschrieb: den 
Charakter der eigentlichen Wissen¬ 
schaftlichkeit, wenn auch im Hinblick 
auf künftige Berufs- und Kulturgebiete 
wie Seelsoige und Heilkunde, Verwal¬ 
tung, Rechtspflege und Lehramt Beson¬ 
ders bei der Landwirtschaft und der 
Technik haben die Erörterungen, ob sie 
nicht eigentlich in den Schoß der Univer¬ 
sitäten zurückgenommen werden sollten, 
lange genug geschwebt. Und bei jedem 
neuen Gebiet das eine Hochschulbil¬ 
dung fordert taucht die Frage von neu¬ 
em auf, ob es gesonderte Anstalten ver- 

33 * 

Original fro-m 

INDIANA UNIVERSITY 




1031 Ed. Spränget, Denkschrift über die Einrichtung der Auslandsstudien 1032 


lange oder dem Verband der Universität 
einzuverleiben sei. 

Es muß zugegeben werden, daß die 
Universität schon heute nicht mehr den 
ganzen Zusammenhang der Kultur spie' 
gelt. Sie hat ihren Betrieb tatsächlich 
nicht auf alle Gebiete der Praxis aus¬ 
gedehnt, die eine wissenschaftliche 
Grundlage fordern, wie z. B. die Technik 
unverkennbar auf theoretischen Einsich¬ 
ten ruht. Umgekehrt haben einzelne Ge¬ 
biete der Praxis, die keine Aufnahme 
fanden, sich selbständig die besonderen 
wissenschaftlichen Grundlagen geschaf¬ 
fen, deren sie bedürfen, und aus diesem 
Prozeß ist das ausgedehnte Fachhoch¬ 
schulwesen unsrer Zeit hervorgegangen. 

Die Ausbreitung und innere Differen¬ 
zierung der Kultur dauert weiter an. 
Stärker als Literatur, Wissenschaft und 
Kunst hat die maschinelle Produktion 
der Industrie einen internationalen Ver¬ 
kehr geschaffen. Wir sind, fast ohne es 
zu merken, zugleich mit der späten Voll¬ 
endung unsres nationalen Daseins in ein 
Zeitalter der Weltwirtschaft und damit 
der Weltpolitik hineingewachsen. Die 
ersten Anzeichen für das Vorhandensein 
solcher internationaler Berührungen, 
Bänder und Reibungsflächen waren die 
Weltausstellungen, deren Reihe 1851 in 
London eröffnet wurde. Nicht die Aus¬ 
dehnung über den europäischen Konti¬ 
nent hinaus ist dabei das Wesentliche, 
sondern die wachsende wirtschaftliche 
und politische Bedeutung unsrer Bezie¬ 
hungen zum Auslande überhaupt Es 
muß zugestanden werden: wir haben 
im vergangenen Jahrhundert 
auch keine kontinentale Aus¬ 
landsorientierung gehabt. Wir 
waren noch nicht zum vollen Bewußt¬ 
sein der nationalen Lebensbedingungen 
erwacht; sondern es ging uns, wie den 
Schülern unsrer Gelehrtenschulen seit 
den Tagen Leasings: sie wußten sich 


nicht zu bewegen, wenn sie aus der 
klösterlichen Selbstbildimg ins Leben 
traten. Deshalb liegt auch die nächste 
Aufgabe gar nicht darin, den neuen ko¬ 
lonialen und imperialistischen Bestre¬ 
bungen des Zeitalters der Weltpolitik 
gerecht zu werden, sondern nachzuho¬ 
len, was wir bisher überhaupt noch nicht 
gehabt haben: eine Erziehung des Vol¬ 
kes zum Verkehr mit anderen Völkern. 
Dieser Verkehr beruhte bisher auf dem 
autodidaktischen Instinkt von Unterneh¬ 
mern, Kaufleuten und Reisenden mit 
privater Verantwortung: Eine Aus- 
landsbildung hates in Deutsch¬ 
land im 19. Jahrhundert über¬ 
haupt noch nicht gegben, weder 
eine kontinentale noch eine pla¬ 
netarische. Wir haben England und 
Frankreich und Rußland im strengen 
Sinn so wenig gekannt wie Amerika, Ja¬ 
pan und die überseeischen Koloniallän¬ 
der. 

Wenn nunmehr, nach den Erfahrun¬ 
gen der letzten Jahre, die Notwendigkeit 
einer umfassenden Auslandsbildung un¬ 
widerruflich zum Bewußtsein gekom¬ 
men ist, so tritt auch hierbei zunächst 
die Grundfrage auf, ob diese Ausbil¬ 
dung den Universitäten oder besonderen 
Fachanstalten zu übertragen sei. 

Das Problem ist Im Grunde nur ein 
Ausschnitt aus einem viel umfassende¬ 
ren Zusammenhänge: der Aufgabe einer 
politischen Volkserziehung überhaupt. 
Wir haben im 18. Jahrhundert in Preu¬ 
ßen eine Blüteepoche des Staatser¬ 
ziehungsgedankens gehabt die ebenso 
völlig vergessen ist, wie man sich von 
dem Sinn und der Größe jener zentrali¬ 
stischen Staatsidee abgekehrt hat. Eine 
politische Erziehung im prägnanten 
Sinne fehlt im 19. Jahrhundert über¬ 
haupt: gemäß den politischen Strömun¬ 
gen der Zeit haben die Regierungen sie 
eher zurückgehalten als gefördert und 

Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 


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1033 Ed* Spranger, Denkschrift aber die Einrichtung der Auslandsstudien 1034 


der Liberalismus hat ihr durch eine Be¬ 
tonung der nationalen Geistesgüter und 
der Persönlichkeitsidee Genüge zu tun 
geglaubt Mit dem Jahre 1890 hat, wie 
ich an anderer Stelle 1 ) ausführlich darge¬ 
stellt habe, eine neue Epoche eingesetzt. 
Seit damals der Deutsche Kaiser weit 
vorausschauend die Initiative ergriff, ist 
es uns allmählich auf den verschieden¬ 
sten Gebieten zum Bewußtsein gekom¬ 
men, daß es nicht genug ist, die Jugend 
zur Selbstverantwortung zu erzie¬ 
hen, sondern daß auch die soziale 
Verantwortung im Innern und die 
nationale Verantwortung nach 
außen im Volke geweckt werden muß. 

Wieviel von dieser neuen Volkserzie¬ 
hung können die alten Universitäten 
übernehmen, ohne daß dadurch ihr Rah¬ 
men gesprengt und ihre sonstigen Auf¬ 
gaben gefährdet würden ? 

IL Bisherige Gestaltung und neue 
Ansätze. 

1 . Die Kultur des Auslandes ist schon 
heute an unsern Universitäten mit Lehr¬ 
stühlen bedacht. Wenn man jedoch von 
den ganz allgemeinen Disziplinen der 
Geographie und der Ethnologie absieht, 
so bleiben nur die Professuren für neu¬ 
ere Philologie und die wenig zahlrei¬ 
chen für ausländische Geschichte. 

Diese Erscheinung ist für den Ent¬ 
wicklungsgang der deutschen Bildung 
sehr charakteristisch. Seit den 70er Jah¬ 
ren des 18. Jahrhunderts wurde die klas¬ 
sische Philologie in Deutschland die ei¬ 
gentliche Bildungswissenschaft. Ur¬ 
sprünglich auf die griechische und römi¬ 
sche Sprache und Literatur des Alter- 

1) .Fünfundzwanzig Jahre deutscher Er- 
zfehungspolitik“, Union Deutsche Verlags- 
gesellschalt, Berlin-Stuttgart 1916. Vgl. ferner: 
.Das humanistische und das politische Er¬ 
ziehungsideal im heutigen Deutschland“, 
Deutsche Abende des Zentralinstituts für 
Erziehung und Unterricht, Berlin 1916. 


tums gerichtet, hat dieser Studienzweig 
sich allmählich ausgedehnt zu einer 
Wissenschaft von der ganzen Kultur 
des Altertums. Aber es lag in der Natur 
der Dinge, daß diese vergangenen Epo¬ 
chen nur wieder aufgedeckt werden 
konnten, wenn man bis in die letzten 
Feinheiten der Sprache eingedrungen 
war. Denn diese untergegangene Welt 
ließ sich ja nicht anders beleben als 
durch das eindringlichste Verständnis 
der verhältnismäßig spärlichen literari¬ 
schen Denkmäler. Zu ihnen war die 
Sprache der Zugang. So erklärt sich 
das bleibende, enge Bündnis zwischen 
Sprachwissenschaft einerseits, klassi¬ 
scher Literaturgeschichte und Kultur¬ 
kunde andererseits. Nur die Kunstbe¬ 
trachtung unter dem Namen Archäo¬ 
logie und die alte Geschichte als Teil der 
Weltgeschichte gelangten zu relativer 
Selbständigkeit. Das übrige blieb in der 
Hand der Philologen, die von dem Ein¬ 
heitspunkt der Sprache aus die ganze 
Vielheit der antiken Kulturerscheinun¬ 
gen durchdrangen. 

Die bindende Kraft dieses Vorbildes 
kann nicht hoch genug veranschlagt 
werden. Die Literatur der neueren Völ¬ 
ker, der germanischen und romanischen» 
nicht ausgenommen das deutsche, wurde 
ebenfalls vorwiegend vom Sprachge- 
sichtspunkte aus behandelt, und es galt 
als selbstverständlich, daß jemand, der 
von diesen Literaturen reden wollte, von 
der historischen Grammatik, der philolo¬ 
gischen Kritik und der Editionstechnik 
herkommen müßte. M. a. W.: Alle Phi¬ 
lologien, einschließlich der orientali¬ 
schen, haben sich nach dem Vorbilde 
der klassischen Philologie ausgestaltet. 

Es gehört nicht hierher, wie sich in den 
letzten Jahrzehnten in den einzelnen Dis¬ 
ziplinen eine fruchtbare Loslösung von 
der Herrschaft dieses Vorbildes vollzo¬ 
gen hat. Die Romanistik und die Angli- 


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Original frnm 

INDIANA UNIVERSITY 





1035 


stik jedenfalls kamen an den entschei¬ 
dendsten Wendpunkt, als sie sich erin¬ 
nerten, daß es sich bei ihnen um lebende 
Sprachen handelte, und daß diese noch 
in anderem Sinne getrieben werden 
müßten als im historischen (Viötor 1885). 
Darin lag ein erstes Symptom, daß man 
der lebenden Kultur des Auslandes von 
Beiten der Wissenschaft ein Interesse zu¬ 
zuwenden begann. Aber erst spät brach 
an den Universitäten die naheliegende 
Einsicht durch, daß auch die Literatur 
nicht die einzige Brücke zu diesen Lan¬ 
dern ist, sondern daß man sie selbst se¬ 
hen kann und gesehen haben muß, um 
von ihrergegen wärtigen Gestalt aus auch 
ihre Vergangenheit tiefer zu verstehen. 
Gewiß bleiben Sprachwissenschaft, phi¬ 
lologisch orientierte Literaturgeschichte 
und allgemeine Geschichte wesentliche 
Teile jeder wissenschaftlichen 
Auslandskenntnis. Aber das ist klar, 
daß — als Eingangsweg zum heu¬ 
tigen England und Frankreich — der 
Weg über den Beowulf und das 
Rolandslied ein weiter Umweg ist, und 
daß man das gleichzeitige Ausland unter 
ganz anderen Gesichtspunkten betrach¬ 
ten kann, die auch noch wissenschaftlich 
bleiben. 

Das erste Ergebnis dieser Erörterung 
also ist dieses: Das Auslandsstudi¬ 
um in Deutschland muß von der 
einseitigen Herrschaft des phi¬ 
lologischen Gesichtspunktes 
befreit werden. 

2. In der Tat finden sich Ansätze zu 
Auslandsstudien, die viel näher an die 
Wirklichkeit heranführen, als es im Rah¬ 
men der für Oberlehrer bestimmten neu¬ 
sprachlichen Bildung der philosophi¬ 
schen Fakultät möglich war. Der wach¬ 
sende Einfluß politischer und wirt¬ 
schaftlicher Gesichtspunkte gegenüber 
dem bloßen Schulinteresse tritt hierin zu¬ 
tage. Diese Ansätze, die aus dem kon¬ 


1036 


kreten Bedürfnis einer neuen Zeit ohne 
grundsätzliche Erwägungen hingestellt 
worden sind, bieten gerade deshalb ein 
besonders lehrreiches Material zur Be¬ 
urteilung der Frage, nach welcher Seite 
die Entwicklungstendenz geht Vor al¬ 
lem ist zu beachten, in welchem Verhält¬ 
nis sie zur Universität stehen. Folgende 
Grundformen sind bisher zu bemerken: 

1. völlige Selbständigkeit; 

2. Anlehnung an die Universität; 

3. Herauswachsen aus be¬ 
stehenden Professuren 

4. Neuschöpfung von Pro¬ 
fessuren 

1 . Das Hamburgische Koloni¬ 
alinstitut (gegr. 1908) steht scheinbar 
ganz selbständig da. Jedoch hat es in 
dem weit entwickelten „Allgemei¬ 
nen Vorlesungswesen'* eine erhebliche 
Stütze, und wir haben in den letzten Jah¬ 
ren die unverkennbare Tendenz bemerkt, 
diese Bruchstücke zu einer eigentlichen 
Universität zu erweitern. Dabei zeigte 
sich denn allerdings die Schwierigkeit, 
die neuen Lehrstühle (und Seminare) für 
englische, indische, romanische, chinesi¬ 
sche, japanische, islamische und Neger¬ 
kultur in dem Rahmen der alten Formen 
unterzubringen. Der Gedanke einer kolo¬ 
nialwissenschaftlichen Fakultät tauchte 
auf, die aber in sich auch keine Einheit 
gehabt hätte. (Vgl. m. Kritik: „Ober den 
Beruf unserer Zeit zur Universitätsgrün- 
düng“ in den „Geisteswissenschaften“ I, 
1,1913.) Andererseits hat das Institut im¬ 
mer mit der Gefahr zu kämpfen gehabt, 
in (seiner isolierten Stellung als bloße 
Sprachenlehranstalt mißverstanden und 
mißbraucht zu werden. (Vgl. Jahresbe¬ 
richt über das 5. Studienjahr S. 25.) 

Ganz unabhängig von einer Universi¬ 
tät ist das Deutsch-Südamerikani¬ 
sche Institut in Aachen, das aus 
vorwiegend wirtschaftlichen Interessen 
erwachsen ist. 


Ed. Spranger, Denkschrift über die Einrichtung der Auslandsstudien 


I an der 
Uni¬ 
versität 


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INDIANA UNIVERSITY 




1037 Ed. Spranger, Denkschrift Aber die Einrichtung der Auslandsstudien 1038 


2. Das Seminar für orientalische Spra¬ 
chen“ in Berlin (gegr. 1887) kennzeichnet 
schon durch seinen Namen, daß es sich 
anfänglich eine sehr enge Grenze setzen 
mußte. Daher blieb denn auch die Ver¬ 
bindung mit der Universität, die sich auf 
einige Personalunionen in den Professu¬ 
ren und auf Gemeinschaftlichkeit des 
Vorlesungsverzeichnisses erstreckte, bis¬ 
her sehr äußerlich und unbefriedigend. 
Je mehr die Anstalt aus einem prakti¬ 
schen Spracheninstitut zu einer wirkli¬ 
chen Kulturakademie wird, um so drin¬ 
genderwird es sein, auch organisatorisch 
ihr Niveau der Universität mehr anzunä- 
hem. 

3. Das neue Bedürfnis der Zeit hat 
sich ferner kundgegeben in der Ausge¬ 
staltung von Extraordinariaten und Lek¬ 
toraten zu ordentlichen Professuren, und 
in der Begründung großer Institute im 
Anschluß an bereits bestehende Lehr¬ 
stühle. Dahin gehören z. B. die osteuropä¬ 
ische Geschichte und Landeskunde in 
Berlin (1902), das Institut für Seeverkehr 
und Weltwirtschaft in Kiel (1914), meh¬ 
rere smologische und slavische Profes¬ 
suren, solche für koloniale Geographie 
und Landwirtschaft, für amerikanische 
und englische Geschichte usw. Doch 
blieb überall der weitere Ausbau da¬ 
durch behindert, daß einzelne Fakul- 
tätsinstitute nicht zu weit über den Rah¬ 
men der alten Fakultät hinauswachsen 
durften. 

4. Ganz neue Professuren sind ander¬ 
wärts für Arabisch und Türkisch, für 
Chinesisch und Japanisch gegründet 
worden, vielfach ftiit starte philolo¬ 
gisch-historischem Charakter. Die Ein¬ 
richtung der amerikanischen Austausch¬ 
professuren und das Amerika-Insti- 
stitut in Berlin gehört auch hierher. Ein 
kontinuierliches Studium hat sich jedoch 
bei diesen Wechsel- und Wanderprofes¬ 
suren nicht entwickeln können, und auch 

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die politischen Hoffnungen, die man auf 
sie setzte, haben sich bisher schlecht er¬ 
füllt Das ganze Verfahren dieser Einzel- 
gründungen hat den Nachteil, daß je¬ 
mand, der unter sich nahe verwandte 
Kulturkreise studieren will, unter Um¬ 
ständen genötigt ist, drei Universitäten 
zu besuchen, um an jeder gerade einen 
Gesichtspunkt, den er braucht, befriedigt 
zu finden. 

Gehen wir vom Tatsächlich-Be¬ 
stehenden auf grundsätzliche Fragestel¬ 
lungen zurück, so liegen im bisherigen 
Zustand zwei Probleme, die beantwortet 
werden müssen: 

1 . Welcher Grad von Wissenschaft¬ 
lichkeit erscheint für das Auslandsstudi¬ 
um als Wünschenswert, und demgemäß 1 
welcher Grad der Verbindung mit der all- 
gemeinwissenschaftlichen Hochschule, 
der Universität? 

2 . Wie kann im Fall dieser Verbin¬ 
dung der ganze Umfang der Auslands¬ 
studien gegliedert und der Universität 
einverleibt werden, ohne daß deren Rah¬ 
men gesprengt würde? 

IR. Die Notwendigkeit des wissen¬ 
schaftlichen Gesichtspunktes. 

Der natürliche Weg zum Bekanntwer¬ 
den mit dem Auslande ist das Reisen. Er 
kann durch nichts anderes vollwertig er¬ 
setzt werden. Darüber muß man sich im 
voraus klar sein. Denn bei der bekannten 
theoretischen Veranlagung des Deut¬ 
schen ist es nicht unwahrscheinlich^ 
daß der Gesichtspunkt aufkäme, man 
könne künftig an irgendwelchen Anstal¬ 
ten „Ausland studieren“. Wie diese An¬ 
stalten beschaffen sein mögen, sie blei¬ 
ben in dem doppelten Sinne von der Au¬ 
topsie abhängig, daß sie 

1 . entweder auf den Aufenthalt im 
Ausland vorbereiten oder 

2. die im Ausland bereits gewonnenen 
Eindrücke nachträglich vertiefen. 

Original frorn 

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1039 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1040 


Damit ist ausgesprochen, daß aller¬ 
dings das gegenwärtige Leben das Ziel 
gibt und nicht irgendein Buch- oder Mu¬ 
seumsbetrieb. Die Praxis der großen Poli¬ 
tik, der Wirtschaft und des ganzen in¬ 
ternationalen Verkehrs hat die Neuein¬ 
richtungen nötig gemacht; also müssen 
sie auch an diesem Maßstabe gemessen 
werden. 

Es scheint nun keineswegs notwendig, 
diesem Ziele gerade auf dem Wege der 
Wissenschaft entgegenzustreben. Anstal¬ 
ten mit einem pragmatischen Sprach- 
und Sachbetrieb, mit Lehrern, die 
aus selbsterworbener Lebenserfahrung 
schöpfen, mit einem Lehrplan, der den 
besonderen Gelegenheiten und Interes¬ 
senrichtungen angepaßt wäre, könnten 
sehr wohl als ausreichend erscheinen. 
Und so könnte man auf den Gedanken 
kommen: ein allgemeines Auslandsinsti¬ 
tut ohne Anlehnung an die Universität, 
vielleicht im Sinne Eltzbachere an eine 
Handelshochschule, wäre das für den 
Augenblick Förderlichste. Ja mancher 
begrüßt vielleicht einen solchen Gedan¬ 
ken als Loslösung von der alten deut¬ 
schen Gründlichkeit, die nichts anderes 
sei als Schwerfälligkeit. 

Bei näherer Erwägung ergibt sich, daß 
die wichtigsten Gründe gegen diese Lö¬ 
sung der Frage sprechen. 

1 . Unsere unzulängliche Auslands¬ 
kenntnis beruht zum großen Teil dar¬ 
auf, daß die Eindrücke einzelner Perso¬ 
nen mit einseitiger Blickeinstellung, die 
Ergebnisse von kurzen Reisen in eng be¬ 
grenzten Gebieten durch lehrhaft gehal¬ 
tene Tagebücher und Broschüren ver¬ 
breitet werden. Die Kaufmannsperspek¬ 
tive, die Diplomaten- und die Gelehrten - 
Perspektive führen zu den merkwürdig¬ 
sten Widersprüchen. Alles bleibt verein¬ 
zelt, wie die Sammlungsstücke, die Jagd¬ 
liebhaber aus fremden Erdteilen mit¬ 
gebracht haben. Es steckt keine strenge 


Kritik und Fragestellung dahinter. Die 
schlechteste Manier, daß man näraüch 
seine Lehrzeit zum fertigen Urteilen und 
Aburteilen mißbraucht, darf nicht orga¬ 
nisatorisch vervielfältigt werden. Selbst 
die Länge der Erfahrungszeit spielt be¬ 
kanntlich keine Rolle, wenn der Blick 
nicht geschult worden ist und allerhand 
subjektive Neigungen und Abneigungen 
sich in die Auffassung eingemischt 
haben. 

2 . Das Auslandsstudium würde und 
bliebe bei der geschilderten Einrichtung 
eine femliegende Fachsache, wie z.B. 
heute das Hamburger Kolonialinstitut im 
nationalen Interesse noch isoliert da¬ 
steht. Die akademisch Gebildeten wür¬ 
den ebensowenig wie früher davon 
Kenntnis nehmen. Die Aufgabe aber ist, 
nicht nur die Vertreter des Handels und 
der Technik, sondern gerade auch die 
Akademiker mit diesem Geiste zu er¬ 
füllen. Die Angliederung an die Univer¬ 
sität hat nicht nur die Folge, daß Juri¬ 
sten, Nationalökonomen, Neuphilologen, 
selbst Theologen gelegentlich Vorlesun¬ 
gen aus diesem Gebiet hören, sondern 
daß sich auch jene auf Gleichachtung ru¬ 
hende Verkehrs- und Geistesgemaia- 
schaft unter den Hörem ergibt^ die über¬ 
all einen gleich wichtigen TeU des aka¬ 
demischen Lebens neben den Vorlesun¬ 
gen bedeutet. 

3. Endlich der wichtigste Grund: Eine 
Kulturangelegenheit, die man fördern 
will, muß in ihrer höchsten Gestalt zum 
Leben gebracht werden; dann entfaltet 
sie sich nach unten und in die Breite 
von selbst durch die fortzeugende Kraft, 
die in jeder wahrhaft ernsten Geistes¬ 
arbeit liegt. Irrig aber ist die umgekehrt» 
Hoffnung, daß ein Bildungsgebiet vea 
der Stufe der allgemeinen Anregung und 
des populären Lehrbetriebes sich endlich 
bis zur Wissenschaftlichkeit verfeinern 
werde. Denn auf jedem Wissensgebiet 


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1041 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1042 


Ist die volkstümliche Form das letzte, 
nicht das erste. Wenn den Auslands* 
Studien in Deutschland der Rang 
eines echten akademischen Ge¬ 
bietes gegeben wird, so ist damit 
am bestenSorge getroffen, ihren 
Wert dem nationalen Bewußt¬ 
sein einzuhämmern. 

Aber ebenso stark muß betont werden: 
diese Angliederung an die Universitäten 
kann nicht deswegen erfolgen, weil an 
ihnen schon die organischen Anfänge 
vorhanden wären, die es nur fortzuent- 
wickeln gilt. Denn in Wahrheit ist an 
den meisten Universitäten noch so gut 
wie gar nichts da. Vielmehr erhebt sich 
nun erst das schwierige Problem, ob und 
in welcher Form für diese ganz neuen 
Aufgaben Raum an den Universitäten 
geschafft werden kann. 

IV. „Auslandsstudium“ im allge¬ 
meinen oder Individualisierung? 

Drei Wege sind möglich, auf denen 
die gedachte Erweiterung der Universi¬ 
tät erfolgen könnte: 1. Einordnung ein¬ 
zelner Professuren und Lektorate in die 
sachlich zuständigen einzelnen Fakul¬ 
täten; 2. Gründung von allgemeinen 
Aaslandsinstituten, und zwar eines gro¬ 
ßen an der größten, kleinerer an den an¬ 
deren Universitäten; 3. Individualisie¬ 
rung nach Kulturkreisen und Zutei¬ 
lung zu einzelnen, lokal geeigneten Uni¬ 
versitäten. 

1. Der erste Weg hat sich in all den 
Fällen als geeignet erwiesen, wo es sich 
darum handelte, neue Zweige der wis¬ 
senschaftlichen Forschung einzuführen, 
die nur auf Erweiterung vorhandener 
Disziplinen oder auf einer besonderen 
Methode beruhten. So * konnten z. B. 
Lehrstühle für vergleichende Religions- 
geschieh te, vergleichende Rechtsge- 
schichte, vergleichende Sprachwissen¬ 
schaft usw. gegründet werden, als man 


anfing, sich von dem Banne rein indivi¬ 
dueller Kulturauffassung zu befreien 
und gemeinsame, international wieder¬ 
kehrende Grundtypen zu erkennen. In 
ähnlicher Weise könnte man nun den 
Auslandsgesichtspunkt in der theologi¬ 
schen, juristischen und philosophischen 
Fakultät durch Betonung der entspre¬ 
chenden Vorlesungsgebiete zur Geltung 
bringen. 

Die Denkschrift vom 24. Januar 1917 
folgt zum großen Teil diesem Wege, und 
auch die wirkliche Entwicklung weist in 
eine solche Richtung. Am auffälligsten 
und ohne Zweifel am wichtigsten ist die 
Aufnahme des weltwirtschaftlichen Ge¬ 
sichtspunktes in die nationalökonomi¬ 
schen Vorlesungen. Es ist aber wieder¬ 
holt bemerkt worden, daß es sich hier 
nicht um ein neues Fach handelte, son¬ 
dern um die Ausdehnung eines alten 
Faches entsprechend einer in der wirk¬ 
lichen Kultur zutage tretenden Ausdeh¬ 
nung. Die Begründung des „Instituts 
für Seeverkehr und Weltwirtschaft“ üb 
Anschluß an eine nationalökonomische 
Professur in Kiel war eine schöpferische 
Tat. Nur darf man nicht übersehen, daß 
die Absicht dabei weniger auf eigentli¬ 
che „Auslandsstudien“ ging, als auf 
wirtschaftswissenschaftliche Studien in 
ihrer denkbar größten Erweiterung; im 
Hinblick auf Fragestellung und auf Ma- 
terialsammlung, jedoch unter unver¬ 
meidlicher Rückbeziehung auf unsere 
Volkswirtschaft. In ähnlicher 
Weise ist in der juristischen Fakultät das 
internationale Privatrecht zu einem 
wichtigen Fach geworden, und das Völ¬ 
kerrecht hat, gemäß seiner wachsenden 
Differenzierung und praktischen Bedeu¬ 
tung, ebenfalls eine umfassende Pflege 
erfahren. Der Geographie sind beson¬ 
dere Professuren für koloniale Geogra¬ 
phie gewidmet worden, obwohl hierin 
keine neue Wissenschaft liegt, sondern 


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1043 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1044 


nur eine praktisch bedingte Bevor* 
zugung einzelner Länder. Oberhaupt 
hat man versucht, dem wachsenden Ko* 
ionialinteresse dadurch zu genügen, daß 
man in jeder einzelnen Fakultät die 
darauf bezüglichen Disziplinen, die teils 
der Theologie, der Rechtswissenschaft 
und der Hygiene, teils der Geographie, 
Botanik, Landwirtschaft, Völkerkunde, 
Sprachwissenschaft usw. angehörten, 
verstärkte und ausbaute. Man dachte 
vor dem Kriege z. B. in Leipzig daran, 
die in solcher Richtung interessierte 
Dozentenschaft außerdem allmählich 
zu einem Kolonialinstitut organisa¬ 
torisch und räumlich zusammenzufas- 
' sen. Unter der Voraussetzung, daß die 
betreffenden Professoren die Kolonien 
aus eigener Erfahrung kennen und daß 
eine Hörerschaft dafür aufzubringen ist, 
wird gegen den Plan nichts zu sagen 
sein. 

Auch sonst hat das politische Bedürf¬ 
nis hier und dort zur Begründung von 
Einzelprofessuren geführt Besonders 
dem Balkan und dem näheren Orient ist 
ein verstärktes Interesse gewidmet wor¬ 
den. Aber ein intensives und blühendes 
Studium kann sich bei solcher Verein¬ 
zelung nicht entwickeln. Es ist sehr die 
Frage, ob 'diese gelegentlichen und un¬ 
systematischen Gründungen den erheb¬ 
lichen Geldaufwand lohnen. Bei einem 
einzelnen Mann kann man nicht das Le¬ 
ben eines ganzen Kulturkreises studie¬ 
ren. Lektorate für Sprachen fallen über¬ 
haupt kaum unter den Gesichtspunkt dler 
Wissenschaft. Philologische Professu¬ 
ren sind in der Regel rein linguistisch¬ 
literarisch orientiert. Der politische!, 
wirtschaftliche, rechtliche Gesichtspunkt 
kommt nur selten zur Geltung, falls näm¬ 
lich die betreffende Persönlichkeit, die 
den Lehrstuhl innehat, nach dieser Rich¬ 
tung hin befähigt und erfahren ist Vom 
Standpunkt der heimischen Universität 


aber ist zu befürchten, daß ihr innerer 
Zusammenhang, der ohnehin schon lose 
ist dadurch gesprengt wird. Manche 
Professuren sind anfangs für ganz be¬ 
stimmte Personen gegründet Sind diese 
nicht mehr da, so gehen sie ein oder 
veröden, während wichtige und lösbare 
Aufgaben aus Mangel an Geld notleiden. 
Jedenfalls entsteht auf diesem Wege 
keine Kontinuität und keine Konzentra¬ 
tion des Studiums. 

Will man also die Auslands¬ 
studien ernstlich fördern, so 
muß man auch den Schritt wagen, 
vom gelegentlichen ,Verfahren 
zu einem ganz systematischen 
überzugehen. In dieser Entschei¬ 
dung allein liegt der Schutz vor 
Zersplitterung und Vergeu¬ 
dung. 

2 . Auslandsinstitute werden da¬ 
her nicht zu umgehen sein; es fragt sich 
nur, wie sie eingerichtet und mit dem 
Ganzen der Universität verbunden wer¬ 
den sollen. 

Von vornherein muß man sich Idar 
werden, daß „Ausland 0 gar kein positi¬ 
ver Begriff ist Wir lächeln über 
die Griechen, die alle Fremdvölker kurz 
„Barbaren“ nannten, ohne Unterschiede 
in der Bewertung ihrer Kultur zu ma¬ 
chen. Wenn wir vom „Ausland“ reden, 
verfahren wir gleich egozentrisch. Das 
Ausland ist keine Einheit mit gleichen 
Qualitäten. Infolgedessen kann es so et¬ 
was wie „Auslandsstudien“ und ein 
„Auslandsinstitut“ nicht geben, es sei 
denn in Beziehung auf ein ganz be¬ 
stimmtes Ausland von einer ganz be¬ 
stimmt umgrenzten und charakterisier¬ 
ten Kultur. 

Man denke sich — zunächst an der 
größten deutschen ,Universität — ein 
Auslandsinstitut. Worin bestünde seine 
Aufgabe? Nehmen wir sie im Hinblick 
auf die treibenden politischen und wirt- 


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1045 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1046 


schaftlichen Interessen noch so eng, so 
müßte es durch je eine Professur in 
den Volkscharakter und die heutige 
Kulturlage folgender Länder einführen: 
1. Österreich-Ungarn, 2. Frankreich, 
3. England, 4. Italien, 5. Spanien und 
Portugal, 61 Skandinavien, 7. Rußland, 
8 . siavischer Balkan, 9. europäische und 
asiatische Türkei, 10. Ägypten, 11. Süd¬ 
afrika, 12. Indien, 13. Japan, 14. China, 
15. Vereinigte Staaten von Amerika, 
16L Südamerika, 17. Australien. Man 
könnte weiter aufzählen; und es ist 
gut, sich diese Mannigfaltigkeit zur 
Anschauung zu bringen, um zu sehen, 
daß auf diesem Wege alles andre er¬ 
reicht werden würde als eine tiefere 
Kenntnis des Auslandes. Selbst die Be¬ 
gründung von Nebenprofessuren könnte 
hier nicht helfen. Ein solches Institut geht 
über das im Anfang Mögliche hinaus 
und ist nicht einmal als Endexgebnis zu 
wünschen. Es hätte gar keine Einheit, 
es sei denn die negative, daß in ihm 
lauter außer deutsche Kulturen verei¬ 
nigt sind. Was aber hätten der Russe 
und der Südamerikaner einander zu sa¬ 
gen, und wer, der das eine studierte, 
hätte auch Nutzen von dem andern? — 

Es wäre also gänzlich verfehlt, wenn 
sich bei den Universität«! der Ehrgeiz 
entwickelte, Auslandsinstitute schlecht¬ 
weg ihrem Betriebe anzuglAedem. 

3. Also nicht Auslandsinstitute, son¬ 
dern Kulturkreisinstitute. PerGe- 
danke mag noch so unerwünscht sein: 
es geht nicht anders als durch das inten¬ 
sive Studium einzelner Kulturen, die eine 
charakterologische Einheit bilden. Will 
man echt wissenschaftlich verfahren, so 
kann man nicht mit Vergleichungen und 
Verallgemeinerungen an fangen, sondern 
muß eine historisch gewordene Einheit 
in ihrer innerlich notwendigen und 
durchaus zusammenhängenden Struk¬ 
tur studieren. Es ist hier ähnlich wie 


beim historischen Studium: der schlech¬ 
teste Weg wäre, mit der allgemeinen 
Weltgeschichte anzufangen. Sondern 
Versenkung in eine Epoche, in diese 
aber unter universalen Gesichtspunkten, 
muß das erste sein. Dann ist später der 
Zugang zu allen weiteren Epochen durch 
eine Art geheimer Mitübung erleichtert 
Denn die richtige Einstellung des Blickes 
ist schon da, und die Mannigfaltigkeit 
des Stoffes hat keine verwirrende Wir¬ 
kung mehr. 

Es gibt kein „Auslandsstudium“, son¬ 
dern nur Studium einer singulären frem¬ 
den Kultur. Dadurch gerade unterschei¬ 
det sich das Studium von der rohen, un- 
geschulten Erfahrung, daß es das ein¬ 
zelne nach seinem genetischen Ursprung 
und seinem strukturellen Zusammen¬ 
hang als ein innerlich Notwendiges, als 
eine geprägte Form oder einen Charak¬ 
ter zu begreifen sucht, während der 
bloße Empiriker Tatsachen an Tatsachen 
reiht, Merkwürdigkeiten zu berichten 
weiß und ein Sammler (an Stelle eines: 
Forschers) bleibt. 

Ein Beispiel statt vieler: das englische 
Volk in seiner von uns abweichenden 
Geistesart war uns vor dem Kriege im 
allgemeinen nicht viel näher bekannt, als 
man den Engländer bei ihm daheim im 
täglichen Leben oder in deutschen Som¬ 
merfrischen kennen lernt. Die besondere 
Färbung, die der englische Freiheitsge¬ 
danke gegenüber dem deutschen hat, die 
eigentümliche Form der Staatsgesin¬ 
nung, der Grad der Belastungsprobe, die 
sie etwa aushalten würde — das sind 
kulturelle Tatsachen, die man nicht ein¬ 
fach aus dem gegebenen Friedensbilde, 
aus den Erfahrungen im gesellschaftli¬ 
chen oder geschäftlichen Leben ab¬ 
liest. Dazu bedarf es einer tieferen 
Bohrung. Kein Mensch wird auf 
den Gedanken kommen, eine fremde In¬ 
dividualität aus noch so häufigen Be- 


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Original from 

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1047 Ed. Spranger, Denkschrift über die Einrichtung der Auslandsstudien 1048 


Segnungen im Salon, am Mittagstisch 
oder in einer einseitigen Geschäftsbezie¬ 
hung wirklich durchdringend erkannt zu 
haben. Er strebt vielmehr nach Vertraut¬ 
heit mit ihrer Lebensgeschichte. Man 
muß sie in mannigfachen, bedeutsamen 
und die Grundrichtungen einigermaßen 
erschöpfenden Situationen beobachtet 
haben. Man muß aber auch zu beobach¬ 
ten verstehen und wissen, worauf es an¬ 
kommt ; man muß das Zufällige vom Ty¬ 
pischen unterscheiden können. Erst dann 
wird man gelegentlich auch eine Ver¬ 
haltungsweise im voraus bestimmen 
können. 

Verstehen, nicht angesamraelte 
Sachkunde, ist das Ziel des „wis¬ 
senschaftlichen“ Auslandstudiums, oder 
man verzichte auf diesen Namen. Es 
folgt aber aus der Natur alles Verste¬ 
hens, daß es nur auf dem Wege vom To¬ 
talbilde zur intensiveren Auffassung des 
Einzelzuges verläuft, und nicht umge¬ 
kehrt auf mosaikartigem Zusammenset¬ 
zen beruht Von der Totalität zum ein¬ 
zelnen Moment! Folgende Thesen be¬ 
dürfen daher der Anerkennung im vor¬ 
aus: 

1. Es ist nicht möglich, tiefere Aus- 
landskenntnis durch Studium eines ein¬ 
zelnen Sachgebietes der fremden Kultur, 
z. B. der isolierten Wirtschaft zu gewin¬ 
nen. Also ausgehen von der un¬ 
teilbaren Ganzheit der Kultur! 

2. Es ist nicht möglich, ein Volk aus 
einer einzelnen Epoche seiner Entwick¬ 
lung heraus zu beurteilen. A1 s o h i s t o- 
rische Fundierung! 

3. Es ist nicht möglich, die Beob¬ 
achtungen an einer einzelnen Land¬ 
schaft oder einem einzelnen Stande zu 
verallgemeinern. Also auch geogra¬ 
phisch-soziologische Totalität! 

Für die Organisation des Auslandstu- 
diums folgt daraus, daß eine einzelne 
Kultur als historisch-politisch-geistige 


Individualität zur Darstellung ge langes 
muß, ganz so, wie die deutsche Kultur 
sich nicht in einer einzelnen Fakultät 
spiegelt sondern im günstigsten Falle 
in ihrer 4-oder5teiligen Gesamtheit ih¬ 
ren Ausdruck findet. Natürlich können 
nicht ganze Universitäten des Auslanr 
des zu uns verpflanzt werden, sondern 
es kommt darauf an, ihre wesentlichen 
Seiten gleichsam in einer konzentrier¬ 
ten Gestalt zur Anschauung zü bringen. 
Wenn also auch jede Auslandshoch¬ 
schule nur einen einzelnen Kulturkreis 
zum Gegenstände hat, so muß doch die 
allgemeine Gliederung der Kultur über¬ 
haupt für ihre innere Gliederung maßge¬ 
bend sein. 

V. Gliederung des Lehrbetriebs 

nach der Gliederung der Kultur. 

Eine Kultur ist niemals ein Gebilde 
mit auseinanderliegenden Teilen, son¬ 
dern ein Gewebe von Motiven, so daß, 
wer eine einzelne Seite der Kultur her¬ 
aushebt und vorzugweise betrachtet, 
unvermeidlich in seinem Gegenstand alle 
übrigen Seiten und Momente mit 
drin hat. 

Gehen wir, um diese gegenseitige Be¬ 
dingtheit (Reziprozität) aller Kulturfak¬ 
toren zu erläutern, von der Wirtschaft 
als nächstliegendem Beispiel aus. 

1. Es ist eine alte Einsicht, daß der 
Ablauf aller wirtschaftlichen Prozesse 
durch und durch bedingt ist von der 
Rechtsordnung (z. B. den Eigentumsver¬ 
hältnissen, dem Handelsrecht, der Alt 
der Arbeitsverträge usw.), und daß diese 
Rechtsordnung selbst nur eine Ausstrah¬ 
lung der allgemeinen Staatsverfassung 
ist Die Wirtschaft ist also politisch- 
rechtlich bedingt. 

2 . Von der rechtlich geregelten Seile 
der Kultur unterscheiden sich die tat¬ 
sächlichen Machtverhaltnisse nach au¬ 
ßen und die tatsächliche Abstufung der 


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1040 Ed. Spranger, Denkschrift Aber die Einrichtung der Auslandsstudien 1050 


Gesellschaft (nach Kasten, Ständen, 
Klassen): der allgemeine soziologische 
(Seist eines Volkes und seine politische 
Lage’. Es ist kein Zufall, daß National¬ 
ökonomie, Soziologie und ein wichtiges 
StQck Politik heute bei uns noch immer 
in ein und derselben Hand zu liegen pfle¬ 
gen. Das Wirtschaftsleben ist von Fak¬ 
toren der Gemeinschaftsbildung abhän¬ 
gig, die selbst nicht rein wirtschaftlich 
bedingt, aber auch nicht rechtlicher Na¬ 
tur sind. Der besondere Charakter des 
Kaufmanns tan des ist z. B. bestimmt 
durch seine Stellung im Ganzen der na¬ 
tionalen Gesellschaft, seine allgemeine 
politische Leistung, seine Achtung oder 
Mißachtung, seine Bildung, seine Rasse- 
Zugehörigkeit usw. Kurz: die Wirtschaft 
ist auch politisch-soziologisch bedingt 

3. Der Stand der Wissenschaft be¬ 
stimmt in einem Kulturganzen den Stand 
der Technik, und die Technik wieder die 
Art der Produktion. Also kann das wirt¬ 
schaftliche Leben nur im Zusammen¬ 
hang der allgemeinen und fachmäßigen 
Bildung des betreffenden Volkes be¬ 
trachtet werden. Dabei ist die Höhenlage 
der Naturwissenschaften maßgebend für 
die industrielle Technik, während die 
Geisteswissenschaften eine Technik der 
sozialen Regelung begründen. 

4 In der schönen Kunst im weitesten 
Sinne liegen Quellen für die Beurteilung 
der allgemeinen Phantasierichtung und 
damit für die Bedürfnisse eines Volkes. 
Nicht nur der Luxus, sondern das Ganze 
der Lebenshaltung findet in der litera¬ 
rischen und künstlerischen Produktion 
einen zur Form erhobenen Ausdruck. 
■Wer Rodin und Meunier kennt, blickt 
in geheimere Antriebe des französischen 
Nationalcharakters hinein. Denn das fei¬ 
nere Erleben ist der gemeinsame Unter¬ 
grund von Arbeit und Genuß. 

5. Endlich ist aber, wie es z.B. für den 
engHsohan Nationalcharakter durch 

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neuere Forschungen (Max Weber u. a.) 
eindrucksvoll dargestellt worden ist, die 
Richtung der Religiosität entscheidend 
für den Geist und das tiefere Ethos des 
gesamten ökonomischen Lebens. Der Zu¬ 
sammenhang der jüdischen Religion und 
Moral mit dem jüdischen Handelsgeist 
ist leider noch nicht tiefer verfolgt. In 
Rußland umschlingt wie im Orient noch 
heut ein religiöses Band das ganze wirt¬ 
schaftliche Denken und Tun des Volkes. 
Bei uns selbst haben Katholizismus, Lu¬ 
thertum und Kalvinismus ganz verschie¬ 
dene Formen der Wirtschaftsetbik er¬ 
zeugt.— 

Stellten wir statt der Wirtschaft die 
Religiosität oder das Staatsleben in den 
Vordergrund der Analyse, so würden 
sich ebenso viele umgekehrte Abhängig¬ 
keitsverhältnisse zu Wirtschaft, Gesell¬ 
schaft, Wissenschaft und Kunst ergeben. 
Alle Kulturgebiete sind wechselseitig 
Funktionen voneinander; ja sie sind 
überhaupt nur in einer abstrakten Be¬ 
trachtung herauszulösen. Freilich haben 
sie 9ich in höheren Kulturlagen durch 
diese fortschreitende, isolierte Reflexion 
über ihr eigentümliches Wesen auch 
tatsächlich reiner herausdifferenziert 
Und so wird die heute erreichte Gliede¬ 
rung der Kulturwissenschaften ge¬ 
radezu ein Hinweis auf die strukturelle 
Gliederung der Kultur selber. (Eingehen¬ 
der in m. „Lebensformen“, Halle 1914) 
Ihre Hauptseiten sind erschöpft durch 
die zusammenwirkende Betrachtungs¬ 
weise von Religionswissenschaft, 
Erkenntnistheorie, Kunstwis¬ 
senschaft, Politik und Jurispru¬ 
denz, Soziologie und Wirt¬ 
schaftswissenschaft. Inderprakti- 
sChen Arbeitsteilung werden die Gren¬ 
zen vielleicht etwas anders verlaufen: 
denn 'die Erkenntnistheorie ist ihrem 
Wesen nach nicht national bedingt, wohl 
aber der Stand der wissen schaff 11- 

Original fram 

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1051 Ed* Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1052 


chen Arbeit und die Organisation 
des Wissens im nationalen Bildungs¬ 
wesen. Die bildende Kunst spielt nicht 
in allen Landern eine kulturell zentrale 
Rolle; um so wichtiger ist das Gebiet 
der schonen Literatur, das man 
nicht mit Unrecht als reinsten Spiegel 
der Volksseele ansieht. 

Aus dem übernationalen Wesen der 
Kultur überhaupt, ganz abgesehen von 
ihren besonderen Gestaltungen, eigibt 
sich also, daß jeder voll entfaltete 
Kulturkreis unter folgenden Gesichts' 
punkten behandelt werden muß, in 
denen zugleich die Titel der Hauptpro¬ 
fessuren enthalten sind: 

Professur für Staats- und Privatrecht, 

„ für* Soziologie (als Gesell- 
schaftslehre und Bevölke- 
rungskunde), 

* für Volkswirtschaft, 

„ für Bildungswesen, 

„ für Literatur der Gegenwart, 

. für Religion und Kirchentum. 

Professuren für Geschichte und altere 
Literaturgeschichte sind in der Regelim 
Verbände der Universität schon ent¬ 
halten. 

Natürlich kann ein so großer Apparat 
nicht für jedes Kulturland an jeder Uni¬ 
versität eingerichtet werden. Schon der 
Mangel an geeigneten Persönlichkeiten 
läßt diesen Gedanken als ausgeschlossen 
erscheinen, selbst wenn die Kosten gar 
keine Rolle spielten. Ein Institut für 
ein Land im ganzen Deutschen Reich 
ist hinlänglich, und auch dann noch wird 
man sich auf die wichtigsten Kultur¬ 
kreise beschränken müssen. 

Damit ist ganz von selbst eine Dezen¬ 
tralisation gegeben, wie sie auch durch 
die Denkschrift vom 24. Januar 1917 vor¬ 
gesehen ist. Einzelne geeignete Univer¬ 
sitäten werden einen solchen Anbau er¬ 
halten, dessen Verhältnis zum Ganzen 


noch immer ein Problem bleibt. Zuvor 
aber ist zu erörtern, welche Kultuiknesse 
vor allem in Betracht kommen und 
welche Orte sich für ihre wissenschaft¬ 
liche Pflege .besonders eignen. 

VL Welche Kulturkreise und wo? 

Hier kann es sich natürlich nur um 
ganz vorläufige Bemerkungen und um 
subjektive Meinungen handeln. Das 
Ganze ist in erster Linie abhängig von 
der vorwaltenden Richtung unserer Po¬ 
litik nach dem Kriege, über die sichnodh 
hdchts Bestimmtes sagen läßt Die Ko¬ 
stenfrage ist gleichfalls ein großes Pro¬ 
blem; doch erfordert die Ausgestaltung 
des ganzen Gebietes in dieser wie in je¬ 
ner Form mindestens Jahrzehnte. 

Da die weltgeschichtliche Auseinan¬ 
dersetzung mit der englischen Welt* 
und Seemacht die vielleicht ein Jahr¬ 
hundert in Anspruch nehmen wird, z. Z. 
unsre wichtigste Auslandsbeziehung be¬ 
deutet, so ist die Pflege des großen 
englischen Kulturkreises offenbar die 
dringendste Angelegenheit. Ob sich die 
sehr heterogenen Kolonien dem ohne 
Schaden des Zentrums einordnen lassen 
werden, möchte ich sehr bezweifeln. Der 
Ort für ein solches Institut ist KieL 
Denn dort ist der Mittelpunkt unseres 
politischen Seeverkehrs. Das „Institut 
für Seeverkehr und Weltwirtschaft“ und 
die „Marineakademie" vereinen das Pu¬ 
blikum, das auch für das Englandinstitut 
in erster Reihe in Betracht kommt; und 
die Nähe des Hamburger Handels wie 
des Hamburger Kolonialinstituts, mit 
dem das Seminar für Weltwirtschaft be¬ 
reits in reger Verbindung steht, ist ein 
weiterer Grund für diese Wahl. Ein In¬ 
stitut für englische Kultur in dem ge¬ 
schilderten Sinne ist unendlich viel 
fruchtbarer als etwa die doppelte Be¬ 
setzung der anglistisch-philologischen 
Professuren an allen preußischen Uni* 


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Original frorn 

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1053 E& Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1054 


versitäten. Der Aufwand aber wäre nicht 
ganz so groß. 

Die zweätnächste Aufgabe ist ein 
Rußland-Institut. Wir waren Ober 
Rüßland vor dem Kriege trotz zahlrei¬ 
cher Fachvertreter irrig unterrichtet, viel¬ 
leicht, weil sie Rußland vorwiegend vom 
baltischen Gesichtspunkte aus und des¬ 
wegen im romantischen Licht einer deut¬ 
schen Irredenta sahen. Das Institut für 
osteuropäische Geschichte und Landes¬ 
kunde ist in Berlin; ein einzelnes schon 
bestehendes Seminar kann für die Neu¬ 
gestaltung im großen jedoch nicht bin¬ 
dend sein. Die Universitäten Breslau und 
Königsberg bedürfen ohnehin der Bele¬ 
bung. Breslau wäre vielleicht vorzuzäe- 
hen, weil seine Nähe zu Österreich auch 
Besucher aus der Donaumonarchie an¬ 
locken würde. 

Berlin hat bereits die wesentlichsten 
Anfänge für drei wichtige Kulturkreise^ 
Das Amerika-Institut (das übrigens 
entsprechend der Tatsache, daß die Ver¬ 
einigten Staaten noch keine wirkliche 
Kultureinheit bilden, eine wesentlich ab¬ 
weichende Entwicklung nehmen wird) 
muß weiter ausgebildet werden, falls 
man sich nicht entschließen will, die 
Pflege dieses Kulturkreises einer künf¬ 
tigen Hamburger Universität zu über¬ 
lassen. Austauschprofessoren jedoch ha¬ 
ben sich nicht bewährt. Sie beherrschen 
oft nicht die deutsche Kultur und Sprache 
so weit, um Amerika von einer instruk¬ 
tiven Seite zu beleuchten, und vor edlem : 
es entwickelt sich keine Kontinuität des 
Studiums. Das Orientalische Semi¬ 
nar, ursprünglich ein Spracheninstitut, 
muß ebenfalls individuell behandelt 
werden, da es sich hier teilweise um 
Halbkulturen handelt. Die Trennung in 
ein Institut für den Islam oder den nähe¬ 
ren Orient einschließlich Indien, und in 
ein Ostasien-Institut ist jedenfalls unver¬ 
meidlich. Als dritter Zweig blieben die 


Negersprachen übrig. Näheres können 
nur Fachleute sagen. 

Den Bundesstaaten darf weder das 
Recht noch die Pflicht bestritten werden, 
an diesen Neuschöpfungen mitzuwirken. 
Ohnehin werden wohl nur München und 
Leipzig in Betracht kommen. Leipzig ist 
nach alter Tradition eine von den Studie¬ 
renden der Balkanländer bevorzugte 
Stätte. Bulgarien und Rumänien Unter¬ 
halten dort Seminare, die vielleicht aus 
Privatinstituten in Universitätsinstitute 
verwandelt werden könnten, ohne daß 
der Zuschuß dieser Länder fortfiele. Die 
Universität Athen hat die lebendigsten 
Beziehungen zu Leipzig. Die Vereinigung 
dieser drei Länder, zu denen noch Ser¬ 
bien und die Türkei hinzutreten könnten, 
wäre um so leichter, als ihre teils un¬ 
entwickelte, teils nicht selbständige Kul¬ 
tur fürs erste von einer geringeren Zahl 
von Lehrkräften noch beherrscht wer¬ 
den könnte. 

Die französische Kultur wirdnach 
dem Kriege voraussichtlich kaum noch 
die alte Rolle im Ganzen der Weltpolitik 
spielen. Man wird ihr in Bonn, vielleicht 
sogar in Straßburg eine Stätte schaffen 
können, während Italien und die 
Mittelmeerländer des Westens 
vielleicht als Aufgabe für München in 
Betracht kommen, schon wegen des um¬ 
fassenden kunstgeschichtlichen Materials. 

In dieser Übersicht könnte die Auf¬ 
gabe als unendlich erscheinen und die 
Frage nach der Aufbringung der Mittel 
sich ernstlich vordrängen. Es ist aber 
keineswegs nötig, sogleich vollständig 
besetzte Institute zu gründen. Vielmehr 
kann der allmähliche Weg auch hier ein¬ 
geschlagen werden, wofern nur die 
grundsätzliche Arbeitsteilung erfolgt 
und der Gesamtplan als Ziel ins Auge 
gefaßt ist, ohne den sich der viel teurere 
Weg des Experimentierens ergeben 
würde. 


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1055 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1050 


VII. Äußeres Verhältnis zur 
Universität. 

Die geschilderten Einrichtungen sind 
zu groß, als daß sie in den Rahmen eines 
Universitätsseminars oder -instituts ge¬ 
preßt werden könnten. Auch hat sich die 
Eingliederung völlig selbständiger Ge¬ 
biete in das traditionell geschlossene 
Ganze einer Fakultät immer als mißlich 
erwiesen, ganz abgesehen davon, daß die 
Auslandsstudien mindestens in drei Fa¬ 
kultäten hineingreifen würden. So ist 
z.B. die Stellung der landwirtschaftli¬ 
chen Ordinariate in den philosophischen 
Fakultäten deshalb ungünstig, weil sie ei¬ 
gentlich einen selbständigen Hochsehul¬ 
körper mit einem ganzen Stab von Do¬ 
zenten hinter sich haben, die Fakultäts¬ 
genossen aber kaum irgendein Ver¬ 
ständnis für die besonderen Bedürfnisse 
dieses Studienzweiges besitzen. 

Aus solchen Gründen scheint es mir 
untunlich, das Kultiirkreisstudiüm in 
eine oder mehrere Fakultäten mit unter¬ 
zustecken. Emst genommen ist der Ge¬ 
genstand immer zu umfangreich, als daß 
er diese Grenzen, zu eigenartig, als daß 
er diese Angleichung vertragen könnte. 
Stellt man die betreffenden Auslands- 
Professuren aber lose neben die Univer¬ 
sität, wie es heute beim Orientalischen 
Seminar der Fall ist, so bilden sie 
in Wahrheit ein unabhängiges Institut 
ohne jeden organisatorisch geregelten 
Verkehr mit der Hochschule. Die Profes¬ 
suren erhalten leicht den Charakter des 
zweiten Ranges, und die ganze Einrich¬ 
tung den einer inoffiziellen Veranstal¬ 
tung, die mindestens für die Fakultäts- 
angehörigen sehr fern steht. 

Zwischen beiden Wegen bleibt dem- 
nach.nur der mittlere, dem betreffenden 
Kulturkreis an der Universität, der seine 
Pflege anvertraut ist, eine eigene Fa¬ 
kultät zu widmen. Es entsteht dadurch, 
historisch genommen, eine Anomalie. 


Aber das Neue, das sich gebieterisch auf¬ 
drängt, zersprengt oft die alten Formen. 
Auch die staatswissenschaftlichen Fa¬ 
kultäten des deutschen Südens haben 
sich einmal verselbständigt, ohne daß 
dazu ein so dringender Anlaß gegeben 
war wie in unserem Falle. Jedenfalls 
ist kein Zweifel, daß die betreffende Kul¬ 
turkreisfakultät in sich eine geschlosse¬ 
nere, echtere Einheit bilden würde als 
manche der alten Fakultäten. 8 ) Aber 
auch nach außen wäre eine fruchtbare 
und organische Wechselwirkung mög¬ 
lich. In der philosophischen Fakultät 
sind in Philologie, Geschichte, Geogra¬ 
phie, Geologie die wichtigsten Hilfswis¬ 
senschaften gegeben. Der Historiker und 
geschichtlich gewandte Philolog des be¬ 
treffenden Kultuikreises würden ohne¬ 
hin im Verbände ihrer alten Fakultät 
bleiben. Die naturwissenschaftlichen und 
medizinischen Fächer würden zu diesem 
Zweige der Geistes Wissenschaften jeden¬ 
falls keine geringere Beziehung haben 
als zu den übrigen. Die Berührungen mit 
der juristischen und staatswissenschaft¬ 
lichen Fakultät wären die allerengsten, 
und die Theologie könnte mancherlei 
Anregungen finden. Doch würde ich dar¬ 
aus unter keinen Umständen folgern, 
daß die Mitglieder der betreffenden Aus¬ 
landsfakultät außerdem noch Mitglieder 
der ihnen nächstverwandten alten Fakul¬ 
täten sein sollen, wie es bei Gelegenheit 
des Hamburger Universitätsplanes für 
die kolonialwissenschaftliche Fakultät 


2) Universitätsinstitute mit 4 oder mehr 
gieichgeordneten Dozenten als Direktoren 
sind in Wahrheit schon kleine Fakultäten, 
auch ohne diesen Namen zu führen, und 
kreuzen sich mit den alten Fakultäten in 
einer Weise, die immer zu Interessenkon- 
flikten führen wird. Ferner sind in den alten 
Fakultäten großenteils die gesuchten Lehr¬ 
kräfte noch gar nicht da. Also kann man 
sie auch nicht in ein solches Institut depu¬ 
tieren. 


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1057 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1058 


vorgeschlagen worden ist Denn daraus 
würden sich unvermeidliche Reibungen 
in der Geschäftsführung ergeben. 

Es besteht m. E. kein Bedenken, zu den 
Rechten der neuen Fakultät auch die 
Teilnahme an der Rektorwahl, die Ver¬ 
tretung im Senat und ein eignes Dekanat 
zu rechnen. Später wird man ihr die 
Möglichkeit geben, Doktoren zu kreieren 
und sich so einen wissenschaftlich hoch¬ 
stehenden Nachwuchs zu sichern. 

Trotz alledem kann es sich nicht um 
eine einfache Nebenordnung zu den 4 
oder 5 alten Fakultäten handeln. Die 
neue würde vielmehr den Charakter 
einer Facultas superior tragen, in die man 
der Regel nach erst eintreten kann, nach¬ 
dem man eine der anderen in gewissem 
Grade durchlaufen hat. Das folgt schon 
daraus, daß Auslandskenntnis eigentlich 
kein „Beruf“ ist. Entweder als Staats¬ 
vertreter oder als Lehrer, als Theolog 
oder als Arzt, als Finanzmann oder als 
industrieller (bzw. agrarischer) Unter¬ 
nehmer geht man ins Ausland. Von einer 
dieser Seiten her also muß man seine spe¬ 
zifische Schulung gewonnen haben, und 
mit diesem besonderen Akzent muß man 
sein Auslandsstudium treiben. Jene hö¬ 
here Fakultät gibt nur die besondere be¬ 
rufliche Zuspitzung einer wissenschaft¬ 
lichen Ausbildung, die zunächst in all¬ 
gemeinen Umrissen vollendet sein muß. 

Aus dieser ergänzenden Bedeutung 
der Auslandsfakultäten ergibt sich dann 
die abweichende Einrichtung des Studi¬ 
ums gegenüber den Grundstudien. 

VÜL Einrichtung des Studiums. 

Es ist auch eine der Lehren des Krie¬ 
ges, daß das akademische Studium nicht 
weiter ausgedehnt werden darf, wenn 
nicht die besten Jahre der Praxis verlo¬ 
ren gehen sollen. Eine weitreichende 
Ausgestaltung des akademischen 
Fortbildungswesens, zu dem wir 

Internationale Monatsschrift 

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bereits wichtige Ansätze (besonders 
in den Staatswissenschaften) haben, 
scheint mir für alle Gebiete zeitgemäß. 
Auch die Auslandsstudien sollten grö߬ 
tenteils diesen Charakter von Fortbil¬ 
dungskursen erhalten. Und zwar ist hier 
Fortbildung teils als Fortführang grund¬ 
legender theoretischer Studien, teils als 
vertiefende Fortbildung nach der Praxis 
im Auslande selbst zu verstehen. 

Von Auslandsstudien ohne vorange¬ 
hende oder begleitende Auslandsreisen 
ist nicht viel zu halten. Immerhin wird 
zwischen denen zu unterscheiden sein, 
deren Leben sein Schwergewicht im Aus¬ 
lande selbst hat (Beamten, Auslands¬ 
lehrern, Kaufleuten, ^Landwirten), und 
denen, die im Inlande die Kenntnis frem¬ 
der Kulturen zu verbreiten haben, also 
akademischen und höheren Lehrern. Im 
allgemeinen werden die ersteren höch¬ 
stens einmal zusammenhängende Kurse 
besuchen, während es den letzteren mög¬ 
lich ist, öfter zu ihnen zurückzukehren. 
Beide Kreise sollen im akademischen 
Verkehr ihre Vorzüge gegeneinander 
austauschen, wie denn auch auf die An¬ 
wesenheit von Ausländem des betref¬ 
fenden Kulturkreises in der Universi¬ 
tätsstadt zu Studienzwecken selbstver¬ 
ständlich gerechnet wird. 

Schon wegen dieser Zusammen¬ 
setzung des Hörerkreises empfiehlt es 
sich, kürzere Abschnitte als das übliche 
Semester zur Studieneinheit zu wählen, 
damit man leichter in das Studium ein¬ 
treten und .es leichter unterbrechen kann. 
Um aber andrerseits eine gewisse Paral¬ 
lelität mit den Zeiten der anderen Fakul¬ 
täten zu bewahren, könnte man Trime¬ 
ster zu je 2 Monaten einrichten: vom 15. 
Oktober bis 15. Dezember, vom 15. Ja¬ 
nuar bis 15. März, und vom 1. Mai bis 
Ende Juni. Das akademische Winterse¬ 
mester zerfiele .dann für die Auslands¬ 
studien in zwei Teile, das Sommerse- 

34 

Original from 

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1050 Ed- Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1060 


mester würde früher geschlossen wer¬ 
den. Darin liegt zugleich eine gewisse 
Gegenwehr gegen pedantische Ausführ¬ 
lichkeit der Vorlesungen. Beurlaubungen 
für zwei Monate sind leichter durch¬ 
führbar als für ganze Semester. 

Als Hörer kommen keineswegs nur 
Vollakademiker in Betracht. Praxis im 
auswärtigen Handel, in der Landwirt¬ 
schaft, im Finanzwesen muß als ausrei¬ 
chender Ersatz für das formelle 
Reifezeugnis angesehen werden. Es 
ist anzunehmen, daß jede Hörer¬ 
kategorie ein Bedürfnis nach son¬ 
stigen Vorlesungen der betreffenden 
Universität hat: Auslandsbeamte und 
Finanzleute nach den juristischen 
und staatswissenschaftlichen, Landwirte 
nach naturwissenschaftlichen und agrar¬ 
ökonomischen, Ärzte nach hygienischen 
und klimatologischen, Geistliche nach 
theologischen, Lehrer nach geschichtli¬ 
chen und philologischen. Dieser Hinweis 
genügt, um den organischen Zusammen¬ 
hang zu bestätigen, um dessen willen die 
Verbindung der Auslandsstudien mit 
den Universitäten befürwortet wird. 

Ein besonders wichtiger Punkt, der je¬ 
doch nicht der einseitigen Regelung 
durch das Kultusministerium unterliegt, 
ist die Vorbildung der Diplomaten und 
Auslandsbeamten. In den Bestimmungen 
vom 1. Mai 1908, die allerdings „wissen¬ 
schaftliche“ Kenntnisse und nicht bloße 
Geschäftserfahrung verlangen, ist von 
eigentlichem Auslandsstudium gar 
nicht die Rede, abgesehen vom 
Staatsrecht der größeren fremden Staa¬ 
ten und der äußeren Handelspolitik. 
Für den letzteren Zweck wird der Be¬ 
such einer Handelshochschule empfoh¬ 
len. — Die in dieser Denkschrift vorge¬ 
schlagenen Einrichtungen würden min¬ 
destens als ein Angebot an das Aus¬ 
wärtige Amt ihre Wirkung tun. Freilich 
ist dabei jein Gesichtspunkt unumgäng¬ 


lich, der oben bereits allgemein ausge¬ 
führt worden ist: es gibt kein „Auslands“- 
Studium schlechtweg, sondern immer nur 
ein Studium einzelner Länder. Also wer¬ 
den auch die Diplomaten nur ein oder 
zwei große Kulturkreise wirklich „stu¬ 
dieren“ können. In dem Bereich dieser 
Länder, mit denen sie sich praktisch und 
theoretisch vertraut gemacht haben, 
sollte man sie lassen. 3 ) Denn auch für 
die Diplomaten gilt, was überall' gilt: 
Talente bewähren sich in dem, was sie 
gründlich gelernt haben, nur Genies 
kann man mit Erfolg vor wechselnde 
Aufgaben der verschiedensten Art 
stelle«; und auch diesen bleibt die sach¬ 
liche Orientierung nicht erspart, sondern 
höchstens der reguläre schulmäßige 
Weg des Lernens. 

IX. Ausbreitung der Auslands¬ 
studien und „AllgemeineAuslands- 
bildung“. 

„Allgemeine Auslandsbildung“ als 
Stück der politischen Volkserziehung 
läßt sich in doppelter Gestalt denken: 
Entweder in der Form einer weitverbrei¬ 
teten volkstümlichen Propaganda, wie 
sie von seiten der Reichsregierung und 
privater Vereine etwa in Sachen der Ko¬ 
lonial- und Flottenpolitik zur Anwen¬ 
dung gekommen ist: Ausstellungen, er¬ 
zählende Schriften, Reiseberichte, Kino¬ 
vorführungen, vor allem aber die illu¬ 
strierte Presse werden in dieser Hinsicht 
die weiteste Wiiksamkeit entfalten. — 
Oder in Gestalt populärer Wissenschaft, 
die in Vorträgen, Broschüren und Mu¬ 
seen durch wirkliche Kenner dargeböten 

3) Die heute üblichen Wanderkonsulate 
führen zu keinem sicheren Einleben in ein 
fremdes Land und Volk und sind eine der 
Wurzeln des Obels. Hingegen bereitet es 
wohl keine Schwierigkeiten, daß sich nicht 
alle Auslandsfakultäten in Berlin, dem Mit¬ 
telpunkt der diplomatischen Ausbildung, be¬ 
finden würden. 


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1061 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1062 


wird. Denkt man an die erste Form (die 
Propaganda), bo geht das die Univer¬ 
sitäten nichts an. Denn — das hat uns 
dieser Krieg gelehrt — zur Beeinflus¬ 
sung der Volksstimmung sind ganz ob¬ 
jektive Darstellungen am wenigsten ge¬ 
eignet. Politische Mittel müssen notge¬ 
drungen eine politische Färbung haben. 
Populäre Auslandswissenschaftaber 
ist nur denkbar, wenn schon eine echte 
Wissenschaft der betreffenden Ge¬ 
biete da ist, und hierfür ist nicht jeder 
Reisende und Journalist ohne weiteres 
brauchbar. Verlangt man von den Uni¬ 
versitäten eine anregende Wirkung nach 
dieser Seite, so müssen vorher Ge¬ 
lehrte von solcher Richtung da sein. 
Bloße Praktiker und Geschäftsleute kön¬ 
nen nicht in die akademischen Haupt¬ 
ämter gelassen werden. Vielmehr denke 
ich mir die Auslandsfakultäten so, daß 
durch die Hauptprofessuren das Niveaü 
gehalten wird, während nebenamtlich 
oder auftragsweise Dozenten zugelas¬ 
sen werden können, die in den andern 
Fakultäten gemäß ihrer eigentümlichen 
Struktur nicht am Platze wären. Diese 
„Dozentenschaft“ wird auch nicht (wie) 
die Hauptprofessoren) nach vorher fest¬ 
stehenden Gebieten zu wählen sein, son¬ 
dern es wird einerseits das Bedürfnis, 
andrerseits die Person und ihre Ver- 
wendbarkeit (auf Zeit oder für die 
Dauer) allein ausschlaggebend sein. Ei¬ 
nen Professor für englisches Recht (z. B. 
wird man immer haben müssen; einen 
Dozenten für englische Textilindustrie 
nur dann, wenn gerade ein Mann mit 
entsprechender Erfahrung und Bildung 
da ist und das Untenichtsbedürfnisnach 
dieser Seite geht. 

Wenn in der Denkschrift vom 24. Ja¬ 
nuar 1917 zwischen der wissenschaftli¬ 
chen Ausbildung und der allgemeinen 
Auslandsbildung eine dritte Aufgabe: 
„Praktische Schulung von Beamten und 

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Privaten, die ins Ausland wollen“, ge¬ 
nannt wird, so läßt sich dieser Zweck 
nur unter doppelter Voraussetzung er¬ 
reichen: Es müssen neben den Haupt¬ 
professoren wissenschaftlicher Richtung 
Lehrkräfte vorhanden sein, die ihre Ar¬ 
beit in der Richtung auf das Technische 
und Praktische ergänzen; und es müssen 
Institute vorhanden sein, die nicht nur 
Bücher, sondern ein umfassendes An¬ 
schauungsmaterial enthalten. Jedoch 
muß dafür gesorgt werden, daß diese un¬ 
tergeordneten Aufgaben nicht das Ge¬ 
samtniveau der Universität schädigen. 

Im allgemeinen wird es im Anfang an 
solchen fehlen, die mit dem nötigen Er¬ 
fahrungskreis Gabe und Neigung zum 
Lehren verbinden. Eben deshalb ist viel¬ 
leicht die wichtigste Aufgabe für den 
Augenblick, mit deren Hervorhebung ich 
diese Skizze absdhließen kann, die Her¬ 
anbildung von Auslandslehrem für das 
Inland, d. h. von Männern, die an Schu¬ 
len und in freien Vortragskursen das In¬ 
teresse für einzelne Teile des Auslan¬ 
des (denn eine „allgemeine“ Auslands¬ 
kenntnis in dem Sinne umfassender 
Kenntnis aller Länder wird es nie geben) 
zu wecken fähig sind. Oft genug (bei 
der Volksschule wie bei der Frauen- 
schule und bei der Fortbildungsschule) 
hat man den Fehler gemacht, von unten 
zu bauen und Schulen zu gründen, ehe 
man Lehrer für sie hatte. So paradox 
es klingt: im Unterrichtswesen muß 
man von oben bauen. Sorgt man für eine 
echte Wissenschaftsquelle höchster Po¬ 
tenz und für die Ausbildung von Lehr¬ 
kräften an dieser Quelle, so verbreitet 
sich der Geist des betreffenden Gebie¬ 
tes ganz von selbst nach unten und in die 
Weite. Man setze also diesmal an der 
rechten Stelle ein: Wir brauchen vor al¬ 
lem für unsere höheren Schulen und für 
Vortragskurse in größeren Städten ein 
wachsendes Heer von Lehrkräften, die 

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Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





1063 Q- Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz.Okkupation 1064 


auf Grund eigener Anschauung Und kri¬ 
tischer Urteilsschulung das Interesse für 
die Besonderheit der fremden Kulturen 
wecken. Das kann nicht gelegentlich ge¬ 
schehen, durch Beschäftigung einzelner 
bereits geeigneter Leute an einzelnen 
Universitäten und Schulen; denn das 
wäre eine Bodenkultur ohne Rücksicht 
auf ihre Reproduktion. Die Aussaat muß 
so sein, daß sie nicht nur dies Jahr 
Früchte gewährt, sondern auch Saat für 
die nächsten Jahre. Unerläßlich ist, 
gleichviel, ob man unsre sonstigen Pläne 
billigt oder nicht, die Ausdehnung Ides 
neuphilologischen Universitätsstudiums 
zu einem Auslandsstudium mit lebendi¬ 
gen kulturellen Tendenzen. Dazu kann 


es aber erst werden, wenn die Kenntnis 
der kulturell und politisch wichtigsten 
Länder planmäßig gefordert wird: durch 
Reisestipendien, die über den blo¬ 
ßen Buchbetrieb hinausführen, und 
durch Studienmittelpunkte, de¬ 
ren hochstehender akademischer Geist 
aus den Reiseerfahrungen erst ein Kul¬ 
turverständnis macht Lebendiger Ver¬ 
kehr und Studium müssen so eng mit¬ 
einander verbunden sein, daß durch den 
ständigen Austausch von Studierenden 
zwischen der Heimatuniversität und dem 
betreffenden Auslande die ganze gei¬ 
stige Färbung des gewählten Ortes be¬ 
stimmt wird. 


Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der 
französischen Okkupation 1806—1813. 

Von Georg Gronau. ~ 


Im Jahre 1816 stellte der Inspektor 
der Casseler Galerie E. F. F. Robert nach 
Rückerstattung der Gemälde des kur¬ 
fürstlichen Besitzes aus Paris ein neues 
Inventar auf, in welchem er nicht nur 
das damals wirklich Vorhandene, son¬ 
dern auch alles, was sich jemals im land- 
gräflichen Besitz befunden hatte, an- 
führt. In der vom 30. April datierten Vor¬ 
rede faßt er die Verluste, die der Samm¬ 
lung während der Zeit der französischen 
Okkupation des ßessenlandes entstan¬ 
den waren, kurz zusammen; aus seinen 
Worten läßt sich die numerische Bedeu¬ 
tung dieser Einbuße am besten erfassen. 

„Im Jahre 1806 wurden auf allerhöch¬ 
sten Befehl /des damaligen Kurfürsten 
Wilhelms I.) eingepackt 48 Stück, welche 
bei der verräterischen Überrumpelung 
von Cassel dem General Lagrange in die 
Hände fielen, und nach Mainz transpor¬ 
tiert und von da nach Paris oder Mal- 
maison. Von diesen sind drei Stück 1815 


aus Malmaison wieder zurückgeholt 
worden. Es fehlen daher (folgen die 
Nummern des Inventars) ... im ganzen 
45 Stück. 

Unter dem von 1806—1807 vom fran¬ 
zösischen General Lagrange geführten 
Gouvernement sind ferner abhanden ge¬ 
kommen und fehlen in der Sammlung 
... im ganzen 48 Stück. 

Der berüchtigte Denon hat folgende 
Gemälde, welche er einesteils in das dar¬ 
über gegebene Verzeichnis aufgeführt, 
aber 1815 nicht zurückgegeben worden 
sind; andere aber ohne ein Empfang dar¬ 
über auszustellen mitgenommen und 
rein gestohlen*... im ganzen 20 Stück. 

Endlich sind unter der usurpierten 
Regierung des Westfälischen Afterkönig 
Hieronimus Napoleon vermißt, gestoh¬ 
len und (abhanden gekommen ... im 
ganzen 280 (richtig 269) Stück.“ 

Nach Roberts durch Aufführung der 
fehlenden Inventamummem belegten 

Original frum 

INDIANA UNtVERSITY 


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1065 G.Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1066 


Zusammenstellung haben demnach die 
Casseler Sammlungen wahrend der 
Jahre 1806—1813 im ganzen 382 Ge¬ 
mälde verloren, d. h. etwa ein Fünftel 
ihres früheren Gesamtbesitzes. Dieser 
Verlust erscheint noch ungleich bedeut¬ 
samer, wenn man die einzelnen Objekte 
ins Auge faßt: eine große Zahl derjeni¬ 
gen Stücke, die den höchsten Ruhm der 
Sammlung bei den Kunstfreunden der 
Vergangenheit ausmachten, befindet 
sich darunter. 

Die Geschichte des französischen 
Kunstraubs und der teilweisen Rück¬ 
erstattung der Bilder im Jahre 1815 
ist mehrfach behandelt worden, 
jedoch niemals in so umfassender 
Weise, daß der wirkliche Charakter der 
Einbuße genügend herausgearbeitet 
worden ist. Neues Material ist seit jenen 
früheren Veröffentlichungen gedruckt 
worden; andere Tatsachen lassen sich 
aus einzelnen fragmentarischsen Akten 
feststellen. Es scheint daher angebracht, 
was darüber bekannt ist, zusammenzn- 
stellen, auch um die stark übertriebenen, 
aber durch langjährige Tradition in 
Hessen sanktionierten Behauptungen 
über den Bestand an ehemaligen .Cas¬ 
seler Bildern in der Ermitage in Peters¬ 
burg zu berichtigen. 

Bei dem bedrohlichen Heranrücken 
des französischen Heeres war Kurfürst 
Wilhelm I. darauf bedacht, außer sei¬ 
nem sich auf viele Millionen belaufen' 
den Barvermögen und dem gleichfalls 
einen bedeutenden Wert darstellenden 
Silbersdhatz den wertvollsten Teil der 
von Vater und Großvater überkomme¬ 
nen Gemälde in Sicherheit zu bringen. 
Aus den Beständen wurden im ganzen 
48 Stück ausgewählt, die man für das 
kostbarste Gut ansah: eine Auswahl bei¬ 
läufig, die zwar tatsächlich eine Reihe 
der wirklichen Perlen umfaßte, aber 
auch manches, das in der heutigen Be- 

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Wertung nicht so hoch eingeschätzt wer¬ 
den würde; wofür dann anderes, das 
heute als höchstes Gut angesehen wird 
(wie Rembrandts „Segen Jakobs“, die 
„Saskia“, der „Bruyningh“ und die 
„Große Landschaft“), in die Zahl der 
in Sicherheit zu bringenden Gemälde 
nicht einbezogen wurde. 

Unter den ausgewählten Gemälden 
befanden sich: von Rembrandt die gro¬ 
ße Kreuzabnahme, das Noli me tangere, 
eine Maria mit dem Kind und zwei Bild¬ 
nisse, Gegenstücke eines Herrn und ei¬ 
ner Dame, Potters zwei berühmte Ge¬ 
mälde („La vache qui pisse“ und das 
„Leben eines Jägers“ in 14 Abteilungein), 
fünf Bilder von Gerard Dou, darunter 
die zwei Darstellungen der Heiingsver- 
käuferin, zwei Werke von Slingelandt, 
van der Heydens Ansicht des Verkey in 
Amsterdam und eine Ansicht von Cöln, 
vier große Frucht- und Blumenstücke 
Jan van Huysums, zwei Hauptstücke 
von Berchem, eine Gesellschaft beim 
Kartenspiel von Schalcken, vier Arbeiten 
Wouwermans, darunter der „Kirchen¬ 
raub“ und der „Heuwagen“, das Bildnis 
des Lukas van Uffelen von Van Dyck, 
drei Gemälde von Teniers („Der Aufzug 
der Antwerpener Schützengilde“, „Die 
Wachtstube“ und eine „Bauernstube“). 
Ferner sämtliche fünf Bilder von Claude 
Lorrain, darunter die „vier Tageszeiten“, 
zwei dem Poussin zugeschriebeneWerke, 
eine „Heilige Familie“ von Andrea del 
Sarto, die „mütterliche Liebe“ und eine 
„Heilige Familie“, die unter Leonardos 
Namen bekannt waren, eine Madonna 
von Raffael nebst Werken von Anni¬ 
bale Carracci, Carlo Dold, Guido Reni 
und andern Meistern. Diese „Auswahl 
einiger der vorzüglichsten Gemälde in 
der kurfürstlichen Gallerie zu Kassel“ 
wurde in sechs Kisten verpackt; am 
Schluß des Verzeichnisses, das die ge¬ 
wählte Anordnung meldet, ist bemerkt: 

Original from 

INDIANA UNiVERSITY 




1007 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1068 


„Obige Gemälde sind am lten Oktober 
1806 eingepackt und durch herrschaft¬ 
liche Tagelöhner ins kurfürstliche Resi¬ 
denz Schloß in sechs Kasten transpor¬ 
tiert worden.” 

Ober die weiteren Schicksale diesen 
Bilderauswahl stehen völlig sichere 
Nachrichten nicht zur Verfügung. Wahr¬ 
scheinlich wurden die sechs Kisten (mit 
dem Silberschatz des kurfürstlichen 
Hauses vereinigt und in ein, wie man 
glaubte, völlig sicheres Versteck ge¬ 
bracht Die Wahl fiel auf das im 
Reinhartswalde gelegene Jagdschloß 
Sababurg, woselbst am 18. Oktober 
nachmittags 42 große und kleine Kisten 
eintrafen und in einem Gewölbe an der 
Haupttreppe eingemauert wurden. 1 ) 
.Eine Steile in einem noch wiederholt 
anzuführenden Briefe Denons vom 
30. Juni 1814, in dem er sich über die 
Casseler Bilder ausspricht, ist geeig¬ 
net, diese Annahme zu stützen: „Je 
m’empresse d’adresser ä Votre Excellen- 
oe (an den Hausminister Grafen Blacas) 
la liste des quarante - huit tableaux 
enlev6s de Cassel par l’ölecteur, apres 
la bataille d’Ifena, retrouuös dans une 
malson de garde-chasse, dans une for&t, 
saisis par le gönöral Lagrange et exp6- 
diös par lui ä l’impöratrice Jos6phine 
qui, pour lors, ötait ä Mayence. 2 * ) 

Der Zufluchtsort, an welchem man 
die Schätze |des kurfürstlichen Hauses 
untergebracht hatte, blieb nach der Be¬ 
setzung Cassels durch die Franzosen 
unter Marschall Mörder den französi¬ 
schen Behörden nur wenige Tage ver¬ 
borgen. Nachdem der zum Gouverneur 
für Hessen eingesetzte General La- 


1) S. den Bericht eines Augenzeugen, 
des späteren Geh. Rat Schwedes, in: Zeit¬ 
schrift für hessische Geschichte N. F. 1,251 ff. 

2) Charles Saunier, Les conquötes artisti- 

ques de la Evolution et de l’empire, Paris 

1902. p. 78. 


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grange am 4. November eine Prokla¬ 
mation erlassen hatte *), in der die Auf¬ 
forderung enthalten war, die dem kur- 
hessischen Staat gehörigen, etwa ver¬ 
borgenen Wertstücke anzuzeigen, mach¬ 
ten Oberbaurat Jussow, der selbst die 
Vermauerung des Schatzes in Sababurg 
geleitet hatte, und Steuermt Gottsched 
dem Landesdirektorium eine Mitteilung 
über das Versteck; dieses gab sie an 
Lagrange weiter, und so wurde der 
Silberschatz unter französischer Bewa¬ 
chung zunächst nach Cassel zurückge- 
bracht und von dort durch die Franzo¬ 
sen nach Mainz weitertransportiert. Die 
Bilderkisten erfuhren wahrscheinlich 
dasselbe Schicksal. 

Jedoch gelangte nicht die volle Zahl 
der 48 Gemälde an den vorläufigen Ort 
ihrer Bestimmung. Wie nämlich aus der 
Fortsetzung des oben bereits ausgeführ¬ 
ten Schreibens von Denon hervorgeht, 
erhielt die Kaiserin Josephine nur 36 
von den 48 Bildern 4 ), so daß Denon 
folgerte, es müsse eine Kiste verloren 
gegangen sein. Hier klar zu sehen und 
festzustellen, welche Bilder tatsächlich 
in Josephinens Besitz gelangten, welche 
nicht, wird dadurch noch erschwert, daß 
die Kaiserin, wiederum nach Denons 
Aussage, über eine größere Zahl frei 
verfügt hatte. Mit Sicherheit lassen sich 
von diesem Augenblick an die Schick¬ 
sale von etwa 22 Bildern verfolgen, von 
denen die Mehrzahl, durch Kaiser 
Alexander I. angekauft, in die Ermi¬ 
tage gelangt ist, drei 1815 dem recht¬ 
mäßigen Besitzer zurückerstattet wur- 

3) Vgl. die Schrift von Hugo Brunner, 
General Lagrange als Gouverneur von Hes¬ 
sen-Cassel. Cassel 1897. 

4) Dieselbe Angabe findet sich in einem 
Bericht des hessischen Gesandten von Carls- 
hausen vom 22. August 1815. Vgl. Stengel, 
Private und amtliche Beziehungen der Brü¬ 
der Grimm zu Hessen, Marburg 1886, U, 
p. 399. 


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1060 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1070 


den und weitere zwei oder drei noch 
später bei Josephinens Nachkommen, 
den Herzögen von Leuchtenberg, nach* 
zuweisen sind. 

Was aus den übrigen geworden ist, 
läßt sich nur vermuten; und diese Ver¬ 
mutung weist dahin, daß General La- 
grange sie für sich genommen habe. Da 
er nachweislich gegen Zahlung einer 
Summe von 800000 Francs sich rück¬ 
sichtlich des Piuvatvermögens des Kur¬ 
fürsten bestechen ließ, das nach Frank¬ 
furt in Sicherheit gebracht werden 
konnte, liegt der Gedanke nahe, daß er 
auch unter den Gemälden des Kurfür¬ 
sten eine Auswahl traf, die er für sich 
behielt, wie ja auch nach Roberts Aus¬ 
sage unter seinem Gouvernement weitere 
48 Gemälde veruntreut worden sind. 
Dieser Verdacht muß ferner durch den 
Umstand verstärkt werden, daß zwei Ki¬ 
sten, welche hervorragende Kostbarkei¬ 
ten in Edelmetall enthielten, seitdem La- 
grange sie dem Museum entnommen 
hatte, spurlos verloren geblieben sind 5 ); 
jedenfalls fand sich 1815 nich'ts davon 
in den Pariser Museen vor. Der ehema¬ 
lige Gouverneur wußte während der An¬ 
wesenheit der hessischen Delegierten in 
Paris seine Spuren so gut zu verbergen, 
daß es dem um die Wiederbeschaffung 
der geraubten Kunstsachen hochver¬ 
dienten Jacob Grimm trotz eifrigster 
Bemühungen nicht gelang, auch nur sei¬ 
ne Wohnung auszukundschaften. Wenn 
dann eine Reihe der verschollenen Bil¬ 
der in den auf den Friedensschluß fol¬ 
genden Jahren bald hier, bald da auf¬ 
tauchen und ihre Spuren mehrfach auf 
den Pariser Kunsthandel führen, so ge¬ 
winnt die Vermutung, daß kein andrer 
als Lagrange für das Verschwinden von 
12 jener auserlesenen 48 Bilder verant- 

5) Das genaue Verzeichnis ist abgedrucbt 
in Zeitschr. d. Vereins !. hess. Gesch. u. 
Landeskunde IX, 1882, S. 336ff. 


wörtlich zu machen sein dürfte, an in¬ 
nerer Wahrscheinlichkeit. 

Lagrange bekleidete die Stellung ei¬ 
nes Gouverneurs nicht ganz ein Jahr; 
dann trat er als Chef des Kriegsdeparte¬ 
ments in die Regentschaft des neuge¬ 
bildeten Königreichs Westfalen ein, 
um bald hinterher, weil etwas von sei¬ 
nen Veruntreuungen ruchbar geworden 
war, seinen Posten und den ihm zu heiß 
gewordenen Boden zu verlassen. 6 ) Zu 
der Zeit seiner Allmacht waren nach Ro¬ 
berts Angabe weitere 48 Gemälde aus 
den kurfürstlichen Sammlungen ver¬ 
schwunden. Wenn diese sich auch nicht 
an Bedeutung mit jener ersten Auswahl 
der kostbarsten Stücke messen können, 
so handelte es sich dodh auch hier utn 
überwiegend erlesene Qualität. In der 
Liste findet man u. a. ein Bild von 
Rembrandt (Christus mit der Dornen¬ 
krone), zwei von Rubens, zwei vofri 
Frans Hals (Bauemkopf und Bauern¬ 
mädchen), fünf Arbeiten von Ostade, 
darunter die „Anbetung der Hirten“ 
(jetzt bei Otto Beit in London), eine 
„Bauerngesellschaft“ (Sammlung Heu¬ 
gel, Paris) und drei Aquarelle mit Bau- 
emszenen, drei dem Bouwer zugeschrie¬ 
bene Bilder, einen hervorragend cchönen 
Metsu (Das Austernfrühstück, jetzt in 
der Ermitage), einen Terborch, vier Te- 
niers, von denen der eine, die „Affen¬ 
küche“ in die Ermitage gelangt ist, ein 
ausgezeichnetes Stück von 'Wouwer- 
man, den Auszug zur Falkenjagd dar¬ 
stellend (wahrscheinlich das Bild, das 
A. von Rothschild in Londojn gehört), 
ein von Smith besonders gerühmtes 
Familienstück des Gonzalez Coques, so¬ 
wie Arbeiten von Schalcken und van der 
Werff, von Berchem und Dujardin, meh¬ 
rere de Heems und andere. Auch hier 
fehlt es meist an genügenden Anhalts- 


6) S. Brunner a. a. O. p. 50. 


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1071 G.Qronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1072 


punkten, um die Schicksale der Bilder 
Bufzuhellen. Nur so viel läßt sich be¬ 
stimmt sagen, daß vier von diesen 
48 Bildern gegenwärtig in der Ermitage 
zu finden sind — außer den zwei 
schon genannten von Metsu und Te- 
niers van der Werffs „Austreibung aus 
dem Paradies“ und eine „Landschaft mit 
Kühen und Schafen“ von Dujardin —, 
und daß ein fünftes Stüde, eine Land¬ 
schaft von Breughel, mit einer gewissen 
Wahrscheinlichkeit als ein später im 
Leuchtenbergschen Besitz befindliches 
Bild angesehen werden darf. Demnach 
sind einige dieser von Lagrange fortge¬ 
nommenen Bilder mit jener ersten Sen¬ 
dung an die Kaiserin nach Mainz ge¬ 
gangen und 1 gehören in die Rubrik der 
„Malmaison- Bilder“. Von den übrigen 
Bildern sind dann einige wiederum bald 
nach dem Pariser Frieden im Kunst- 
handel zu Paris aufgetaucht 

Wenige Wochen, nachdem die Fran¬ 
zosen von den hessischen Landen Besitz 
ergriffen hatten, erschien in Cassel 
Napoleons Berater in Kunstangelegen¬ 
heiten, seit 1803 Generaldirektor des 
Nationalmuseums, Vivant Denon, um 
auf Grund einer Kabinettsorder des Kai¬ 
sers vom 24. November 1806 ans den 
Casseler Sammlungen die für das Musöe 
Napoleon geeigneten Bilder auszu¬ 
suchen. Als er die von dem Landgrafen 
vereinigten Kunstschätze kennen lernte, 
äußerte ersieh gegen den Galerieinspek- 
tor Joh. Heinrich Tischbein d. J., noch 
nie sei ihm die Wahl so schwer ge¬ 
fallen : „Car* tous sont des perles et des 
bijoux.“ 7 ) Trotz dieser durch den Reich¬ 
tum des Vorhandenen verursachten Ver¬ 
legenheit traf Denon eine Auswahl, die 
seiner bewährten Kennerschaft alle 
Ehre macht, ln dem am 8. Januar 1807 
aufgesetzten und von Denon, dem Hof- 

7) Fr. Maller, Zur Geschichte der Casseler 
Galerie. Zeitschr.lbild. Kunst VI, 1871, S. 180. 


marschall Grafen von Bohlen, Tischbein 
und dem französischen Intendanten 
Hessens, Martelüfeie, Unterzeichneten 
Protokoll der Übergabe sind 263 Ge¬ 
mälde aufgeführt, zu denen in einem 
Supplement vom 16. Januar weitere 36 
Nummern hinzukamen, so daß Denon 
insgesamt 299 Bilder aus den Casseler 
Sammlungen zur Überführung nach 
Paris bestimmte, deren jedes sofort mit 
dem Siegel versehen wurde. Die Ab¬ 
nahme und Übergabe dieser Bilder er¬ 
folgte in der durch die Rechtsanschau¬ 
ungen jener Zeit zugelassenen, legalen 
Form und ebenso ist, wie wir sehen 
werden, die Rückerstattung 1815 erfolgt 
Nur ein Bild, behaupteten die franzö¬ 
sischen Beamten später, habe niemals 
den Ort seiner Bestimmung erreicht 
nämlich ein Bildchen vom älteren 
MierLs, einen seifenblasenden Knaben 
darstellend. 8 ) Es soll angeblich vor 
dem Transport noch in Cassel abhanden 
gekommen sein ; Robert im Inventar zu 
1816 beschuldigt Denon dieses Dieb¬ 
stahls, jedoch ist es höchst zweifelhaft, 
ob mit Recht 

So gingen jetzt die Casseler Samm¬ 
lungen fast aller Werke verlustig, die 
ihren Ruhm in der Welt der Kunst¬ 
freunde bedeutet hatten, der besten 
Rembrandts und Rubens, der van 
Dycks und Jordaens und der erlesenen 
Gruppe der niederländischen Klein¬ 
meister. Es bezeichnet den damaligen 
Zeitgeschmack, daß auch ekle verhält¬ 
nismäßig große Zahl der nicht bedeuten¬ 
den italienischen Bilder mit fortgeführt 
wurde, dagegen drei von den sieben Ge¬ 
mälden des Frans Hals zurückgelassen. 

Robert hat in der eingangs zitierten 
Einleitung seines Inventars 20 Bilder 


8) Wahrscheinlich identisch mit einem 
von Smith, Catalogue, Supplement S. 37 
Nr. 11, aufgefflhrten Bild in Buckingham 
Palace, London. 


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1073 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1074 


aufgeführt, die teils 1815 nicht zurück¬ 
gegeben, teils von Denon ohne Emp¬ 
fangsbestätigung mitgenommen und 
„rein gestohlen“ worden seien. In die 
erste Rubrik gehören im ganzen 10 Bil¬ 
der, von denen drei in französischen 
Provinzmuseen verblieben, vier nach 
Aussage der französischen Behörden 
während der Besetzung von St. Cloud 
und Compi&gne durch preußische Trup¬ 
pen 1814 fortgekommen sein sollten; 
das achte ist der bereits aufgeführte 
Mieris, der angeblich schon in Cassel 
selbst abhanden kam. Von einem wei¬ 
teren Bilde, einem Kircheninnem des 
Neefs, heißt es 1815: „Ce tableau ne 
s’eS|t pas trouv6 et a probablement 6t6 
remis ä une autre Cour.“ Heute läßt 
sich feststellen, was es mit diesem Ver¬ 
schwinden für eine Bewandtnis gehabt 
hat: es war nach Schloß Malmaison 
gebracht worden und gehört zu den von 
Josephinens Erben an Alexander I. ver¬ 
kauften Bildern (Ermitage Nr. 1198). 
Das zehnte Bild — ein Kampf zwi¬ 
schen Infanterie und Kavallerie im 
Kornfeld von Wouwerman — war 
zwar laut ausdrücklicher Erklärung 
Denons aus Cassel mitgenommen wor¬ 
den, fand sich aber 1815 nirgends vor. 9 ) 
Unter den übrigen Bildern erscheint nur 
eines von hervorragender Bedeutung ge¬ 
wesen zu sein : ein männliches Bildnis 
in Lebensgröße von Rembranrft, das 
bisher nicht wieder hat nachgewiesen 
werden können. 10 ) 

Inwieweit Robert mit seiner Beschul- 


9) Es könnte nach den annähernd Ober' 
einstimmenden Maßen identisch sein mit 
einem Bild, das nach Angabe von Smith 
(Catalogue, Suppl. S. 202 Nr. 185) 1834 auf 
der Versteigerung der Duchesse de Berry 
in London vorkam. 

10) In einem später noch anzufahrenden 

handschriftlichen Verzeichnis von Robert ist 

als Besitzer dieses Bildes der russische 

Kaiser angegeben. 


digung Denons recht hat, läßt sich ge¬ 
genwärtig nicht mehr feststellen. Der 
Verdacht einer persönlichen Bereiche¬ 
rung liegt bei einem Manne nahe, der 
ein ebenso hervorragender Kenner wie 
feinsinniger Sammler gewesen ist. 
Zugunsten Denons fällt jedoch der Um¬ 
stand schwer ins Gewicht, daß in dem 
Katalog seiner reichhaltigen Samm¬ 
lung, der nach seinem Tode aufgestellt 
wurde 11 * * ), sich nicht ein einziges Bild 
vorfindet, dessen Herkunft aus der 
Casseler Galerie erweisbar wäre. So 
ist es wahrscheinlich, daß Robert, ohne 
sichere Anhaltspunkte zu besitzen, De¬ 
non hier kurzerhand Verluste der 
Sammlungen aufgebürdet hat, für die 
nicht dieser, sondern andere Organe der 
französischen Verwaltung verantwort¬ 
lich zu machen sind. 

Gassei hatte demnach innerhalb der 
ersten drei Monate der französischen 
Okkupation nahezu vierhundert seiner 
kostbarsten Bücher eingebüßt; und 
selbst damit hörten die Raubzüge noch 
nicht auf. Auf die Trilogie des amt¬ 
lichen und privaten Kunstraubes folgte 
noch ein von den französischen Behör¬ 
den in Szene gesetztes SatyrspieL 
Ende Januar 1808 mußte plötzlich das 
Erdgeschoß der Malerakademie freige¬ 
macht werden, um für die Gouveme- 
mentsdruckerei Platz zu schaffen; die 
daselbst befindlichen Gipse und Bilder 
wurden in Eile in das Museum ver¬ 
bracht. 19 ) Dort muß es dann wegen der 
Unterbringung des Restbestandes der 
Galerie — soweit sie nicht in den ver¬ 
schiedenen Schlössern verstreut war — 

11) Description des objets d’art qui Com¬ 
posern le Cabinet de feu M. le baron V. 
Denon. Tableaux ... par A. N. Pörignon. 
Paris 1826. Die Angabe bei Rooses, L’ceuvre 
de Rubens III, p. 139, spricht eher gegen 
als für einen Raub von seiten Denons. 

12) H. Knackfuß, Geschichte der Kgl. 
Kunstakademie zu Cassel, Cassel 1908, S.124. 


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1075 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1076 


Schwierigkeiten gegeben haben, deren 
der Minister der Justiz und des Innern, 
SLm6on, durch ein besonders einfaches 
Verfahren glaubte Herr werden zu kön¬ 
nen : die Gemälde sollten zur öffent¬ 
lichen Versteigerung gebracht werden. 
Allerdings nicht alles und jedes; viel¬ 
mehr wünschte der Minister, daß eine 
Auswahl getroffen würde. Diese Auf¬ 
gabe wurde aber nicht dem Inspektor 
Tischbein, noch seinem Adlatus Robert 
übertragen, sondern dem Hofwerkmei¬ 
ster Wolf. Der wackere Mann, in der 
Einsicht, daß er „aus Mangel an Kennt¬ 
nissen" diese Auswahl nicht treffen 
könnte, sandte seinen Sohn zu Robert, 
er möchte in das Museum kommen „und 
von denen aus dem Academie-Haus da¬ 
hin transportierten Gemählden eine Aus¬ 
wahl treffen". Nach vorheriger Verstän¬ 
digung mit Tischbein kam Robert der 
Aufforderung nach. Der Werkmeister 
wies ihm den Auftrag Simeons vor, der 
dahin lautete, daß „diejenigen (Bilder) 
von noch einigem Wert im Museum auf¬ 
bewahrt werden sollten". „Ich fing 
hierauf an, berichtet Robert, und suchte 
aus und ließ das ausgesuchte von zwey 
Taglöhner auf die große Treppe des 
Museums stellen. Kaum hatte ich über 
einige zwanzig Stück ausgesucht, als 
der Hof-Werckmeister ausrief, ja wo 
wollen wir den Platz finden, wenn sie 
so fortfahren wollen auszusuchen. Ich 
gegenantwortete ihm, wenn ich nach 
Überzeugung verfahren sollte, müßte ich 
also machen, fragte ihn, ob er etwa diese 
Gemählde verschleudern wollte und für 
8 oder 11 Groschen das Stück verkaufen, 
das 20, 30, 50 Louisdor wert sey; wenn 
dieses der Fall, dann wäre ich hier 
nichts nütze und würde wieder nach 
Hause gehen, er könne es dann nach 
Gefallen machen. Hierauf versetzte er, 
er wünsche, daß man sie alle behalten 
könne, es wäre aber des Raumes wegen, 

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man würde sie nicht alle im Museum 
unterbringen können. Ich fuhr also fort 
auszusuchen nach Überzeugung und Ge¬ 
wissen, und hätte von Herzen gern man¬ 
ches gutes und schönes Portrait man¬ 
ches anderes Bild von geringem Werth 
doch seiner Geschichte wegen zu er¬ 
halten gesucht. Viele von den ausge¬ 
suchten wurden nachher vor ein Spott¬ 
geld verkauft und verschleudert wie ich 
vorher gesagt hatte. Da die Zeit zu kurz 
war, um genauer die Gemählde prüfen 
zu können, so ist manches schöne Por¬ 
trait von Werth mit ausgeschossen und 
verkauft worden." Und in einer Nach¬ 
schrift bemerkt Robert noch : „Aus den 
ganlzen Bildern, die im Museum ver¬ 
kauft worden nebst denen goldenen 
Rahmen aus der Bilder Gallerie, sowie 
mehrere andere Gegenstände aus dein 
Museum ist eine Summa von ohngefähr 
700 Rthlr. gelöst worden." 18 ) 

Durch sein Eingreifen vermochte 
Robert wenigstens 260 Bilder der Samm¬ 
lung für Cassel zu retten — einen frei¬ 
lich traurigen Rest, wenn man an den 
früheren Besitz denkt Immerhin war 
das vor der Verschleuderung Bewahrte 
durchaus nicht völlig wertlos; finden 
sich doch darunter Bilder, wie der 
„Lustige Zecher“ -von Frans Hals, zwei 
Gemälde von Jordaens („Moses schlägt 
Wasser aus dem Felsen" und die klei¬ 
nere Fassung der „Erziehung des Ju¬ 
piter"), das große, dekorative Stilleben 
von P. Boel, die zwei interessanten, dem 
Cornelis de Vos zugeschriebenen Bild¬ 
fragmente, der „Kranke Königssohn" 
von Celesti, ein großer (noch nicht aus¬ 
gestellter) Luca Giordano, mehrere Bil¬ 
der von Liberi, die „Legende von der 
Königstochter“ von Paolo Veronese, das 

13) In dem Vorwort zum Inventar von 
1816. Der betr. Passus ist vollständig abge¬ 
druckt in Eisenmanns Katalog der Casseler 
Galerie von 1888, S. XV ff. 


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1077 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1078 


ausgezeichnete, wohl spanische Porträt 
eines Edelmanns und so noch manches 
andere, das auch in der heutigen Galerie 
Beachtung fordert. Aber nicht alles wie¬ 
derum, das damals durch Robert gerettet 
wurde, ist vor späterer Venmtreuung 
bewahrt geblieben. Bei recht vielen 
Nummern hat dieser mit roter Tinte be¬ 
merkt : „NB. Ist bey dem Bau des soge¬ 
nannten Reichs Saales gestohlen wor¬ 
den.“ Ober den chaotischen Zustand, 
in den das Museum während der Ver¬ 
wandlung des Gebäudes in den Stände¬ 
palast geriet, liegt die ausführliche 
Schilderung des Bibliothekars und Vor¬ 
stands der Antikensammlung, Völkel, 
vor 14 ); aus dieser ergibt sich, daß von 
der dadurch geschaffenen Gelegenheit 
zum Diebstahl nur allzu reichlicher Ge¬ 
brauch gemacht wurde. Unter den Wer¬ 
ken, die auf diese Weise verschwanden, 
scheinen zwei von namhaftem künst¬ 
lerischem Wert sich befunden zu 
haben: ein Doppelporträt voin Ant. 
Moro und das Bildnis einer Dame von 
Luini. Von beiden hat sich jede Spur 
verloren. 

Das übrige, das Roberts Umsicht nicht 
hatte retten können, wurde am 13. Juni 
1808 zur öffentlichen Versteigerung ge¬ 
bracht. „Kein hessischer Patriot betei¬ 
ligte sich an der Auktion, und so kam 
nicht weniges an eingewanderte Fran¬ 
zosen und auswärts wohnende Besitzer. 
Über 200 Gemälde gingen auf diese Art 
der Galerie für immer verloren. 15 ) Auch 
die Verschleuderung der durch Robert 

14) A. Duncker, Eines hessischen Ge¬ 
lehrten Lebenserihnerungen aus der Zeit 
des Königs J6röme, in: Zeitsdir. d. Vereins 
f. hess. Gesch. u. Landeskunde N. F. IX, 

1882, S. 276ff. 

15) A. Duncker, Zur Geschichte der Cas¬ 
seler Kunstschätze, vornehmlich in den 
Zeiten des Königreichs Westfalen, in: 
Deutsche Rundschau, 9. Jahrgang, Februar 

1883, S. 225. 


bezeugten goldenen Rahmen der Bilder¬ 
galerie wird man, namentlich vom 
heutigen Standpunkt jaus, lebhaft be¬ 
dauern müssen ; denn die wenigen Pro¬ 
ben von alten Rahmen, die sich aus der 
Zeit des großen Begründers der Galerie, 
Landgraf Wilhelm VIII., erhalten haben, 
beweisen, daß (dieser für seine Schätze 
das gediegen Kostbarste gewählt hatte, 
während die nach Frankreich entführ¬ 
ten Gemälde in Paris alle die uniformen, 
nüchternen Empirerahmen des Mus6e 
Napoleon erhielten, die sie zum Teil 
bis auf die Gegenwart behalten haben. 

Damit war nun die Vernichtung der 
Casseler Gemäldesammlung durch die 
französischen Usurpatoren vollendet. 
Kein Wunder, daß der Mann, der seit 
1775 sie als Inspektor treu verwaltet 
hatte, Joh. Heinrich Tischbein d. J., den 
Verlust nicht lange überlebte. Die Be¬ 
raubung durch Denon erschütterte ihn 
in seinen Grundfesten : „Wie entgeistet 
ging er zwischen den hämmernden und 
klopfenden Handwerkern herum. Jedes 
Bild, das eingepackt wurde, war ihm ein 
verstorbener Herzensfreund, jede Kiste 
ein Sarg.“ „Als er nun bald auch ge¬ 
zwungen wurde, seine Dienstwohnung 
im Akademiegebäude, die er seit mehr 
als 30 Jahren innehatte, zu räumen, 
brach dem Greise das Herz.“ 16 ) Er 
starb am 22. November 1808. 

Die westfälische Regierung war nicht 
gewillt, die Verluste dadurch verschmer¬ 
zen zu machen, daß sie ihrerseits auf 
einen Ausbau der Kunstsammlungen 
bedacht gewesen wäre. Ais ihr Robert 
durch Vermittlung Johannes v. Müllers, 
der die Stellung eines Generaldirektors 
des öffentlichen Unterrichts bekleidete, 
den Vorschlag unterbreitete, die bedeu¬ 
tende Kupferstichsammlung des Rates 
von Stöcker zu Frankfurt zu erwerben 


16) Duncker a. a. O. 


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1079 Ch Gronau. Die Verluste der Casseler Galerie in derzeit der franz. Okkupation |Q60 


und durch die Vereinigung der an ver¬ 
schiedenen Stellen, in der Akademie, im 
Palais und Schlössern zerstreuten Bil¬ 
der res te etwas wie eine neue Galerie 
zu schaffen, verhielt sich die zuständige 
Behörde völlig ablehnend. 17 ) Es war ein 
magerer Trost, daß aus den geraubten 
Galerien von Braunschweig und Salz¬ 
dahlum 252 Bilder nach Cassel geschafft 
wurden, denn sie wurden für die Deko¬ 
ration der Schlösser des Königs und 
•einer Oroßwürdenträger verwendet 
Alle die Gemälde, die auf Veranlas¬ 
sung der französischen Behörden 1808 
durch Versteigerung der Galerie ent¬ 
fremdet wurden, hat Robert in der letz¬ 
ten Rubrik seiner Aufstellung der Ver¬ 
luste vereinigt und sie als „vermißt, ge¬ 
stohlen und abhanden gekommen“ be¬ 
zeichnet. Es sind im ganzen 269 Num¬ 
mern, unter denen es auch an großen 
Namen nicht fehlt, deren Bedeutungman 
aber daran wird ermessen können, daß 
die Auslese Denons 1806 und die Aus¬ 
wahl Roberts vor der Versteigerung 
das Material ja schon sorgfältig gesiebt 
hatten. Ein Verlust also, den man mehr 
ziffernmäßig wird in Rechnung zu set¬ 
zen haben, obschon es an guten Stücken 
auch hier nicht ganz gefehlt hat Nur 
dos allerwenigste läßt sich über die Zeit 
des Verschwindens hinaus verfolgen. 
Eine größere Zahl auf einmal wurde 
durch Vermittlung eines Casseler Kauf¬ 
manns Rogge-Ludwig, der nach Paris 
geschäftliche Beziehungen unterhielt 
1820 dem Kurfürsten Wilhelm I. zum 
Kauf angeboten. Die Bilder befanden 
sich damals im Besitz eines franzö¬ 
sischen Herrn, der sie mit 80000 Francs 
beüehen hatte und sie als sein Eigentum 
betrachtete, da der ursprüngliche — 
nicht genannte — Besitzer außerstande 
war. die Summe zurückzuerstatten. Der 


17) Knacktu B a. a. O. S. 133H. 


Kurfürst lehnte jedoch das Angebot ab, 
und so sind diese Bilder in Paris verblie¬ 
ben, wo eines von ihnen, eine Gesell¬ 
schaft von kartenspielenden Bauern von 
Teniers, 1857 auf einer Versteigerung 
noch einmal auftaucht u ) 

In einigen wenigen Fällen läßt sich 
wahrscheinlich machen, daß Robert in 
diese Rubrik auch Gemälde aufgemom- 
men hat die bereits früher, sei es durch 
Lagrange, sei es durch Denon fortge¬ 
kommen waren. Eine „Wassermühle“ 
von Potter nämlich war laut Zeugnis 
von Smith 1815 in Malmaison 
und gelangte von dort, aus durch 
verschiedene Hände in eine englische 
Privatsammlung 19 ); ein Bild von G. 
Schalcken, heute Eigentum der Hambur¬ 
ger Kunsthalle, war nach Angabe H. de 
Groots *°) bis 1814 im Musöe Napolöon. 
In der Liste der von Denon übernom¬ 
menen Gemälde findet es sich jedoch 
nicht, muß demnach auf eine an¬ 
dere Weise, falls obige Angabe richtig 
ist in die große Staatssammlung ge¬ 
langt sein. Ein drittes Bild, ein Werk 
Elsheimers, war in neuerer Zeit in eng¬ 
lischem Privatbesitz nachweisbar. 21 ) 

In die Rubrik dieser Verluste müssen 
auch diejenigen Gemälde eingerechnet 
werden, die Jöröme nach Frankreich mit- 
gehen ließ, als er im Oktober 1813 sein 
Königreich räumte. „Nicht allein Privat¬ 
eigentum und solche Gegenstände, die 
während der Dauer des Königreichs auf 
Staatskosten angeschafft waren, packte 
man ein, sondern man raffte auch vom 
ehemaligen Besitze des hessischen Für¬ 
stenhauses so viel zusammen, als in der 
Eile gehen wollte. Jacob Grimm...Bi- 


18) Blanc, Tresor des arts U. S. 554. 

19) Catalogue raisonn£ V, SL 123. Nr. 7. 

20) Beschreibendes Verzeichnis V. S. 363 
Nr. 14Ö 

21) Bode, Studien z. Gesch. <L boBind. 
Malerei. 1883. S. 294. 


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1081 Q. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1082 


bliothekar der König!. Kabinettsbiblio¬ 
thek in Napoleonshöhe, wie das Lust¬ 
schloß Wilhelmshöhe während der Herr¬ 
schaft J6römes genannt wurde, mußte 
es widerwillig geschehen lassen, daß die 
kostbarsten Werke und Kupferstiche der 
ihm anvertrauten Sammlung eingepackt 
wurden. Aus dem Schloß zu Cassel nahm 
man mit, was noch an wertvollen Gemäl¬ 
den seit 1807 zurückgeblieben und seit¬ 
dem aus den Braunschweiger Sammlun¬ 
gen hinzugekommen war.“ 2S ) 

Unter den Akten der Galerie befindet 
sich eine recht summarische Auf¬ 
stellung der Kisten, die in verschiedenen 
Etappen im April und September/Okto¬ 
ber 1813 durch den Garde-Meuble Hof¬ 
tapezier Wenderoth verpackt wurden 
und durch den Spediteur Broeckelmann 
und Sohn zur Absendung gelangten. Es 
handelt sich dabei überwiegend um Ein¬ 
richtungsgegenstände aus dem persön¬ 
lichem Gebrauch des Königspaares; drei 
Kisten enthielten 105, drei weitere 60 Bil¬ 
der, doch fehlt leider eine genauere An¬ 
gabe des Inhalts. Andere Kisten, bei de¬ 
nen eine solche vorliegt, enthielten die 
Familienbildnisse z. T. von der Hand G6- 
rards, Davids und des von Jöröme viel¬ 
beschäftigten Flamen Kinson. Daß unter 
den in Eile zusammengeraff(ten Gemäl¬ 
den aus den Schlössern sich noch ein¬ 
zelne Stücke allerersten Ranges befan¬ 
den, sieht man aus den Verzeichnissen 
von Roberts Hand: bereits unter den er¬ 
sten zehn Nummern sind die lebensgro¬ 
ßen Porträts von Rubens, Rembrandt 
und zwei van Dycks, sowie der „Rabbi¬ 
ner“ von Rembrandt. Auch hier, sozusa¬ 
gen in letzter Stunde, ergaben sich neue 
Verluste für die Casseler Sammlung, 
denn so sehr sich Robert 1814 darum 
bemühte, In Paris die Herausgabe aller 
dieser mitgenommenen Stücke zu errei- 


22) Duncker a. a. O. S. 232. 

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dien, wurden ihm zunächst doch nur 89 
übergeben; ein Teil der Sendung war 
angeblich „nicht über den Rhein gekom¬ 
men und sequestriert“ worden. Tatsäch¬ 
lich fanden sich Ende 1814 in Frankfurt 
einige Kisten mit Bildern vor, die durch 
Robert als teilweis kurfürstliches Eigen¬ 
tum erkannt wurden. Jedoch war nur 
ein einziges Werk besserer Qualität, ein 
Blumenstück von der Rachel Ruysch, da¬ 
bei. Wieviel im ganzen und was im ein¬ 
zelnen auf diese Weise dem kur¬ 
fürstlichen Besitz entwendet worden ist, 
enjtzieht sich weiterer Feststellung, da 
Robert alle unter der westfälischen 
Herrschaft entstandenen Verluste in ei¬ 
ner Gesamtrubrik vereinigt und sie, wie 
gesagt, auf 269 Stücke beziffert hat. Dar¬ 
unter wird man gewiß auch alles das 
zu suchen haben, was bei dem Brande, 
der in der Nacht vom 23. zum 24. No¬ 
vember 1811 etwa den dritten Teil des 
landgräflichen Schlosses in Cassel ver¬ 
nichtete, zugrunde gegangen ist: ein. 
Verlust, für den die Schuld auch die 
westfälische Regierung trifft, da die 
leichtfertige Anlage von Heizungsanla- 
gen durch den Hofbaudirektor Grand¬ 
jean de Montigny den verheerenden 
Brand verursacht hat. 13 ) 

Faßt man noch einmal zusammen, 
was in den Jahren der französischen Ok¬ 
kupation Hessens von den Franzosen 
teils auf scheinbar legalem Wege (ob¬ 
wohl ja auch hier jede international¬ 
rechtliche Grundlage fehlte), teils mit of¬ 
fenem Gewaltakt oder durch Veruntreu¬ 
ung fortgenommen und verschleudert 
worden ist, so bedeutet es nicht weni¬ 
ger als die völlige Vernichtung der be¬ 
rühmten Sammlung. An Stelle der Ga¬ 
lerie seiner Ahnen, die sich eines ver¬ 
dienten Weltrufes erfreute, fand' Kur- 


23) Brunner, Geschichte der Residenz¬ 
stadt Cassel, 1913, S. 3420. 

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1083 G. Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz.Okkupation 1084 


fQrst Wilhelm I. bei seiner Rückkehr in 
die Heimat Ende November 1813 nur 
traurige Reste vor: die geringe Zahl von 
Bildern, die Robert vor dem Verkauf be¬ 
wahrt hatte, und was etwa in den 
Schlossern als der Mitnahme nicht wür¬ 
dig befunden worden war. 

Der Sieg der verbündeten Armeen 
über die französischen Heere regte wie 
anderwärts, so in Hessen, die Hoffnung 
an, daß der Moment gekommen sei, das 
Verlorene wiederzuerlangen. Am 14. 
April 1814 Unterzeichnete der Kurfürst 
die Instruktion für den Oberhofrat und 
ersten Bibliothekar Voelckel und den 
Bildergalerieinspektor Robert, die 
nach einem einleitenden Hinweis auf die 
Verluste die beiden Beamten anwies, 
sich „unverzüglich nach Paris zu bege¬ 
ben,* 4 ), daselbst die genauesten Nach¬ 
forschungen nach jenen Gegenständen 
anzustellen, und falls sie dieselben auf¬ 
gefunden und sich von der Identität 
überzeugt haben, an die Behörden sich 
zu wenden, durch deren Autorität am 
schnellsten und sichersten die Abliefe¬ 
rung bewerkstelligt werden kann“. 
„Zum Beweis des Eigentumes, heißt es 
in §2, haben dieselben sich nicht nur auf 
die aufgenommenen glaubhaften Inven- 
tarien, sondern auch, falls es nötig sein 
sollte, auf diejenigen Personen zu beru¬ 
fen, welche bei der Ab- und Zulieferung 
dieser Gegenstände gegenwärtig gewe¬ 
sen sind, so wie denn dieser Beweis 
auch durch eine Vergleichung der er¬ 
wähnten Inventarien mit denen zu Paris 
befindlichen Verzeichnissen wird ge¬ 
führt werden können.“ §3 lautet: „Über¬ 
haupt und besonders in den Fällen, wo 
ihnen hinsichtlich des Beweises des Ei¬ 
gentums und der Ablieferung dieser 

24) Bereits am 25. April stellte Dcnon für 
Voelckel einen Erlaubnisschein zum freien 
Eintritt in das Museum aus. Zeitschr. f. hess. 
Gesch. a. a. O. S. 320. 

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Gegenstände Schwierigkeiten in den 
Weg gelegt werden sollten, haben die¬ 
selben sich an Unsern Geheimen Staats¬ 
minister Grafen von Keller zu wenden.“ 
Der Schluß der Instruktion empfahl Sorg¬ 
falt bei der Verpackung der Kunstsa¬ 
chen und möglichste Beschleunigung bei 
der Erfüllung des Auftrags. 

Bereits hier tritt ein für die deutscher¬ 
seits bewiesene Gesinnung charakteristi¬ 
sches Moment hervor — das Rechtsge¬ 
fühl. Für alles, was man zurückfordert, 
will man die Beweise der Zugehörigkeit 
erbringen. Und dies gegenüber den Vor¬ 
gängen, wie sie sich 1806, 1807 und 1813 
abgespielt hatten! Nur Denon war mit 
kaiserlicher Vollmacht aufgetreten und 
hätte in rechtsverbindlicher Form die 
Kunstsachen übernommen: alles andere 
war ohne jede Quittung geraubt worden. 
Es' ließ sich voraussehen, was für 
Schwierigkeiten von den französischen 
Behörden den Delegierten würden be¬ 
reitet werden. Um so mehr, als seitens 
der Verbündeten offenbar das Bestreben 
bestand, das wiederhergestellte legitime 
französische Königtum in den Augen 
des Volkes nicht dadurch zu schädigen, 
daß man an das geheiligte Musfe Na¬ 
poleon Hand anlegte. Es scheint (ge¬ 
nauere Nachrichten Liegen nicht vor), 
daß man hessischerseits sich ebenso 
nachgiebig zu erweisen gesonnen war 
wie seitens der preußischen Abgeordne¬ 
ten, die sich zu dem Zugeständnis bereit- 
fanden, nur die nicht öffentlich ausge¬ 
stellten Gegenstände sollten zurückgege- 
ben werden. 25 ) Wenigstens ging Robert 
bei der Feststellung der im Museum hän¬ 
genden Bilder mit einer Rücksichtnahme 
vor, die «ns unverständlich Ist. „Vor¬ 
stehende 139 Gemälde, bemerkt er zu 
einer eingesandten Liste, sind nach wie- 

25) Degering, Französischer Kunstraub 
in Deutschland, im Oktoberheft 1916 dieser 
Zeitschrift, S. 31. 


Original frurn 

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1085 G. Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1086 


derholter Prüfung iund Vergleichung 
des Verzeichnisses kurfürstliches Eigen¬ 
thum. Zehn oder elf Stücke, welche 
hier nicht verzeichnet, gehören hier auch 
noch dazu; diese konnte ich aber, weil 
sie einestheils zu hoch hingen , zum 
andern aus Klugheitsmassregel, die Ab¬ 
sicht der Anschauung nicht zu verrathen, 
nicht so genau prüfen , weswegen ich 
diese vor der Hand aufzuführen unter¬ 
lasse. Einige Gemälde, welche in dem 
Kataloge des Pariser Museums aufge- 
führt, habe nicht vorgefunden, z. B. 
den Tod des Germanikus von G. Lai¬ 
resse, das Bohnen- oder Königsfest von 
Jan Steen eto.. . „Den Zutritt in die 
Gemälde Restaurationen und in die Ma¬ 
gazine zu erhalten, ist mir nicht ge¬ 
lungen, und alle angewandte Mühe ver¬ 
geblich gewesen mir ein Canal hier zu 
eröffnen. Man versicherte mich, daß seit 
der Einnahme von Paris alle diese Orte 
für jedermann verschlossen wären.“ 
Nicht besser erging es mit der Fest¬ 
stellung der in Malmaison aufbewahr¬ 
ten Bilder. „Die Haupt Bilder, z. B. die 
Claude le Lorrain, Paul Potters, D. Te- 
niers’ Auszug der Schützen usw. habe in 
der Galerie dieser letzteren Schlösser 
nicht ansichtig werden können, obgleich 
Se. Excel lenz (der Herr Staats Minister 
Graf von Keller den Herrn Geheimen 
Regierungs Rath und Cammer Herrn 
von Lepel tages darauf als wir diese 
Gallerie gesehen, versichert, daß er diese 
Gemälde daselbst gesehen hätte. Nach 
nachheriger eingezogener Nachricht er¬ 
fuhr ich, daß man diese Gemälde weg- 
gestellt oder anders wohin aufgehangen 
häjtte, wozu aber der Zutritt versagt 
wäre. Die drey daselbst gesehenen und 
in dem Verzeichniss aufgeführten, habe 
nur in einem Bück und in der Eile über¬ 
sehen können, indem man uns durch ein an 
die Gallerie stossendes Kabinet der ehema¬ 
ligen Kayserin Josephine gleichsam trieb.“ 


Unter diesen Umständen darf man 
sich nicht wundem, wenn das Ergebnis 
dieser Mission kaum den bescheidensten 
Ansprüchen entsprach. Denn da der 
Pariser Friede vom 30. Mai die uner¬ 
hörte Bestimmung enthielt, daß das 
Pariser Museum im Besitz aller Kunst- 
schätze bleiben sollte, die vor Beginn 
des Krieges sein Eigentum gewesen 
waren, konnten die hessischen Bevoll¬ 
mächtigten froh sein, daß sie nicht 
mit völlig leeren Händen nach Cassel 
zurückkehrten. Wenigstens gelang es 
ihnen, „vom Gefolge des Exkönigs von 
Westphalen die aus den Schlössern und 
dem Überreste der Galerie geraubten 
Stücke, die «aus der Wilhelmshöher 
Bibliothek mitgenommenen Bücher, und 
die Kunstgegenstände des Museums, 
welche Jöröme bei seiner Flucht im Oc- 
tober 1813 mitgeschleppt hatte, zum 
großen Theile wieder zu erlangen“. 
So trafen am 21. Juli 16 große Kisten 
mit Büchern und Kupferstichwerken in 
Cassel ein. 86 ) Die Anzahl von Bildern 
die man. sich in Paris entschlossen hatte, 
zurückzugeben — immer handelt es sich 
nur um die zu guter Letzt von Jöröme 
geraubten — betrug nach Roberts vor¬ 
läufiger Aufstellung 69 von 369, die 
sein Verzeichnis als „während der Wfest- 
p hä löschen Regierung weggebracht“ auf¬ 
führt. Im ganzen sind aber tatsächlich 
davon 126 zurückgelangt, 243 verloren 
gegangen. 

Bei diesem gänzlich ungenügenden 
Ergebnis darf man es als glücklichen 
Umstand preisen, daß durch Napoleons 
Rückkehr von Elba und die Herrschaft 
der hundert Tage eine völlig neue Sach¬ 
lage geschaffen wurde. Dieses Mal 
wurde der Weg betreten, der gegenüber 

26) Zeitschr. d. Gesch. des hess. Vereins 
a. a. O. S. 322/3. Verloren ging bei dieser 
Gelegenheit der Band, der Rembrandts Ra¬ 
dierungen enthielt. 


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1087 O. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1088 


so gewandten Diplomaten allein zum 
Ziel führen konnte, nämlich der Weg 
der Gewalt. Bereits am Tage des Ein¬ 
zugs der preußischen Truppen zu Paris, 
am 7. Juli 1815, fand sich General von 
Ribbentrop bei Denon ein, um die Her¬ 
ausgabe des noch vorenthaltenen fran¬ 
zösischen Eigentums zu verlangen 2T ); 
wenige Wochen später, noch vor Ab¬ 
lauf des Mona,ts, war so gut wie alles 
bereits verpackt. Hinter den Worten 
und Briefen stand dieses Mal das preu¬ 
ßische Heer, und besser als die form¬ 
gewandten Billetts der Diplomaten 
wirkte der kernige Stil Feldmarschall 
Blüchers. 

Der rasche Erfolg preußischer Tat¬ 
kraft machte allen anderen, die an den 
französischen Staat Forderungen zu 
stellen hatten, Mut; einer nach dem an¬ 
dern stellten sie sich ein, allen verhalf 
die Energie des Generals von Müffling, 
Gouverneurs von Paris, zu ihrem Recht. 
Unter ihnen auch die hessischen Bevoll¬ 
mächtigten, an deren Spitze dieses Mal 
der Geh. Rat und Kammerpräsident von 
Carlshausen stand. Ihn begleiteten Ro¬ 
bert und der Museumsinspektor Dö¬ 
ring (anstelle Voelckels); später gesellte 
sich auf einen seitens der preußischen 
Behörden ausgesprochenen Wunsch 
Jacob Grimm zu ihnen. Carlshausen war 
am 4. August in Paris eingetroffen; be¬ 
reits vierzehn Tage später konnte mit 
der Übergabe der durch Denon aus der 
Casseler Galerie ausgewählten Bilder 


27) VgL hier und im folgenden die An¬ 
gaben in dem Buche von Saunier, Les con- 
quötes artistiques etc. S. 101 ff. Es ist für die 
französische Auffassung dieser Dinge be- 
zeichnend, daß dem Verf. für die Recht¬ 
mäßigkeit des Vorgehens der Alliierten jedes 
Verständnis abgeht. Er stellt sich nach fast 
neunzig Jahren noch völlig auf den Stand¬ 
punkt Denons, dessen Schmerz über die 
Verniditung seines Lebenswerks man we¬ 
nigstens verstehen kann. 


begonnen werden. Sehr wertvolle 
Dienste bei deren Nach Weisung leistete 
den hessischen Kommissaren der Maler 
Wilhelm Unger, der als Neffe des ver¬ 
storbenen Galerieinspektors Tischbein 
mit den ehemals in Cassel vorhandenen 
Bildern genau vertraut, infolge eines 
sechsjährigen Aufenthaltes in Paris auch 
über deren Aufbewahrungsorte gut un¬ 
terrichtet war. Er hatte bereits Ende Juli 
durch Vermittlung des Majors und Ad¬ 
jutanten des Kurfürsten, Freiherm von 
Dalwigk, Zutritt zu den Pariser Samm¬ 
lungen erhalten können und hatte daher 
der amtlichen Mission durch eigne 
Nachforschungen vorgearbeitet. 

Aber die hessischen Bevollmächtigten 
kamen nicht eher zum Ziele, als bis auch 
sie Gewalt brauchten. Denon, so be¬ 
richtet Grimm, betrug sich bei der Rück¬ 
gabeforderung wie ein Wahnsinniger 
und rief aus: „Ce sont les bijoux du rau¬ 
ste, on ne doit pas les rendrel“ 88 ) Erst 
ein ausdrücklicher Befehl des General¬ 
direktors im Königlichen Hausministeri- 
um, Comte de Pradel, vom 16. August 
machte ihnen die Bahn frei. Am 18. Au¬ 
gust wurde mit der Übergabe der Bil¬ 
der begonnen und diese Arbeit mit kur¬ 
zer Unterbrechung bis zum 9. September 
fortgesetzt. Das an letztgenanntem Tage 
übergebene Protokoll trägt die Unter¬ 
schrift des Generalsekretärs des Muse¬ 
ums Lavallte .Von den 299 durch Denon 
aus Cassel entführten Bildern wurden 
die 270 im Muste Napoleon bewahrten 
zurückgegeben, ferner zwei im Proto- 

28) Stengel, Private und amtliche Be¬ 
ziehungen der Brüder Grimm II, S. 399,4 
Ein andrer, zuerst im Rheinischen Merkur 
enthaltener Bericht eines Augenzeugen 
schildert Denons Stimmung nicht minder 
charakteristisch: „Als die Hessen ihre Ge¬ 
mälde nun wieder holten, so schloß er das 
Museum und sagt: Claudite nunc pueri 
rivos, sat prata biberunt* (Zeitschr. f. hess. 
Gesch. a. a. O. S. 325/6). 


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1089 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1090 


köll der Übernahme 1807 nicht aufge¬ 
führte Bilder von Steenwyck, deren Be¬ 
sitzrecht durch den gedruckten Casseler 
Katalog nachgewiesen . werden konnte. 
Es fehlten demnach zunächst an der 
rechtmäßigen Ziffer noch 28 Bilder, von 
denen eins bereits in Cassel gestohlen, 
ein anderes angeblich nie nach Paris ge¬ 
kommen und ein drittes irrtümlich ei¬ 
nem andern Hof übergeben war, vier 
während der Okkupation von St. Cloud 
undCompiigne verschwunden sein soll- 
ten; die übrigen 21 aber waren in öffentli¬ 
chen Gebäuden und Provinzialmuseen 
verstreut: neun davon in Straß bürg, vier 
in Lyon; andere hatte man nach Caen, 
Brüssel und Toulouse gesandt, wieder 
andere an die Schlösser von Ram¬ 
bouillet und Fontainebleau und an an¬ 
dere Stellen überlassen. Da sich die 
Angelegenheit der Übernahme dieser 
weit versprengten Bilder in die Länge 
zog, bevollmächtigte Baron von Carls- 
hausen vor seiner Abreise von Paris am 
23. September den Maler Unger, in 
seinem Namen die noch fehlenden 
Stücke abzunehmen und darüber zu 
quittieren. Ungers und Jacob Grimms 
unermüdlichem Wirken ist es zu dan¬ 
ken, wenn der passive Widerstand 
der verschiedenen französischen Behör¬ 
den schrittweise überwunden werden 
konnte. „Die mannigfaltigen Schliche 
und Umstände der Franzosen auf die 
auszuliefemden Departementsgemählde 
können sich Ew. Hochwohlgeboren 
nicht genug vorstellen“, berichtete 
Grimm am 28. Oktober an Carls- 
hausen.» 9 ) Deswegen unterbreitete er 
dem preußischen Minister von Alten- 
stem den Vorschlag, behufs Sicherstel¬ 
lung der Forderungen möchte man der 
Museumsdirektion oder der sie be¬ 
fehligenden Oberbehörde erklären, „man 


29) Stengel a. a. O. S. 68. 
Internationale Monatsschrift 

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werde statt der seit länger als Monats* 
frist gar nicht hergeschafften Bilder, 
wenn und insofern sie nicht vor dem 
Ausmarsch der preußischen Macht aus 
Paris hier einträfen, eine verhältnis- 
mäszige Zahl französischer Bilder mit¬ 
nehmen und diese so lange in einer 
deutschen Stadt (etwa Frankfurt) hin¬ 
terlegen lassen, bis Frankreich seine 
Verbindlichkeit gelöst habe“. 80 ) 

Am schnellsten erledigte sich die An¬ 
gelegenheit von drei Bildern, die in 
den Schlössern von Fontainebleau — 
Rubens, Triumph des Siegers — und 
Rambouillet — zwei Stilleben von Mi¬ 
gnon — hingen. Zwar verweigerten De- 
non und LavaII6e ihre Mithilfe, „weil 
man sich über königliche Schlösser 
keinen Befehl anmaßen dürfte“, doch 
gab hier eine entsprechende Weisung 
des Comte de Pradel an die Gouver¬ 
neure der genannten Schlösser dem 
Maler Unger Gelegenheit, Mitte Oktober 
die drei Bilder abnehmen und verpacken 
zu lassen. 81 ) Schwierigkeiten dagegen 
machte man wegen eines Rembrandt- 
schen Bildes (des .Architekten“). Die¬ 
ses war zum Schmuck in das Hotel de 
1’Empire gekommen — „oder wie es 
jetzt heißt, Hotel Thölusson“ —, welches 
dem Ministerium der Auswärtigen An¬ 
gelegenheiten unterstand; das machte 
wieder besondere Schritte bei dem Mi¬ 
nister Herzog von Richelieu notwendig. 
Endlich traf nach Wochen von diesem 
die Antwort ein, „der König Ludwig habe 
das Hotel nebst Ameublement der rus¬ 
sischen Ambassade zur Disposition ge¬ 
stellt, daher könne er das befragte Ge¬ 
mälde nicht abnehmen laßen; vielmehr 
sei die Sache bei dem russischen Ge¬ 
sandten zu betreiben.“ So mußte sich 
denn Grimm an diesen wenden, und da 
er keine Antwort erhielt, abermals wie- 

30) Stengel S. 78. 

31) Stengel S. 37 u. 48/9. 

35 

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1091 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1092 


der preußische Vermittlung an rufen. 
Anfangs Dezember endlich wurde die 
Obeigabe des Bildes möglich. 82 ) 

Noch schwieriger lag der Fall der 
zwei an das Museum in Brüssel abge¬ 
gebenen Gemälde, des lebensgroßen 
Porträts von Tizian und eines männ¬ 
lichen Bildnisses von Tintoretto. Dieses- 
mal lehnten die französischen Behörden 
ihre Mitwirkung ab, weil Brüssel nicht 
mehr zu Frankreich gehöre. Gramm war 
deshalb genötigt, sich an den niederlän¬ 
dischen Minister Freiherm von Gagem 
zu wenden, der sich aufs dringendste 
im Haag dafür zu verwenden versprach. 
Der niederländische Gesandte in Paris, 
Freiherr von Fagel, bewies sich gleich¬ 
falls entgegenkommend. 8S ) Trotzdem 
zog sich die Angelegenheit bis in den 
Sommer 1817 hin; erst dann trafen die 
beiden Bilder wieder in Cassel ein. Zwar 
behauptete Robert, daß das zurückge¬ 
gebene Porträt von Tintoretto nicht das 
ehemalig in Cassel befindliche Bild sei, 
Jedoch wurde auf Befehl des Kurfürsten 
von weiteren Reklamationen Abstand 
genommen. 84 ) 

Die Rückgabe der an Straßburg, Lyon 
und andere Provinzmuseen abgegebe¬ 
nen Bilder zog sich gleichfalls in die 
Länge. Schon war die Absendung eines 
preußischen Kommissars nach Stra߬ 
burg beabsichtigt; auf Lavaltees Ver¬ 
sprechungen hin nahm man davon Ab¬ 
stand. „Wirklich sind gestern, meldet 
Grimm am 28. Oktober, andere aus 
Grenoble (für Preußen) und Toulouse 
(für uns) angelangt, aber noch nichts 
aus Lion.“ 85 ) Und am 7. November: 
„Mit den Gemählden geht es höchst 

32) Stengel S. 37, 55, 82, 88 u. 96. 

33) Stengel S. 96, 97 u. 407. 

34) Stengel S. 407 und Brief Roberts vom 
19. (August) 1817 bei den Galerieakten. Das 
Bild, ein Werk des Jacopo Bassano, trägt 
letzt die Nr. 498. 

35) Stengel S. 69. 


langsam; vorige Woche sind endlich 
drei aus Lion für uns eingetroffen ; ein 
viertes eben daher soll noch nachkoftn- 
men; wegen der Straßburger werden 
wir, die Preuszen, Braunschweiger etc. 
von einem ziu dem andern Tage ver¬ 
tröstet“ 86 ) In letzter Stunde trafen Amu 
noch acht (statt neun) Bilder aus Stra߬ 
burg und das noch fehlende vierte aus 
Lyon ein, dagegen nicht das Bild aus 
Toulouse, das Grimm am 6. Dezember 
erwartete. 87 ) Und ebenso wurden die Er¬ 
wartungen hinsichtlich des bedeuten¬ 
den, großen Gemäldes von Rubens — 
Abraham und Melchisedek — getäuscht 
Man hatte geglaubt daß das preußische 
Militär, das sich der dortigen Braun- 
Schweiger Bilder bemächtigen sollte, 
auch das Rubenssche Bild mit fortschaf¬ 
fen würde, doch war dies aus unbekann¬ 
ten Gründen unterblieben: „Ich wünschte 
freilich nichts mehr (so Grimm am 28. 
Oktober), als daß auch unser Rubens 
möchte darunter gewesen sein; habe 
aber, daes nun zu spät ist, heute morgen 
an Lavalfee seinetwegen ziemlich nach¬ 
drücklich geschrieben, weil er sich ge¬ 
stern gegen Unger sonderbar darüber 
ausgelassen, z.B. sehr albern gefordert 
hatte, wir sollten ihm erst beweisen, daß 
die Preußen das Bild zu Caen gelassen 
hätten, da ihm im Gegenteil der Beweis 
aufliegen würde, daß sie es mitgenom¬ 
men. Durch alle solche einfältige Ein¬ 
wendungen und Schwierigkeiten suchen 
die Franzosen nichts wie Zeit zu gewin¬ 
nen.“ 88 ) 

In diesem Falle glückte den franzö¬ 
sischen Behörden ihre Zauderpolitik in 
vollstem Maße. Trotz aller Erinnerungen 
Grimms und Roberts geschah seitens 
der hessischen Regierung nichts weiter; 
erst 1826 erinnerte sie sich des verlore¬ 
nen Bildes und begann neue Unter hand- 

36) Stengel S. 68. 37) Stengel S. 96. 

38) Stengel S. 69; vgl. S. 50, 


Original frurn 

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1093 O. Gronau, DieVeriuste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1094 


lungen; wie es kam, daß diese zu keinem 
Resultat führten, ist ein überaus lehr* 
reiches Kapitel für sich. 

Heute weiß man durch eine auf amt' 
hohes Material gestützte französische 
Darstellung, auf welche Weise das Bild 
von Rubens im August 1815 den mit der 
Fortnahme der Bilder in Caen beauf¬ 
tragten preußischen Offizieren Unterzo¬ 
gen wurde. Der Gewalt trat die List ge¬ 
genüber: der Konservator des Museums, 
Elouis, ließ die mächtige Holztafel mit 
Papier überkleben, und in dieser Ver¬ 
hüllung diente der Rubens den im Erd¬ 
geschoß des Museums selbst einquar¬ 
tierten Offizieren als — Eßtisch! Die 
Wahrheit dieser Nachricht ist um so we¬ 
niger zu bezweifeln, als sie auf den Sohn 
des Konservators selbst zurückgeht, 
dem sein Vater die Geschichte oft er¬ 
zählt hat. 89 ) Den sehr lebhaften Rekla¬ 
mationen, an denen es Grimm nicht feh¬ 
len ließ, gegenüber bewiesen die Auto¬ 
ritäten in Paris ihren guten Willen; sie 
sandten .wiederholt neue Anweisungen 
zur Herausgabe des Bildes nach Caen. 
Hier arbeiteten aber alle Instanzen in 
Eintracht zusammen, die Absichten der 
französischen Regierung zu durchkreu¬ 
zen: der Bürgermeister der Stadt hatte 
die, sagen wir, Unverfrorenheit, auf ein 


39) F. Engerand, Histoire du mus6e de 
Caen, 1898, S. 25. Ein Teil der Dokumente 
über das Rubenssche Bild ist in einem be¬ 
sonderen Kapitel III bU abgedruckt: „L’al- 
laire du ,Melchis6dech‘ par Rubens“, das 
der Verl, in letzter Stunde, wohl weil ihm 
seine eigene Wahrhaftigkeit Angst machte, 
unterdrückt hat: „ce chapitre a 6t6 volon- 
tairement distrait de THistoire du mus6e 
de Caen* et tirö sur 6preuves ä 25 exem- 
plaires“ besagt das Autogramm des Verf. 
auf dem für Eugöne Müntz bestimmten 
Exemplar. Eine feine Ironie des Zufalls hat 
es gefügt, daß ebendieses Exemplar an die 
Stelle gelangt ist, für die es am wenigsten 
bestimmt war: an die Bibliothek der Casse¬ 
ler Galerie. 

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Schreiben Lavall6es vom 28. November, 
worin dieser die seitens der Höfe von 
Cassel und Schwerin beanspruchten Bil¬ 
der einforderte, zu erwidern, der Kata¬ 
log der Zuweisungen des Staates ent¬ 
hielte keine Bilder aus Cassel oder Hes¬ 
sen (sic!); „dies ist richtig, setzt Verf. 
hinzu, denn bei den Zuweisungen des 
Jahres 1811 fehlten die Provenienzan¬ 
gaben.“ „Dank dieser Verzögerungen 
kam 1 der 6. März 1816 heran: an diesem 
Tage ordnete die Regierung an, jede 
Rückgabe der eingeforderten Bilder zu 
suspendieren, und der Melchisedek ver¬ 
blieb dem Museum in Caen.“ 

Noch einmal, dreizehn Jahre später, 
erinnerte man sich in Hessen des nicht 
zurückgegebenen Bildes. Der Kurfürst 
wandte sich durch seinen Gesandten an 
den französischen König, der bereit war, 
durch Tausch die Stadt Caen schadlos 
zu halten. Wieder arbeiteten die Be¬ 
hörden der normannischen Stadt in be¬ 
merkenswerter Weise miteinander; man 
wies daraufhin, daß das Gemälde der 
„schönste Schmuck“ des Museums sei, 
und forderte dementsprechenden Ersatz. 
Mit vielem Hin- und Herschreiben ver¬ 
ging die Zeit; es kam die Revolution 
von 1830, die eine Regierung auf den 
Thron brachte, die „keineswegs die glei¬ 
chen Gründe, wie die vorhergehende 
hatte, sich den Alliierten angenehm zu 
machen: die Angelegenheit hatte keine 
Folge weiter, der ,Mechisedek‘ ver¬ 
blieb dem Museum in Caen und Frank¬ 
reich, dessen legitimes Eigentum er 
war“ (dont il 6tait Ja propri6t6 legitime). 
So war es denn den Bemühungen von 
Grimm und Unger doch endlich ge¬ 
glückt, von den an die Provinz abgege¬ 
benen 21 Gemälden 16 wiederzuerlan¬ 
gen, zu denen später, wie bereits aus- 
geführt, die beiden Bilder aus Brüssel 
kamen; nur drei wurden nicht zurückge¬ 
geben: außer jenem Rubens in Caen das 

35* 

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1095 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1 QQ 6 


angebliche Bildnis des Hugo Grotius 
von Ravesteyn, das in Toulouse, und 
eine Landschaft von Both, die in Stra߬ 
burg verblieb. 40 ) 

Demzufolge war in der Hauptsache 
alles, was einst Denon aus Cassel fort¬ 
geführt hatte, rückerstattet worden: von 
299 Bildern kehrten schließlich nur zehn 
nicht an ihre alte Stelle zurück. Dage¬ 
gen war eine weitere Reklamation« mit 
der Grimm, während er in Paris weilte, 
beauftragt wurde, um so ergebnisloser. 
Mit einem Male wünschte man nämlich 
von Cassel aus die Rückgabe von 
weiteren 18 Bildern, die aus dem 
Schloß geraubt sein sollten, be¬ 
trieben zu sehen. Grimm war über 
diesen neuen Auftrag begreiflicher¬ 
weise wenig entzückt: „Höchst unan¬ 
genehm ist es, daß die im Casseler 
Schloß geraubten, jetzt erst nacbgefor- 
derten Gemälde weder voriges Jahr, 
noch diesmal früher zur Sprache gekom¬ 
men sind, ja daß man weder Quittung, 
noch Angabe der wegnehmenden Auto¬ 
rität zu erbringen vermag.“ 41 ) Jedoch 
gab er die Forderung am 26. Oktober an 
Quatrem&re de Quincy, der nach dem 
Rücktritt Denons von seinem Posten als 
Generaldirektor des Louvre interimi¬ 
stisch dessen Funktionen übernommen 
hatte, weiter: „Je viens de recevoir les 

40) Sie ist wahrscheinlich bei dem Brand 
der Straßburger Galerie 1870 mit unterge- 
gangen. 41) Stengel S. 83. 


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ordres les plus prgcis de ma cour, de 
poursuivre la recherche de ces tableaux 
ä reclamer, avec tous les moyens, qui 
sont en mon pouvojr.“ **) Wiederum die 
gewohnten Ausflüchte, die dieses Mal, 
wo die hessischen Kommissare nicht 
das offizielle Protokoll der Übernahme 
vorlegen konnten, schwerer zu widerle¬ 
gen waren. Lavallöe behauptete, keines 
der Bilder je gesehen zu haben. In dem¬ 
selben Sinn wie LavallGe äußerte sich 
Denon. Demgegenüber konnte sich 
Grimm auf die Angabe Ungers stützen, 
daß er drei in der Liste ein begriffene 
Werke von Ostade, sorgfältig durchge- 
geführte Kompositionen in Gouache, vor 
ein paar Jahren im Louvre öffentlich 
ausgestellt gesehen nabe. 43 ) In einem 
Entwurf, der sich offenbar auf diese An¬ 
gelegenheit bezieht, hat Robert ein paar 
weitere Bilder zusammengestellt, Werke 
von Wouwermann, Poelenburgh, von 
Rubens und Breughel u.a., die nach dem 
Katalog des Mus6e royal sich tatsäch¬ 
lich in Paris befänden. Leider ist die 
Liste jener 18 Bilder im ganzen nicht 
vorhanden; wahrscheinlich sind sie un¬ 
ter denjenigen 48 Bildern zu suchen, die 
Robert als „unter dem Gouvernement 
des General Lagrange fortgekommen“ 
bezeichnet. Zurückerhalten hat die Cas¬ 
seler Sammlung von diesen offenbar 
nicht ein Stück. (Schluß folgt) 

42) Stengel S. 79. 43) Stengel S. 80. 


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1097 


Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


1098 


Reich und Nation seit 1871. 

Von Friedrich Meinecke. 1 ) 


So war unser Geschlecht dazu beru¬ 
fen, einen der größten Tage unserer Ge¬ 
schichte zu erleben, eine der größten Lei¬ 
stungen, die von unserem Volke gefor¬ 
dert wurden, auf sich zu nehmen. Es hat 
das gehalten, was es am 4. August ver¬ 
sprochen hat. Was es extensiv nun lei¬ 
stete an Aufgebot von Streitern und Mit¬ 
teln, an persönlicher Kraft und an 
Opfern jeder Art, gehört zu dem Äußer¬ 
sten, was je in der Weltgeschichte von 
einem Volke geleistet worden ist. Auch 
1813 und 1870 treten davor zurück. Ein 
anderes ist es, über den inneren Wert, 
die seelische Tiefe, die geschichtliche 
Größe unserer Leistung und über die 
Bedeutung, die sie im Zusammenhänge 
nationaler und universaler Entwicklung 
hat, zu urteilen. Zu diesem Urteile sind 
die heute Lebenden und Mitwirkenden 
noch nicht berufen. Allzunahe liegt die 
Gefahr der Selbstbespiegelung, allzueng 
ist auch der Horizont des Urteilenden, 
da ihm das Morgen und Übermorgen 
und das Kriterium der Endwirkungen 
fehlt Und doch muß der Versuch einer 
vorläufigen Deutung unserer Erlebnisse 
gewagt werden, um uns klar zu werden 
über das, was wir geworden sind und 
werden möchten. Versuchen wir hier, ei¬ 
niges von dem zu fassen, 'was in dem 
Iftiege und vorbereitet durch die Zeiten 
vorher an Neuem und Charakteristi¬ 
schem in Art und Richtung unseres Na¬ 
tionallebens aufgetaucht ist. 

Ein vergleichender Blick auf die Er¬ 
hebungen von 1870 und 1813 kann uns 
den Weg zeigen. Wir fühlen uns in man¬ 
chem zurück hinter unseren Vorfah- 


1) Siehe Heft 8. 


ren, in manchem aber weiter. Was 
1813 geschehen konnte, war frei¬ 
lich so singulär, so sehr an eine be¬ 
stimmte Entwicklungsstufe gebun¬ 
den, daß seine Wiederkehr so wenig 
zu erwarten ist wie die Wiederholung 
einer ersten wundervollen Jugendblüte. 
Zum ersten Male strömten damals Geist 
und Staat großartig zusammen, und der 
Geist kam aus den Quellen, die Goethe 
und Kant und schöpferischer Idealismus 
hießen. Und er konnte sich so, wie es nie 
wieder möglich war, in einzelnen Per¬ 
sönlichkeiten konzentrieren und in die¬ 
sen eine individuelle Höhe erreichen, 
weil alle Lasten und Hemmnisse, die das 
19. Jahrhundert dem freien, in sich selbst 
ruhenden, aus seinen Tiefen schöpfen¬ 
den Individuum bereitet hat, noch fehl¬ 
ten. Dafür aber war der geistige Abstand 
zwischen Führern und Massen noch sehr 
groß. In patriarchalischer Treue folgten 
diese dem Rufe, aber mit ungeklärten 
Gesinnungen, vielfach schwerfällig aus 
kurzsichtiger Philistrositüt sich empor¬ 
ringend — denn in durchweg kleinen 
und engen Verhältnissen lebte das deut¬ 
sche Volk. Der gute Wille des kleinen 
Mannes, alles an alles zu setzen, war da, 
aber erlahmte leicht, weil er noch nicht 
erzogen und .durchgebildet war durch 
ein anspannendes Leben. Die wenigen 
. Großen haben damals die vielen, vielen 
Kleinen mit emporgerissen; ohne sie 
gäbe es keine Reformzeit und kein 1813. 
Auch war die Erhebung, soweit sie die 
eigentlichen Volksmassen mitergriff, in 
der Hauptsache beschränkt auf das ei¬ 
gentliche Preußen, wo staatliche und mi¬ 
litärische Energie durch ein Jahrhundert 
schon vorgearbeitet hatte. 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


1100 


Die Erhebung von 1870 umfaßte dann 
schon das ganze außerösterreichische 
Deutschland und hatte vor der von 1813 
den klaren Anblick eines großen, posi¬ 
tiven Zieles im Kampfe und die einheit¬ 
liche und geniale Hand in der Leitung 
des Kampfes voraus. Alles war länger 
vorbereitet und besser organisiert, al¬ 
les fügte sich leichter ein in die allge¬ 
meine Schlachtlinie. Man pflückte die 
reife Frucht der Nationalbewegung 
zweier Menschenalter und der planmä¬ 
ßigen Politik eines Jahrzehnts. Dafür 
fehlte die Frühlingsstimmung, der jüng¬ 
lingshafte Schmelz, der Reiz des träu¬ 
menden Erwachens, die Schönheit und 
Mannigfaltigkeit der individuellen 
Werte von 1813. Der geistige Reichtum 
von damals hatte sich zur begrenzteren 
geistig-politischen Kraft zusammenge- 
drängt, die wohl wiederum in einigen 
wenigen Persönlichkeiten überwältigend 
gipfelte, aber ,auch in geringeren Dosie¬ 
rungen weit verbreitet war. Denn man 
war vom Träumen des Unerreichbaren 
zum Wollen des Erreichbaren erzogen 
worden. Man hatte das Fliegen etwas 
verlernt, aber das Gehen und Marschie¬ 
ren besser gelernt. 

Noch umfassender, noch massen¬ 
hafter war die Erhebung von 1914. 
Zum ersten Male in unserer Geschichte, 
von dem Anlauf von 1848 abgesehen, 
standen deutsches und österreichisches 
Deutschtum gemeinsam auf. Immer wei¬ 
tere Wellenkreise zog also das nationale 
Bewußtsein in der deutschen Volks- und 
Sprachgemeinschaft. Auch die Reste par- 
tikularistischer Zurückhaltung, die noch 
1870 innerhalb Reichsdeutschlands vor¬ 
handen waren, waren jetzt ganz ver¬ 
schwunden. Der mächtige Strom dieser 
Entwicklung wird, so muß die histori¬ 
sche Erfahrung urteilen, nie wieder zu¬ 
rück zu seinen zersplitterten Anfängen 
gehen; er wird vermutlich noch stärker, 

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noch umfassender werden. Und die enor¬ 
me quantitative Vermehrung des deut¬ 
schen Volkstums seit 1813 und 1870 hat 
auch eine qualitative Bedeutung. Ein 
Meer ist nicht ein vergrößerter Binnen¬ 
see, sondern etwas dem Wesen nach an¬ 
deres und Größeres, denn es gehört zu 
den großen Gliederungen des Erdgan¬ 
zen. Das deutsche Volk ist allein schon 
durch die Fülle seiner Menschen und 
der von ihnen geleisteten Kulturarbeit 
zum Weltvolke geworden, das auf die 
ganze bewohnte Erde ausstrahlt Das 
prügte sich darin aus, daß man den 
Krieg, den es führen mußte, ebensowohl 
den Deutschen Krieg wie den Weltkrieg 
nennen konnte. Allein schon durch die 
Weltgegnerschaft, die ihm aus allen 
Erdteilen entgegentrat wurde es, mochte 
es nun siegen oder geschlagen werden, 
als Weltvolk, als primärer Faktor der 
neuen Universalgeschichte aner kann t. 
Wir empfinden die Aufgabe, uns einzu¬ 
reihen unter die älteren großen Welt¬ 
mächte, schlechthin schon als eine wirt¬ 
schaftliche Notwendigkeit angesichts 
unseres begrenzten Raumes auf dem 
Kontinente, unserer wachsenden und 
überquellenden Bevölkerung, unseres 
elementaren Bedürfnisses, die fehlenden 
Nahrungsmittel und Rohstoffe, die uns 
die übrige Welt liefern muß, aus ganz 
gesicherten Gebieten und auf ganz ge¬ 
sicherten Wegen zu beziehen und eben¬ 
so sichere Wege und Gebiete auch für 
den Absatz unserer Produkte zu gewin¬ 
nen. Wir empfinden sie ebenso dringAd 
als eine politische Notwendigkeit weil 
die alte gepreßte Lage im Herzen des 
Kontinents unter dem Doppeldrucke 
östlicher und westlicher Groß- und 
Weltmächte ihre Gefahren verdoppelt 
hat, seitdem diese benachbarten Welt¬ 
mächte sich vereinigt haben, um unsere 
Entwicklung, die ihre alten Jagdgehege 
in der Welt bedroht, niederzuhalteit 

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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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Und wir empfinden sie schließlich auch 
als eine Notwendigkeit unserer national 
len Kultur, die nur gedeihen kann bei 
wirtschaftlicher und politischer Freiheit 
und Regsamkeit und die den natürlichen 
Ehrgeiz hat, die ihr eigentümlichen, 
Werte auszubreiten in der Welt, führend 
mit einzugreifen in die geistige Gesamt¬ 
entwicklung der Menschheit. Wir leben 
heute, so müssen wir uns sagen, in einer 
weltgeschichtlichen Stunde, die darüber 
entscheiden wird, ob wir zum Aufgange 
oder Niedergange verurteilt sind. 

Auch 1813 und 1870 mußte man die 
Lage so auffassen, und die heutige ist 
der von 1813 vielleicht noch ähnlicher 
wie der von 1870, weil uns ein ganz be¬ 
stimmtes und eindeutiges Ziel fehlt, weil 
wir nur kn allgemeinen wissen, was wir 
wollen. Wenn es gilt, den Vernichtungs- 
plan unserer Feinde zuschanden zu ma¬ 
chen, schließen wir uns wie ein einziger 
mächtiger Stahlblock zusammen. Aber 
sogleich gehen unsere Meinungen und 
Wünsche auseinander, wenn es sich um 
den Siegespreis und um die Mittel 
und Wege handelt, unsere innere und 
äußere Freiheit und Macht nun 
dauernd zu begründen, und es dro¬ 
hen daran die alten Parteigegensätze 
mit neuen Flammen wieder auf- 
zulodem. Der Grand dafür, daß wir 
uns nicht einigen können, liegt nicht al¬ 
lein darin, daß uns ein Bismarck fehlt, 
der mit genialem Führertritt den besten 
und gangbarsten Weg findet. Sondern 
ähnlich wie 1813 lähmt uns ein Schwer¬ 
gewicht komplizierter Machtverhält' 
nisse, die durch die geschichtliche Ent¬ 
wicklung geschaffen worden sind, die 
unser aufstrebender Lebensdrang als 
gegebene Tatsachen vorfindet. Rings¬ 
um sind Riegel vor den Türen, die wir 
durch alle Siege unserer Waffen nicht 
ganz aufstoßen können. Sollen wir un¬ 
sere Weltentwicklung in großen über¬ 


seeischen Kolonialgebieten und wach¬ 
sendem überseeischen Exporte suchen? 
Sogleich gewahren wir die Ungunst un¬ 
serer maritimen Lage und den Riegel der 
englischen Seeherrschaft, und unser 
Stolz empört sich dagegen, von Eng¬ 
lands Gnade abhängig zu bleiben. Sol¬ 
len wir unsere Ausdehnung Und Unseren 
Nahrungsspielraum mehr auf dem Kon¬ 
tinente suchen durch Zurückdrängung 
und Schwächung Rußlands? Sogleich er¬ 
hebt sich da die Aufgabe, das polnische 
Problem zu lösen, eine Quadratur des 
Zirkels. Sollen wir den nahen Orient zu 
unserer Macht- und WirtschaftsspUäre 
ausbauen? Sogleich gewahren wir wie¬ 
der den Riegel der Balkanstaaten, der 
sich davor schieben kann und uns ab¬ 
hängig macht von unberechenbaren po¬ 
litischen Schwankungen. Wir sollen und 
müssen fest mit Österreich-Ungarn Zu¬ 
sammenhalten, um wenigstens eine 
große, geschlossene mitteleuropäische 
Sphäre uns zu sichern. Aber alle Ver¬ 
suche, eine mitteleuropäische Staats¬ 
und Wirtschaftsgemeinschaft ?u schaf¬ 
fen, stoßen auf die Schwierigkeit, daß 
zwei selbständige Staatspersönlichkei¬ 
ten nun einmal ihren eigenen Willen und 
ihre individuellen Bedürfnisse nie ganz 
preisgeben und nie ganz zusammen- 
schmelzen können. 

Alle diese Schwierigkeiten unserer 
Weltentwicklung wurden von uns wohl 
vor dem Kriege schon empfunden, sind 
uns aber erst durch ihn zum vol¬ 
len Bewußtsein gekommen. Wir sind wie 
eine starke Pflanze, die durch ein Ge¬ 
mäuer sich emporarbeiten muß. Das äu¬ 
ßere Schicksal muß ihr Spalten zeigen, 
die sie benutzen kann. In der Haupt¬ 
sache aber muß ihre eigene innere Städte 
den Weg bahnen. Worin besteht sie? 
Inwiefern ist sie gestiegen oder gesun¬ 
ken seit den Erhebungen von 1813 und 
1870? 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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Man muß, um die Frage zu beantwor¬ 
ten, alle ParteiwQnsche, alle konkreten 
politischen Ideale einen Augenblick ganz 
schweigen lassen und das, was im 
Laufe des Jahrhunderts für oder gegen 
sie geschehen ist, lediglich daraufhin 
prüfen, was sie fflr die Entwicklung 
des deutschen Menschen bedeuten. 
Denn die Ausbildung und Steigerung 
des Menschentums in der Nation ist 
der eigentliche Wert, um den es sich 
handelt im Auf und Ab der 
Geschichte, und in ihr liegen die ei¬ 
gentlichen Kraftquellen für die politi¬ 
sche, wirtschaftliche und geistige Ge¬ 
sundheit und Leistungsfähigkeit der Na¬ 
tionen. Es ist durchaus nicht gleichgül¬ 
tig, unter welchen politischen Lebens¬ 
formen sie sich vollzieht, aber die Wir¬ 
kung des Staatslebens auf das Men¬ 
schentum ist viel zu individuell, viel zu 
kompliziert und gebunden an Ort, Zeit 
und Stufe der Entwicklung, als daß eine 
bestimmte einzelne Staats- und Verfas¬ 
sungsform einen absoluten und dauern¬ 
den Wert für die Nation beanspruchen 
dürfte. Monarchische, konservativ-auto¬ 
ritäre, liberale, demokratische Ein¬ 
richtungen sind nichts anderes als ver¬ 
schiedene Waffen, die der Geist der Na¬ 
tion je nach dem Kampfplatze und der 
Fähigkeit der Kämpfenden neben- oder 
nacheinander in die Hand nimmt, und 
bald siegt oder unterliegt er mit der ei¬ 
nen, bald mit der anderen. 

Hart nebeneinander stehen sie im 
deutschen Staatsleben des letzten Jahr¬ 
hunderts, und hart nebeneinander liegen 
auch ihre Wirkungen und parallelen 
Charakterzüge im deutschen Menschen¬ 
tum des letzten Jahrhunderts. Der mon¬ 
archisch-autoritäre Staat hat sich uns 
trotz aller Massenerhebungen gegen ihn 
tief eingeprägt, und gerade diejenige 
Partei, die ihn am lautesten leugnet 
zeigt seines Wesens Spuren in ihrer 


straffen Disziplin und Organisation. Die 
Sozialdemokratie arbeitet mit den Waf¬ 
fen der allgemeinen Wehrpflicht, mit 
ihnen arbeitet aber auch das ganze mo¬ 
derne Deutschland. Auf Organisation 
und Disziplin beruhen in großem Um¬ 
fange die Leistungen unserer Wirt¬ 
schaft, unserer Technik, unseres Bil¬ 
dungswesens, durch die wir zu gefähr¬ 
lichen Nebenbuhlern der älteren Welt- 
und Wirtschaftsmächte wurden. Denn 
wir vermochten dadurch dem Großbe¬ 
triebscharakter des modernen Lebens 
und der Notwendigkeit der Einordnung 
in die großen Verbände besser gerecht 
zu werden wie sie. Innere Anlage und 
äußeres Schicksal haben uns, wie wir 
früher bemerkten, zum Volke der Diszi¬ 
plin und Organisation gemacht. Nur mit 
diesem Panzer vermochten wir, die 
spätgeborenen und jüngsten Anwärter 
auf Weltbedeutung, aus der furchtbaren 
Umpressung durch die Umwelt uns 
emporzuarbeiten. Die eiserne Notwen¬ 
digkeit zwingt uns, ihn in Zukunft eher 
noch zu verstärken. 

Aber die allgemeine Wehrpflicht, die 
wohl die stärkste Wurzel des neu¬ 
deutschen Zucht- und Ordnungsgeistes 
ist, war nicht nur eine autoritäre, son¬ 
dern auch eine demokratische Einrich¬ 
tung, die jedem Bürger, den sie ver¬ 
pflichtete, das stolze Bewußtsein geben 
konnte und sollte, daß er den Staat mit 
trage und erhalte, daß Wohl und Wehe 
des Staates eine Angelegenheit des gan¬ 
zen Volkes sei Und es wuchs nun über¬ 
haupt durch Verbreiterung der Bildung, 
durch die Erfolge der eigenen wirt¬ 
schaftlichen Arbeit und durch die politi¬ 
schen Rechte, die ihm die liberale und 
nationale Bewegung verschaffte, das 
Selbstbewußtsehl des kleinen Mannes in 
Deutschland von Stufe zu Stufe. Er ist 
ein anderer Mensch geworden im Laufe 
des 19. Jahrhunderts. Man denke nur 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


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an die Typen der kleinen Leute, wie sie 
die Zeitromane aus den ersten Jahrzehn¬ 
ten des 19. Jahrhunderts spiegeln. Das 
deutsche Volk gilt nicht mehr, wie Heine 
und Börne noch höhnten, als das Volk, 
das die besten Bedienten hervorbringt 
wohl aber (vielleicht schon als dasjenige, 
das die besten und zuverlässigsten Ar¬ 
beiter, Werkmeister, Eisenbahnschaff¬ 
ner, Handiungsreisenden, Bureau beam¬ 
ten und Unteroffiziere hervorbringt und 
den stärksten Bildungshunger der unte¬ 
ren Schichten aufweist. Auch der deut¬ 
sche Bauer hat sich gewandelt, hat die 
Spuren der einstigen Unfreiheit abge¬ 
streift, den Schlendrian des Herkom¬ 
mens in seinem Betriebe überwunden 
und die modernen Künste rationeller 
Wirtschaft und genossenschaftlicher Or¬ 
ganisation gelernt. So hat sich der Un¬ 
terbau unseres gesellschaftlichen Sy¬ 
stems innerlich erneuert und den Forde¬ 
rungen der vorwärts drängenden Zeit 
angepaßt. Ohne seine Tüchtigkeit hätte 
sich unsere Macht und Wirtschaft nicht 
so gesund und gleichmäßig in dem 
Sturmschritt, den unsere Entwicklung 
zuletzt annahm, entfalten können. Und 
•man müßte das Lied vom braven Mann 
.Tausenden und aber Tausenden unter 
uns singen, wenn man an alle schlichte 
und selbstverständliche Leistung, Auf¬ 
opferung und Tapferkeit im Schützen¬ 
graben und daheim denkt, die die Mas¬ 
sen unseres Volkes diesmal im Kriege 
geleistet haben. Ohne sie hätten wir 
uns nicht siegreich behauptet. Und sie 
wurde mit helleren Augen, gewandterer 
Hand und kräftigerem, bewußterem 
Siirne geleistet als einst von den armen 
Leinewebern, die 1813 die Litewka des 
Landwehrmannes trugen. Der alte Auto¬ 
ritätsstaat hätte diesen Typus nicht mehr 
hervorzubringen vermocht, er beruht auf 
einem ganz eigenartigen, ganz spezi¬ 
fisch deutschen, aber erst im 19. Jahr¬ 


hundert möglich gewordenen Zusam¬ 
menwirken von Autoritäts- und Frei- 
heitsgedanken im staatlichen und sozia¬ 
len Leben. 

Wie nun aber Autorität und Freiheit 
im deutschen Staatsleben wohl in gro¬ 
ßen Momenten, aber nicht im Gleichmaß 
der Tage harmonisch zusammenklingen, 
wie sie sich hier immer wieder stoßen 
und reiben, so ist auch im Typus des 
deutschen Menschen der unteren und 
mittleren Volksschichten eine wehetu¬ 
ende Unausgeglichenheit entstanden, die 
zwar nicht seine Leistung, aber seinen 
eigenen menschlichen Wert beeinträch¬ 
tigt. Er hat für den Glauben der Väter 
eingetauscht einen kräftigen materiellen 
Egoismus, umrahmt von einer unorgani¬ 
schen Weltanschauung, die nur zu oft 
mehr verneint als bejaht. Er hat mit der 
früheren Gebundenheit auch den frühe¬ 
ren festen Lebensstil verloren und ei¬ 
nen neuen dafür noch nicht gewonnen. 
Herausgewachsen aus den alten stabilen, 
zwar dumpfen, aber an natürlicher 
Poesie nicht armen Verhältnissen der 
deutschen Kleinstadt hineingerissen in 
den Wirbel des modernen großstädti¬ 
schen und industriellen Lebens oder in 
die Fremde verschlagen, steht er in den 
neuen Verhältnissen wohl zähe seinen 
Mann, aber verliert nur zu leicht seine 
Haltung, wenn er aus der Arbeitsstätte 
in das Leben tritt. Der Erfolg seiner Ar¬ 
beit und das zufällige Maß der von 
ihm selbst gewonnenen Lebenserfah¬ 
rung steigt ihm zu Kopfe, und der 
laute, überhebliche, die verschlun¬ 
genen Rätsel des Lebens nicht 
ahnende Emporkömmling ist fertig, 
der bald die Heimat, bald die 
Fremde entweder kritiklos überschätzt, 
oder ebenso kritiklos heruntermacht 
Oder er überträgt die Gewohnheiten der 
Disziplin und den Ton der Kaserne auf 
das übrige Leben und weckt unnötige 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


Reizung und Verbitterung. Unser Volks¬ 
leben hat damit eine unholde, ge¬ 
schmacklose Außenseite erhalten, die die 
Meinungen des Auslandes über uns nur 
zu stark bestimmt hat. Der feiner ent¬ 
wickelte Formensinn der älteren west¬ 
europäischen Gesellschaft wurde von 
dem Mißverhältnis zwischen Form und 
Inhalt, das der deutschen Kultur von je¬ 
her zu eigen war, aber nun in ganz neuen 
scharfen Zügen hervortritt, um so emp¬ 
findlicher berührt, je gewaltiger und im¬ 
ponierender die Erfolge der deutschen 
Arbeit wurden. Sie rächte sich damit, sie 
als Sklavenarbeit und das ganze neue 
Deutschland für ein einziges, seelenlo¬ 
ses Arbeitshaus zu erklären. Aber sie ver¬ 
wechselte zum Glück Kem und Schale. 
Die subalternen Züge unseres moder¬ 
nen Volksleben liegen im ganzen doch 
mehr an seiner Außenseite als in seinem 
Kerne. Die Harmonie von Autorität und 
Freiheit ist, so sagten wir, in diesem 
lebendig vorhanden. Das alte deutsche 
Ungeschick hat es in der plötzlichen 
Umgestaltung des äußeren Lebens nur 
eben nicht vermocht, sie auch in die¬ 
sem zum Ausdruck zu bringen. Blöcke 
zu wälzen, fällt ihm leichter, als sie zu 
behauen. 

Auch die Kultur der höheren gesell¬ 
schaftlichen Schichten Deutschlands 
hatte an den Fehlem unserer Tugenden 
zu tragen. Das Ideal der ästhetischen Er¬ 
ziehung, das Schiller ihnen einst aufge- 
Btellt hatte, schon deswegen für 
den Deutschen viel schwerer zu errei¬ 
chen als für den Westeuropäer, weil eres 
ernster, leidenschaftlicher und gründli¬ 
cher mit ihm nimmt, mußte im Laufe 
des 19. Jahrhunderts in den Hintergrund 
treten vor den sich drängenden Aufga¬ 
ben des schaffenden Lebens in Staat und 
Wirtschaft. Aber man darf nun beinahe 
sagen, daß der gebildete Deutsche der 
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in 


1108 


sillen übrigen Dingen besser erzogen 
worden ist als in ästhetischen Dingen. 
Bis in die sechziger Jahre hinein be¬ 
wahrten wir einen, allerdings schon et¬ 
was dünn werdenden Faden guter künst¬ 
lerischer Tradition, die uns mit dem fei¬ 
neren Geschmacke unserer klassischen 
Zeit in Handwerks- und Baukunst und 
in Lebenssitten verknüpfte. Er riß in der 
Überflutung durch die Erzeugnisse der 
Massenindustrie und nicht zum wenig¬ 
sten auch durch das Eindringen neuer, 
traditionsloser Familien in die höheren 
und führenden Schichten der Nation. 
Die praktischen Berufe der Gewerbetrei¬ 
benden, des Kaufmanns, des Technikers 
und Beamten stellten zu ihnen jetzt ei¬ 
nen viel höheren Prozentsatz, und die 
Einheitlichkeit, die ihnen die humanisti¬ 
sche Schulbildung bisher gegeben hatte, 
löste sich, weil die neuen Bemfe zum 
Teil aus realistischer Vorbildung kanwii 
und weil die humanistischen Schulen 
auch selbst nicht mehr vermochten, ihre 
mächtig anwachsenden, von unten her 
nachdrängenden Schülermassen mit den 
alten Traditionen zu durchdringen. In 
dieser neuen, bunter gemischten Gesell¬ 
schaft vergröberten sich die Anschauun¬ 
gen und Interessen. Das fremde und uns 
immer etwas fremdartig bleibende Ele¬ 
ment der Antike war unserer Bildung 
zu einer Zeit tiefer eingeschmolzen wor¬ 
den, wo es uns am wenigsten fremd¬ 
artig war, zurZeit unserer Klassiker. Es 
hätte sich in lebendiger Frische nur er¬ 
halten können, wenn es auch weiter von 
einer kleinen .auserlesenen bürgerlichen 
Schicht getragen worden wäre. Aber die 
soziale und geistige Legierung, in der 
es damals wirkte, veränderte sich ganc 
wesentlich. In der neuen, bunter ge¬ 
mischten Gesellschaft des vergrößerten 
Mittelstandes vergröberten sich die An¬ 
schauungen und Interessen. Die äl¬ 
tere humanistische Methode der Persön- 


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1100 


Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


1110 


lkhkeitsbildung, an der geschichtlichen 
Welt sich emporzu ranken zu eigener gei¬ 
stiger Freiheit, wurde nun angeklagt 
nur ein totes Wissen, nicht das leben¬ 
dige Können, das die moderne Zeit ver¬ 
lange, zu überliefern. Aber man erlebte 
es nun nur zu oft daß die Verächter ge¬ 
schichtlicher Bildung kritiklos wurden, 
von ganz groben Schlagworten und 
ephemeren Zeitbewegungen sich ein fan¬ 
gen ließen und durch lärmende Energie 
ersetzten, was ihnen an innerer Einsicht 
und Bescheidenheit des Urteils fehlte. 
Der Geist des Emporkömmlings drang 
also auch in die gebildeten Stände ein. 
Weil aber das alte Deutschland durch 
seine aristokratischen, bureaukratischen 
und bürgerlich-gelehrten Oberliefe- 
ferungen und Einrichtungen den Empor¬ 
kömmlingen Schranken entgegenstellt 
die in einem geschichtsarmen Lande wie 
Nordamerika ganz fehlen, so war der 
Ehrgeiz der Emporkömmlinge nun viel¬ 
fach gerade darauf gerichtet, so rasch 
wie möglich in die alten regierenden 
Schichten hineinzuwachsen und sich ih¬ 
nen anzuähneln: Der neue bürgerliche 
Rittergutsbesitzer wurde zum strammen 
konservativen Agrarier, die Söhne des 
reich gewordenen Kaufmanns und Fa¬ 
brikbesitzers ließen das Geschäft ihres 
Vaters in eine Aktiengesellschaft ver¬ 
wandeln und zogen die minder lukra¬ 
tive, aber sozial angesehenere Laufbahn 
des höheren Verwaltungsbeamten, Of¬ 
fiziers oder ,akademischen Lehrers vor. 
Es drang dadurch immer wieder 
frisches Blut in den alten Agrar- 
und Beamtenstaat ein. Hierin liegt 
eine der wirksamsten Ursachen da¬ 
für, daß sich die konservativen 
Anschauungen und Wertungen seit 
den achtziger Jahren so stark wie¬ 
der ausbreiten und zum mindesten be¬ 
haupten konnten, trotz der immer wei¬ 
ter schreitenden Industrialisierung des 


Wirtschaftslebens. Es war ein in man¬ 
cher Hinsicht wohltätiger Hemmschuh 
gegen eine allzu rasche Demokratisie¬ 
rung und Nivellierung der deutschen 
Bildung und Gesellschaft. Mußten auch, 
wie wir bemerkten, trotzdem manche 
feineren Traditionen der alten Zeit ver¬ 
dorren, 60 blieb doch der Stamm er¬ 
halten, an dem sie einst gewachsen wa¬ 
ren und von dem sie noch einmal wie¬ 
der Kraft erhalten konnten. Freilich 
auch schlechte Traditionen der alten 
Zeit blieben erhalten und wurden 
noch schlechter durch den Konvertiten¬ 
eifer der Emporkömmlinge. Der alte lei¬ 
dige Kastengeist v und Standeshochmut 
wurde von ihnen oft viel schärfer aus¬ 
geprägt als von den Familien mit alter 
aristokratischer und patrizischer Vergan¬ 
genheit und verschlimmerte die schon 
ohnehin so leidenschaftlichen Gegensätze 
und Kämpfe der sozialen und wirtschaft¬ 
lichen Gruppen. Eine harte und lieblose 
Gesinnung gegen die feindlichen Volks¬ 
genossen trat nicht selten hervor und er¬ 
schwerte die friedliche Verständigung 
der bürgerlichen Gesellschaft mit der 
sozialdemokratischen Arbeiterschaft 
Und innerhalb der bürgerlichen Gesell¬ 
schaft selber wollte nun auch das alte 
lächerliche Erbteil der gedrücktesten 
und schwächlichsten Zeiten unserer Ge¬ 
schichte, die Sucht nach leeren Titeln, 
äußerlichen Abstempelungen und gesell¬ 
schaftlicher* Exklusivität, noch immer 
nicht verschwinden. 

Aber über allen Obergangskrankhei¬ 
ten und vielleicht selbst dauernden Be¬ 
lastungen darf man die große Wirkung 
dieser sozialen Umbildungen nicht ver¬ 
gessen. Die Nation erhielt durch sie eine 
sehr viel zahlreichere, mannigfaltiger 
und moderner zusammengesetzte Füh¬ 
rerschaft, kraftvolle Organe für jeg¬ 
liche Funktion des öffentlichen Lebens, 
energische, durch das Leben geprüfte. 


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1111 


Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


1112 


durch Weltkenntnis geschulte Naturen 
die in jede neue praktische Aufgabe 
leicht hmeinwuchsen. Der große Krieg 
hat sie alle aufgerufen und in den Dienst 
des Vaterlandes gestellt, hat den Gewer¬ 
betreibenden und Beamten Dinge zuge¬ 
mutet, die sie früher nie getrieben hat¬ 
ten, hat dem Heere Massen neuer Re¬ 
serveoffiziere aus allen bürgerlichen Be¬ 
rufen zugeführt, die erst durch den Krieg 
ihre Befähigung erwerben mußten und 
auch erworben haben. Und so hat uns 
denn doch unsere vielgeschmähte mo¬ 
derne Bildung mit allen ihren Mängeln 
und Widersprüchen eine enorme Ein¬ 
schicklichkeit und Anpassungsfähigkeit 
gegeben, eine geistige Elastizität, die uns 
die Hoffnung gibt, daß sie durch stete 
Erprobung, Selbstkritik und Arbeit an 
sich auch einen Teil ihrer Mängel noch 
einmal überwinden wird. 

Das ist der neue Typus des organi¬ 
sierbaren, zu Arbeit und Kampf gleich 
befähigten Menschen, den das feindliche 
Ausland anfangs mit Abneigung und 
Mißtrauen, dann mit Zorn und Haß bei 
uns hat entstehen sehen. Es behauptet, 
daß alle wahre persönliche Freiheit und 
alle wahre Kultur in ihm unterginge. 
Aber das können nur diejenigen behaup¬ 
ten, deren eigener Freiheits- und Kultur¬ 
begriff enger und äußerlicher ist als der 
unsere, die unter Freiheit die Ellbogen¬ 
freiheit des Einzelmenschen und unter 
Kultur die glattpolierte, bequeme Zivili¬ 
sation verstehen. Erinnern wir uns, daß 
unser Freiheits- und Kultuiideal auf das 
Ganze des menschlichen Daseins geht. 
Es sieht allerdings den einzelnen um¬ 
woben und verstrickt in höhere, über¬ 
individuelle Gewalten, in die Lebensge¬ 
meinschaften des Staates und des Volks¬ 
tums, es sieht ihn als Organ und Funk¬ 
tion in ihrem Dienste an, aber es fordert 
seine freie, aus eigener Selbstbestim¬ 
mung quellende Ergebung in ihren 


Dienst. Denn es sieht allenthalben, in 
Staat und Geistesleben, im einzelnen 
wie in den großen Gesamtheiten, die 
Kraft der Individualität wirksam, die 
nach eigener Durchsetzung und Gestal¬ 
tung strebt und sie doch nur finden 
kann in den großen Lebenszusammen¬ 
hängen, wo das Blut des einen in das 
Blut des anderen hinüberfließt und der 
einzelne vom Ganezn , das Ganze von 
den einzelnen getragen wird. Der deut¬ 
sche Geist hat dieses wunderbare Neben¬ 
einander von Abhängigkeit und Freiheit 
diese innige Verflechtung und Durch¬ 
wirkung von Individualität und Gemein¬ 
schaft, wie sie sich schließlich erweitert 
zum großen Bilde des Weltalls, wo die 
Himmelskräfte auf- und niedersteigen, 
vielleicht doch tiefer empfunden und 
erkannt als der kühlere, verstandes¬ 
mäßigere, egoistischere Geist der west¬ 
europäischen Völker. Er weiß auch sehr 
wohl, daß dies ihm vorschwebende 
Weltbild des organischen Zusammen¬ 
hanges von Ich und Welt und von Per¬ 
sönlichkeit, Staat und Nation immer 
mehr Aufgabe und Ziel als erreichte 
Wirklichkeit bedeutet und kennt genau 
alle Reibungen und oft tragischen Kon¬ 
flikte zwischen Einzelwillen und Gel¬ 
samtwillen und zwischen den mannig¬ 
fachen Bedürfnissen und Betätigungen 
des Kulturlebens. Unser Leben schien 
vor dem Kriege tief zerrissen zu sein 
durch all die verschiedenen rücksichts¬ 
los gegeneinander anstürmenden Ener¬ 
gien. Aber als das Schicksal uns riet 
ordneten sie sich aus tiefem Instinkte 
und aufatmend, vom inneren Zwiespalt 
erlöst zu sein, in die große Gemein¬ 
schaft der Nation ein. Aus allen Lagern 
kam das Geständnis, daß man sich jetzt 
erst auf dem rechten Wege wisse, jetzt 
erst den wahren Sinn von Staat und 
Nation verstehe. 

Schon vor dem Kriege war auch — 


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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871 


1114 


in mancherlei Ansätzen verstreut — ein 
neuer Idealismus jm Entstehen, der das 
organische WeltgefQhl des älteren deut¬ 
schen Idealismus und die von ihm ent* 
deckten fiberindividuellen Werte mit 
dem kräftigen Wirklichkeitssinne und 
-dränge der modernen Menschheit zu 
verknüpfen unternahm. Er bildete keine 
neuen beherrschenden Systeme, ke)ine 
neue allgemein verbindliche Philosophie 
und Religion und keine neuen harmo¬ 
nisch geschlossenen Kunstideale und 
Stile, denn das moderne, durch skep¬ 
tische Kritik geschärfte Freiheitsgeffihl 
duldet auf diesen geistigst«! Gebieten 
keinen Zwang und keine abschließende 
Formel Aber er gab der vom Massen¬ 
druck bedrohten Persönlichkeit den 
Trost, daß es sich auch unter ihm leben 
lasse und daß die überempirische Welt 
des Geistes durch keine noch so stür¬ 
mische Umwälzung der empirischen 
Welt erschüttert werden könne, viel¬ 
mehr nur neue Bestätigung und neue 
Auf&aben durch sie erhalte. Nicht von 
der modernen Welt ab, sondern mitten 
in sie hinein führte er und bildete über¬ 
all neue Lebenskräfte, die suchend und 
strebend eine Fülle von Anregungen auf 
alle Gebiete des Kultur- und Staats¬ 
lebens ergossen haben. Wie in die 
deutsche Gesetzgebung seit den acht¬ 
ziger Jahren ein neuer Geist eingezogein 
ist, der hastend Schritt zu halten ver¬ 
sucht mit dem Tempo des modernen Le¬ 
bens, jedem neuen Problem gern bei¬ 
kommen möchte, morgen verwirft, was 
er gestern verfügt hat, aber unabge- 
schreckt weiterprobiert und gestaltet, 
— so drängte auch unser geistiges 
Schaffen von Versuch zu Versuch, ohne 
die Geduld, ausreifenzu lassen, was man 
gestern gesät hatte, und nirgends sich 
bindend für morgen, — eine durch und 
durch unklassische Zeit, man möchte 
sagen, von einer grundsätzlichen Un¬ 


fertigkeit. Darum fehlen ihr auch die 
großen, allgemein anerkannten und füh¬ 
renden Geister — wir haben keinen 
Goethe und keinen Kant und selbst 
keinen Mommsen und Treitsohke unter 
uns —, aber sie wimmelt dafür von 
lebensvollen Talenten, starken und 
trotzigen Charakteren, und jede Führer¬ 
natur vermochte sich innerhalb der so 
gewaltig gewachsenen Menschenmassen 
der Nation einen Anhang und eine Ge¬ 
meinde zu schaffen.. Noch nie war 
Deutschland wohl so reich an individu¬ 
ellen Lebenskreisen, die doch nicht zu 
abgeschlossenen Konventikeln entar¬ 
teten, sondern sich durch Propaganda 
und Organisation eifrig auszudehnen 
und ineinanderzugreifen suchten. Dar¬ 
um konnte fast jeder neue und lebens¬ 
fähige Gedanke darauf rechnen, Men¬ 
schen und Mittel zu finden, die ihn 
trugen, und verbreiteten. Indem das Ge¬ 
flechte aller geistigen und sozialen Be¬ 
strebungen immer dichter und ver¬ 
wickelter wurde und mit ganz neuen 
technischen Mitteln arbeiten konnte, 
wurde unser gesamtes Weltbild immer 
weiter, voller, beziehungsreicher. Es 
wuchs damit aber auch die Lust, es 
zu ergründen und zu verstehen, es 
verfeinerte sich der Sinn für die Man¬ 
nigfaltigkeit und Kompliziertheit aller 
menschlichen Dinge und die behende 
Kunst des Einfühlens in fremdartiges 
Seelenleben. Dies hatte aber zur Folge, 
daß die historische Weit, die eine Zeit- 
lang' schon fast entwertet zu werden 
schien durch den Bruch so vieler Tradi¬ 
tionen, zu neuem Ansehen emporstieg. 
Sie wurde nicht etwa Vorbild für uns, 
aber sie wurde vielleicht zum größten 
ästhetischen Werte, den unsere Zeit 
heute genießt und an dem sie sich aus- 
ruht in den Pausen der Arbeit, freilich 
weniger lesend und nachdenkend wie 
unsere Großväter, als eifrig schauend 


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Max Meinertz, Der‘Apostel Paulus und der Kampf 


1116 


und von Monument zu Monument ei¬ 
lend. Aber immerhin, auch die Wissen¬ 
schaft, obgleich sie mehr will als bloßen 
ästhetischen Genuß, konnte doch von 
diesem neuen In teresse und den durch sie 
geweckten Fähigkeiten Nutzen ziehen. 
In Zeit und Ort drang man bis zu den 
äußersten Schranken. Unsere Interessen 
und Kenntnisse suchen den ganzen Erd¬ 
ball zu umspannen, und unser geschieht- 
licher Horizont hat die Perspektive fast 
eines Jahrhunderttausends menschlicher 
Entwicklung gewonnen. Schauen und 
Schaffen war allenthalben die Losung 
— und nicht nur in einem äußerlichen 
Nebeneinander. Eine sonst nur dem 
handelnden Menschen eigene Wil¬ 
lensleidenschaft durchwogte auch un¬ 
ser geistiges Leben, und aus diesem 
strömten die Impulse in tausend Ka¬ 


nälen wieder hinüber in die Welt des 
Handelns. 

Es war wahrlich keine kleine und ge¬ 
ringe Zeit, die nun abgeschlossen hinter 
uns liegt. Wir konnten sie nie so preisen, 
wie einst die Jünger der Aufklärung die 
ihrige gepriesen haben, denn wir waren 
uns ihrer Unfertigkeit und Zerspaltung 
immer bewußt, aber wir fühlten uns 
auch nicht als müde Epigonen, denn wir 
hatten keine Zeit müde zu sein. Ohne 
die Sehnsucht je ganz gestillt zu haben, 
die ihr eigenartiges, widerspruchsvolles 
Wesen in uns immer wach erhielt, sind 
wir in eine neue Zeit mit noch weiteren 
und dunkleren Zielen hineingerissen 
worden, wie in ein unbekanntes wogen¬ 
des Meer. Aber unsere Kraft mit Wind 
und Wogen zu kämpfen, ist durch den 
Weltkrieg erprobt worden. 


Der Apostel Paulus und der Kampf. 

Von Max Meinertz. 


Je furchtbarer der Krieg noch immer 
tobt, und je schmerzlicher die Wunden 
sind, die er schlägt, um so nachhaltiger 
fragt man sich allenthalben nach dem 
Recht des Krieges und sucht die Ver¬ 
antwortung von sich abzuwälzen; gern 
werden die ethischen Kriegsziele in den 
Vordergrund gestellt. Haben doch un¬ 
sere Feinde das Schlagwort vom Kampf 
um Freiheit und Gerechtigkeit gegen die 
Barbarei erfunden und suchen damit die 
Welt gegen uns einzunehmen. Sogar Ru¬ 
mänien hat es ja gewagt, seinem schmäh¬ 
lichen Verhalten ein sittliches Mäntel¬ 
chen umzuhängen, nachdem freilich der 
größere romanische Bruder und Lehr¬ 
meister vorher schon das Wort „heilig“ 
in Verbindung mit seinem Verrate ent¬ 
weiht hatte. Doch, wie verächtlich uns 
dies Gebaren auch erscheinen mag, man 
betont doch, wenigstens mit Worten, die 


sittliche Seite des Krieges, erkennt so¬ 
mit das Vorhandensein eines sittlichen 
Ideals an, das durch Kampf verwirk¬ 
licht werden muß. 

Die Tatsache ist nicht zu bestreiten, 
daß ein wirklicher, echter Kampf um 
geistige und sittliche Güter durch die 
Menschheit hindurchgeht; insbesondere 
haben sich auf religiös-sittlichem Ge¬ 
biete neue, weltbewegende Gedanken 
ohne Kampf nicht ausbreiten, ge¬ 
schweige durchsetzen können. Das Chri¬ 
stentum ist dafür ein lebendiger Zeuge. 
Schon bald nach der Geburt des Erlösers 
sprach der greise Simeon von einem Zei¬ 
chen, dem widersprochen wird, und wies 
auf das Schwert hin, das die Seele der 
Mutter des Herrn durchdringen werde. 
Das Drama huf Golgotha ist der erste 
Höhepunkt dieses Kampfes zwischen 
Licht und Finsternis. 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


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Man hat in der letzten Zeit viel über 
das Christentum vom Standpunkte des 
Kampfes gesprochen und geschrieben; 
man hat auch nach den verschiedensten 
Richtungen hin die Stellung Jesu zum 
irdischen Krieg und das grundsätzliche 
Recht des Krieges vor dem Forum des 
christlichen Gedankens untersucht. Aber 
man hat dabei meist weniger auf den 
großen Herold des Christentums in sei¬ 
nen Frühlingstagen geachtet, auf den 
Apostel Paulus. Und doch gewährt es 
einen großen Reiz, gerade den Völ¬ 
kerapostel in diesem Zusammenhang zu 
betrachten. Ist er doch eine Kampfnatur 
im edelsten Sinne des Wortes, die kraft¬ 
vollste Persönlichkeit, die das Urchri¬ 
stentum aufzuweisen hat. Sein ganzes 
Leben ist unter dem Gesichtspunkte des 
Kampfes zu verstehen, und zwar nicht 
nur in dem abgeschwächten Sinne, daß 
alles geistige Streben und Schaffen ein 
Kämpfen und Ringen genannt wer¬ 
den darf: Paulus ist mit Bewußtsein 
ein Kämpfer gewesen. Von seinem 
Leben aus läßt sich auch' manche 
lehrreiche Verbindungslinie zu unserer 
heutigen kampferfüllten Zeit ziehen. 1 ) 

* * * 

Das Christentum trat als friedliche 
Geistesbewegung in die Geschichte ein; 
auf seine Fahnen hatte es den Frieden 
geschrieben. Das Liebesgebot in seiner 
universalen Form war sein Grundgesetz: 
im Gegensatz zum alttestamentlichen 
Schwertliede des Lamech: „Wird sieben- 

1) Aus der für diese Abhandlung — die als 
Festrede bei der diesjährigen Kaiser-Ge¬ 
burtstagsfeier der Westfälischen Wilhelms- 
Universität zu Münster diente — in Betracht 
kommenden Literatur sei genannt: Maus- 
bach, Kampf und Friede im äußeren und 
inneren Leben, Kempten u. München 1915; 
Hamack, Militia Christi, Tübingen 1905; 
Windisch, Der messianische Krieg und das 
Urchristentum, TObingen 1909; Weinet, Die 
Stellung des Urchristentums zum Staat, 
TObingen 1906. 


fältig Kain gerächt, so Lamech sieben- 
undsiebzigmal“ (Gn.4,24) steht im Evan¬ 
gelium das Wort, man solle dem Bruder 
siebenzigmal siebenmal vergeben (Mt 18. 
22). Das Christentum breitet sich nach 
immanenten, göttlichen Kräften in der 
Welt aus, wie der Sauerteig die Masse 
durchsetzt wie das Senfkörnlein von 
winziger Größe sich zu einer hochge¬ 
wachsenen Staude emporstreckt. Das 
Evangelium konnte seinen Siegeslauf 
antreten, da die furchtbaren Bürger¬ 
kriege des römischen Reiches vorüber 
waren, da die Menschheit im Frieden 
aufatmete und den Friedenskaiser Au- 
gustus in überschwenglicher Dankbar¬ 
keit pries als „Vater seines Vaterlan¬ 
des“, als „Heiland des ganzen Men¬ 
schengeschlechtes“. „Denn es erfreuen 
sich“, so lauten die Worte einer Ehrenin¬ 
schrift aus Halikamaß, „Land und Meer 
des Friedens; die Städte blühen in wohl- 
geordnetem Zustande, in Eintracht und 
in Reichtum; jegliches Gute ist in Hülle 
und Fülle vorhanden, und die Menschen 
sind voll guter Hoffnung auf die Zu¬ 
kunft und voll guten Mutes für die Ge¬ 
genwart.“ 

Auch die Wiege des Christentums ge¬ 
hörte zum großen römischen Reiche. 
Und doch lebte man damals inmitten 
des Weltfriedens in Palästina auf vul¬ 
kanischem Boden. Israel fühlte sich als 
das auserwählte Gottesvolk und trug die 
römische Oberhoheit als vorüberge¬ 
hende Verdemütigung mit innerem Knir¬ 
schen. Hin und wieder kam es zur Explo¬ 
sion, wie ja auch später ein solcher vul¬ 
kanischer Ausbruch zu den beiden gro¬ 
ßen Kriegen unter Vespasianund Hadri¬ 
an und damit zur Zerstörung Jerusalems 
und zur Vernichtung des jüdischen Ge¬ 
meinwesens führte. Das innere Feuer, das 
in Israel stets unter der Asche weiter- 
brannte, war die messianische Erwar¬ 
tung. Man hoffte und sehnte sich 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp! 


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nach einem messianischen Kriegshelden 
aus Davids Geschlecht, der den heiligen 
Krieg ansagen und die Römer aus dem 
Lande hinausfegen, Israel selbst aber zu 
Macht und Glanz und Siegesruhm füh- 
ren werde. Diese kriegerische Stimmung 
im national-religiösen Sinne leuchtet 
aus der apokalyptischen Literatur des 
Judentums deutlich hervor, sie be¬ 
rauscht sich oft an Blut und Haß, sie liest 
sich vielfach so wie die leidenschaft¬ 
lichen Ausbrüche haßerfüllter Verblen¬ 
dung in französischen Schriften der Ge¬ 
genwart. Eine solche Schilderung in der 
sog. Apokalypse Baruch (40) aus der 
Zeit nach der Zerstörung Jerusalems im 
Jahre 70 lautet folgendermaßen: „Der 
letzte Regent, der alsdann [existiert], 
wird lebendig übrigbleiben, wenn seine 
großen Scharen vernichtet werden, und 
wird gefesselt werden. Und sie werden 
ihn auf den Berg Sion hinaufschaffen, 
und mein Messias wird ihn zur Rede 
stellen wegen aller seiner Freveltaten, 
und er wird zusammenbringen und vor 
ihn hinlegen alle die Taten seiner Scha¬ 
ren. Und nachher wird er ihn töten und 
den Rest meines Volkes, der sich in dem 
Lande, das ich erwählt habe, vorfindet, 
wird er beschützen.“ 

Das ist der kriegerische Messianismus 
der jüdischen Eschatologie, also der ei¬ 
gentliche Krieg im religiösen Interesse. 
Als Jesus auftrat, mußte er notwendig 
zu solchen Stimmungen und Strömun¬ 
gen irgendwie Stellung nehmen. Und er 
tat es in der Weise, daß er diese Art von 
Messiaswürde entschieden ablehnte. Ja, 
sein Wort und sein Werk sind so wenig 
messianisch in diesem kriegerisch escha- 
tologischen Sinne, daß man schon die 
merkwürdige Behauptung aussprechen 
konnte, Jesus habe gar kein messiani- 
sches Selbstbewußtsein besessen. Das 
letzte Motiv einer solchen Ansicht, die 
man übrigens nach einer Bemerkung 


Hamacks nur dann aufrechterhalten 
kann, wenn man die biblischen Quellen 
aus den Angeln hebt, erinnert an eine Er¬ 
wägung, die wohl der unglückliche Apo¬ 
stel Judas angestellt haben wird, da er 
den Meister verriet: Jesus kann doch 
nicht der Erlöser Israels sein, den ich 
bisher in ihm erblickte; sein Verhalten 
entspricht so gar nicht dem messiani- 
sehen Ideal, wie es in meiner Seele le¬ 
bendig ist. 

Gewiß, Messias im kriegerisch-politi¬ 
schen Sinne zu sein, lehnt der Herr mit 
aller Entschiedenheit ab, und es ist ein 
noch gröberes Mißverständnis, wenn 
Karl Kautsky ihn in die Reihe der mes¬ 
sianischen Revolutionäre stellt und beim 
Versuch eines Aufstandes durch die po¬ 
litische Aufsichtsbehörde seinen Tod 
finden läßt. Das ist das Extrem nach der 
andern Seite hin, wie es nur unter rück¬ 
sichtsloser Vergewaltigung des Quellen¬ 
befundes aufgestellt werden kann. In 
Wirklichkeit will Jesus Messias sein, 
aber Erlöser im ethischen Sinn; er läu¬ 
tert den jüdischen Messiasbegriff, eben¬ 
so wie die parallele Vorstellung vom 
Reiche Gottes. 

Und der Apostel Paulus steht hier 
ganz und gar im Bannkreise der Lehren 
seines Herrn. Jesus ist ihm Erlöser von 
Sünde und Schuld, sein irdisches Leben 
in der Erniedrigung, vor edlem der Tod 
am Kreuze, dient dazu, die Menschheit 
aus den Sklavenketten der gottwidrigen 
Macht zu befreien. Aber nun erwar¬ 
tet der Apostel die Ankunft des Aufer¬ 
standenen in Kraft und Herrlichkeit zum 
Gericht. Dabei schildert er besonders an 
einer Stelle (2 Thess. 2.8; vgl. auch 
1. Kor, 15,24 ff.) das Strafgericht über 
den „Menschen der Sünde“, den „Sohn 
des Verderbens“, wie er den Antichrist 
nennt, in Wendungen, die an die jüdi¬ 
sche Eschatologie erinnern: Der Herr Je¬ 
sus werde den Frevler „hinwegraffen 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


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mit dem Hauche seines Mundes und ihn 
vernichten durch den Glanz seiner An¬ 
kunft“. Es ist aber zuviel gesagt, daß da¬ 
mit für dfen Apostel der Messias der Er¬ 
wartung wieder f( ganz und gar der 
Karapfesheld des jüdischen Messianis¬ 
mus“ geworden sei (W i n d i s c h 70). 
Hier handelt es sich vielmehr um Bilder, 
die Paulus aus seiner jüdischen Ver¬ 
gangenheit geläufig waren, die er ver¬ 
wertet, um den Ger ichtsgedanken 
möglichst anschaulich und eindrucksvoll 
zu gestalten, für die er übrigens in den 
Zukunftsworten Jesu selbst einen An¬ 
knüpfungspunkt finden konnte. Wie 
wenig der Apostel von eschatologischer 
Kampfesstimmung beherrscht war, be¬ 
weist schon die Tatsache, daß solche Bil¬ 
der sich nur an vereinzelten Stellen 
seiner Briefe finden. Und gerade im 
zweiten Thessalonicherbriefewird bald 
nach der Gerichtsschilderung von der 
„Liebe Gottes und der Geduld Christi“ 
(3,5) gesprochen, während das Schrei¬ 
ben in dem Wunsche ausklingt: „Der 
Herr des Friedens schenke euch Frieden 
aller Art immerdar“ (3,16). 

Es ist gewiß nicht zufällig, daß das 
Wort slQijvi], der Friede, in keinem ein¬ 
zigen Paulinischen Briefe fehlt; auch das 
kleine Schreiben an Philemon enthält es 
wenigstens im Grußworte des Ein¬ 
ganges. Paulus ist sich wie kein zweiter 
bewußt, daß das Christentum nichteine 
kriegerische Bewegung sei, sondern dem 
Frieden in seiner dreifachen Ausgestal¬ 
tung als Frieden mit Gott, mit dem eige¬ 
nen Ich und dem Mitmenschen dient. 
In den klassischen Mahnungen der letz¬ 
ten Kapitel des Römerbriefes verlangt 
Paulus, Frieden zu halten mit allen Men¬ 
schen (Röm. 12,18). Aber er leitet das 
Gebot mit den Worten ein: „Wenn es 
möglich ist, soweit es auf euch an¬ 
kommt.“ Die mit ehernem Griffel nieder¬ 
geschriebenen Worte der denkwürdigen 

Intaraationale Monatsschrift 

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Thronrede vom 1. August des Jahres 
1014 lauten wie eine weltgeschicht¬ 
liche Erläuterung des Apostelwortes: 
„In aufgedrungener Notwehr, mit 
reinem Gewissen und reiner Hand er¬ 
greifen wir das Schwert.“ 

* * * 

Einem Paulus als einem religi¬ 
ösen Genius ist der Blick auf krie¬ 
gerisches Getümmel ganz gewiß un¬ 
erfreulich gewesen, einem Christen 
hätte er sicherlich niemals den Rat 
gegeben, sich zum Soldaten anwer¬ 
ben zu lassen. Das ist für eine Zeit 
um so selbstverständlicher, da das Le¬ 
ben im Heere des heidnischen Staates 
den Christen in Gewissenskonflikte brin¬ 
gen konnte, da der Soldatenstand in jener 
Zeit ganz gewiß nicht der sittlichen 
Förderung diente, da für den einzelnen 
praktisch keine Militärpflicht bestand. 
Allein man darf hier nicht übertreiben. 
Gerade weil solche zeitgeschichtlichen 
Hemmungen wirksam waren, ist es um 
so bedeutungsvoller, daß der Apostel 
das römische Heerwesen aufmeiksam 
beobachtete und, wie wir noch sehen 
werden, in seine Gedankengänge hinein¬ 
zog, daß er vor allem den Staat als Trä¬ 
ger der Ordnung und Macht glänzend ge¬ 
rechtfertigt hat. Die berühmten Worte 
am Anfang des 13. Kapitels de« Römer¬ 
briefes von der Obrigkeit, die 
von Gott angeordnet sei, die das 
Schwert nicht umsonst trage als Gottes 
Dienerin zur Vollstreckung des Zomge- 
richtes am Übeltäter, der man Gehorsam 
schulde nicht nur des Zorngerichtes, 
sondern auch des Gewissens willen, 
diese klassischen Worte vertragen kei¬ 
nerlei Abschwächung. Und es bedeutet 
eine Verkümmerung des Paulinischen 
Gedankens, wenn man im Hintergrund 
dieser Stelle die Lehre vom Satan als 
Weltherrscher und seinem Abfall von 
Gott erblickt und als besonderen Zweck 

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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


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die Warnung der Christen vor der Re¬ 
volution angibt (Weine 1 24). Die Worte 
sind gerade im Zusammenhang des Rö¬ 
merbriefes viel zu sehr grundsätzlicher 
Natur, sie enthalten ein Stück der Pauli¬ 
nischen Weltanschauung, „ein Zeugnis 
seines bewundernswerten Idealismus“ 
(Jülicher, bei J. Weiß, Die Schriften 
des Neuen Test. II * 309). 

An einer andern Stelle (Phil. 3, 20) 
spricht Paulus den Gedanken aus: 
„Unser Wandel ist im Himmel“, und er 
braucht hier ein Wort — xoXCtsvfia —, 
das vielfach in der Bedeutung einer Ko¬ 
lonie von Ausländem vorkommt, de¬ 
ren Organisation nach dem heimi¬ 
schen Staatswesen benannt ist. Legt 
man diesen Wortbegriff zugrunde, 
so will der Apostel dem Gedanken 
plastischen Ausdruck verleihen: „Wir 
haben unser Heimatsreich im Himmel 
und sind hier auf Erden eine Kolo¬ 
nie von Bimmelsbürgern“ (Dibe- 
1 i u s im Kommentar zu dieser Stelle). 
Darin liegt also einfach die allge¬ 
mein christliche Vorstellung, daß 
der Mensch hier auf Erden keine 
bleibende Stätte (Hehr. 13, 14) hat, daß 
sein letztes und höchstes Ziel in der 
Ewigkeit gegeben ist. Wenn man dann 
weiter beachtet, daß die Worte nach 
dem Zusammenhang im Gegensatz zu 
den „Feinden des Kreuzes Christi“ ge¬ 
sprochen worden sind, die niedrigen Ge¬ 
lüsten nachgehen, deren Sinn auf das 
Irdische steht, dann sieht man, wieweit 
es vom PauUndschen Gedanken abliegt, 
zu schließen, es werde hiermit der 
Staatsgewalt die innerliche Aner¬ 
kennung verweigert. Nicht „sein politi¬ 
sches Bekenntnis“ spricht Paulus vor 
der Philippergemeinde aus, sondern ein 
religiöses Bekenntnis. 

Trägt die Obrigkeit aber das Schwert 
zur Vollstreckung des Zomgerichtes an 
dem Übeltäter, so muß sie sich im ge- 

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gebenen Falle auf militärische Macht 
stützen können. Diese Schlußfolgerung 
ist dem weltkundigen Apostel ganz ge¬ 
wiß zum klaren Bewußtsein gekommen. 
Und wenn wir ferner keine unmit¬ 
telbaren positiven Zeugnisse besitzen — 
Phil. 1, 13 ist nur gesagt, daß bei 
den prätorianischen Soldaten bekannt 
wurde, er trage die Fesseln um 
Christi willen und nicht als Verbrecher 
—, so können wir doch annehmen, daß 
die Erfolge seiner Mission sich auch 
unter den Soldaten bemerkbar machten. 
Er kann dann aber trotz der schon er¬ 
wähnten zeitgeschichtlichen Verhält¬ 
nisse nicht verlangt haben, daß der zum 
Christentum bekehrte Soldat seinen 
Waffenrock ausziehe. Vielmehr wird er 
ähnlich wie einst Johannes der Täufer 
zu den ihn aufsuchenden Kriegsleuten 
gesprochen haben: „Verübt gegen nie¬ 
manden Gewalt oder Unrecht und seid 
zufrieden mit eurem Solde 1“ (Lk. 3,14). 
Und weiter konnte er auch auf diesen 
Fall seinen Grundsatz anwenden: 
„Jeder bleibe in dem Stande, in dem er 
berufen wurde“ (1. Kor. 7, 20). Übrigens 
hat schon Klemens von Alexandrien 
nach diesen biblischen Gedanken zu der 
Frage Stellung genommen (Har- 
nack58). Und Paulus hätte sicherlich 
nicht den Rigorismus eines Tertullian 
gebilligt, der in seiner Schrift über den 
Götzendienst (Kap. 19) behauptete: Der 
Herr habe in der Entwaffnung des 
Petrus jedem Soldaten den Degen abge¬ 
schnallt. Als die Zahl der Christen im 
römischen Heere sich mehrte, waren Zu¬ 
sammenstöße mit der heidnischen Ge¬ 
walt unvermeidlich; in den Christenver- 
folgungen haben die Soldaten oft ganz 
besonders zu leiden gehabt, wie eine 
Reihe noch erhaltener Märtyrerberichte 
zeigt. 

Der Begriff des Volksheeres in dem 
vollendeten Sinne, wie wir es heute be- 

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1125 


Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


1126 


sitzen, war der alten Zeit unbekannt;die 
' hohen sittlichen Kräfte, die in ihm und 
in seiner Betätigung zur Verteidigung 
des Vaterlandes lebendig sind, treten 
in unseren Tagen jedermann mit leuch¬ 
tenden Farben ins Bewußtsein. Sie er¬ 
fahren auch vom christlichen Stand¬ 
punkt aus ihre verklärende Weihe. Das 
ändert freilich nichts an der Tatsache, 
daß die zeitgeschichtlichen Verhältnisse 
einem Paulus dem Soldatenstande ge¬ 
genüber Zurückhaltung auferlegten. Vor 
allem aber hat er dem religiösen Leben 
die eigentlich kriegerische Gesinnung 

der jüdischen Eschatologie ferngehalten. 

* * 

* 

Und doch, er ist selbst ein Kämpfer 
gewesen, mehr wie sonst eine hervortre¬ 
tende Persönlichkeit des Urchristen¬ 
tums. Die Kunst hat sich daran gewöhnt, 
den Völkerapostel mit einem Schwerte 
abzubilden. Gewiß darf man darin einen 
Hinweis auf den Martertod erblicken, 
den das römische Richtschwert verur¬ 
sacht hat. Aber man möchte darüber 
hinaus das Schwert als Symbol des 
Kampfes einen Wesensteil der apostoli¬ 
schen Persönlichkeit versinnbilden las¬ 
sen. 

Von der ersten Zeit an, da Saulus- 
Paulus unserm geistigen Auge erreich¬ 
bar ist, steht er als Kämpfer da. 
Er gehört zu jenen Helden der Ge¬ 
schichte, deren Leben in zwei mit 
scharfem Schnitt getrennte Hälften 
auseinanderklafft. Wie verschieden 
man heute auch über die Einzeler¬ 
klärung des Vorganges vor den Toren 
von Damaskus denkt, wie sehr vor ed¬ 
lem die psychologische Verkettung des 
Ereignisse zur Debatte steht — darüber 
herrscht kein Zweifel, daß ein gewalti¬ 
ger Stoß den Christenverfolger innerlich 
zusammen brechen ließ, und daß sich als¬ 
bald ein neuer Mensch wie ein Phönix 
aus der Asche erhob. Ein innerer Kampf 

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endete mit einem entscheidenden Sieg 
auf der ganzen Linie. Es war der erste 
und schwerste siegreiche Kampf, der 
dem Leben einen neuen Inhalt gab, 
der den erbitterten Christenfeind zum 
machtvollsten Vorkämpfer des Christen¬ 
tums umwandelte. Paulus hat sich selbst 
besiegt, oder, wie er es in bescheidener 
Selbsterkenntnis empfand und aus¬ 
sprach: die Gnade hat den Widerstand 
überwunden. 

So sehr aber dieser Kampf und dieser 
Sieg vor Damaskus die Richtung des 
neuen Lebens unverrückbar festlegte, 
es ist doch nicht zu verkennen, 
wie ein ständiger Kampf mit dem 
eigenen Ich das ganze Leben des 
Apostels immer wieder in Spannung 
hält. Es ist ein Kampf mit seinem 
schwächlichen Körper, und es ist ein 
Kampf mit der sinnlichen, niederen Na¬ 
tur, mit der wie er sich gern aus¬ 

drückt. Die Spuren, die dieser Kampf in 
den apostolischen Briefen zurückgelas- 
sen hat, sind oft ergreifender Natur. Aus 
dem Selbstbekenntnis des zweiten Ko- 
rintherbiiefes (12,7 f.), da er von dem 
Stachel redet, der seinen Leib ver¬ 
wundet, fühlen wir deutlich ein gewal¬ 
tiges Ringen heraus. Paulus war von 
Natur aus keine feste Gesundheit be- 
schieden, irgendein Leiden schafft ihm 
Beschwerden, so daß der eiserne Wille 
nicht immer ausreicht, um den Körper 
in den Dienst zu zwingen. „Dreimal habe 
ich den Herrn gebeten, daß er von mir 
ablasse“; es ist nicht der selbstsüchtige 
Wunsch nach Wohlfahrt und Bequem¬ 
lichkeit, vielmehr besteht der Grund für 
die Bitte in sittlichem Heldentum ohne¬ 
gleichen. Die Schwäche empfindet erals 
Gegengewicht gegen Selbstüberhebung, 
er will von ihr nur darum befreit sein, 
weil er seinem Leib dann eine um 
so stärkere Belastung in unermüdli¬ 
cher Missionsarbeit Zutrauen zu können 

36* 

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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


112t 


glaubt. Aber er ist auch sofort getröstet 
und befriedigt, da seiner Bitte Erhörung 
versagt und die Antwort zuteil wird: 
„Es genügt dir meine Gnade.“ So setzt 
er denn, ohne zu verzagen, den Kampf 
mit seinem Körper fort, zwingt ihn zur 
Ertragung unerhörter Strapazen und 
ist in diesem Kampfe auf die Dauer auch 
Sieger geblieben. Ja, wenn er einmal, 
wie in Galatien, körperlich zusammen* 
bricht, dann weih er dieser Not auch 
eine lichte Seite abzugewinnen: Ist sie 
doch die Ursache gewesen, daß er einen 
lüngeren Aufenthalt bei den Galatern 
nehmen mußte und das Wort Gottes mit 
reichem Erfolge verkünden konnte, hat 
sie ferner den galatischen Christen die 
Möglichkeit gegeben, ihr Christentum in 
Werken der Barmherzigkeit zu betätigen 
und so zu festigen (Gal. 4, 13 f.). 

Aufreibender und schmerzlicher war 
für den Apostel der Kampf mit sich 
selbst, soweit das sinnliche und sittliche 
Leben in Frage stand. Wie sehr er die 
sittliche Anstrengung als Kampf im 
eigentlichen Sinne des Wortes auf¬ 
faßt, zeigen die Ausdrücke, mit denen er 
sie schildert. Die Zeit, da ihm die Gnade 
die siegreichen Waffen in diesem 
Kampfe noch nicht in die Hand ge¬ 
drückt, steht ihm so lebendig vor der 
Seele, daß die einstige Aufregung des 
Kampfes in ihr noch nachzittert (Röm. 
7, 22 f.): Der innere Geistesmensch tritt 
nach dem Bilde des Römerbriefes dem 
Gliedergesetze gegenüber; dieses Ge¬ 
setz liegt, wie er es ausdrückt, „im 
Kriege mit dem Gesetze meiner Ver¬ 
nunft“, ja es bringt ihn in Kriegsgefan¬ 
genschaft in dem Gesetze der Sünde. Da 
bedarf es eines starken Feldherm, der 
die Fesseln sprengt; und der ist ihm in 
Christus mit seiner erlösenden Gnade er¬ 
standen. Der Feind im eigenen Innern ist 
aber noch nicht endgültig besiegt und 
unschädlich gemacht; der Kampf geht 

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dauernd weiter: „Mensch sein, heiß: 
Kämpfer sein“, das Wort gilt auch hier: 
„Wenn ihr durch den Geist die Werk 
des Leibes tötet, so werdet ihr leber 
(Röm. 8,13). Einmal vergleicht er siet 
(1. Kor. 9,261.) mit einem Wettkämpfer ia 
der Arena; der Gegner ist der sinnliche 
Leib. Und da braucht er ein der Fechter¬ 
sprache entlehntes technisches Wort.r 
zerschlage seinen Leib und knechte ihc. 
um so den Sieg über ihn zu gewinne* 
und des ewigen Kampfpreises nicht ver¬ 
lustig zu gehen. Der Kampf ist ja auch 
stets aussichtsreich, da ein mächtiger 
Verbündeter zur Seite steht: „In allen 
sind wir siegreich durch den, der uns ge¬ 
liebt hat“ (Röm.8,37). 

So ist das sittliche Eigenleben des 
Apostels ein ständiger Kampf und 
auch ein fortdauernder Sieg. Von seinen 
Grundsätzen aus hätte er das Wort des 
indischen Weisen — so sehr im übrigen 
das christliche Ideal dem weltmüden 
Buddhismus femesteht — sich zu eigen 
machen können: 

»Nicht wer Zehnhunderttausende von Kämp¬ 
fern in der Schlacht gefällt. 

Wer einzig nur sich selbst besiegt, der 
wahrlich ist der größte Held.* *) 

Das ganze apostolische Leben und 
Wirken zeigt in lebendiger Fülle, wie 
weit sein hochgemuter Sinn das Herab¬ 
ziehende, Kleinmenschliche, Selbstsüch¬ 
tige überwunden und eine geschlossene, 
nur dem Ideale dienende Persönlichkeit 
gebildet hat. Was dieses Vorbild in der 
eisernen Zeit der Gegenwart, die 
* höchste sittliche Anspannung aller 
Kräfte auf das eine hohe Ziel hin, Ver¬ 
zichtleistung auf manche Lebensge¬ 
wohnheit, Verbannung edler selbstsüch¬ 
tigen, kleinlichen Gesinnung von jedem 

2) Dhammapadam 101 Zitiert bei Ber- 
tholet, Religion und Krieg, in: Rellgions- 
geschichtliche Volksbücher V, 20, Tübingen 
1915, 26. 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


1130 


tapf 1129 


Me&f einzelnen verlangt, an Kraftwirkung 
föä auszuströmen vermag, benötigt nicht 
c is näherer Ausführung. Nur ein Wort, das 
nr? in dem herzlichen Dankesbriefe für Lie- 
besgaben aus Philippi steht (PhiL4, 
fE lis 11—13), darf ich in diesem Zusammen« 
;r i a hange nennen, weil es als Merkwortvor- 
anzuleuchten imstande ist: „Ich habe ge* 
lernt, in jeder Lage genügsam zu sein, 
r Ich verstehe es, mich demütigen zu las« 
v sen, ich verstehe auch, Überfluß zu 
haben. Mit allem und jedem bin ich ver- 
traut: satt zu sein und zu hungern, Über¬ 
fluß zu haben und Mangel zu leiden. Al¬ 
les vermag ich in dem, der mich stärkt.“ 
* * * 

Eine solche sittliche Hochspannung 
ist eine der Quellen für die beispiellosen 
Erfolge des apostolischen Arbeitens. 
Wie sie das Ergebnis eines zähen 
Kampfes mit dem eigenen Ich darstellt, 
so bedeutet die Missionstätigkeit auch 
ihrerseits in der Vorstellung des Apo¬ 
stels einen Kriegsdienst und ein sieg¬ 
reiches Ringen. Das Wirken des Apo¬ 
stels steht im Zeichen des Kampfes. Man 
hat die Vermutung ausgesprochen, daß 
das natürliche Verlangen, für das reli¬ 
giöse Ideal kämpfend zu werben, schon 
den Juden Paulus zum Missionar für das 
Judentum bestellt hatte: ob mit Recht, 
ist jedenfalls nicht zu beweisen. Doch 
so viel ist gewiß: die Berührung mit der 
christlichen Bewegung in Jerusalem 
löste in dem überzeugten Pharisäer eine 
solche Kampfesstimmung aus, daß sie 
sich in der Tat der Verfolgung austoben 
mußte. Aus dieser Gesinnung heraus ist 
der Kriegszug nach Damaskus gebo¬ 
ren. Es war religiöser Fanatismus; er 
nennt sich ja selbst einmal später im 
Rückblick auf jene versunkene Periode 
seines Lebens einen „übertriebenen Eife¬ 
rer für die Überlieferungen meiner Vä¬ 
ter“ (Gah 1,14). Und was er im Briefe an 
die römischen Christen (10,2) von sei¬ 


nen ehemaligen Glaubensgenossen sagt: 
„sie haben Eifer für Gott, aber nicht mit 
Verständnis“, galt von ihm in gleicher 
Weise. Sein Fanatismus war durch und 
durch ehrlicher Natur; er wußte es eben 
nicht besser. „Unwissend und in Un¬ 
glauben“, so lautet eins seiner späteren 
Selbstbekenntnisse (1. Tim. 1, 13). Man 
mag an ein edles Roß denken, das wild 
dahinstürmt, ehe es gebändigt worden 
ist. 

Als nun aber die Entscheidungsstunde 
geschlagen hatte und das christliche 
Ideal mit allen Fasern des Herzens er¬ 
griffen war, da nahm der Feuergeist den 
Kampf für dieses Ideal auf und suchte 
durch doppelten Eifer das wieder gutzu¬ 
machen, was er auf der früheren Bahn 
verfehlt. Seine Missionsarbeit erscheint 
ihm als Kriegsdienst Zwar hat er noch 
nicht, wie es später einem Tertullian z.B. 
geläufig war, Christus imperator ge¬ 
nannt, aber er fühlt sich und seine 
Mitarbeiter doch als Soldaten. Den 
Abgesandten der Philippergemeinde 
Epaphroditus nennt er geradezu sei¬ 
nen „Mitsoldaten“ (PhiL 2, 25), eben¬ 
so einen gewissen Archippus in Ko- 
lossä (Phm. 2). Timotheus wird mit 
einem „guten Soldaten Christi Jesu“ 
(2. Tim. 2,3) verglichen, er soll „den gu¬ 
ten Kampf kämpfen“ (I. Tim. 1,18). In die¬ 
sen Gedankengängen begreift man es, 
wenn er sein gutes Recht, als Entgelt 
für die Mühen den Lebensunterhalt von 
den Gemeinden beanspruchen zu dürfen, 
mit dem Vergleiche beweist: „Wer tut 
jemals Kriegsdienste für eigenen Sold“ 
(1. Kor. 9,7)? Allerdings hat er in Korinth 
wie so oft auf dieses Recht verzichtet 
und durch eigener Hände Arbeit sein 
kärgliches Brot verdient. Dafür kann er 
aber wieder den Korinthern in scherz¬ 
hafter Wendung erklären: „Andre Ge¬ 
meinden habe ich geplündert und mir 
den Sold von ihnen geben lassen,um 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


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euch zu dienen" (2. Kor. 11,8). Freilich 
sind die Waffen, mit denen er kämpft 
und die er seinen Christen in die Hand 
geben will, nicht von Eisen und Stahl. 
Er nennt sie in den verschiedensten 
Wendungen Waffen des Lichtes (Röm. 
13,12), Waffen der Gerechtigkeit (Röm. 
6,13; 2. Kor. 6,7), gegenüber den Waffen 
der Ungerechtigkeit (Röm. 6,13); er 
spricht vom Panzer des Glaubens und 
der Liebe und von der Hoffnung auf das 
Heil als Helm (1. Thess.5,8). Sehr an¬ 
schaulich schreibt er nach Korinth (2. Kor. 
10,3 ff.): „Wir wandeln zwar im Fleische, 
ziehen aber nicht nach dem Fleische zu 
Felde. Denn die Waffen unseres Feld¬ 
zuges sind nicht fleischlich, sondern 
mächtig vor Gott zur Zerstörung von 
Festungen, indem wir Pläne vernichten 
und jedes Bollwerk, das sich gegen die 
Erkenntnis Gottes erhebt." Am bekann¬ 
testen ist die tiefsinnige und bis ins ein¬ 
zelne gehende Schilderung der geist¬ 
lichen Waffenrüstung im Epheserbriefe 
(6; 14 f.): „So stehet denn da, eure Len¬ 
den gegürtet mit Wahrheit, angetan mit 
dem Panzer der Gerechtigkeit, beschuht 
an den Füßen mit der Bereitwilligkeit 
für das Evangelium des Friedens; zu al¬ 
ledem nehmet auf den Schild des Glau¬ 
bens, mit dem ihr alle feurigen Ge¬ 
schosse des Bösen auslöschen könnt. 
Und ergreifet den Helm des Heiles und 
das Schwert des Geistes, das da ist 
das Wort Gottes." Die Stelle ist schon in 
der patristischen Zeit wiederholt ver¬ 
wertet worden, ja Tertullian hat in sei¬ 
ner stark militärischen Sprache im Hin¬ 
blick auf sie gesagt, Paulus habe die Sol¬ 
daten, d.h. die Christen, mit Waffen 
vollständig ausgerüstet (De fuga 10). 

Es ist bezeichnend, daß mitten in die¬ 
sen ?o kriegerisch klingenden Worten 
die Bereitwilligkeit für das Evangelium 
des Friedens gepriesen wird. Aller 
Kampf hat ja als Endzweck die Errei¬ 


chung des Friedens, und der Gegner, der 
mit diesen Geisteswaffen als Friedens¬ 
störer niedergerungen werden soll, sind 
für Paulus die feindlich gesinnten Gei¬ 
stermächte. Der Kampf geht nicht, so 
sagt er, bevor die Schilderung der Waf¬ 
fenrüstung beginnt, „gegen Fleisch und 
Blut, sondern gegen die Mächte und Ge¬ 
walten, die Weltherrscher dieser Fin¬ 
sternis, die Geisterwesen der Bosheit in 
der Himmelswelt" (Eph.6,12). Der Sieg 
ist trotz der Kraft des Feindes nicht all¬ 
zuschwer. Denn Christus selbst hat sie. 
wie es an einer anderen Stelle heißt 
(Kol. 2,15), bereits entwaffnet, öffentlich 
zum Spotte gemacht und im Triumphe 
einhergeführt 

Paulus denkt hier an den Tod und die 
Erhöhung des Erlösers. Das Evangelium 
bietet uns aber auch Beispiele für den 
Kampf und den Sieg des irdischen Je¬ 
sus über die feindlichen Geistermächte. 
Und gerade solche evangelischen Erzäh¬ 
lungen sind es, die uns den guten Hirten 
als „Löwen aus dem Stamme Juda" zei¬ 
gen, die jene übersehen, welche, wie H. 
St. Chamberlain einmal klagt, „das hohe 
Antlitz des Menschensohnes aller kraft¬ 
vollen Züge“ beraubt und das „Trugbild 
einer unbeschränkten Duldsamkeit, einer 
allgemein wohlwollenden Passivität uns 
als Christentum hingemalt" haben. (Die 
Grundlagen des neunzehnten Jahrhun¬ 
derts I 6 [Volksausgabe, München o. J.J 
240.) Wo Paulus im Bericht der Apostel¬ 
geschichte diesen Spuren des Meisters 
folgt, erscheint er wie ein überlegener 
Feldherr, dem seine Feldhermkunst den 
raschen Sieg gewiß macht Ein anschau¬ 
liches Beispiel dafür bietet die Befrei¬ 
ung einer Magd aus Philippi von ihrem 
Wahrsagegeist. (Apg. 16, 16 ff.) 

Aber auch wenn der Apostel in seinen 
Briefen gegen Sünde und Laster eifert, 
klingen seine Worte oft wie Schlachten¬ 
lärm; er handhabt das Wort Gottes, das 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp! 


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da ist „schärfer als jedes zweischneidige 
Schwert“ (Hebr.4,12). Diese machtvolle 
Sprache mag der hl. Hieronymus — ne¬ 
ben den noch zu erwähnenden Feuer¬ 
blitzen, die Paulus gegen die Feinde sei¬ 
nes Evangeliums schleudert — beson¬ 
ders im Auge gehabt haben, wenn er ein¬ 
mal seinen Eindruck dahin zusammen¬ 
faßt: „So oft ich ihn (Paulus) lese, 
glaube ich nicht Worte zu hören, son¬ 
dern den Donner“ (Ep. 48 ad Pamma- 
chium; bei Migne, P. gr. XXII 502). 

Wie der Apostel sich als Kämpfer ge¬ 
gen das eigene Ich weiß, so verlangt er 
Gleiches von den Christen seiner Ge¬ 
meinden; die Geisteswaffen, mit denen 
er sie ausgerüstet hat, sollen sie auch 
anwenden. „Laß dich nicht vom Bösen 
überwinden, sondern überwinde im Gu¬ 
ten das Bösel“ (Röm. 12,21). „DennGott 
hat uns nicht einen Geist der Furcht ge¬ 
geben, sondern der Kraft und der Liebe 
und der Besonnenheit“ (2. Tim. 1,7). „Ihr 
habt im Kampfe wieder die Sünde noch 
nicht bis aufs Blut Widerstand ge¬ 
leistet“, heißt es im Hebräerbrief (12,4). 
Auch vom „Kampfe des Leidens“ wird 
dort einmal gesprochen (10,32). Der Sol¬ 
dat muß zum Leiden und zum Opfer 
stets bereit sein, und so kann an Timo¬ 
theus die bedeutsame Mahnung ergehen 
(2.Tim.2,3—5; vgl. 1,8); „Ertrage mit (mir) 
Leiden als ein guter Soldat Christi Jesu. 
Keiner, der Kriegsdienste leistet, läßt sich 
in die Geschäfte des Lebens ein; sonst 
wird er dem Kriegsherrn nicht gefallen.“ 
Dann geht das Bild zum Kampf in der 
Arena über, und es heißt weiter: „Aber 
auch, wer im Ringkampfe auftritt, wird 
nur dann gekrönt, wenn er der Ordnung 
gemäß kämpft.“ 

Übertragen wir diese Worte einmal 
aus der religiösen Sphäre, für die sie ge¬ 
schrieben, auf das hohe sittliche Gut des 
Vaterlandes und seine Verteidigung in 
der Gegenwart, dann ergeben sich über¬ 


raschende Beziehungen: Jeder einzelne 
Deutsche hat sich heute als ein „guter 
Soldat“ zu betrachten, als ein Kämpfer 
an der Stelle, wo das Vaterland ihn 
braucht. Daß dazu das bereitwillige 
Ertragen von Leiden und Entbehrungen 
gehört, muß sich die Heimat sa¬ 
gen, in noch viel höherem Maße aber 
die Feldgrauen draußen an der Front 
Der Kriegsherr — und durch ihn das 
ganze Vaterland — verlangt, daß die 
Geschäfte des Lebens, die Sonderbestre¬ 
bungen, ja, wenn es sein muß, der bür¬ 
gerliche Beruf hintangestellt und die 
gesamten Kräfte für die große Sache ein¬ 
gesetzt werden. Das Kämpfen „der Ord¬ 
nung gemäß“, d. h. nach den Anordnun¬ 
gen des Feldherrn, gilt vom Soldaten 
wie vom heimatlichen Arbeitsheer. Nur 
wenn die Bestimmungen von allen, die 
es angeht, ohne Rücksicht auf die Be¬ 
quemlichkeit und das eigene Besserwis- 
senwollen durchgeführt werden, ist der 
Sieg, ist die Krönung gewiß. 

Wie sehr der Apostel seine Person für 
das Ideal des Gottesreiches restlos ein¬ 
gesetzt hat, geht auch daraus hervor, 
daß er das Bild vom Kämpfer bis zu den 
letzten Konsequenzen durchgedacht und 
für sich in Anspruch genommen hat: die 
Bereitwilligkeit, im Kampfe das Leben 
zu lassen. Er ist zwar überzeugt, daß 
sein Tod ihn mit Christus in unlösbare 
und unmittelbare Verbindung bringen 
wird, und empfindet danach Sehn¬ 
sucht; „aber am Leben zu bleiben ist nö¬ 
tiger um euretwillen“ (PhiLl,24). Die 
Sorge für seine Christen steht ihm also 
in erster Reihe, und so begibt er sich auch 
nicht leichtsinnig in Gefahr und sucht 
sein Leben zu erhalten, solange es mög¬ 
lich ist. Das hindert aber nicht, die freu¬ 
dige Bereitwilligkeit voranzustellen: 
„Und wenn ich auch mein Blut vergießen 
soll zum Opfer uhd zur Weihe eures 
Glaubens, so freue ich mich und freue 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


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mich mit euch allen" (Phil. 2,17). Die 
Bereitschaft hat ja schließlich in der Tat 
zum Martertode geführt. Kurz bevor das 
Schwert sein edles Leben beendete, hat er 
in Worten, die man mit Recht sein Testa- 
ment nennt, sein Lebens werft noch ein¬ 
mal unter dem Bilde eines Kampfes zu¬ 
sammengefaßt: „Ich habe den guten 
Kampf gekämpft den Lauf vollendet, 
den Glauben bewahrt“ (2 Tim. 4,7). Nun 
sieht er vor sich den Siegeskranz der Ge¬ 
rechtigkeit, den er vom Herrn erhalten 
wird. 

Noch weitere Bilder, die dem Kriege 
und dem Heerwesen entlehnt sind, finden 
sich in den Paulinischen Schriften zer¬ 
streut, so der Trompete, die zum Kampfe 
ruft (1. Kor. 14, 8), von der Schlacht¬ 
ordnung (Kol. 2$), vom Triumph (2. Kor. 
2, 14), vom Siegespreis, der abge¬ 
sprochen werden kann (Kol. 2,18), von 
der Kriegsgefangenschaft (Röm.7,23; 
2.Kor.lO,5; Eph.4.8; Kol.4,10; Phm. 23, 
2. Tim. 3,6). Alle Bilder, die Paulus ver¬ 
wertet, sind naturgemäß dem Milieu ent¬ 
nommen, in dem er gelebt hat, und ver¬ 
langen oft eine genaue Kenntnis dieser 
Umwelt, um den Gedanken mit all sei¬ 
nen Feinheiten voll auszuschöpfen. Wie 
man die Reden Jesu nur auf dem Hinter¬ 
gründe von Palästina, insbesondere dem 
des gaiiläischen Volkslebens, ganz ver¬ 
stehen kann, so zeigt sich bei Paulus der 
antike Großstädter. Je mehr durch die 
zahlreichen unliterarischen Texte uns 
das Volksleben des Altertums anschau¬ 
lich gemacht wird, um so besser dringen 
wir in die Paulinische Vorstellungswelt 
ein. 

* • * 

So viel hat sich ja gezeigt, daß der 
„Militarismus" im Leben des Apostels 
eine bedeutende Rolle spielt, und zwar 
nicht nur als abgegriffenes Bild; Pau¬ 
lus führt wirklich dis Soldat Christi 
einen geistlichen Kampf. Es ist nun in¬ 


teressant zu beobachten, wie in späterer 
Zeit dieser Paulinische „Militarismus" 
noch verschärft worden ist. Gegen Ende 
des zweiten Jahrhunderts hat ein klein- 
asiatischer Presbyter „aus Liebe zu Pau¬ 
lus", wie er nach dem Zeugnis Tertulli- 
ans (De baptismol7) selbst gestand, 
einen Paulusroman geschrieben, den wir 
als Akten des Paulus noch besitzen. Dar¬ 
in. tritt der Apostel — ebenso wie die 
übrigen Christen — wiederholt als Sol¬ 
dat Christi auf; noch nach seiner Hin¬ 
richtung erscheint er dem Kaiser Nero 
und stellt sich mit den Worten vor: 
„Kaiser, ich bin Paulus, der Soldat 
Gottes. Ich bin nicht tot, sondern lebe.“ 
Wie weit der Paulus dieses Romans mi¬ 
litärisch denkt, ergibt sich am deutlich¬ 
sten aus einem Gespräch, das er nach 
seiner Gefangennehmung mit Nero 
führt. Der Haftbefehl ist ergangen, nach¬ 
dem der Mundschenk des Kaisers, Pa¬ 
troklus mit Namen, „Soldat jenes 
Königs" geworden ist „Du Mann des 
großen Königs," so herrscht ihn Nero 
an, »Jetzt mein Gefangener, was fiel dir 
ein, in das römische Reich einzudringen 
und Leute aus meiner Herrschaft anzu¬ 
werben I“ Paulus aber wurde vom heili¬ 
gen Geiste erfüllt und sprach vor allen: 
„Kaiser, nicht nur aus deiner Herrschaft 
werben wir an, sondern auch aus der 
ganzen WeltL Denn das ist uns aufge¬ 
tragen, niemanden auszuschließen, der 
meinem König Kriegsdienste leisten will. 
Und wenn es dir selbst beliebt sein 
Krieger zu werden — nicht der Reich¬ 
tum oder deine glänzende Stellung im 
Leben werden dich retten, sondern wenn 
du dich unterwirfst und ihn annifst 
wirst du gerettet werden. Denn an einem 
Tagewirderdie Welt bekriegen." Später 
erklärt der Apostel vor der Hinrichtung 
dann noch einmal von sich selbst: „Ich 
bin nicht ein entlaufener Sklave Christi, 
sondern ein treuer Soldat des leben- 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


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digen Gottes,“ (Der Text in deutscher 
Übersetzung bei Hennecke, Neutesta- 
mentliche Apokryphen, Tübingen und 
Leipzig 1904, 381 f.) 

Die Worte klingen freimütig, wenn 
auch nicht gerade „fast aufrührerisch“ 
(Hamack 22). Sie tragen die Farben 
stark auf, bewegen sich aber im wesent¬ 
lichen in dem Vorstellungskreis, der uns 
beim geschichtlichen Paulus entgegen¬ 
tritt. Das Bild vom Heeresdienst ist in 
seinen Einzelheiten weiter ausgemalt. 

Eine Ähnliche Verschärfung des Pau¬ 
linischen Gedankens findet sich gele¬ 
gentlich in der altlateinischen Über¬ 
setzung. Jede Übersetzung einer Schrift 
ist deren erster Kommentar. Es begreift 
sich ja leicht daß der Übersetzer von 
der Umgebung abhängig ist in der er 
lebt, daß er sich willkürlich oder un¬ 
willkürlich von Stimmungen und Ge¬ 
danken leiten läßt die seiner Auf¬ 
fassung entsprechen, und daß er sie in 
den zu bearbeitenden Text hineinträgt 
So ist es ja bekannt, daß im Heliand 
Christus als der Sachsen Heiland er¬ 
scheint der allwaltende Herrscher der 
Völker, dessen Wiege in der Burg von 
Bethlehem stand, der von seinen ge¬ 
treuen Schwertdegen umgeben ist. Um¬ 
gekehrt soll Ulfiias nach der Ansicht 
des eunomiamschen Kirchenhistorikers 
Philostorgius aus dem 4. Jahrhundert 
die Übersetzung der alttestamentü- 
chen Königsbücher unterlassen ha¬ 
ben, weil darin zuviel von Kriegen 
erzählt werde und die Goten ein 
kriegslustiges Volk gewesen seien, das 
eher einen Zügel als einen Antrieb sei¬ 
ner Kriegslust brauchte. Diese Moti¬ 
vierung gehört ja zweifellos ins Reich 
der Fabel (Vgl. Streitberg bei Paul, 
Grundriß der germanischen Philologie 
11,1,Straßburg 1901— 09,22; A.Schulz, 
Die sittliche Wertung des Krieges im 
Alten Testament, in: Bibi. Zeitfragen 


VII, 10, Münster i. W. 1915,3f.) allein be¬ 
zeichnend bleibt die antimilitaristische 
Auffassung dessen, der sie ausgeklügelt 
Es ließe sich leicht an Einzelbeispielen 
zeigen, wie stark die Übersetzer aller 
Sprachen dem Bibelworte ihren Geist 
aufgeprägt haben. Uns interessiert hier 
vor allem ein Paulinisches Beispiel. Im 
Römerbriefe (6,23) verwertet der Apo¬ 
stel das packende Bild von der Sünde, 
die ihren Anhängern als Kriegslöhnung 
den Tod darbietet: „Der Sold der Sünde 
ist der Tod, die Gnadengabe (%<£pt0pa) 
Gottes aber ist ewiges Leben in Christus 
Jesus unserem Herrn.“ Der Satz ist nur 
in seinem ersten Teile durch das mili¬ 
tärische Bild bestimmt, die zweite Hälfte 
spricht allgemein vom ewigen Leben als 
einer Gnadengabe Gottes. Da hat nun 
aber die altlateinische Übersetzung, wie 
sie uns bei Tertullian vorliegt, das 
Wort „die Gnadengabe“ mit donativum 
wiedergegeben. Und wir wissen aus man¬ 
chen Belegen, wie sie sich z. B. noch im 
römischen Recht erhalten haben (Digest 
49,16,10,1; bei Roensch, Das N.T.Ter- 
tullians, Leipzig 1871,666 f.), daß dona¬ 
tivum das kaiserliche Gnadengeschenk 
an die Soldaten bedeutete, während Sti¬ 
pendium der ihnen rechtlich zustehende 
Sold war. So ist durch den Gebrauch 
dieses Wortes auch die zweite Hälfte 
des Paulinischen Satzes militarisiert 
und, wie man anerkennen muß, das an¬ 
schauliche Bild plastisch verstärkt wor¬ 
den: Der Sünder erhält von seiner 
Dienstherrin, der Sünde, den ihm recht¬ 
lich gebührenden Sold, nämlich den 
Tod. Aber Gott gibt seinen Kriegsleuten 
in voller Freiheit und Freigebigkeit das 
überreiche Gnadengeschenk. (Weitere 
Beispiele bei P.Corssen, Zwei neue 
Fragmente der Weingartner Propheten¬ 
handschrift, Berlin 1899,50. Vgl. Har- 
nack 36f.). 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp! 


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Der vorhin schon erwähnte Gedanke 
von den Waffen zur Zerstörung der Fe¬ 
stungen, zur Vernichtung feindlicher 
Pläne und Bollwerke(2.Kor. 10,3!.) ist ge¬ 
genüber einer Richtung im apostolischen 
Zeitalter ausgesprochen worden, die 
dem hl. Paulus das Leben sauer machte. 
Der Apostel hatte nicht nur den Kampf 
gegen die feindlichen Geistesmächte, ge¬ 
gen Sünde und Ungerechtigkeit zu füh¬ 
ren und zu organisieren, er mußte viel¬ 
mehr seine Waffen auch gegen feindlich 
gesinnte Menschen wenden, vor allem 
gegen die sog. Judaisten, d. h. die eng¬ 
herzigen Judenchristen, und gegen das 
ungläubige Judentum. Paulus stand dem 
Volke, aus dem er hervorgegangen, in¬ 
nerlich auch als Völkerapostel sehr nahe ; 
er liebte sein Volk mit der ganzen Glut 
seines großen Herzens, es schmerzte ihn 
bitter, daß er Israel in seiner Mehrzahl 
auf Wegen wandeln sah, die nach seiner 
Erkenntnis ins Verderben führten, er 
spricht einmal die geradezu heroisch 
klingende Bereitwilligkeit aus, für seine 
Stammesbrüder von Christus, seiner 
ganzen Lebenskraft, verbannt zu sein, 
wenn er ihnen dadurch nützen könnte 
(Röm. 9,3). 

Paulus hat keine Gegenliebe gefun¬ 
den; er galt als verächtlicher Renegat, 
gegen den die Schleusen des Hasses of¬ 
fen stehen durften. Wenn irgendwo, so 
gilt hier das Wort von „Leidenskämp¬ 
fen“, das der Hebräerbrief (10,32) ge¬ 
prägt hat. Die verschiedenartigsten Ver¬ 
suche wurden von jüdischer Seite ange¬ 
stellt, um die Erfolge der Paulinischen 
Tätigkeit zu vereiteln. Im pisidischen 
Antiochien wiegelten sie die vornehmen 
Frauen auf, um durch sie die maßgeben¬ 
den Männer der Stadt gegen den Apo¬ 
stel in Bewegung zu bringen (Apg. 13, 
50). In Thessalonich bestachen sie den 
Pöbel von der Straße, machten mit ihm 
einen Auflauf und brachten die Stadt 


in Aufregung (Apg. 17,5), — übrigens ist 
es besonders artig, daß gerade hier der 
Pöbel durch Bestechung revolutioniert 
wird, wenn man bedenkt daß das alte 
Thessalonich mit dem heutigen Saloni¬ 
ki identisch ist. In Korinth wurde der 
Versuch gemacht den römischen Statt¬ 
halter Gallio, den Bruder des Philoso¬ 
phen Seneka, gegen Paulus, einzuneh¬ 
men, freilich ohne Erfolg (Apg. 
18, 12 ff.) 

Es ist überhaupt bezeichnend, daß der 
Apostel mit den römischen Behörden 
und dem römischen Militär im allge¬ 
meinen gute Erfahrungen gemacht hat. 
Die Apostelgeschichte nimmt durch die 
Art ihrer Berichterstattung auf diese 
Tatsache offenkundig Rücksicht. Als die 
Juden in Jerusalem die Wut gegen Pau¬ 
lus wegen der angeblichen Verletzung 
eines ihrer zäh hochgehaltenen Privile¬ 
gien zur Siedehitze gebracht hatten und 
der im Aufruhr Ergriffene in Gefahr 
stand, von der erregten Menge gelyncht 
zu werden, griff das römische Wacht- 
kommando ein und rettete so dem Apo¬ 
stel das Leben. (Apg. 21, 27 ff.) Vor al¬ 
lem war die Gefangenschaft in Rom so 
milder Art, daß er trotz der Haft seinen 
apostolischen Beruf mit Erfolg ausüben 
konnte; und auch die Briefe, die dieser 
Gefangenschaft entstammen, atmenden 
Geist des werbenden Kampfes für 
das christliche Ideal. 

Gewiß ist das Verhalten der staatli¬ 
chen und städtischen Behörden nicht im¬ 
mer zuvorkommend gewesen. In der lan¬ 
gen Aufzählung seiner Leiden im zwei¬ 
ten Korintherbriefe (11,23ff.) —Worte, 
die zum Ergreifendsten gehören, was der 
Apostel geschrieben — steckt auch man¬ 
ches Ungemach, das von dieser Seite 
ausging. Einmal berichtet er von sich 
selbst (l.Kor. 15,23), er habe in Ephesus 
mit wilden Tieren zu kämpfen gehabt 
Wenn man diese Aussage im wörtlichen 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


1142 


Sinne versteht, so enthält sie den Gedan¬ 
ken, daß dem Apostel sogar dieser 
schmähliche Kampf in der Arena vom 
Richter auferlegt worden ist. In neuerer 
Zeit mehren sich die Stimmen, die diese 
buchstäbliche Erklärung der Aussage 
verteidigen, sei es, daß Paulus zum Tier¬ 
kampf nur verurteilt, dann aber begna¬ 
digt worden wäre, sei es, daß er wirk¬ 
lich in der Arena gestanden habe. Es 
gibt auch eine alte Legende, die davon 
berichtet, wie ein gewaltiger Löwe auf 
den Apostel eindrang, wie er sich dann 
aber schmeichelnd zu seinen Füßen 
legte. Ich halte diese ganze Auffassung 
aus mehreren Gründen für verfehlt; die 
„wilden Tiere“, von denen der erste 
Korintherbrief redet, sind böse, feind¬ 
selig gesinnte Menschen. Immerhin ist 
es bezeichnend, daß Paulus seine Stel¬ 
lung zu ihnen mit dem Bilde eines Tier¬ 
kampfes veranschaulicht. In welchem 
Geiste er aber solche Leiden ertrug, das 
hat er in den hochgemuten Worten 
selbst gesagt: „Es ist mir wohl in 
Schwachheit, Mißhandlungen, Nöten, 
Verfolgungen, Bedrängnissen um Christi 
willen. Denn wenn ich schwach bin, bin 
ich stark“ (2. Kor. 12, 10). 

In der schon erwähnten Liste der Lei¬ 
den aus dem zweiten Korintherbriefe 
findet sich auch der Satz: „Gefahren un¬ 
ter falschen Brüdern.“ Er meint damit an 
erster Stelle jene Richtung der Juden¬ 
christen, die ihm in Korinth selbst, aber 
schon vorher in Galatien, in Antiochien 
und Jerusalem so arg zugesetzt hatten. 
Der Judaismus war die Hauptgefahr, die 
dem Paulinischen Werke drohte. Ihm ge¬ 
genüber fühlte der Apostel sich im stärk¬ 
sten Sinne des Wortes als Kämpfer, ja 
man darf hier fast von einem heiligen 
Kriege sprechen. Das gilt vor allem we¬ 
gen der grundsätzlichen Bedeutung der 
Frage für eine großzügige Heidenmis¬ 
sion; doch hat sich an die grundsätzliche 


Seite auch viel Persönliches, kleinlich 
Unerquickliches angeschlossen, das dem 
Apostel das Leben verbitterte. Und ihm 
ist dieser Kampf gegen die „falschen 
Brüder“ oft schmerzlich genug gewesen, 
er hat es dann als Trost empfunden, 
wenn seine Christen ihm treu blieben 
und sich fest um ihn scharten. Es ist ja 
überhaupt das Los überragender Per¬ 
sönlichkeiten, die mitten im Geistes¬ 
kampfe stehen, die Menschen zu zwin¬ 
gen, sich für oder gegen sie zu entschei¬ 
den. Und es ist ein Zeugnis für ihre Be¬ 
deutung, wenn man erkennt, daß diese 
Entscheidung sich in leidenschaftlicher 
Feindschaft oder in unbegrenzter An¬ 
hänglichkeit äußert. 

Eine Entscheidungsschlacht wurde 
dem Judaismus auf dem sogenannten 
Apostelkonzil geliefert; Paulus wußte, 
was für die große Sache auf dem Spiele 
stand. Man hatte gehofft, als äußere Be¬ 
stätigung des gesetzesfreundlichen 
Standpunktes die Beschneidung des hei¬ 
denchristlichen Paulusschülers Titus er¬ 
zwingen zu können. Allein so sehr der 
Apostel in kleinen Dingen nachzugeben 
bereit war, so sehr er sich bemühte, den 
Juden ein Jude, den Griechen ein Grie¬ 
che zu sein, um alle zu gewinnen — 
wenn es sich um einen wichtigen Grund¬ 
satz handelte, dann blieb er stahlhart. 
Und so kämpfte er für sein gesetzes¬ 
freies Evangelium wie ein Feldherr um 
die entscheidende Stellung; als Erfolg 
blühte ihm der Sieg in vollem Maße. 

Der geschlagene Feind wagte von da 
an den offenen Kampf mit dem überle¬ 
genen Führer nicht wieder aufzuneh¬ 
men, um so mehr suchte er die Wirk¬ 
samkeit des Apostels auf Schleichwegen 
zu hemmen. Zu den Mitteln, die ange¬ 
wendet wurden, gehörte auch die Herab¬ 
setzung der apostolischen Würde, die 
Verächtlichmachung seiner Person, ja 
man scheute sich nicht vor Verleumdun- 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp! 


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gen: er betreibe die Geldsammlung für 
die Muttergemeinde in Jerusalem zu 
selbstsüchtigen Zwecken, er beute 
die Christen listig aus (2. Kor. 12, 
16). Einmal, allerdings unter ganz 
andern Verhältnissen, hat er sogar 
vor einem Briefe, den man auf 
seinen Namen gefälscht, warnen müs¬ 
sen (2. Thess. 22 ). 

Paulus ist in das lichtscheue Treiben 
mit dem Schwerte seines Wortes dazwi¬ 
schen gefahren. Es sind die schärfsten 
Wendungen, die sich überhaupt in sei¬ 
nen Briefen finden, mit denen er die ju- 
daistischen Verführer straft. Er heifit sie 
Lügenapostel, trügerische Arbeiter, die 
nur die Maske von Aposteln Christi tra¬ 
gen (2. Kor. 11, 13); er nennt sie „Zer¬ 
schneidung“ in ätzender Umdeutung des 
Begriffes der Beschneidung, auf die sie 
so stolz sind (Phil. 3,2); „sie mögen sich 
selbst verstümmeln, die euch aufwie¬ 
geln,“ ruft er ihnen schroff entgegen 
(Gal. 5,12) und anderes mehr. (Vgl. Gal. 
l,8f.; 2Kor. 11,20; Röm.16,18; Phil. 
3, ia) 

Die Worte klingen hart, aber sie sind 
nicht der Widerhall persönlicher Belei¬ 
digungen, sondern sie entringen sich der 
empörten Seele, die Gefahr für die 
Sache des Evangeliums erblickt. Es sind 
Worte des Kampfes um die heilige 
Sache. Sittliche Entrüstung muß man 
heraushören, wenn er denen ein Ana¬ 
thema zuruft, die das Evangelium 
Christi verfälschen (Gal. 1,8 f.); aber es 
ist zuviel gesagt, wenn man von „aufge¬ 
regter Wildheit“ spricht. Vollends un¬ 
gerecht und geradezu verständnislos ur¬ 
teilt Fr. Nietzsche, der dem Apostel ge¬ 
meinen Racheinstinkt der Enterbten und 
versteckten Haß vorwirft. Gerechter 
Zorn verhält sich zu niedriger Rache wie 
heldenmütiger Kampf fürs Vaterland zu 
Morden und Sengen. Wie wenig der zor¬ 
nige Kampf seine Seele umdüstert und 


in die Sphäre des Hasses hinabgezo¬ 
gen hat, erkennt man deutlich daran, daß 
er, man möchte sagen: im gleichen 
Atemzuge mit den Kampfesworten sein 
liebevolles Herz ausschüttet Im Galater¬ 
brief lösen die rollenden Donnerworte 
zarte und feine Töne ab,‘in denen sich 
geradezu mütterlich liebendes Empfin¬ 
den für die Christen offenbart (Gal. 4, 
13 ff 19). Vielleicht-nirgendwo fällt die¬ 
ser Gegensatz von Stimmung und Ton 
so stark auf wie im Schreiben an die 
Phiüpper: der intime, gütige und gemüt¬ 
volle Grundton des Briefes und dazwi¬ 
schen das Strafgericht über die Juda¬ 
isten, Wer sich in die leidenschaftlich 
große Seele des Apostels nicht hinein¬ 
zudenken vermochte, ist sogar zu der 
Meinung gekommen, daß solche Gegen¬ 
sätze die literarische Einheit des Briefes 
sprengten. 

Paulus hat nie das umfassende Lie- 
besgebot des Meisters aus dem Auge 
verloren; ja er hat im Römerbrief 
(12,14 ff.), wie man sich mit Recht aus¬ 
gedrückt hat, den ältesten Kommentar 
zu den Worten Jesu geschrieben. Frei¬ 
lich ist die christliche Liebe nicht jenes 
schwächliche Pflänzchen, das die frische 
Luft nicht vertragen kann; auch sie ist 
eine Kämpferin: „Die Liebe sei rückhalt¬ 
los: Habt Haß gegen das Böse, Anhäng¬ 
lichkeit an das Gute" (Röm. 12,9). Wenn 
es sich wirklich um rein persönliche 
Kränkung handelt, bei der die große 
Sache nicht in Mitleidenschaft gezogen 
ist, dann weiß der Apostel schnell und 
aufrichtig zu verzeihen. Wie fein 
schließt er sich mit den korinthischen 
Christen (2. Kor. 2,10) zu einer Einheit zu¬ 
sammen in dem Falle, den manche auf 
eine unmittelbare Kränkung durch ein 
Gemeindemitglied beziehen: „Wem ihr 
aber vergebt, dem vergebeichauch. Denn 
was ich auch meinerseits vergeben habe, 
wenn ich überhaupt etwas zu vergeben 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf 


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hatte, habe ich euretwegen im Ange- 
gesichte Christi getan.“ Nach dem Phi¬ 
lipperbrief muß er beobachten, daß 
einige seine Gefangenschaft benutzen, 
um „aus Neid oder Streitsucht“ das 
Evangelium zu verkündigen. Aber er trö¬ 
stet sich rasch; das Motiv trifft nur seine 
Person, und sie steht zurück, der Sache 
wird ein Dienst geleistet: „wenn nur 
Christus gepredigt wird“ (Phil. 1,18). 

* * * 

Haß und niedere Rachgier finden im 
Herzen des Apostels keinen Raum. Aber 
dem Kampf für sein Evangelium ist er 
niemals ausgewichen, wo er ihn für not¬ 
wendig erachtete. Dann aber kannte er 
kein Ansehen der Person, er tritt auch 
dort fest und zielbewußt auf, wo sein 
Gegner ihm nahestand. Unter diesem Ge¬ 
sichtswinkel darf man die Gesamtheit 
der Paulinischen Bemühungen um die 
religiös-sittliche Hebung seiner Gemein¬ 
den verstehen. Jeder einzelne Christ ist 
ihm ein geliebtes Kind im Herrn, aber 
gerade darum scheut er nicht davor zu¬ 
rück — erbraucht selbst einmal das Bild 
(1. Kor. 4,21) —, gelegentlich auch mit der 
Zuchtrute zu drohen. Es sind ernste 
und scharfe Worte, die er der korinthi¬ 
schen Gemeinde sagen muß; doch wie 
sehr er gerade für sie besorgt ist, zeigen 
seine unermüdlichen Anstrengungen 
durch persönliche Besuche, durch Sen¬ 
dung vertrauter Schüler, durch Briefe. 
Ja, einer dieser Briefe, den wir nicht 
mehr besitzen, dessen Existenz aber mit 
einiger Wahrscheinlichkeit aus dem ka¬ 
nonischen zweiten Korintherbriefe er¬ 
schlossen werden kann, muß so bittere 
Wahrheiten enthalten haben, daß er die 
Leser im tiefsten Innern getroffen hat; 
es ist schon die Vermutung ausgespro¬ 
chen worden (Deißmann, Paulus, Tü¬ 
bingen 1911,48), er sei uns deswegen 
nicht mehr erhalten, weil die Korinther 
ihn im ersten Zorn zerrissen haben. Aber 


wie fein weiß er den strengen Worten den 
Stachel zu nehmen und ihnen eine ethi¬ 
sche Weihe zu geben. „Aus großer Not 
und Herzensangst“, so erklärt er, 
„schrieb ich euch unter vielen Tränen, 
nicht damit ihr betrübt würdet, sondern 
damit ihr die Liebe erkennet, die ich für 
euch in reichem Maße besitze“ (2. Kor. 
2,4). Und noch feiner heißt es an einer 
späteren Stelle in scheinbarem, geistvol¬ 
lem Widerspruche weiter: „Wenn ich 
euch auch mit meinem Briefe betrübt 
habe, so reut es mich nicht. War es mir 
auch leid — denn ich sehe ja, daß jener 
Brief euch, wenn auch nur für den Au¬ 
genblick betrübte —, so freue ich mich 
jetzt, nicht weil ihr betrübt wurdet, son¬ 
dern weil ihr betrübt wurdet zur Reue“ 
2. Kor. 7, 8 f.) 

Also nicht aus Lust an der Fehde 
schlägt Paulus Wunden, sondern um zu 
heilen. Je näher die Gemeinde ihm steht, 
um so mehr brennt die Wunde, aber 
nicht nur im Herzen des einzelnen Chri¬ 
sten, sondern auch in der eigenen Seele. 
„Die Liebe ist rückhaltlos.“ Wenn es der 
Förderung der Sache dient, scheut der 
Apostel auch nicht davor zurück, sich 
von seinen treuen Mitarbeitern zu tren¬ 
nen. Auf der ersten Missionsreise hatte 
Johannes Markus in schwächlicher Ge¬ 
sinnung die beiden Missionare Paulus 
und Barnabas vorzeitig verlassen. Pau¬ 
lus befürchtet daher, als er sich zu einer 
zweiten großen Reise mit Barnabas zu¬ 
sammen anschickt, von einer erneuten 
Teilnahme des Markus, in seinen weit¬ 
gehenden Plänen behindert zu werden. 
So weigert er sich, Markus mitzuneh¬ 
men, obwohl Barnabas auf der Anwe¬ 
senheit seines Verwandten bestand. Pau¬ 
lus läßt es aber lieber zum Streit und 
zum Bruche kommen, verzichtet also 
auch auf die Gemeinschaft mit seinem 
alten Gefährten und Freunde Barnabas 
(Apg. 15,37 ff.). Es ist nicht Rechthaberei 


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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp! 


und Unverträglichkeit, sondern Hintan¬ 
setzung aller andern Rücksichten hinter 
der Erwögung: Wie richte ich den Mis¬ 
sionsfeldzug am meisten fruchtbringend 
ein ? Ein anhaltender Groll gegen Markus 
ist keineswegs zurückgeblieben. Als er 
später mehr gereift und gefestigt war, hat 
der Apostel ihn gern wieder herangezogen. 

Von größerer Bedeutung war ein 
Strauß, den Paulus mit dem Apo¬ 
stel Petrus in Antiochien auszu¬ 
fechten hatte (Gal. 2, 11 f.), der die 
ganze Größe der apostolischen Kraft 
und des apostolischen Freimutes auch 
einer „Säule“ — er nennt ihn selbst so 
(Gal. 2,9) — gegenüber in helles Licht 
stellt. Es handelt sich um eine Frage, die 
mit dem Paulinischen Kampf gegen die 
Judaisten eng zusammenhängt. Petrus 
hatte in Jerusalem mit den beiden ande¬ 
ren „Häuptern“ Jakobus und Johannes 
zusammen dem Apostel die „Rechte der 
Gemeinschaft“'gegeben und so das ge¬ 
setzesfreie Paulinische Evangelium an¬ 
erkannt. Dementsprechend pflegte er bei 
einem Besuche in Antiochien, einer 
Hauptwirkungsstätte des Apostel Pau¬ 
lus, ungezwungen den Verkehr und auch 
die Tischgemeinschaft mit den Heiden¬ 
christen. Als aber von judenchristlicher 
Seite dagegen Bedenken geltend ge¬ 
macht wurden, zog er sich wieder 
von den Heidenchristen zurück. Und 
nun erhob sich die Gefahr, daß 
bei den Christen Verwirrung ent¬ 
stehen, daß die volle Ebenbürtigkeit 
der Heidenchristen wieder in Frage 
gestellt werden konnte. Petrus hat 
hier eine Schwäche gezeigt, indem er 
sich einschüchtem ließ und die Trag¬ 
weite seines Schrittes nicht bedachte; 
von seinem Standpunkte aus mag er ge¬ 
meint haben, aus Gründen der Zweck¬ 
mäßigkeit klug zu handeln, um sich nicht 
den Einfluß bei den Judenchristen und 
damit die Möglichkeit einer fruchtbaren 


Mission zu verscherzen. Aber Paulus 
blickte weiter und erkannte, daß das 
Verhalten des Apostels bei seinem ho¬ 
hen Ansehen grundsätzlich gewertet 
werden konnte und dann seiner eigenen 
großzügigen Wirksamkeit unter den 
Heiden schwere Hemmnisse bereiten 
mußte. Darum scheute er sich nicht, dem 
hl. Petrus in öffentlicher Versammlung 
„ins Angesicht zu widerstehen“ und ihm 
sein schwankendes Verhalten vorzuwer¬ 
fen. Über den weiteren Verlauf des 
Streites sind wir nicht mehr unterrichtet; 
da er nicht grundsätzlicher Natur war, 
kann eine dauernde Verstimmung bei 
den großen Aposteln, die nur der Sache 
Christi dienen wollten, nicht die Folge 
gewesen sein. 

Die Einheit im kirchlichen Leben hat 
er dadurch nicht geschädigt; im Ge¬ 
genteil: der Kampf diente auch hier nur 
der positiven Förderung, indem er die 
Keime möglicher Zwietracht im Entste¬ 
hen bereits unschädlich machte. Nie¬ 
mand ist ja so machtvoll für Einheit und 
Einigkeit aufgetreten als gerade Paulus. 
Der Epheserbrief ist das hohe Lied die¬ 
ser Einheit, und im ersten Korinther¬ 
briefe bildet der Kampf gegen zer- 
set^nde Bestrebungen den Inhalt eines 
wichtigen Teiles. Wie sehr ihm dabei die 
eigene Person hinter der Sache zurück¬ 
trat, beweist die Tatsache, daß er die 
Berufung auf seinen Namen als Losung 
einer Partei ebenso verurteilte wie den 
parteiischen Anschluß an Petrus oder 
Apollos (1. Kor. 1, 12f.). 

* * * 

Einheit und Eintracht verlangt auch 
das vaterländische Interesse in der gegen¬ 
wärtigen ernsten Stunde und über die 
augenblickliche Zeit des Werdens hin¬ 
aus für die Zukunftseritwickelung des 
Deutschen Reiches. Gewiß ist Einheit 
nicht Einerleiheit. Und auch dem Apo¬ 
stel ist diese Tatsache vom Standpunkte 


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Nachrichten und Mitteilungen 


1150 


des Gottesreiches aus gegenwärtig ge- düng ausgesprochen: „Hieronymus be- 

wesen, .wenn er z.B. gleichzeitig mit dem findet sich hier in derselben Lage wie 

Lobpreis der „Einheit des Geistes 44 im viele, bei welchen der Eifer für das 

Epheserbrief (4,1 ff.) auf die Mannigfal- Wahre und Gute größer ist als die Ein- 

tigkeit der Geistesgaben „nach dem sicht in das, was wahr und gut ist. Möch- 

Maße de Gabe Christi 44 hinweist. Ge- ten diese in Hieronymus ein warnendes 

gensätze bleiben auch im neuen Deutsch- Beispiel vor schneller Verdächtigung 

land zurück, ja es wäre nicht einmal finden und lernen, was es heiße: nur der 

wünschenswert, wenn die auseinander- Geistige weiß, was des Geistes ist; Au¬ 
sgehenden Interessen auf den mannig- gustins Vorbild aber belehre die un¬ 
faltigen Gebieten des Lebens künstlich schuldig Angegriffenen, daß der gute 

niedergehalten würdÄi. Der Kampf für einfältige Wille zu ehren sei, auch 

das als richtig erkannte Ideal wird stets wenn er irrt 41 . (Gesammelte Schriften 

sein Recht behalten. Allein es braucht und Aufsätze I[Regensburg 1839] 14.) Es 

kein Kampf verbunden mit der Ver- machen sich ja in der Gegenwart schon 

nichtungsabsicht zu sein, es braucht namentlich auf dem Gebiete der Ernäh- 

beim Gegner nicht böser Wille vor- rungsfragen sowie dem der Erörterung 

ausgesetzt zu werden; ebenso wie unserer Kriegsziele manche Gegensätze 
kleinliche Empfindlichkeit ist jede bemerkbar, die nicht mehr im Geiste 
zersetzende Kritik vom Übel. Zumal eines gesunden Ausgleiches der Kräfte 
dann, wenn sie vom Mißtrauen eingege- vertreten werden. Aber wir wollen der 
ben ist und aus unberufenem Munde frohen Erwartung leben, daß das nur 
stammt, wirkt sie verbitternd. Der be- Wellen sind, die die Oberfläche des 
kannte Möhler hat einmal in einem fein- Meeres kräuseln, und daß der in harter 
sinnigen Aufsatz über einen höchst Kriegszeit gewaltig vertiefte vaterländi- 
lehrreichen Streit der beiden abendlän- sehe Gedanke alle auseinanderstreben- 
dischen Kirchenlehrer Hieronymus und den Kräfte doch schließlich in einer 
Augustinus, der sich um das Verstand- Richtung zusammenhält: in der Liebe 

nis des vorhin erwähnten Zusammen- zum gemeinsamen Vaterland und der 

Stoßes zwischen Petrus und Paulus Förderung seiner Macht und Größe, 

dreht, die beachtenswerte Nutzanwen- 

Nachrichten und Mitteilungen. 

Rudolf Kjettens neuestes Buch. lesen, so steht Kjelten heute als historisch- 

Als kurz vor Ausbruch des Krieges das politischer Betrachter und Denker, bemüht 
Buch: „Die Großmächte der Gegenwart“ bei um überschauend eindringende Erkenntnis 
Teubner erschien, war der Name des Ver- der gewaltigen Wehen, die unsere Welt 
fassers — Professor damals in Gotenburg, durchschütteln, im Ausland an vorderster 
heute an der Universität Upsala — in Stelle. Zu Ende des nächsten Jahres brachte 
Deutschland nur seinen nächsten Fachge- die Hirzelsche Sammlung „Zwischen Krieg 
nossen vertraut. Wie aber wohl jeder, der und Frieden“ Betrachtungen über „Die 
in sich aufgenommen hatte, was hier an Ideen von 1914“, die Frage beantwortend: 
reicher Belehrung auf mäßigem Raum in „Welche geistigen Werte •kann uns 1914 
einer sehr glücklich gewählten festen und schenken statt der gepriesenen von 1789, 
deutlichen Gliederung des Stoffes geboten die es uns entreißen will?“ In einer in 
wird, im stillen sich sagte: Was von die- Inhalt und Form an Carlyle erinnernden 
sem Manne noch zukünftig in deutscher Darstellung wird die historische Bedingt- 
Sprache herauskommt, das wirst du alles heit, somit auch die Vergänglichkeit jener 


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1151 


Nachrichten und Mitteilungen 


1152 


so vielen doch heutigentags noch teuren 
Ideale gezeigt und werden an Stelle der ver- 
drängten Freiheits- und Gleichheitsideen die 
der sozialen Ordnung und Gerechtigkeit un¬ 
serer Zukunft als Leitsterne gewiesen. Die 
1916 bei Teubner erschienene, an Bedeutung 
jener ersten gleichwertige Schrift: »Die poli¬ 
tischen Probleme des Weltkrieges" knüpft an 
die dort gewonnenen Erkenntnisse an, auch 
an das Schema der Stoffteilung, und nutzt 
zugleich die bisherigen Erfahrungen des 
Krieges, um womöglich »Faden für Faden 
den Ursachenknäuel zu entwirren, aus dem 
er hervorging“. 

Wiederum mit beiden Vorgängern gene¬ 
tisch eng verbunden ist das jetzt bei S.Hirzel 
herausgegebene Buch: »Der Staat als Lebens¬ 
form". Auf das Fundament der in ihnen nie- 
dergelegten Empirie errichtet, bringt es das 
»System der Politik“ des Verfassers. Daß 
wir damit im Bereich des Ziels und Gipfels 
all seiner bisher in dieser Richtung unter¬ 
nommenen Arbeit angelangt sind, sagt das 
Vorwort ausdrücklich; es war auch schon 
in den „Politischen Problemen“ wie in den 
„Großmächten“ mehr oder weniger deutlich 
angezeigt worden. Am Eingang zu den 
„Problemen“ sagte derVerfasser: „Wenn ich 
hier von der Staatswissenschaft spreche, so 
geschieht das natürlich nicht in der be¬ 
schränkten Bedeutung einer Staatsverfas- 
sungskunde, die unsere akademische Orga¬ 
nisation so lange beherrscht hat Mit dieser 
Anschauung habe ich meine endgültige 
wissenschaftliche Abrechnung in öffent¬ 
lichen Vorlesungen über den Staat als Le¬ 
bensform (Herbstsemester 1908) gehalten.... 
Nach diesem Verfahren werden die Staaten 
nicht als wandelnde Verfassungsschemata 
oder Rechtssubjekte angesehen, sondern als 
große Lebewesen, als überindividuelle Per¬ 
sönlichkeiten, die im Guten und Schlechten 
von Lebenstrieben erfüllt sind; .stolz, ehr- 
liebend und egoistisch sind sie alle, aber 
keiner dabei gleich dem andern' (Meinecke); 
jeder ist an Daseinsbedingungen gebunden» 
wie sie aus der Entwicklung und der äuße¬ 
ren Umgebung erwachsen sind.“ 

Es ist die von dem weitblickendsten un¬ 


serer Historiker für die Staatswissenschaft 
gewonnene Erkenntnis, die hier Kjellön, wie 
er weiß und hervorhebt (S. 34 f.), zur Grund¬ 
lage seiner Staatsauffassung gemacht hat 
In Treitschkes „Politik“ wird sie als Selbst¬ 
verständlichkeit hingestellt und behandelt; 
als zuerst von Ranke in ihrer ganzen 
Prägnanz erfaßte und für seine historio- 
graphische Praxis fruchtbar gemachte An¬ 
schauung haben sie Lenz und Meinecke wie¬ 
der aufgezeigt (vgl. diesen noch in »Deutsch¬ 
land und der Weltkrieg“ 2. A. S. 769H.) 

Diese biologische Auffassung, die den 
Staat vor allem als lebendige individuelle 
Macht begreift, für deren Handeln die 
»politische Zweckmäßigkeit, der Nutzen 
und die Notwendigkeit“ das zentrale Mo¬ 
tiv, „das moralische Prinzip“ sind (S. 39), 
hat es so auch vor allem mit dem terri¬ 
torialen und dem ethnischen Element sei¬ 
nes Bestandes zu tun, die daher schon in 
den „Großmächten“ und den „Problemen“ 
von Kjellön immer an erster Stelle erörtert 
sind. Sie sind die sinnliche Seite dieses 
sinnlich - vernünftigen Wesens Staat, das 
zuallererst eine Interessen- und Macht- 
sphäre, nicht eine Rechtssphäre ist (S. 222). 
Seine Kulturelemente, deren Ausbildung 
der Wirtschaftspolitik,' der „Soziopolltik“ 
und der Politik des Staates als Rechts¬ 
subjekt und herrschender Gewalt im Innern 
obliegt, treten in der Kjellönschen Be¬ 
trachtung hinter jene beiden „spezifischen 
Naturelemente“ zurück. Nur die „inneren 
Verbindungskanäle, durch welche die Natur¬ 
faktoren auch auf sie Einfluß ausüben“, will 
er beleuchten. Aber auch hier noch gibt er 
auf knappem Raum unverhältnismäßig viel 
des Beachtenswerten, so seine Kritik des 
allgemeinen Stimmrechts S. 189B. 

Diese Skizze kann den reichen Inhalt des 
Buches nur andeuten. So kann auch auf 
den ästhetischen Wert der wie immer bei 
Kjellön von einer Fülle treffender Bilder 
und Vergleiche belebten Darstellung hier 
nur hingewiesen werden. Sie erregt den 
Wunsch, seine Werke mit vollem Verständ¬ 
nis in ihrer Originalsprache aufnehmen zu 
können. M. C. 


FOr die SduttUeltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlceltus, Berlin W 30, LaltpoldstraSe 4. 

Druck von B.O.Teubner in Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 

11. JAHRGANG HEFT 10 1. JULI 1917 


Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen 
U nterrichts Verwaltung. 

Von Arnold Sachse. 


Vom ersten Tage der Mobilmachung 
an ist die preußische Unterrichtsverwal¬ 
tung wie alle anderen deutschen Staats¬ 
verwaltungen bestrebt gewesen, die ihr 
unterstellten Einrichtungen unter tun¬ 
lichster Aufrechterhaltung ihres Betrie¬ 
bes in den Ebenst des Kriegswesens zu 
stellen. Ihre erste Sorge aber galt den 
von ihr Abschiednehmenden, ins Heer 
eintretenden Schülern und Studieren¬ 
den. Die Schuleinrichtungen selbst wer¬ 
den zur Kriegswirtschaft nicht gerech¬ 
net; sie treten daher hinter den Erfor¬ 
dernissen der eigentlichen Kriegswirt¬ 
schaft zurück. Zahlreiche Unterrichts¬ 
räume der Hochschulen und der anderen 
Schulen wurden den Truppen zur Ver¬ 
fügung gestellt; sehr viele wurden in 
Lazarette umgewandelt. Namentlich 
wurden die großen Säle und die Turn¬ 
hallen zu verschiedenen militärischen 
Zwecken gebraucht. Die Einziehung ei¬ 
nes großen Teiles der Lehrerschaft, die 
sich zunächst noch unter Beachtung der 
im Frieden nach den Bedürfnissen der 
Unterrichtsanstalten aufgestellten Unab¬ 
kömmlichkeitslisten vollzog, brachte 
eine empfindliche Störung des Unter¬ 
richtsbetriebes mit sich. Die Unterrichts¬ 
verwaltung war bemüht, diesem Mangel 
an Räumen und Personen durch eine 
Reihe von Maßnahmen auf dem Ge¬ 
biete des inneren Unterrichtsbetriebes zu 
begegnen durch Zusammenlegung von 
Klassen, Auflösung kleiner Klassen, 


Verringerung der Wochenstundenzahl 
der Schüler und Erhöhung der Pflicht¬ 
stundenzahl der Lehrpersonen. Sie trat 
dann an die Ergänzung des Lehrperso¬ 
nals heran, die sich zunächst infolge 
des Überangebots weiblicher Lehrkräfte 
noch leidlich bewirken ließ, im Verlauf 
des Krieges aber aus verschiedenen Ur¬ 
sachen immer schwieriger gestaltete. 
Während die Heeresverwaltung die Be¬ 
soldung der eingezogenen Lehrer nach 
den im Frieden auf Grund des 
Reichsmilitärgesetzes getroffenen, der 
großen Menge bisher ganz unbekannt 
gebliebenen, z. T. auch geheim gehal¬ 
tenen Bestimmungen übernahm, sah sich 
die Unterrichtsverwaltung bald vor die 
Aufgabe gestellt, für die Aufbringung der 
Kosten der Stellvertretung und für die 
zurückgebliebenen Familienangehö¬ 
rigen zu sorgen. Hier ergab sich eine 
Reihe von Fragen, deren Erledigung na¬ 
mentlich auf dem Volksschulgebiete we¬ 
gen der gesetzlichen Schulunterhal¬ 
tungspflicht der Gemeinden und der le¬ 
diglich subsidiarischen Beitragsver¬ 
pflichtung des Staates sich besonders 
schwierig gestaltete. Der innere Unter¬ 
richtsbetrieb wurde den Verhältnissen 
und Erfordernissen des Krieges ange¬ 
paßt. Die erziehliche Aufgabe der 
Schule trat bei dem durch den Krieg be¬ 
dingten häufigen Versagen der Familie 
in den Vordergrund. Darüber hinaus 
aber wurde die Schule benutzt, um die 

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1155 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1156 


Hilfe der Kinder teils unmittelbar Hee- 
reszwedken dienstbar 2 U machen, teils 
um durch ihre Vermittlung auf die so 
am leichtesten zugänglichen Familien 
einzuwirken. Die Hauptrolle spielte da¬ 
bei das Gebiet der Volksemährung. Das 
Berechtigutigswesen machte in Rück¬ 
sicht auf die in das Heer eingetretenen 
Schüler und Studierenden besondere 
Maßnahmen für die Gegenwart und für 
di? Zukunft der Kriegsteilnehmer not¬ 
wendig: Trotz der Fülle dieser Kriegs¬ 
aufgaben und wenn auch organisato¬ 
rische Maßnahmen größeren Stils natur¬ 
gemäß wegen des Fehiens der erfor¬ 
derlichen Geldmittel und der zur Aus¬ 
führung nötigen Personen unterbleiben 
mußten, hat die natürliche Entwick¬ 
lung des Unterrichtswesens doch nicht 
stillgestanden. Sie Ist an den Stellen, wo 
sie trotz des Krieges fortschieiten mußte, 
auch gefördert worden, oft in überra¬ 
schender Weise. 

Im folgenden soll ein kurzer Bericht 
darüber erstattet Werden, welche Ma߬ 
nahmen die preußische UnteTrichtsver- 
Waltung gegenüber der Fülle der in der 
Einleitung bezeichneten Aufgaben ge¬ 
troffen hat. Sie hat sich dabei, zuweilen 
Unter Verzichtleistung auf erst ergriffene 
Mittel, den jeweiligen Kriegsverhältnis¬ 
sen angepaßt und wird dies auch weiter 
tun, wenn die lange Dauer des Krieges 
ihr noch härtere Bedingungen auferie- 
gen sollte als bisher. Nur das Wesent¬ 
liche kann hervorgehoben werden; auch 
können die in die Beamtenverhältnisse 
eingreifenden allgemeinen Anordnungen 
der Heeresverwaltung, zu deren Ausfüh¬ 
rung die Unterrichtsverwaltung für ihren 
Dienstbereich berufen ist, hur gestreift 
werden. 

I. Die Erhaltung der Schulen. 

Mit gerechtem Stolz hat der preußi¬ 
sche Unterrichtsminister im Frühjahr 


1015 darauf hingewiesen, daß es bis da* 
hiil fast überall gelungen war, den Unter¬ 
richtsbetrieb, auch in den Volksschulen, 
aufrechtzuerhalten und ernste Schulstö¬ 
rungen zu verhüten. Es ist klar, daß, 
je länger der Krieg dauert, desto mehr 
das Schulwesen mit aller anderen Ar¬ 
beit hinter der Front leidet, und daß es 
hier, wie bei aller dieser Arbeit, nur der 
hingebenden und aufopfernden Tätig¬ 
keit der Beamten und Lehrer gelingt, 
gegenüber den steigenden Ansprüchen 
der Kriegführung die Leistungen der 
Schulen auf unterrichtlichem und er¬ 
ziehlichem Gebiet aufrechtzuerhalteh. 
Als ein Trost darf gegenüber den gro¬ 
ßen Lücken, die das Erkennen und Wissen 
der Schüler und der Studierenden auf¬ 
weisen muß, gelten, daß die große Zeit 
mit ihren gewaltigen Eindrücken um 
so nachhaltiger andere Seiten des See¬ 
lenlebens fördert, daß sie erhebende 
Gefühle weckt und das Willensleben 
so stärkt, daß die Mähgel der EHtennt- 
nis damit ausgeglichen, wenn nicht 
überholt werden. 

Der Ausbruch des Krieges veränderte 
das Bild der Schulen. Die Lehrerschaft 
des Deutsch«! Reiches hat mit den 
übrigen Ständen gewetteifert, dem Rufe 
des Kaisers zur Verteidigung des Va¬ 
terlandes gegen einen ruchlosen Ober* 
fall Folge zu leisten. Willig strömten 
die Einberufenen zu den Fahnen und 
mit ihnen zahlreiche Kriegsfreiwillige; 
Teils mit, teis ohne Genehmigung ih¬ 
rer Vorgesetzten bewarben sie sich um 
die Einstellung in den Heeresdienst, so 
daß die nächsten Behörden, besorgt hm 
die Entvölkerung der Schulen, zu ver¬ 
hindern suchten, daß die Lehrer ohne 
Rücksicht auf den doch fortzusetzen¬ 
den Dienst an der Schute in das Heer 
eintraten. Da mußte der Uhterrichtsmi- 
nister eingreifen und er untersagte den 
Behörden, ehemaligen Offizieren und 


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1157 A. Sachse, Die Kriegsmaftaahmen der 


UnterrkbtsverwaKung } 158 


Offizieren des Beurlaubtenstandes 
und «och gedienten Unteroffizieren die 
Erlaubnis zum Wiedereintritt in das 
Heer zu verweigern. Denselben Eifer 
wie die Lehrer bewiesen die Studie¬ 
renden und die Schaler. Zu Tausenden 
traten sie freiwillig in das Heer ein. 
Die Hochschulen behielten kaum ein 
Viertel ihrer froheren Hörerzahl. Die 
oberen Klassen der höheren Knaben¬ 
schulen, die Seminare und selbst die 
Pifiparandenanstalten leerten sich. 
Wenn auch dadurch an den Hochschu¬ 
len einige Vorlesungen entbehrlich 
wurden, an den höheren Schulen einige 
Klassen sich auflösten, so galt es doch, 
für die Zurackbleibenden einen geord¬ 
neten, zum Ziel fahrenden Unterrichts¬ 
gang aufrechtzuerhalten. Die Klassen 
der Mittel- und Volksschulen blieben 
vollzählig. An allen Unterrichtsanstal¬ 
ten wies das Lehrpersonal bald nach 
Ausbruch des Krieges große Lücken 
auf. Aber der Mangel war damals 
doch noch im wesentlichen auf die 
durch die Unabkömmlichkeitslisten im 
Frieden vorgesehenen Lücken be¬ 
schränkt Natürlich wurden die an deut¬ 
schen Schulen unterrichtenden Ange¬ 
hörigen der gegen Deutschland Krieg 
fahrenden Staaten von der Fortsetzung 
ihrer Lehrtätigkeit ausgeschlossen. 

Es galt nun, die Lachen, so gut es 
ging, zu decken und den Unterricht 
tunlichst im alten Umfange foi*tzuset¬ 
zen. An manchen Anstalten war dies 
allerdings schon aus räumlichen Grün¬ 
den unmöglich, weil das Heer Schul- 
raume in Anspruch genommen hatte. 
Dem Übereifer von Vereinen, die sich 
Kriegswohlfahrtszwecke zum Ziel ge¬ 
setzt hatten und für diese ohne weiteres 
Schulräume verlangten, wußte die Un- 
terrichtsVerwaltung aber zu wehren. 
Männliche Aushilfe stand nur spärlich 
zu Gebote. Pensionierte Lehrer traten, 

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wenn auch nur in geringer Zahl, wieder 
in den Schuldienst ein. Vielmehr hielt 
die Unterrichtsverwaltung zahlreiche 
Lehrer, die nach Erschöpfung ihrer 
Kräfte gern in den Ruhestand ge¬ 
treten wären, zurück! Selbstverständ¬ 
lich wurden die nicht in das Heer ein- 
tretenden Seminar- und Probekandkia- 
ten alsbald zu vollem Unterricht heran- 
gezogen. An den Seminar-Übung*- 
schulen wurde den Seminaristen der 
zweiten Klasse der Unterricht unver¬ 
traut. Aus dem feindlichen Ausland 
vertriebene Deutsche, Lehrer und son¬ 
stige gebildete Personen, wenn sie die 
französische oder englische Sprache be¬ 
herrschten, wurden auch ohne vor¬ 
schriftsmäßige Prüfung zum fremd¬ 
sprachlichen Unterricht zage Lassen. Die 
Hilfe der Geistlichen wurde dankend 
angenommen. In der Hauptsache aber 
wurden die Lücken ausgefüllt durch 
geprüfte Lehrerinnen. Sie meldeten sich 
in vaterländischer Opferfreudigkeit 
scharenweise zu unentgeltlicher Aus¬ 
hilfe in der im Anfang des Krieges 
allgemein verbreiteten Auffassung, 
daß es darauf ankäme, an allen öffent¬ 
lichen Stellen zugunsten der Krieg¬ 
führung Ersparnisse zu machen!. Die 
Magistrate wurden ermächtigt, selb¬ 
ständig Lehrerinnen anzunehmen, und 
sie machten größtenteils gern von dem 
Anerbieten unentgeltlicher Unterrichts- 
erteilung Gebrauch. Aber schon nach 
wenigen Wochen schritt die einsich¬ 
tigere Unterrichtsverwaltung ein und 
ordnete an, daß die Lehrerinnen, wie 
alle anderen Kriegsarbeiter, zu entschä¬ 
digen seien. Man darf annehmen, daß 
dies vom Oktober 1014 ab 'allgemein 
geschehen ist. 

Der Lehrermangel wuchs aber. Nach¬ 
dem erst die jüngeren Lehrer und die 
gedienten Leute eingezogen waren, setzte 
sich die Einziehung jahrgangsweise 

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1159 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1160 


fort. Die auf Grund eines Kriegsgeset¬ 
zes angeordnete Nachuntersuchung der 
bisher als dauernd invalide entlassenen 
Militärpersonen und der Dienstuntaug¬ 
lichen veranlaßte die Einziehung neuer 
Scharen von Lehrern, zunächst nur 
der Kriegsverwendungsfähigen. Es 
mußten aber bald neue Unabkömmlich¬ 
keitslisten auch für die nur Garnison- 
und Arbeitsverwendungsfähigen aufge¬ 
stellt werden. Endlich steht auch die 
Einziehung aller wehrpflichtigen Leh¬ 
rer bevor, während die vaterländische 
Hilfsdienstpflicht die im öffentlichen 
Schuldienst befindliche Lehrerschaft 
frei läßt. So sind im Laufe des Krieges 
die Lücken in der Lehrerschaft immer 
größer geworden, und die Verwaltung 
mußte auf neue Mittel zu ihrer Stop¬ 
fung bedacht sein, ln immer stärke¬ 
rem Maße wurden Lehrerinnen herange¬ 
zogen. Abweichend von der Friedens¬ 
regel wurden sie auch an den unteren 
Klassen der höheren Knabenschulen, an 
den oberen Knabenklassen mehrklassi- 
ger Volksschulen und selbst an einklas- 
sigen Volksschulen verwendet Auch 
die Grenzen der konfessionellen Schule 
konnten nicht mehr eingehalten wer¬ 
den. Es war unvermeidlich, den großen 
Überfluß an katholischen Lehrerinnen in 
manchen Gegenden nutzbar zu machen. 
Die bisher meist an Zwergschulen tä¬ 
tigen jüdischen Lehrer wurden zur Aus¬ 
hilfe an überfüllten christlichen Schu¬ 
len herangezogen. Neben den wissen¬ 
schaftlichen Lehrerinnen wurde die 
große Zahl der vorhandenen techni¬ 
schen Lehrerinnen (für Turnen, Zeich¬ 
nen, Handarbeiten, Hauswirtschaft 
usw.) zu wissenschaftlichem Unterricht 
herangezogen, und sie haben sich, wie 
bezeugt wird, gut bewährt Kleinkinder¬ 
lehrerinnen und Kindergärtnerinnen 
wurde Unterricht auf der Unterstufe 
von Volksschulen übergeben. Krieger¬ 


witwen, die vor ihrer Verheiratung be¬ 
reits als Lehrerinnen tätig gewesen wa¬ 
ren oder die Lehrerinnenprüfung ab¬ 
gelegt hatten, wurden darauf aufmerk¬ 
sam gemacht daß sie schon nach den 
bisherigen Bestimmungen bei der Be¬ 
setzung von Stellen berücksichtigt wer¬ 
den konnten. 

Der Lehrermangel traf die Gemein¬ 
den sehr ungleich. Damit wirkte auch 
die finanzielle Last ganz ungleich. Na¬ 
mentlich hatten die rasch herangewach¬ 
senen, kinderreichen Industriegemein- 
den, deren Lehrerschaft infolge dieser 
Umstände auch verhältnismäßig jung 
war und darum zahlreich in das Heer 
eingereiht wurde, viel schwerer zu lei¬ 
den als ältere und kinderarme Ge¬ 
meinden mit ölte rer Lehrerschaft. Die Be¬ 
hebung oder Milderung des Lehrerman¬ 
gels erwies sich als abhängig von der 
Möglichkeit des Ausgleichs unter den ein¬ 
zelnen Schulsystemen und, wo innerhalb 
der Gemeinde die Möglichkeiten des 
Ausgleichs erschöpft waren, von Ge¬ 
meinde zu Gemeinde. Zweckmäßige 
Ausgleichsmaßregeln unterblieben in 
zahlreichen Fällen, anfänglich dann 
und wann auch aus weichherzigen 
Rücksichten der Unterrichtsbehörden 
gegenüber Lehrern und Gemeinden, 
hauptsächlich aber, weil die verschie¬ 
denartige Unterhaltungspflicht der ein¬ 
zelnen Schulen hinderlich war. Es er¬ 
wies sich als verhängnisvoll, daß der 
Staat zwar das Recht der Aufsicht und 
Anordung im Schulwesen besitzt 
aber die Pflicht der Schulunterhaltung 
für zahlreiche höhere Schulen und im 
gesamten Volksschulwesen in erster 
Linie der Gemeinde obliegt. Der Krieg 
hat gezeigt, daß hier nur die Unterhal¬ 
tung der Schulen durch den Staat den 
gerechten Lastenausgleich herbeiführen 
kann. Aber die Unterrichtsverwaltung 
hat doch gesucht, Ausgleiche vorzu- 


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1161 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1162 


nehmen; sowohl durch Gewährung 
staatlicher Unterstützungen, durch die 
zweckmäßige Verwendung der Ergän¬ 
zungszuschüsse bei den Volksschulen, 
wie durch allgemeine Maßnahmen zur 
Herbeiführung von Verschiebungendes 
Lehrpersonals. Auf dem Gebiete des 
höheren Unterrichtswesens ist dies 
hauptsächlich geschehen durch Abord¬ 
nung der dem Provinzialschulkollegium 
zur Verfügung stehenden Kandidaten 
des höheren Lehramts. Preußen hat mit 
anfänglichem Oberfluß an solchen gro߬ 
herzig auch kleineren deutschen Staaten 
ausgeholfen. 

Auf dem Gebiet des Volksschulwesens 
kam der Unterrichtsverwaltung ein kürz¬ 
lich ergangenes Oberverwaltungsge¬ 
richtserkenntnis zu Hilfe, nach dem es 
mit dem geltenden Rechte nicht in Wi¬ 
derspruch steht wenn ein Lehrer, ohne 
aus seinem bisherigen Amte entlassen 
zu werden, in einem anderen Schulver¬ 
band zu Vertretungen verwendet wird 
und das Einkommen seiner Stelle von 
dem Verband, in dem er angestellt ist 
unverkürzt weiter bezieht. Zahlreiche 
Volksschullehrer wurden so aus den 
Städten auf die verwaisten Landschu¬ 
len vertretungsweise unter Gewährung 
besonderer Entschädigungen für den 
Dienst am fremden Orte abgeordnet Es 
wurde auch die Möglichkeit geschaf¬ 
fen, Lehrer von mittleren Schulen an 
auswärtigen Landschulen zu verwenden. 
Für solche Fälle aber wurde bestimmt 
daß diese Lehrer ihr Diensteinkommen 
in der Höhe, in der es von der Anstel¬ 
lungsgemeinde zu zahlen ist, zurückzu¬ 
lassen haben und die Unterhaltungs¬ 
pflichtigen derjenigen Schule, an der der 
Lehrer beschäftigt wird, das zurückge¬ 
lassene Gehalt neben der etwaigen Ver¬ 
tretungsentschädigung aufzubringen ha¬ 
ben. 

Als auch diese Maßnahmen noch nicht 


ausreichten, die Lücken zu decken, 
ging die Unterrichtsverwaltung dazu 
über, den Schülerinnen der Seminarklas¬ 
sen der Lehrerinnenbildungsanstalten die 
Vergünstigung zu gewähren, unter Be¬ 
freiung von der Prüfung vorzeitig das 
Lehrbefähigungszeugnis, jedoch unter 
Ausschluß der Zulassung zum Uni¬ 
versitätsstudium, zu erlangen, wenn 
sie sich mindestens bis nach Been¬ 
digung des Krieges für den Volks¬ 
schuldienst zur Verfügung stellten« 
Dann trat der Rückstrom der kriegsbe- 
schädigten Lehrer und Schulamtsbewer¬ 
ber ein. Die Unterrichtsverwaltung sah 
es nicht nur als eine Nützlichkeitsma߬ 
nahme, sondern auch als eine Ehren¬ 
pflicht an, denjenigen unter ihnen, die 
nach ihrer Heilung aus dem Heeres¬ 
dienst entlassen werden mußten, wieder 
ein Unterkommen im Schuldienst zu ge¬ 
währen. Sie nahm ausdrücklich ihnen 
gegenüber Abstand von den Forderun¬ 
gen, die sie sonst in gesundheitlicher Be¬ 
ziehung an die Lehrer stellt, und förderte 
auf jede Weise die Wahl der Geprüften, 
lehnte aber einen Erlaß noch nicht ab¬ 
gelegter Prüfungen ab, sagte nur dem zu 
Prüfenden wohlwollende Behandlung 
zu. Schließlich hat die Notwendigkeit, 
den Lehrermangel tunlichst zu beseiti¬ 
gen, zur Ausfüllung einer alten Lücke 
in der preußischen Schulverfassung; 
geführt. Es fehlte nämlich eine Bestim¬ 
mung über die zahlenmäßige Zusam¬ 
mensetzung der Lehrkörper im Volks¬ 
schulwesen aus männlichen und weib¬ 
lichen Lehrkräften. Sie war im wesent¬ 
lichen der Willkür der Schulunterhal¬ 
tungspflichtigen und der Schulaufsichts¬ 
behörden überlassen. Im höheren Kna¬ 
benschulwesen war bis zum Kriege 
überhaupt kein Raum für die Betäti¬ 
gung weiblicher Lehrkräfte gegeben; 
im höheren Mädchenschulwesen sind 
durch die Neuordnung von 1906 zahlen- 


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1163 A. Sachse, Die Kriegsmagnahmen 4er Preußischen Unterrichtsverwaltung 1164 


mäßige Bestimmungen erlassen. Nun- 
mehr sind 1916 auch für das Volksschul¬ 
wesen Bestimmungen über die Durch¬ 
setzung der Lehrerschaft mit Lehrerin¬ 
nen getroffen. Sie gehen davon aus, daß 
die Lücken, die der Krieg in die Reihen 
der preußischen Lehrerschaft gerissen 
hat, so groß sind, daß der vorhandene 
Nachwuchs männlicher Lehrkräfte zu 
ihrer baldigen Ausfüllung nicht aus¬ 
reicht. Es sei daher darauf Bedacht zu 
nehmen, anderen geeigneten Ersatz zu 
beschaffen und dabei seien noch der Be¬ 
friedigung harrende Bedürfnisse der 
Volksschule nach der erziehlichen und 
unterrichtlichen Seite zu berücksichti¬ 
gen. Der Minister erkennt, daß der Ein¬ 
fluß der Frau bei der Erziehung der 
weiblichen Jugend vielerorts noch nicht 
oder nicht ausreichend zur Geltung ge¬ 
kommen sei. Es werde daher nicht bloß 
der Not der Zeit, sondern einem Bedürf¬ 
nis der Volksschule Rechnung getragen, 
wenn eine Durchsetzung der Lehrer¬ 
schaft mit Lehrerinnen in dem Umfange 
herbeigeführt werde, daß Lehrerinnen an 
einer Mädchenschule etwa für */s der 
Stellen, an gemischten Schulen je nach 
der Zahl der Klassen in bestimmtem 
Verhältnis, etwa mit 1:2 der männlichen 
Lehrkräfte, angestellt würden, an reinen 
Knabenschulen für die Unterstufe zuge¬ 
lassen würden. Diese Gesichtspunkte sind 
bei Neuerrichtung von Schulstellen und 
bei Erledigungen von den Schulaufsichts¬ 
behörden zur Richtschnur zu nehmen. 

Alle diese vorbezedchneten Maßnahmen 
hatten naturgemäß einen beständigen 
Wechsel des Lehrpersonals in den einzel¬ 
nen Schulen im Gefolge, je nach Eintritt 
neuer Einstellungen in das Heer. Dieser 
Wechsel hat die Schulen vorschwere Auf¬ 
gaben gestellt. Den Direktoren der höhe¬ 
ren Schulen brachteer die beständigeAus- 
arbeitung neuer Stundenpläne, wobei 
sonst unbedingt zu erfüllende Voraus¬ 


setzungen für die Übertragung des Unter* 
richte an dazu wirklich befähigte Lek* 
rer sehr häufig unerfüllt bleiben muß* 
ten. Manche Fächer, namentlidi die 
technischen, mußten ganz ausfallen 
weil die nur einzeln an den Anstalten 
vorhandenen Fachlehrer fehlten und 
nicht ersetzbar waren. Der Wunsch der 
Unterrichtsverwaltung, daß der für die 
Heeresvorbildung der Jugend nicht un¬ 
wichtige Zeichenunterricht tunlichst 
nicht ausfallen soll, hat sich selbst an 
Realanstalten nicht überall erfüllen las¬ 
sen. Der Turnunterricht mußte an zahl¬ 
reichen Anstalten ausfallen, nicht bloß 
wegen des fehlenden Lehrpersonals, 
sondern wegen der anderweitigen Ver¬ 
wendung der Turnhallen. 

Das Fehlen so vieler Lehrkräfte hat 
an die Leistungsfähigkeit der zurückge¬ 
bliebenen die höchsten Anforderungen 
gestellt. Nicht nur mußten ihre Wochen¬ 
stundenzahlen vielfach erhöht werden, 
sondern sie sind auch genötigt, sich in 
ihnen bisher fremde Gebiete einzuar* 
beiten. Das gilt sowohl für die Hoch¬ 
schulen wie für alle anderen Schulen. 
Dazu kam erschwerend, daß die Staats¬ 
verwaltung die Mehrleistungen aus zu¬ 
nächst berechtigter Sparsamkeit unent¬ 
geltlich in Anspruch nahm, ein Stand¬ 
punkt, den sie bei der langen Dauer des 
Krieges allerdings nicht in aller Strenge 
aufnechterhalten konnte. 

11. Sorge für die Lehrer und ihre 
Zukunft. 

Die Zahlung des Zivildiensteinkom- 
mens an die ins Heer eingetreteneo 
Volksschullehrer, die Anwendung der 
Bestimmungen des Reichsmilitärgeset- 
zes und der Kriegsbesoldungsordnung 
brachten der Unterrichtsverwaltung die¬ 
selbe Aufgabe wie allen anderen Zi* 
vilverwaltungen, insoweit es sich um 
Universitätslehrer und Lehrer Staat* 


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1165 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung hqo 


lieber höherer Lehranstalten und end¬ 
gültig oder einstweilig angestellte 
Volksschullehrer handelte. Die auftre¬ 
tenden Schwierigkeiten wurden im we¬ 
sentlichen durch den Finanzminister und 
den Minister des Innern gelöst. Dem Un¬ 
terrichtsminister lag es lediglich ob, die 
von jenen getroffenen Entscheidungen 
auf seinen Dienstbereich zu übertragen. 
Diejenigen Beamten und Lehrer, die 
nicht die Besoldung eines Offiziers oder 
oberen Beamten der Militärverwaltung 
erhalten, beziehen danach ihr Zivil- 
diensteinkommen unverkürzt weiter. 
Den Offizieren und oberen Beamten der 
Militärverwaltung werden 7 /io ihrer 
Kriegsbesoldung auf ihr Zivildienst¬ 
einkommen angerechnet, aber nur 
dann und soweit als das Zivil- 
diensteinkommen und 7 / 10 der Kriegs¬ 
besoldung zusammen den Jahresbetreg 
von 3600 M. übersteigen. Die beson¬ 
deren Schwierigkeiten für die Unter¬ 
richtsverwaltung entstehen erst bei den 
auftragsweise beschäftigten Lehrern 
und bei der Stellvertretung hinsicht¬ 
lich der Aufbringung der doppelt erfor¬ 
derlichen Mittel für den Stelleninhaber 
und den Vertreter wegen der primären 
Schulunterhaltungspflicht der Schul¬ 
verbände für das Volksschulwesen. 
Die grundsätzliche Bestimmung ist 
zwar getroffen, daß den auftrags¬ 
weise beschäftigten Lehrern die Be¬ 
soldung während der Zeit der Einberu¬ 
fung zum Heeresdienst fortzugewähren 
ist, wenn sie eine erledigte Stelle oder 
eine Stelle, deren Diensteinkommen ver¬ 
fügbar ist, verwalten und eine fixierte 
monatliche Besoldung erhalten, sofern 
nicht ihr Auftrag nur vorübergehend, 
<L h. von vornherein oder durch beson¬ 
dere Umstände bis zu einer bestimmten 
Zeit begrenzt ist. In der Praxis aber er¬ 
gibt sich aus der verschiedenartigen 
Auslegung dieser Bestimmung in zahl¬ 


reichen Fällen eine Benachteiligung der¬ 
jenigen Schulamtsbewerber, welche noch 
nicht die Anstellung erlangt batten, weil 
sie infolge ihrer militärischen Brauch¬ 
barkeit zu ihr noch nicht zugelassen 
waren, gegenüber solchen Schulamtsbe¬ 
werbern, die infolge ihrer militärischen 
Unbrauchbarkeit den sicheren Hafen der 
Anstellung vor Kriegsausbruch bereits 
erreicht hatten. Mindestens sind der er- 
steren Gruppe viel Kampf um ihre Be¬ 
soldung und Sorgen um ihre Bezüge 
aus ihier Lage erwachsen. Die Schul¬ 
verbände glaubten häufig zur Fortzah¬ 
lung des Diensteinkommens nicht ver¬ 
pflichtet zu sein, weil der Lehrauftrag 
auf einen bestimmten Zeitpunkt festge¬ 
legt sei. Die Schulaufsichtsbehörden 
sahen sich daher veranlaßt, sich 
alle Fälle vortragen zu lassen, in 
denen ein Schulverband die Fortzahlung 
verweigern zu dürfen glaubte. Für Fälle, 
in denen die Schulaufsichtsbehörde den 
Schulverband zur Fortzahlung nicht ver¬ 
anlassen konnte und die Verweigerung 
eine Härte bedeutete, stellte der Mi¬ 
nister die Benutzung der Ergänzungs¬ 
zuschüsse zur Verfügung. Der Krieg hat 
deutlich gezeigt, zu welcher Ungerech¬ 
tigkeit das bisherige Verfahren der An¬ 
stellung junger Volksschullehrer gegen¬ 
über den Militärtauglichen geführt hat, 
und es wird hoffentlich zu einer grund¬ 
sätzlichen Änderung dieses Verfahrens 
nach dem Vorbilde anderer Beamtenka¬ 
tegorien führen. Wenn auch die Unter¬ 
richtsverwaltung den Grundsatz auf ge¬ 
stellt hat, daß die im Felde stehenden 
Schulamtsbewerber nicht durch Anstel¬ 
lung der nicht im Kriegsdienst befind¬ 
lichen benachteiligt werden sollten, so 
wurde doch gleich im Anfang des Krie¬ 
ges gestattet, daß Lehrer, die bereits bis 
zum 1. 10. 14 gewählt waren, auch an¬ 
gestellt werden durften. Und weiter 
macht die Länge des Krieges im Schul- 


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1167 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1168 


interesse Abweichungen von dem Grund¬ 
sätze erforderlich, wie auch der auf glei¬ 
chen Gesichtspunkten beruhende Grund¬ 
satz, daß die höheren Stellen während 
des Krieges nicht endgültig besetzt 
werden sollten, nicht streng durchge¬ 
führt werden konnte. 

Die Unterrichtsverwaltung hat ange- 
ordinet, daß die Schulaufsichtsbehörde 
vor der Gestattung der Ausschreibung 
freier Schulstellen durch wahlberech¬ 
tigte Schulverbände stets zu prüfen hat, 
ob eine baldige Wiederbesetzung un¬ 
bedingt geboten sei oder ob nicht nur auf¬ 
tragsweise Verwaltung ausreichend sei. 
Nicht nur die Interessen der im Felde 
stehenden Lehrer, sondern auch die an¬ 
derer Lehrer, welche auf ihren zeitigen 
Stellen unabkömmlich sind und nicht 
aus ihnen entlassen werden könnten, 
seien dabei zu berücksichtigen. Trotz 
der den Kriegsteilnehmern günstigen 
grundsätzlichen Stellungnahme der Un¬ 
terrichtsverwaltung sind doch Befürch¬ 
tungen aus den Reihen jener laut ge¬ 
worden, daß nicht alles geschehe, um 
sie vor Benachteiligungen zu schützen. 
Darum hat der Unterrichtsmüii^ter an 
die ihm unterstellten Schulbehörden 
eine Umfrage ergehen lassen über die 
tatsächliche Lage. Dabei hat er aus¬ 
drücklich erklärt, daß er die Wahl und 
Bestätigung von Kriegsteilnehmern für 
die gehobenen Stellen noch während der 
Dauer der Einberufung nicht nur für zu¬ 
lässig, sondern auch für sehr erwünscht 
erachte. Für das Volksschulgebfet ist 
nur bedauerlich, daß die Regelung des 
Anstellungsrechts, wie sie im Volks¬ 
schulunterhaltungsgesetz zugunsten der 
größeren und bevorrechteten Städte für 
die große Mehrzahl der gehobenen Stel¬ 
len vorgenommen ist, dem Staate die 
Macht, seinen Wünschen Nachdruck zu 
geben, entzogen hat. Audi hier hat der 
Krieg die Lehre gegeben, daß nur die 


Staatsvolksschule trotz sonstiger schwer¬ 
wiegender Bedenken gegen ihre Ein¬ 
richtung fähig ist, die jetzt bestehenden 
aus dem Gemeindeprinzip folgenden 
Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Dero 
Staate muß neben der Tragung der 
Lasten auch größere Machtvollkom¬ 
menheit auf dem Sdhulgebiet, dem des 
höheren wie der Volksschule, gewährt 
werden. 

Den Lehrern, welche mit dem Kriegs¬ 
dienst zugleich ihrer aktiven Dienst¬ 
pflicht genügten, wurde ein Anspruch 
auf ihre Dienstbezüge aberkannt Und 
denjenigen jungen Lehrern, welche, 
ohne aktiv gedient zu haben, freiwillig 
eintraten, wurden die Dienstbezüge nur 
soweit gewährt, als sie nicht zur Dek- 
kung von Stellvertretungskosten ge¬ 
braucht wurden. Jedoch sollten die frei¬ 
willig zum Landsturm eingetretenen 
Lehrer ihr volles Diensteinkommen wei¬ 
ter erhalten. Besondere Regelung mußte 
die Diensteinkommensgewährung an 
die vielen anfänglich zur freiwilligen 
Krankenpflege eingetretenen Lehrerund 
Lehrerinnen erfahren. Soweit eine An¬ 
rechnung der Kriegsbesoldung auf das 
Zivildiensteinkommen von Lehrern er¬ 
folgt, verbleibt der einbehaltene Be¬ 
trag des Zivildiensteinkommens den 
sonst Zahlungspflichtigen, also dem 
Schulverband bzw. der Alterszulage¬ 
kasse. Damit ist eine sehr ungleiche, zum 
Teil auf Zufälligkeiten beruhende Un¬ 
gleichheit der Behandlung der Schulver¬ 
bände geschaffen worden. Den Vorteil 
hatten die größeren städtischen Gemein¬ 
den, aus denen schon in Friedenszeitea 
zahlreiche Lehrer dem Offiziersstande 
angehörten. 

Die Besetzung Ostpreußens durch die 
Russen machte im Jahre 1914 vorüberge¬ 
hend besondere Maßnahmen notwendig, 
um die Auszahlung der Gehälter der 
Volksschullehrer aus den besetzten Ge- 


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1169 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1170 


bieten sowie der Ruhegehälter, Witwen- 
und Waisengeider zu sichern. Für die 
höheren Schulen bedurfte es solcher 
nicht, weil hier überall die Staatskasse 
eintrat. Es blieb für das Volksschulwe¬ 
sen nichts anderes übrig, als unter Ein¬ 
stellung aller Zuschußzahlungen aus der 
Staatskasse alle fälligen Beträge vorbe¬ 
haltlich späterer Abrechnung auf die 
Staatskasse zu übernehmen. Die Regie¬ 
rungshauptkasse in Danzig wurde zur 
Auskunftstelle über alle einschlägigen 
Verhältnisse der Gemeinden bestimmt. 

Hinsichtlich der Anrechnung des 
Kriegsdienstes auf das Dienstalter gel¬ 
ten allgemein die vom Staatsministerium 
dafür aufgestellten Grundsätze für die 
Staatsbeamten. Danach wird allen Beam¬ 
ten, bei denen die Bestimmung des 
Dienstalters von dem Bestehen einer 
Prüfung oder der Verleihung der An¬ 
stellungsbefähigung abhängt, die Zeit 
ihres Kriegsdienstes insoweit angerech¬ 
net, als sie nachweislich infolge des 
Kriegsdienstes die Prüfung erst später 
abgelegt oder die Anstellungsbefähi¬ 
gung erst später erlangt haben. 

III. Sorge für die Familien der 
Lehrer. 

Die Fürsorge für die Hinterbliebenen 
gefallener Lehrer und für die im Zivil¬ 
dienst Zurückgebliebenen aus Anlaß der 
durch den Krieg bedingten Gestaltung 
auf dem Markte der notwendigsten Be¬ 
darfsgegenstände ist für die Angehöri¬ 
gen der Unterrichtsverwaltung nach den¬ 
selben Grundsätzen geregelt wie für die 
übrigen Staatsbeamten, jedoch mit ver¬ 
schiedener Wirkung für die unmittel¬ 
baren und mittelbaren Staatsbeamten. 
Bei beiden Gruppen sind unter der 
Wucht der erst allmählich der Staats- 
regierungzum Bewußtsein gekommenem 
ebenso bedauerlichen wie bedrohlichen 
Abnahme des Geburlenzuwachses die 


Kriegs- und Teuerungszulagen nach den 
Gesichtspunkten der Bevölkerungspoli¬ 
tik bemessen worden. Bei dem Emst und 
Eifer, mit dem während des Krieges Re¬ 
gierungen und Parlamente an die Hei¬ 
lung des Schadens herangetreten sind, 
unterliegt es keinem Zweifel, daß diese 
Gesichtspunkte auch ngch dem Kriege 
bei der Regelung der Beamtenbesoldun¬ 
gen überhaupt zur Richtschnur werden 
genommen werden. 

Die Gewährung an Kriegsbeihilfen hat 
mit dem 1. Oktober 1915 begonnen und 
hat seitdem beständig Erweiterung be¬ 
züglich des Kreises der einbezogenen 
Personen und Erhöhung bezüglich der 
gewährten Monatssätze erfahren. Ur¬ 
sprünglich handelte es sich nur um gering 
besoldete oder ständig gegen Entgelt 
beschäftigte Beamten mit einem Dienst¬ 
einkommen bis zu 2100 Mm die ein oder 
mehrere Kinder unter 15 Jahren zu un¬ 
terhalten haben. Die monatliche Kriegs¬ 
beihilfe betrug für ein oder zwei Kinder 
6 M„ für jedes weitere Kind 3 M. mehr. 
Die Beihilfen waren aus der Staatskasse 
zu zahlen, auch für Volksschullehrer. 
Die Unterrichtsverwaltung ging dabei 
davon aus, daß es zwar an sich Aufgabe 
der Schulverbände, denen die Besol¬ 
dung der Volksschullehrer obliegt, sei, 
diesen nötigenfalls auch Kriegsbeihilfen 
zukommen zu lassen. Aber da,es sich vor¬ 
aussichtlich nur um Lehrer kleinerier, 
in ihrer Leistungsfähigkeit beschränk¬ 
ter Schulverbände handle, die schon 
durch Kriegsausgaben finanziell stark in 
Anspruch genommen seien, so sei bei 
dem vorübergehenden Charakter der 
Maßnahme von einer Heranziehung 
der Schulverbände abzusehen. Die 
Kriegsbeihilfe wurde jedoch ausgestal¬ 
tet. Vom 1. 4. 16 ab wurde die Besol¬ 
dungsgrenze auf 2400 M. heraufgesetzt, 
und die Sätze wurden erhöht. Darauf 
traf die Unterrichtsverwaltung die ein- 


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1171 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung H72 


schränkende Anordnung» daß die Zah- 
lung aus der Staatskasse an Volksschul¬ 
lehrer da einzustellen sei, wo Schulver- 
bände aus Anlaß der Kriegsteuerung be¬ 
sondere, staatlichen Kriegszulagen ähn¬ 
liche Zulagen gewähren. Auch da, wo 
Gemeinden die Lehrer von den zugun¬ 
sten der Kommunalbeamten getroffenen 
Maßnahmen ausschließen, um das Ein¬ 
greifen mit staatlicher Beihilfe herbeizu- 
führen, sei gleicherweise zu verfahren. 
Dieser Grundsatz gegenüber den Volks- 
schullehrem ist festgehalten worden, 
auch nach dem vom 1.7.16 und abermals 
vom 1. 2. 17 ab wieder eine günstigere 
Gestaltung der Kriegsbeihilfen, vom 1. 
7. 16 ab unter Ausdehnung auf verheira¬ 
tete Beamte ohne Kinder, eingetreten 
war. Von den Schul am ts be we rbe m wur¬ 
den die gegen feste monatliche Ent¬ 
schädigung beschäftigten ein bezogen, 
ebenso Volksschullehrerinnen für Kinder 
aus einer geschiedenen oder durch den 
Tod getrennten Ehe. 

Seit dem 1. 12. 16 werden den Staats¬ 
beamten neben der laufenden Kriegsbei¬ 
hilfe einmalige Kriegsteuerungszulagen 
gewährt. Sie sind nach immer wohlwol¬ 
lenderen Bestimmungen neuerdings aus- 
gestaltet worden. Vom 1. 4. 17 ab erhal¬ 
ten die unmittelbaren Staatsbeamten bis 
zu 7800 M. Diensteinkommen in dreifa¬ 
cher, nach der Höhe des Diensteinkom¬ 
mens bemessener fallender Abstufung 
Kriegsteuerungszulagen in steigender 
Höhe je nach der übrigens nicht 
beschränkten Kinderzahl. Die Volks¬ 
schullehrer sollten zwar nach dem 
Wunsche des Landtages wie der Staats¬ 
regierung die gleichen Beihilfen und 
Teuerungszulagen wie die unmittelba¬ 
ren Staatsbeamten erhalten; da aber die 
Volksschulunterhaltungspflicht in erster 
Linie den Gemeinden bzw. Schulverbän¬ 
den obliegt, so erwartete der Staat, daß 
die leistungsfähigen Gemeinden diese 


Zuwendungen aus eigenen Mitteln ge 
währen. Der Staat wollte freiwillig 
eintreten, wenn er die Leistungsun¬ 
fähigkeit der Gemeinden anerkannte 
und in gewissen anderen von der Unter¬ 
richtsverwaltung festgelegten Fällen. 
Schützte die Gemeinde aber nach Ansicht 
der Unterrichts Verwaltung nur die Lei¬ 
stungsunfähigkeit vor, oder hatte sie zu 
Unrecht ihre Lehrer hinter ihre Beamten 
zurückgesetzt, oder traten gewisse an¬ 
dere Fälle ein, so wollte der Staat für 
die Volksschullehrer nicht eintreten und 
letztere sollten leer ausgehen. So kam es, 
daß einTeil derVolksschullehrer gar keine 
oder unzureichende, hinter den Sätzen 
der unmittelbaren Staatsbeamten zu¬ 
rückbleibende Beihilfen und Teue¬ 
rungszulagen erhielt. Diese zwar folge¬ 
richtig aus der gesetzlichen Lage der 
Volksschulunteriialtungspflicht abgelei¬ 
tete, aber den Volksschullehrer mehroder 
weniger dem Zufall und der Willkür der 
Gemeinden ausliefemde Stellungnah¬ 
me der Staatsregierung erwies sich als 
unhaltbar. Beschwerden im Abgeordne- 
tenhause führten zu der Bestimmung, 
daß vom 1. 4. 1917 ab die laufenden 
Kriegsbeihilfen den Volksschullehrper¬ 
sonen — unabhängig von der Frage der 
Leistungsfähigkeit des Schulverbandes 
— auch da aus der Staatskasse zu 
zahlen sind, wo die Schulverbände keine 
Kriegsbeihilfen gewähren, und daß die 
von den Schulverhänden bewilligten 
Kriegsbeihilfen auf die staatlichen Bei¬ 
hilfen auch da angerechnet werden, wo 
die Schulverbände leistungsfähig sind. 
Auch wenn infolgedessen leistungsfähige 
Schulverbände dazu übergehen sollten, 
die Zahlung der Kriegsbeihilfen an die 
Lehrpersonen einzustellen, hat vom Zeit¬ 
punkt der Einstellung ab der Staat ein¬ 
zutreten. Eine Erstattung der von de» 
Gemeinden und Schulverbänden bereits 
gezahlten Kriegsbeihilfen findet nicht 


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1173 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1174 


statt. Danach gelangen die Volksschul¬ 
lehrpersonen sämtlich in den Genuß der 
staatlichen Kriegsbeihilfen und Kriegs¬ 
teuerungszulagen bis zur Höhe der den 
unmittelbaren Staatsbeamten gewährten 
Sätze. Eine Königliche Verordnung hat 
diese Kriegsbeihiifen und Kriegsteue¬ 
rungszulagen kürzlich von Staats- und 
Gemeindesteuern freigestellt. 

Die Kriegsteuerung hat dazu gezwun¬ 
gen, von dem bisherigen Grundsatz des 
Staates, Pensionäre und Hinterblie¬ 
bene an Beamtenbesoldungserhöhun¬ 
gen nicht teilnehmen zu lassen, abzu¬ 
gehen. Im Beginn dieses Jahres sind be¬ 
dürftigen, im Ruhestand lebenden Beam¬ 
ten und bedürftigen Hinterbliebenen von 
Beamten Unterstützungen für das Jahr 
1916 im Betrage von 100 Mark, wenn der 
Pensionär weniger als 2500 Mark, die 
Witwe ohne Waisengeld weniger als 
1200 Mark Einnahme hat, gewährt wor¬ 
den. Die Königl. Regierungen sind er¬ 
mächtigt worden, den Volksschullehrem 
und ihren Hinterbliebenen die gleichen 
Unterstützungen zu zahlen, dagegen 
bleiben die Lehrer an den Mittelschulen 
und die der nichtstaatlichen höheren 
Lehranstalten benachteiligt, indem sich 
der Staat hier begnügt haj, den die Mit¬ 
telschulen unterhaltenden Gemeinden 
bzw. den Patronaten zu empfehlen, die 
Unterstützungen auch an ihren Anstal¬ 
ten zur Durchführung zu bringen. 

Der notleidenden Privatmusiklehrer 
und -lehrerinnen nahm sich der Unter- 
richtsminister an, indem er den vollbe¬ 
schäftigten Lehrern und Lehrerinnen an 
öffentlichen Schulen Zurückhaltung hin¬ 
sichtlich der Annahme von Privatmusik¬ 
unterricht auferlegte. 

IV. Unterricht und Erziehung. 

Der notleidenden Privatmusiklehrer 
erfuhr durch den Ausbruch d& Krie¬ 
ges in allen Unterrichtsanstalten eine 


jähe Unterbrechung. Nicht nur die durch 
die anderweitige Inanspruchnahme dar 
Schulräume und den Lehrermangel viel¬ 
fach bedingte Herabsetzung der Wochen¬ 
stundenzahl, die jedoch auch unter 
schwierigen Verhältnissen nicht unter 
12 herabgehen sollte, macht die Errei¬ 
chung der Stoffziele unmöglich, die Ge¬ 
danken von Lehrern und Schülern wen¬ 
den sich auch mit Macht den Tageser¬ 
eignissen zu. So war es von vornherein 
klar, daß es auf die Einhaltung der 
Stoffpläne nicht mehr ankam, vielmehr 
Sichtung und Einschränkung geboten 
war. Es galt, das Verständnis der Ju¬ 
gend für die große Gegenwart zu wek- 
ken. Diesem Gedanken wurde in Erlassen 
der Unterrichtsbehörde Ausdruck gege¬ 
ben. Die Lehrer wurden aufgefordert, 
in der Schule, namentlich im Geschichts¬ 
unterricht, aber auch in anderen Unter¬ 
richtsfächern Gegenwartsbeziehungen zu 
suchen und durch belehrende Vorträge 
die Eltern, namentlich auf dem Lande, 
über die Ursachen des Krieges aufzu¬ 
klären. Die Lehraufgaben sollen zu den 
großen kriegerischen Ereignissen in le¬ 
bendige, vaterländische Begeisterung 
erweckende Beziehung gesetzt werden. 
In einem ausführlichen Erlaß hat der 
Unterrichtsminister Bestimmungen dar¬ 
über getroffen, wie der Stoff der älteren 
Geschichte zusammenzudrängen und 
Raum für die gründliche Behandlung 
der neuesten Geschichte zu schaffen sei 
Das ging besonders die höheren Schu¬ 
len an. Schon in den unteren Klassen 
sollen die Schüler fortan die preußisch¬ 
deutsche Geschichte bis zur Gegenwart 
in ihren Grundzügen kennen lernen. Der 
Lehrstoff der Oberprima hat mit der 
Zeit nach dem Tode Friedrichs des Gro¬ 
ßen zu beginnen, während der Unter¬ 
prima die Zeit von 1648—1786 zugeteilt 
wird. Die mündliche Reifeprüfung soll 
sich beschränken auf die Zeit von der 


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1175 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung H76 


Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Ge¬ 
genwart. Vermißt wird in diesen Be¬ 
stimmungen der Gedanke von der Not¬ 
wendigkeit der Politisierung der deut¬ 
schen Jugend. Seine Ausführung ist ver¬ 
mutlich absichtlich der Zeit nach dem 
Kriege Vorbehalten worden. Auf die 
Festhaltung der den Ort berührenden Er¬ 
eignisse des Weltkrieges in denSchulchro- 
niken ist hingewiesen worden. In jeder 
Schule soll eine Gedächtnistafel zum eh¬ 
renden Andenken der gefallenen Lehrer 
und Schüler angebracht werden. Die 
Bildnisse der gefallenen Lehrer sollen 
in den Schulstuben aufgehängt werden. 
Der Krieg hat Anlaß gegeben zur Fest¬ 
stellung eines einheitlichen Textes für 
„Die Wacht am Rhein“ und des Liedes 
„O Deutschland hoch in Ehren“. 

Der Krieg hat die Verfügung des Un¬ 
terrichtsministers veranlaßt, daß unaus¬ 
gesetzt und nachhaltig dahin gewirkt 
werden soll, daß im Unterricht alle 
fremdsprachlichen Ausdrücke und Rede¬ 
wendungen vermieden werden, für wel¬ 
che die Muttersprache deutsche Wen¬ 
dungen bietet. Der Minister ist darin 
selbst mit gutem Beispiel vorangegan¬ 
gen ; so hat er „Patronat“ durch „Schutz¬ 
herrschaft“, „ Prüfungskommission“ 
durch „Prüfungsamt“ ersetzt. Für die Be¬ 
dürfnisse des täglichen Lebens, der Spei¬ 
sen und Getränke, für Spiele und Übun¬ 
gen usw.sind im Gegensatz zu den bisher 
beliebten fremdländischen Bezeichnun¬ 
gen deutsche Benennungen zu verwenden 
und heimisch zu machen. Bei der Be¬ 
schaffung von Lehr- und Lernmitteln, 
insbesondere von Stahlfedern und Näh¬ 
maschinen, ist die Bevorzugung inländi¬ 
scher Erzeugnisse während des Krieges 
von neuem eingeschärft worden. Statt 
der französischen und englischen Origi¬ 
nalausgaben sollen nur noch deutsche 
Schulausgaben der Schriftsteller benutzt 
werden. 


Das Verlangen der Unterrichtsver¬ 
waltung, daß der Schulunterricht über¬ 
all, wenn auch unter Beschränkungen 
fortgesetzt werde, damit die Jugend 
nicht müßig gehe, hat sich leider nicht 
immer durchführen lassen. Ganz abge¬ 
sehen von den langen Beurlaubungen 
und Ferien der ländlichen Schuljugend 
während der Bestell- und Erntezeit, in 
der die Jugend aber keineswegs müßig 
gewesen ist, hat die Kohlennot im 
letzten Winter viele und lange unlieb¬ 
same Unterbrechungen im Schulbe¬ 
suche verursacht. Die ganze Unregelmä¬ 
ßigkeit des Unterrichtsbetriebes machie 
die Anordnung notwendig, daß bei den 
Versetzungen in gebührender Weise 
darauf Rücksicht zu nehmen sei, nament¬ 
lich in Fällen, in denen die Schüler in¬ 
folge der Kriegsereignisse und schwerer 
Verluste in der Familie erheblichen Hem¬ 
mungen in ihren Arbeitsleistungen un¬ 
terlegen gewesen sind. Hauptsächlich 
sollte es darauf ankommen, ob die Schü¬ 
ler die Gewähr boten, daß sie dem Unter¬ 
richt in der folgenden Klasse mit Erfolg 
würden folgen können. Unter dem Ge¬ 
sichtspunkte der vom Reichskanzler aus¬ 
gegebenen Losung: Freie Bahn für alle 
Tüchtigen sind im Sommer vorigen Jah¬ 
res neue Bestimmungen über die Auf¬ 
nahme von Schülern in die unterste 
Klasse der höheren Lehranstalten erlas¬ 
sen worden. Die den gymnasialen Zu¬ 
schnitt der Vorbildung auf die höheren 
Lehranstalten begünstigenden Aufnah¬ 
mebestimmungen vom Jahre 1837 wur¬ 
den endlich aufgehoben, und es wurden 
neue Anforderungen formuliert, die sich 
mehr den im Volksschulunterricht 
erreichbaren Zielen anschließen. Uber 
diese Anforderungen darf bei der Auf¬ 
nahme der aus Volks- und Mittelschulen 
und aus Privatunterricht kommenden 
Schülef* nicht hinausgegangen werden. 
Auch die Vorschulen haben sich danach 



1177 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen 1 Unterrichtsverwaltung 1178 


zu richten und den danach zu beschrän¬ 
kenden Lehrstoff auf ihre drei Klassen 
zu verteilen. 

Einen ganz neuen Unterrichtszweig 
für alle Schüler vom 16. Lebensjahre ab 
hat der Krieg gebracht, .nämlich die mi¬ 
litärische Vorbildung der Jugend oder, 
wie es in Bayern kürzer heißt, dieHeeres- 
Vorbildung der Jugend. Gemeinsame Er¬ 
lasse des Unterrichtsministers, des 
Kriegsministers und des Ministers des 
Innern haben diesen Unterricht gleich 
zu Anfang des Krieges ins Leben geru¬ 
fen. Der Jugend vom 16. Lebensjahre 
an wird es zur Ehrenpflicht gemacht, 
sich militärisch vorbilden zu lassen. Die 
Teilnahme soll einstweilen freiwillig 
sein. Die Leitung soll während des Krie¬ 
ges in militärischer Hand liegen. Es wird 
erwartet, daß die Bezirks-, Kreis- und 
Ortsausschüsse für Jugendpflege sich 
der Sache annehmen werden. Richt¬ 
linien für die Einrichtung sind ausge¬ 
geben. Gegenüber der hier und da auf¬ 
getretenen Zusammenschließung der Ju¬ 
gend einzelner höherer Schulen zu be¬ 
sonderen Jugendkompagnien hat der 
Unterrichtsminister den Eintritt der 
Schüler der höheren Lehranstalten in die 
allgemeinen Jugendkompagnien der Orte 
empfohlen. Die ganze Einrichtung wird 
erst nach dem Kriege auf festeren Boden 
gestellt werden können. Den eigentlichen 
Turnunterricht der Schule kann die mi¬ 
litärische Vorbereitung der Jugend je¬ 
doch nicht ersetzen. Er muß lehrplan- 
mäßigals Pflichtfach fortgesetzt werden. 

Ganz besondere Aufgaben erwuchsen 
der Lehrerschaft gegenüber den Fami¬ 
lien. Die nicht zu den Fahnen einberufe- 
nen Lehrer wurden von der Unterrichts¬ 
verwaltung aufgefordert, ratend und 
helfend in den Fällen einzutreten, in 
denen die Schuljugend und die schul¬ 
entlassene Jugend der erziehlichen Lei¬ 
tung des einberufenen Vaters entbehren 


mußte und die Einwirkung der Mutter 
durch die vermehrte Sorge um den Un¬ 
terhalt der Familie beeinträchtigt war. 
Bei Beginn des Krieges war es nötig, die 
Schuljugend auf die Gefahren der Stö¬ 
rung des Automobilverkehrs aufmerk¬ 
sam zu machen. Zur Erntezeit wurde 
sie eindringlich vor Unvorsichtigkeit mit 
Feuer gewarnt, damit nicht durch Feu¬ 
ersbrünste wertvolle Bestände vernich¬ 
tet würden. Die aus der Schule zu 
Ostern entlassenen Schüler bedurften 
besonders der Berufsberatung. Falls 
sie keine geeignete Arbeits- oder Aus¬ 
bildungsgelegenheit gefunden hatten, 
wurde ihnen das Verbleiben in der 
Volksschule gestattet. Die Einrichtung 
von Kinderhorten, in denen die schul¬ 
pflichtigen Knaben und Mädchen von 10 
bis 13 Jahren, denen das Elternhaus in 
der Kriegszeit keinen geeigneten Aufent¬ 
haltsraum gewährte, gesammelt und un¬ 
ter Mitarbeit älterer Schüler und Schü¬ 
lerinnen höherer Lehranstalten beschäf¬ 
tigt werden sollten, wurde empfohlen. 
Für die höheren Schulen wurde auf die 
schon in den Direktorendienstanweisun¬ 
gen angeordneten, vielfach aber nicht 
ins Leben getretenen Elternsprechstun¬ 
den hingewiesen. Es soll ein bestimmter 
Sprechstundenplan entworfen und aus¬ 
gehängt werden, damit die Eltern regel¬ 
mäßig Gelegenheit zur Aussprache mit 
den Lehrern haben. Für die Großstadt¬ 
jugend wurden Ferienwanderungen und 
Ferienspiele zur Förderung der Gesund¬ 
heit empfohlen, ein schöner Gedanke, 
der durch die Eisenbahnbetriebs Schwie¬ 
rigkeiten später Abbruch ‘erfahren hat. 

V. Die Benutzung der Schule 

im Dienste der Sparsamkeit. 

Die Knappheit an Lebensmitteln und 
anderen Bedarfsgegenständen führte 
zu besonderen Maßnahmen der Unter¬ 
richtsverwaltung, um die Jugend auf die 





1179 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen UnterriditsverwaHnng 1180 


Ihr zukommenden Pflichten hinzuwei- 
sen. Das Bewußtsein der Pflicht jedes 
Deutschen, durch tapferes Ertragen und 
Überwinden der durch den Krieg her¬ 
beigeführten Schwierigkeiten zur sieg¬ 
reichen Durchführung des Kampfes um 
Deutschlands Zukunft beizutragen, soll 
bei der Schuljugend und der schulent¬ 
lassenen Jugend lebendig gehalten und 
gekräftigt werden. Die Not des Krieges 
und die zu erwartende imgünstige wirt¬ 
schaftliche Lage nach dem Kriege ver¬ 
langen gebieterisch, daß jeder Haushalt 
bemüht ist, sich seinen Bedarf auf dem 
billigsten Wege zu beschaffen. Die Un- 
terrichtsverwaltung hat für diesen 
Zweck besondere Unterweisungskurse 
eingerichtet Sie hat auch die weibliche 
Jugend darüber belehren lassen, daß die 
herrschende Mode im Bekleidungsge¬ 
werbe der gebotenen Sparsamkeit nicht 
entspreche. 

In immer steigendem Maße ist die 
Schule in den Dienst der Volksemäh- 
rung gestellt worden mit dem Ziele der 
Erhöhung der Produktion und der 
Schaffung von Ersatzmitteln. Es han¬ 
delte sich dabei in erster Linie um die 
Heranziehung der Schuljugend zu den 
landwirtschaftlichen Arbeiten, die ohne 
dies bei dem Fehlen der rüstigen Män¬ 
ner nicht bewältigt werden konnten. Die 
Unterrichts Verwaltung hat eine Reihe 
aufeinanderfolgender Erlasse herausge¬ 
geben, in denen sie darauf hingewiesen 
hat, daß es unerläßlich sei, ältere Schul¬ 
kinder zur Hilfeleistung bei landwirt¬ 
schaftlichen Arbeiten und bei der Gart en- 
beste llung zu beurlauben. Die empfind¬ 
liche Störung, die der Unterricht hier¬ 
durch erleide, müsse im Hinblick auf 
die Notwendigkeit, zur Sicherung der 
Volksemäh rung namentlich auch die 
kleinen Wirtschaften zu erhalten, getra¬ 
gen werden. Die Urlaubserteilung von 
Schulkindern wurde daher in jeder 


Weise erleichtert Den um Urlaub bitten¬ 
den, ohnehin mit Arbeit überhäuften El¬ 
tern sollte die Gewährung ohne Weit¬ 
läufigkeit zuteil werden. Die Schulvor¬ 
stände wurden ermächtigt, die älteren 
Schulkinder, aueh ganze Klassen, zu den 
Emtearbeiten zu beurlauben. Nament¬ 
lich für die Herbstfrucht- und die Kar¬ 
toffelernte, aber auch zur Obsternte, 
seien die Schulkinder zu beurlauben. Als 
im vorigen Jahre die Kartoffeln zur 
Fäulnis neigten und gegen Frostschäden 
geschützt werden mußten, wurde das 
Durchsammeln der Kartoffelbestände 
durch Schulkinder angeregt und hierzu 
überall nachBedürfnisUrlaub erteil LAuch 
zur Unkrautvertilgung und zur Beseiti¬ 
gung von Obst- und Gemüseschädlin- 
gen, wie zum Ährenlesen, selbst zum 
Viehhüten wurden Schulkinder wieder 
zur Verfügung gestellt Der Ertrag des 
Ährenlesens ist zu erheblichem Teil dem 
Roten Kreuz zugute gekommen. 

Die Schwierigkeit auswärtigen Kin¬ 
dern während der Mittagszeit Brot 
mitzugeben, wirkten mit zu der Gestat¬ 
tung der zusammengelegten Unterrichts¬ 
zeit. Die Zivilbehörden wurden ermäch¬ 
tigt, auch bei plötzlich eintretenden land¬ 
wirtschaftlichen Bedürfnissen die Schule 
schon früh amTage zu schließen. Die Lage 
der Ferien sollte lediglich nach den land¬ 
wirtschaftlichen Bedürfnissen eingerich¬ 
tet werden. Sie sind auf die Zeiten zu le¬ 
gen, in denen die Heranziehung der 
Schuljugend besonders dringlich ist. In 
der Erntezeit reicht die Hilfe der Kinder 
vom Lande häufig nicht aus. Die recht¬ 
zeitige Einbringung der Ernte war schon 
im vorigen Jahre von solcher Bedeu¬ 
tung, daß auch die höheren Schulen ein¬ 
schließlich der Lehrerbildungsanstalten, 
ermahnt wurden, sich der Mitwirkung; 
wo sie gewünscht werde und nützl/ch 
sein könne, nicht zu entziehen. Die 
Schüler der oberen und mittleren KLas- 


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1181 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung f 162 


sen, soweit sie dazu bereit und körper¬ 
lich befähigt seien, seien auf Wunsch ih¬ 
rer Eltern für die Körner- und Kartoffel¬ 
ernte je nach Bedürfnis zu beurlauben. 
In einzelnen Provinzen, namentlich in 
Pommern und Schleswig-Holstein, auch 
in Westfeien sind mit solchen Schüler¬ 
kommandos, die zum Teil unter Leitung 
von Jugendkompagnieführem standen, 
die besten Erfahrungen gemacht wor¬ 
den. Sie sollten die Landwirte ermun¬ 
tern, auch in diesem Jahre von dem 
Angebot höherer Schulen zur Stellung 
landwirtschaftlicher Hjilfsarbeitskrüfte 
Gebrauch zu machen. Die Kriegswirt- 
schaftsämter haben in großem Maßstab 
die Organisation solcher Arbeitshilfe in 
die Hand genommen, auch Kurse zur Un¬ 
terweisung der Schüler im Gebrauche 
der landwirtschaftliehen Maschinen ein¬ 
gerichtet, und es ist dafür gesorgt, 
daß ein Ausgleich zwischen Ange¬ 
bot und Nachfrage stattfindet. Keine 
Scholle Erde darf imbebaut bleiben. Die 
Unterrichtsverwaltung hat angeordnet, 
daß auch die Schulgärten und Schul¬ 
grundstücke der Stellen, deren Inhaber 
gefallen oder einberufen sind, von den 
Schulvorständen bebaut werdeh. 

Weiter wurde die Schule zur Mitwir¬ 
kung aufgerufen bei der Beschaffung 
von Ersatz- und Ergänzungsmitteln zur 
bisher üblichen Nahrung. So wurde 
nachdrücklich auf den Wert der bisher 
vernachlässigten, aber billig zu be¬ 
schaffenden Pilznahrung hingewiesen. 
Es sollten Wanderungen unter Leitung 
Pilzkunddger veranstaltet werden, um 
die Teilnehmer mit den Fundstätten 
und den Kennzeichen der einzelnen Pilz- 
arteh bekanntzumachen. Dabei sollten 
auch gute Pilztafeln verwendet werden. 
Die Schulkinder wurden zur Sammlung 
von Beeren und Wildgemüsen für die 
menschliche Nahrung an gehalten. Aus 
den Weißdomfrüchten soll einKaffeeer- 


ersatzmittel gewonnen werden. Einhei¬ 
mische Teesorten sollen gesammelt wer¬ 
den, um den asiatischen Tee zu ersetzen. 
Es kommen namentlich junge getrocknete 
und alsdann zerkleinerte Blätter der Erd¬ 
beere und Brombeere in Betracht, dane¬ 
ben auch viele andere einheimische Pflan¬ 
zen. Eicheln, Buchein und Roßkastanien 
sollen zur Erleichterung der Viehhaltung 
und zur Milderung des Olmangels ge¬ 
sammelt werden. Dazu ist die Beteili¬ 
gung der Kinder unentbehrlich. Eine 
Reihe von Sparsamkeitsmaßregeln so¬ 
wohl bezüglich der Nahrungsstoffe wie 
anderer Bedarfsartikel wurde den Schul¬ 
kindern und durch ihre Vermittlung den 
Eltern ans Herz gelegt. Das Flugblatt 
des Präsidenten des Kriegsernährungs¬ 
amtes an die deutschen Hausfrauen, in 
dem sie auf die vaterländische Pflicht 
hingewiesen wurden, sorgsam zu wirt¬ 
schaften und durch freiwillige Abgabe al¬ 
ler irgend entbehrlichen Lebensmittel die 
Ernährung desHeeres und der Großstädte 
sicherzustellen, wurde mit Hilfe der 
Schulen verbreitet. Ebenso geschah es mit 
dem Flugblatt über die Notgemüse und 
die Kriegsgemüse. Durch Vermittelung 
der Kinder wurde die Bevölkerung er¬ 
mahnt, die Kartoffeln in der Schale zu 
kochen und so Vergeudung von Nähr¬ 
stoffen zu verhüten. Die Lehrer wurden 
aufgefordert, die Bevölkerung vom Ver¬ 
füttern des Getreides abzuhalten und mit 
dem Brot sparsam umzugehen. Bei der 
Regelung des Verbrauchs der Nahrungs¬ 
mittelvorräte, der Feststellung der Zahl 
der einzelnen Haushalte und der vor¬ 
handenen Vorräte bediente man sich 
wieder der Hilfe der Lehrer. Die Schul¬ 
küchen in den Städten wurden benutzt, 
um dort Vorträge und Besprechungen 
über empfehlenswerte Nahrungsmittel, 
ihren Wert und ihre beste, sparsamste 
Verwendung im Haushalt zu veranstal¬ 
ten. Auch wurden dort Speise anstalten 


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Original frurn 

INDIANA UNfVERSITY 




1183 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung U84 


für Vereine und für die Allgemeinheit 
eingerichtet. Für die Hauswirtschafts¬ 
lehrerinnen wurden im vorigen Jahre 
Kurse eingerichtet, um sie mit all den 
Verfahrungsweisen zur Erhaltung der 
Obsternte vertraut zu machen. Es han¬ 
delte sich vornehmlich darum, die Be¬ 
völkerung auf diesem Wege darüber 
aufzuklären, wie Obst ohne Zucker ein¬ 
gemacht und erhalten werden kann. Die 
Nützlichkeit und Notwendigkeit des 
hauswirtschaftlichen Unterrichts der 
Mädchen aller Volkskreise war zwar 
auch vor dem Kriege schon von der 
Unterrichtsverwaltung erkannt worden, 
aber in Ermangelung ausreichender Mit¬ 
tel war die Einrichtung solchen Unter¬ 
richts doch im wesentlichen den grö¬ 
ßeren und mittleren Städten überlassen 
worden. Der Krieg hat dazu geführt, 
daß die Unterrichts Verwaltung auch 
Maßnahmen angegeben hat zur Einfüh¬ 
rung haus wirtschaftlichen Unterrichts 
in kleinstädtischen und ländlichen Ver¬ 
hältnissen. Sie werden nach dem Kriege 
hoffentlich dazu helfen, dieses volks¬ 
wirtschaftlich so außerordentlich wich¬ 
tige Fach zur allgemeinen Einführung 
zu bringen. 

Der Ernährung der Schuljugend wen¬ 
dete die Unterrichtsverwaltung ernste 
Aufmerksamkeit zu. Sie stützte sich da¬ 
bei auf einen Bericht des Reichsgesund¬ 
heitsamtes, in dem Maßregeln vorge¬ 
schlagen werden, um die Unterernäh¬ 
rung der Jugend bei dem Fett- und 
Fleischmangel zu verhüten und trotz der 
gegenwärtigen schweren Zeit eine ge¬ 
sunde körperliche Entwicklung der Ju¬ 
gend zu sichern. Im Vordergründe steht 
dabei die Verbringung der gefährdeten 
Kinder in gesündere Verhältnisse, wie 
Ferienkolonien, Kinderheilstätten, See¬ 
hospize, aufs Land, daneben aber auch 
regelmäßige Schülerspeisungen, wie sie 
in einer Reihe von Städten eingerichtet 


sind. Schon im Jahre 1916 sind auf Ver¬ 
anlassung des Unterrichtsministers rund 
60000 Kinder der städtischen und Indu¬ 
striebevölkerung in ländlichen Familien 
untergebracht worden. In diesem Jahre 
ist die Aufnahme in großzügiger Weise 
unter Herausgabe von Richtlinien in An¬ 
griff genommen worden. Für die Be¬ 
schulung der aufs Land zu verbringen¬ 
den Kinder sind besondere Maßnahmen 
vorgesehen. Es wird gehofft, daß da¬ 
mit Hunderttausende von Kindern ge¬ 
sundheitlich gefördert und die Schwie¬ 
rigkeiten der Volksemährung in den 
Städten und Industrieorten erheblich ge¬ 
mindert werden. 

Eine Reihe von Ersparnismaßregeln 
sind von der Unterrichtsverwaltung ge¬ 
troffen worden. Um den Eltern die An¬ 
schaffung des immer teurer werdenden 
Lederschuhwerks zu sparen, wurde er¬ 
klärt, daß das Verbot für die Kinder, bar¬ 
fuß zur Schule zu kommen, nicht mehr 
gerechtfertigt sei. Das Tragen von Schuh¬ 
werk mit Holzsohlen wurde empfohlen. 
Daneben wurden Gummisammlungen in 
den Schulen veranstaltet. Für die 
Zwecke der harzverbrauchenden Indu¬ 
strien, insbesondere für die Papierindu¬ 
strie, wurden Schulkinder beurlaubt um 
in den Staatsforsten Harz zu sammeln. 
Nachdrücklich wurde auf Papiererspar¬ 
nis hingewirkt. Neue Schulbücher und 
Lehrmittel, deren Gebrauch nicht unbe¬ 
dingt notwendig ist, sollen nicht einge¬ 
führt und angeschafft werden, um den 
Eltern während der Kriegszeit unnötige 
Ausgaben zu sparen und auch unter dem 
Gesichtspunkte der Papierersparnis. 
Darum wurde auch die Einführung von 
Kriegslesebüchern nicht gestattet. Druck¬ 
aufträge dürfen von den Universitäten 
nur erteilt werden, insoweit es unbedingt 
geboten ist. Festschriften, Einladungs¬ 
schreiben u. dgl. müssen fortfallen, we¬ 
nigstens dürfen Staatsmittel dazu nicht 


1185 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1186 


verwendet werden, auch nicht zu Chro¬ 
niken. Gleicherweise sind die Druck¬ 
schriften der höheren Lehranstalten 
eingeschränkt worden. Der F^etro- 
leummangel zwang zu äußerster Ein¬ 
schränkung des Verbrauchs in den Schu¬ 
len und zu schleuniger Anlegung von 
Gas- und elektrischer Beleuchtung, bis 
der Kohlenmangel auch hier äußerste 
Sparsamkeit auferlegte und auf volle 
Ausnutzung des Tageslichtes hinwies. 
Der Ersparnis von Beleuchtungsmitteln 
auch in den Unterrichtsanstalten dient 
die Einführung der Sommerzeit: die 
gesetzliche Zeit wurde gegenüber der 
mitteleuropäischen vom 1. Mai bis 30. 
Oktober 1916 um eine Stunde vorverlegt. 
Im Sommer begann also die Schule vie¬ 
lerorts nach mitteleuropäischer Zeit 
schon um 6 Uhr. Es sind damit je nach 
den Gegenden verschiedenartige Erfah¬ 
rungen gemacht worden. Die Lichterspar¬ 
nis ist unbestreitbar, und so ist 1917 auch 
wieder die^ommerzeit in Kraft getreten, 
jedoch ist, um der beklagten Übermü¬ 
dung der Schuljugend vorzubeugen, ge¬ 
stattet worden, da, wo es angezeigt er¬ 
scheint, den Unterricht im Sommer zur 
gleichen Stunde wie im Winter nach der 
mitteleuropäischen Zeit zu beginnen. 

Mit großer Freude haben sich die 
Schulen in den Dienst der Goldsamm¬ 
lung gestellt. Ihre Tätigkeit auf diesem 
Gebiete der Volkswirtschaft ist aufs 
wärmste anerkannt und ihre Fortsetzung 
immer wieder angeregt worden. Im 
Herbst 1915 hatten die preußischen 
Schulen bereits 65 Millionen Mark Gold 
gesammelt, Mitte 1916 konnte ein weite¬ 
rer Zuwachs von 15 Millionen gemeldet 
werden. Außerdem haben die Schulen 
entbehrliche Gold- und Silbergegen¬ 
stände, Platinbrennstifte und kleine Ge¬ 
genstände aus Sparmetallen mit sam¬ 
meln helfen. Ebenso haben sie zur wirt¬ 
schaftlichen Kräftigung Deutschlands 

Internationale Monatsschrift 


durch die von ihnen und durch ihre Ver¬ 
mittlung bewirkten Zeichnungen der 
Kriegsanleihen wesentlich beigetragen. 
Der bargeldlose Verkehr ist auch durch 
Belehrung in den Schulen gefördert wor¬ 
den. Die Einsammlung des Schulgeldes in 
den Schulen, in denen sie noch Sitte 
war, wurde abgestellt, und damit wur¬ 
den die Eltern auf den Übenveisungs- 
und Scheckverkehr hingewiesen, der 
ihnen auch dadurch geläufig werden 
soll. Zur sozialen Tätigkeit der Schüler 
gehört auch die gleich bei Beginn des 
Krieges eingeleitete Anfertigung von 
Liebesgaben für die Krieger in den 
Schulen und die Einrichtung von 
Schreibstuben durch die Lehrer für die 
Angehörigen der Krieger, in denen An¬ 
leitung zur Adressierung und Verpak- 
kung der Feldpostsendungen und Hilfe 
bei der Abfassung der Feldpostbriefe 
gewährt wurde. Eine weniger durch 
Sparsamkeit als durch den Arbeiter- und 
Materialmangel gebotene Maßregel der 
Unterrichtsverwaltung war das im 
Herbst vorigen Jahres erlassene Verbot 
der Ausführung von Schulbauten, so¬ 
weit nicht die Ausführung im unauf¬ 
schiebbaren Schulinteresse lag. 

VI. Sorge für die Zukunft der 
Schüler. 

Neben den gewaltigen Aufgaben der 
Gegenwart galt esfürdieUnterrichtsver- 
tung die Zukunft der ihrem Dienst¬ 
bereich angehörenden Kriegsteilnehmer 
zu sichern. Hier standen sich zwei Er¬ 
wägungen gegenüber: der Schaden, den 
der einzelne durch seine Teilnahme am 
Kriege erleiden mußte gegenüber dem 
Nichtteilnehmer, sollte ausgeglichen 
oder tunlichst herabgemindert werden, 
anderseits durften im allgemeinen 
Staatsinteresse die Anforderungen hin¬ 
sichtlich der wissenschaftlichen und 
praktischen Ausbildung nicht unter ein 

38 





1187 A. Sachse, Die Kriegsma&nahttien der Preußischen UnterrichtsverwaKung H86 


gewisses Mindestmaß herabsinken. 
Hier die richtige Grenze zu finden, ist 
sehr schwer, Und es hat nicht an Mei¬ 
nungsverschiedenheiten unter den bun¬ 
desstaatlichen Regierungen, die jede für 
sich auf dem Gebiete des Unterrichtswe¬ 
sens bis auf wenige einschränkende, für 
das Reich geltende Bestimmungen selb¬ 
ständig sind, gefehlt Den Tüchtigen wird 
auch dadurch freie Bahn gewährt, daß 
den Untüchtigen staatlicherseits Grenzen 
gezogen werden. Es handelte sich für 
die Unterrichtsverwaltung um Personen, 
welche die wissenschaftliche Befähigung 
zum einjährig-freiwilligen Dienst, wei¬ 
ter um Schüler der höheren Lehranstal¬ 
ten, welche bestimmte Versetzungen und 
die Erlangung des Reifezeugnisses er¬ 
strebten, endlich um die Studierenden, 
welche sich für Staatsprüfungen vorbe¬ 
reiteten. 

Unter den durch den Krieg geschaffe¬ 
nen Verhältnissen war es nicht mehr mög¬ 
lich, die in der Wehrordnung vorgesehe¬ 
nen Prüfungen für den einjährig-frei¬ 
willigen Dienst abzuhalten. Die Kom¬ 
missionen stellten alsbald ihre Tätigkeit 
ein. Die jungen Leute, welche die wis¬ 
senschaftliche Befähigung für den ein¬ 
jährig-freiwilligen Dienst nachweisen 
wollten, wurden höheren Lehranstalten 
zur Prüfung zugewiesen. Es wurden Not¬ 
prüfungen in den höheren Lehranstalten 
und den militärberechtigten Privatanstal- 
ten eingerichtet Zu ihnen wurden auch 
junge Leute zugelassen, die eine neun¬ 
jährige Mittelschule erfolgreich durch¬ 
gemacht hatten oder durch Privatunter¬ 
richt vorbereitet waren. Nach den für 
das Reich geltenden Bestimmungen war 
die Erteilung des Befähigungszeugnisses 
an die Zöglinge der Lehrerseminare vor 
Ablegung der Entlassungsprüfung nicht 
zulässig. Die Unterrichtsverwaltung 
glaubte diesen Standpunkt festhalten 
zu sollen, gab ihn aber doch später 


auf. Mit allerhöchster Ermächtigung 
wurde den Zöglingen der Lehrersemi¬ 
nare von der Klassenstufe ab, für die 
nach den maßgebenden Aufnahme¬ 
bestimmungen in der Regel die Vollen¬ 
dung des 17. Lebensjahres gefordert 
wird, das Zeugnis über die wissenschaft¬ 
liche Befähigung für den einjährig-frei¬ 
willigen Dienst ausnahmsweise vor Er¬ 
langung eines zum Lehramt an Volks¬ 
schulen befähigenden Zeugnisses erteilt, 
soweit diese Schüler während des Krie¬ 
ges bereits in den Heeresdienst ein getre¬ 
ten waren und beim Eintritt das 17. Le¬ 
bensjahr vollendet haben. Später wurde 
auch diese Altersbeschränkung aufgege- 
ben. In ähnlicher Weise konnte auch 
Schülern der Obertertia, die Herbst 1914 
die Reife für die Untersekunda erwor- 
ten und voraussichtlich beim Jahres- 
Schluß die Reife für Obersekunda er¬ 
langt hätten, das Zeugnis der Befähi¬ 
gung für den einjährig-freiwillen Dienst 
erteilt werden. Während in Friedenszei¬ 
ten erst der auf Grund des Befähigungs¬ 
zeugnisses ausgestellte Berechtigungs¬ 
schein den Eintritt in den einjährig-frei¬ 
willigen Dienst eröffnete, OFdnete das 
Kriegsministerium im Laufe des Krieges 
zur Beseitigung der mancherlei Schwie- 
keiten, welche sich auch fürältereLeute 
aus der gesetzlichen Unmöglichkeit, sich 
den Berechtigungsschein noch zu ver¬ 
schaffen, ergab, an, daß das Zeugnis der 
wissenschaftlichen Befähigung, auch 
wenn der Berechtigungsschein nicht er¬ 
teilt ist, für die Zulassung zur Ausbildung 
als Reserve- und Landwehroffizier als 
Ausweis anzuerkennen sei. Damit ist 
zahlreichen Volksschullehrem, denen 
nachträglich auf Grund der Bestimmun¬ 
gen der Unterrichtsverwaltung die wis¬ 
senschaftliche Befähigung zum einjäh¬ 
rig-freiwilligen Dienst zugesprochen 
worden ist, die Beförderung zum Offi¬ 
zier eröffnet worden. 


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1189 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung ngo 


Für die Schüler höherer Lehranstal¬ 
ten wurden sofort nach Kriegsausbruch 
Notprüfungen eingerichtet. Alle Ober¬ 
primaner, die in das Heer eintraten, wur¬ 
den zur Reifeprüfung zugelassen, die, 
welche sich im zweiten Halbjahre der 
Oberprima befanden, unter Erlaß der 
schriftlichen Prüfung. In ähnlicher 
Weise wurden Reifezeugnisse fürhöhere 
Klassen an Schüler niederer Klassen er¬ 
teilt. Unterprimanern wurde die Fähn¬ 
richsprüfung erlassen, Obersekundaner 
wurden zu ihr zugelassen. Die Zöglinge 
der I. Seminarklasse wurden wie die 
Oberprimaner behandelt. Sehr bald 
wurde allgemein der Grundsatz aufge¬ 
stellt und er ist im Verlauf des Krieges 
im allgemeinen festgehalten worden, 
daß die den Schülern vorzeitig ausge¬ 
stellten Zeugnisse der Reife für eine hö¬ 
here Klasse nur für den Fall Gültigkeit 
haben sollten, daß die Schüler tatsächlich 
in das Heer eintreten. Sie verlieren ihre 
Gültigkeit, wenn der Eintritt in das Heer 
oder in den Etappendienst tatsächlich 
nicht geschehen ist. Treten die Schüler 
infolge von Verwundung oder Krankheit 
vorzeitig aus, so wird für die verschie¬ 
denen Fälle bestimmt, in welche Klasse 
sie dann einzutreten haben. Sie sollen 
eben eine tunlichst vollständige Vorbil¬ 
dung für die nächste Klasse erreichen. 
Denen, die die Notreifeprüfung bestan¬ 
den haben, ist das Zeugnis sofort auszu¬ 
händigen. Notreifeprüfungen in Präpa- 
randenanstalten wurden nicht zugelas¬ 
sen. Während in der ersten Zeit des Krie¬ 
ges der freiwillige Eintritt in dasHeer, ins¬ 
besondere der als Fahnenjunker, für die 
Zulassung zu Notprüfungen ausreichte, 
wurde später nur die Einberufung auf 
Grund gesetzlicher Verpflichtung gelten 
gelassen, insbesondere durfte Sekunda¬ 
nern, die als Fahnenjunker eintreten woll¬ 
ten, die Reife für die höhere Klasse nicht 
mehr vorzeitig erteilt werden. Neue Be¬ 


stimmungen machte das Gesetz über 
den vaterländischen Hilfsdienst in die¬ 
sem Jahre notwendig. Die Schüler, wel¬ 
che durch Vermittlung ihrer Direktoren 
in den vaterländischen Hilfsdienst ein¬ 
treten, erhalten die Versetzung in die 
nächsthöhere Klasse zu demselben Zeit¬ 
punkte, an dem sie sde bei weiterem Besu¬ 
che der Anstalt erreicht hätten, unter der 
Voraussetzung, daß sie nachweislich bis 
dahin im vaterländischen Hilfsdienst ge- 
I blieben sind. Unter der gleichen Voraus¬ 
setzung sind dieSchüler, welche zuOstern 
1917 die Versetzung nach Oberprima er¬ 
reichen, zur Notreifeprüfung zugelassen. 
Trifft die Voraussetzung nicht zu, so 
müssen die Schüler behufs Erlangung 
der Versetzung oder des Reifezeugnisses 
zur Schule zurückkehren. Das Reife¬ 
zeugnis wird bei Eintritt in den Heeres¬ 
dienst aber ausgehändigt. Zwischen dem 
auf Grund einer Notreifeprüfung ausge¬ 
stellten Reifezeugnis und sonstigen Reife¬ 
zeugnissen besteht kein Unterschied. 
Das gilt auch für die Immatrikulation. 

Die Frage der Kriegsprimaner, d. h. 
derjenigen Primaner, welche ohne die 
Reifeprüfung abgelegt zu haben, in den 
Krieg gezogen sind, hat in jüngster Zeit 
die Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt. 
Die preußische Unterrichtsverwaltung 
hatte schon im Jahre 1915 in Aussicht 
genommen, nach Beendigung des Krie¬ 
ges für Schüler höherer Lehranstalten, 
die am Kriege teilgenommen haben, 
Lehrgänge zur Vorbereitung auf die Rei¬ 
feprüfung einzurichten und eine beson¬ 
dere Reifeprüfungsordnung für sie zu 
erlassen. Inzwischen aber mehrten sich 
die Fälle, daß junge Leute als Kriegs¬ 
beschädigte zurückkehrten und ihre 
Schulbildung zum Abschluß zu bringen 
wünschten. Darum erschien es billig, für 
sie alsbald eine geordnete Vorbereitung 
einzurichten und die Bestimmungen der 
erleichterten Reifeprüfung auf sie anzu- 

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1101 A. Sachse, Die KriegsmaBnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung HQ2 


wenden. Bayern und Württemberg woll¬ 
ten weitergehen und allen nach Prima 
versetzten Kriegsteilnehmern bei der 
Heimkehr ohne weiteres das Reifezeug¬ 
nis gewähren, ein Verfahren, mit dem die 
Bestimmungen der reichsgesetztichen 
Ordnungen der ärztlichen, zahnärzt¬ 
lichen und pharmazeutischen Prüfung 
kaum in Einklang zu bringen waren. 
Preußen schlug eine Vereinbairung der 
Bundesregierungen über die gegensei¬ 
tige Anerkennung der nach der in Preu¬ 
ßen entworfenen „Ordnung der Reifeprü¬ 
fung für Kriegsteilnehmer“ erteilten Rei¬ 
fezeugnisse vor und hat kürzlich die 
Zustimmung sämtlicher Bundesstaaten 
zu dieser Vereinbarung erreicht Zu die¬ 
ser Reifeprüfung sollen Kriegsteilneh¬ 
mer, welche auf einer höheren Lehran¬ 
stalt die Versetzung nach Untersekunda, 
Obersekunda, Unterprima erreicht hat¬ 
ten, nach 1 V*-, 1-, V* jährigem Besuch be¬ 
sonderer Vorbereitungsklassen zugelas¬ 
sen werden. Für diese Sonderklassen 
sind besondere Lehrpläne und Lehrauf¬ 
gaben aufgestellt 

Die Studierenden, die im Felde stehen 
oder im Dienst der freiwilligen 
Krankenpflege tätig sind, sah die Unter¬ 
richtsverwaltung von Beginn des Krie¬ 
ges an als beurlaubt an; sie durften nicht 
wegen Nichtannahme von Vorlesungen 
aus den Listen gestrichen werden. Da¬ 
gegen gestattete sie in erster Zeit die 
Immatrikulation der aus der Schule ins 
Herr eintretenden jungen Leute nicht, 
weil sie das Studium tatsächlich nicht be¬ 
ginnen konnten. Jedoch hat sie später 
diesen Standpunkt gemildert. Es er¬ 
wies sich als notwendig, erleichtern¬ 
de Bestimmungen über die Zulassung 
zu den Prüfungen, welche Universi- 
täts- und Hochschulstudium abschlie¬ 
ßen oder den Zugang zu staatlichen 
oder höheren gewerblichen Berufen 
eröffnen, zu treffen. Je nachdem, ob 


die Prüfungsordnungen von Reichs 
oder Staats wegen erlassen waren, trafen 
der Reichskanzler (für den ärztlichen, 
zahnärztlichen, für tierärztlichen und 
pharmazeutischen Beruf) oder der Unter¬ 
richtsminister die Anordungen. Es ist be¬ 
reits eine große Anzahl von Verfügungen, 
namentlich hinsichtlich der Anrechnung 
der Kriegszeit auf die Ausbildungsdauer 
getroffen worden, und es ist vorauszu- 
sehen, daß die Länge des Krieges hier 
noch mancherlei Abänderungen und 
Ausgleichungen zwischen der Dauer der 
wissenschaftlichen und praktischen Vor¬ 
bildung bringen wird. Es ist nicht mög¬ 
lich, die verschiedenen Berufe nach glei¬ 
chen Grundsätzen zu behandeln, weil 
sich in dem einen Berufe Mängel der 
wissenschaftlichen Vorbildung in der 
Praxis des Amtes allenfalls ausgleichen 
lassen, in dem anderen aber der Eintritt 
ohne die wissenschaftlichen Grundlagen 
sich von selbst verbietet 

Die Studierenden der Medizin und der 
Zahnheilkunde, der Tierheilkunde und 
der Pharmazie wurden bei Beginn des 
Krieges sofort zu einer abgekürzten Prü¬ 
fung zugelassen, wenn sie nur wenig¬ 
stens im letzten Semester standen. Das 
praktische Jahr wurde ihnen erlassen. 
Sie erhielten bei Bestehen der Prüfung 
sofort die Approbation. Später wurde 
der Kriegsdienst bis zur Dauer eines hal¬ 
ben Jahres angerechnet, sowohl für die 
Vorprüfung wie für die Hauptprüfung. 
Bei der Anrechnung von Kriegsdienst ist 
eine medizinische Betätigung nicht zu 
fordern, vielmehr gilt jede Art von 
Dienst im Heere und in der Marine, mit 
oder ohne Waffe, im Feld oder in der 
Heimat als Kriegsdienst. Sechs Monate 
Kriegsdienst können als ein Studiense¬ 
mester angerechnet werden, jedoch ist 
die Anrechnung auf die vier klinischen 
Semester nur aus besonderen Gründen 
zulässig. 


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Original fram 

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1103 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1194 


Die Kandidaten des höheren Schul¬ 
amts, ebenso die Volksschullehrer, wel¬ 
che die Prüfung zur endgültigen Anstel¬ 
lung ablegen wollten, wurden bei Be¬ 
ginn des Krieges sofort zur erleichterten 
mündlichen Prüfung zugelassen, wenn 
sie die schriftlichen Arbeiten bereits ab¬ 
gegeben hatten. Zu einer ebensolchen 
erleichterten Prüfung sind auch wei¬ 
terhin die im Kriegsdienst stehen¬ 
den Volksschullehrer zugelassen wor¬ 
den, wenn sie vorher zwei Jahre an 
Schulen vollbeschäftigt gewesen waren. 
Die Vorbereitungszeit (Seminar und 
Probejahr) der Kandidaten des höheren 
Lehramts, die mindestens ein Jahr im 
Kriegsdienst gestanden haben, ist auf ein 
Jahr zu beschränken, wenn ihre unter- 
richtlichen Leistungen genügen. Die an- 
stellungsfähigen Kandidaten des höhe¬ 
ren Lehramts sind für den Fall ihrer Be¬ 
schäftigung als Hilfslehrer mit einer 
etatsmäßig fes tgesetzten Stundenzahl als 
ständig gegen Entgelt beschäftigte 
Staatsbeamten anerkannt worden. Die 
Studierenden der technischen Hochschu¬ 
len wurden bei Beginn des Krieges bei 
einer Studiendauer von 4 Semestern zu 
einer abgekürzten Diplom-Vorprüfung, 
bei 8 Semestern zu einer solchen Haupt- 
Prüfung zugelassen, wenn die schriftli¬ 
chen Arbeiten angefertigt und als ausrei¬ 
chend erachtet waren. 

VII. Fortsetzung der friedlichen 
Tätigkeit 

Wenn auch die preußische Unter¬ 
richtsverwaltung aus Anlaß des Krieges 
unter dem Druck seiner Anforderungen 
auf manche geplante Förderung des Un- 
terrichtswesens hat verzichten müssen, 
so hat doch ihre friedliche Tätigkeit ne¬ 
ben der Befriedigung der Kriegsbedürf¬ 
nisse nicht geruht. Neben dem Abschluß 
verschiedener Vereinbarungen mit an¬ 
deren deutschen Staaten über die gegen¬ 


seitige Anerkennung von Prüfungszeug¬ 
nissen und neben dem Erlaß neuer Prü¬ 
fungsordnungen f ürTum- undSchwimm- 
lehrer und -lehrerinnen sowie für 
Sprachlehrerinnen mögen hier nur zwei 
wichtige Fortschritte aus dem Be¬ 
tätigungsgebiete der preußischen Unter- 
richtsverwaltung genannt werden, die 
sich trotz des Kriegszustandes bewirken 
ließen. Im Frühjahr 1915 ist das 
Zentralinstitut für Erziehung und Unter¬ 
richt in Berlin mit den beiden Sonder¬ 
ausstellungen „Schule und Krieg“ und 
„Biologische Schularbeit“ sowie die dem 
Zentralinstitut eingegliederte Zentral¬ 
stelle für den naturwissenschaftlichen 
Unterricht eröffnet worden. Damit ist 
eine zentrale Sammel-, Auskunft- und 
Arbeitstätte für das weitverzweigte Ge¬ 
biet des Erziehungs- und Unterrichtswe¬ 
sens mitten im Kriege geschaffen wor¬ 
den. Und im vorigen Jahre ist die Kö¬ 
nigliche Bergakademie in Berlin mit der 
Technischen Hochschule-daselbst ver¬ 
einigt worden; sie wurde ihr als sechste 
Fachabteilung für Bergbau eingegliedert. 


Der Krieg dauert an. Niemand weiß, 
wann er enden wird. Aber das erscheint 
sicher, daß er seinen Höhepunkt über¬ 
schritten hat. Nachdem auch das Hilfs- 
dienstgesetz ins Leben getreten ist, wer¬ 
den wesentlich neue Probleme an die 
Unterrichtsverwaltung nicht mehr her¬ 
antreten. Die Grundlagen für ihre Stel¬ 
lungnahme zu den Kriegsforderungen 
sind gelegt. Das rechtfertigt die Abfas¬ 
sung dieser Arbeit zu jetziger Zeit Es 
handelt sich nur noch um den Ausbau 
einzelner Kriegsmaßnahmen und ihre 
Ergänzung an einzelnen Stellen. Ohne 
Schaden kann das Unterrichtswesen aus 
einer so gewaltigen Umwälzung nicht 
hervorgehen. Aber es wird aus der 
vorhergehenden Darstellung einleuch- 


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INDIANA UNIVERSIT 




1105 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1196 


ten, daß die preußische Unterrichtsver- 
waltung getan hat, was in ihren Kräften 
stand, um den Schaden zu mindern. Man 
darf das Zutrauen zu der deutschen Ju¬ 
gend, die sich im Kriege so herrlich be¬ 
währt hat, haben, daß sie nach siegrei¬ 


cher Heimkehr auch an ihrem Teile be¬ 
strebt sein wird, den Schaden wettzu¬ 
machen. Dazu sprießen Keime zukünf- 
ger Entwicklung des Unterrichtswesens 
empor und eröffnen einen fröhlichen 
Ausblick in die kommenden Zeiten. 


Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der 
französischen Okkupation 1806—1813. 

Von Georg Gronau.*) 


Ebenso gering war schließlich der Er¬ 
folg, der allen Bemühungen der hessi¬ 
schen Bevollmächtigten behufs Wieder¬ 
erlangung der „Malmaison- Bilder“ be- 
schieden war. Es handelte sich hier um 
die 48 Bilder, die, wie eingangs erzählt 
Kurfürst Wilhelm I. im Oktober 1806 zu 
retten versucht hatte, die aber gleich 
nach der Okkupation Hessens dem Ge¬ 
neral Lagrange in die Hände gefallen 
und nach Mainz transportiert worden 
waren. Napoleon hatte sie seiner Ge¬ 
mahlin Josephine zum Geschenk ge¬ 
macht; sie bildeten bis 1815 die Haupt- 
zierde von Schloß Malmaison. Denon 
hatte sich eifrig bemüht, auch die 36 Bil¬ 
der, welche Josephine tatsächlich er¬ 
halten hatte — „tous ä la vferitfe fort 
beaux“, sagt Denon—, dem Musfee Na¬ 
poleon zu sichern :„Ilsdevinrentun objet 
de discussion, terminfee par le silence de 
l’empereur, ce qui a pu faire croire ä 
rimpferatrice Josfephine que ces tableaux 
lui appartenaient et ce qui m’a empfe- 
chfe de les comprendre dans le catalogue 
du musfee.“ 45 ) Eine Bestätigung dieser 
Angabe liefert eine Mitteilung in den 
hessischen Akten: die Nachforschungen 
der Museumsdirektion hätten aufhö¬ 
ren müssen, als Napoleon auf ihre An¬ 
zeige von der Weigerung der Kaiserin 


*) Siehe Heft 9. 

43) Saunier a. a. O. S. 78. 


zur Herausgabe die Entscheidung er¬ 
teilte: eile ne serait pas Impferatrice si 
eile agissoit autrement. 44 ) Und als sich 
Denon 1814 im Auftrag des Ministers 
Comte de Blacas an die Erben Jose- 
phinens wandte, antworteten diese: J1 
parait que S. M. les avait tellement oon- 
sidferfes comme sa proprifetfe personelle, 
qu’elle a disposfe d’un assez grand 
nombre et qu’avec sa dfelicatesse tres 
connue, eile n’eüt certainement pas pris 
sur eile de le faire, s’il y avait pu avoir 
le moindre doute.“ Sie beriefen sich 
darauf, daß man bei der Scheidung 
alles, was als Eigentum der Krone gel¬ 
ten konnte, selbst die Wäsche, der Kai¬ 
serin abgefordert hätte, nicht dagegen 
diese Bilder: „Si des tableaux avaient 
fegalement pu fetre considferfes sous ce 
rapport, on eüt de mfeme exigfe la 
remise.“ So waren die Bilder als 
Eigentum der Familie Beauhamais im 
Schloß Malmaison verblieben. 

Wie oben mitgeteilt, war es Robert 
bei seinem ersten Pariser Aufenthalt 
nicht gelungen, die Hauptbilder im 
Schloß zu Gesicht zu bekommen. Nur 
drei davon hatte er bei flüchtigem 
Durchgetriebenwerden als tatsächlich 
vorhanden feststellen können. War 
schon damals insgeheim jenes Abkom¬ 
men getroffen worden, das den recht- 

44) Stengel S. 399. 



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1197 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1198 


mäßigen Besitzer ein für alle Male 
seiner kostbarsten Stücke berauben 
sollte ? Man könnte die Worte in der 
eben zitierten Antwort der Erben Jose- 
phinens, die während der Verhand¬ 
lungen, am Tage vor Abschluß des 
Pariser Friedens, verstarb (29. Mai 1814), 
in diesem Sinne deuten. 

Daß tatsächlich seit einer gewissen 
Zeit die Absicht bestand, die Malmai- 
son-Bilder zu verkaufen, geht aus den 
Mitteilungen eines Engländers, der im 
damaligen Kunsthandel eine Rolle 
spielte, Buchanan, unzweifelhaft her¬ 
vor. Er teilt mit. daß es einen Augen¬ 
blick, nach dem Einrücken der aliierten 
Truppen in Paris, möglich gewesen sei, 
siß zu dem mäßigen Pre is von 10 000 L. 
zu erwerben, doch scheute er das damit 
verbundene Risiko; und kaum war der 
erste Alarm vorüber, so stiegen die Ob¬ 
jekte rasch wieder im Wert. Seine wei¬ 
teren Absichten durchkreuzte der in¬ 
zwischen vollzogene Verkauf an den 
russischen Kaiser. 45 ) 

Die hessischen Unterhändler erfuhren 
bei ihrer Rückkehr nach Paris zu ihrer 
peinlichen Überraschung, daß „die Ge¬ 
mälde von Sr. Maj. dem Kaiser von 
Ruszland infolge älterer Unterhand¬ 
lungen gekauft und dem Fürsten von 
Wolkonsky seit dem Einmarsch der ali¬ 
ierten Armeen in Paris übergeben wor¬ 
den seyen“. 46 ) Über die näheren Um¬ 
stände dieses Kaufs ist man nicht ge¬ 
nau unterrichtet; Grimm berichtete 
später (15. Oktober) darüber, wie ihm 
vertraut eröffnet worden', sei Pozzo di 
Borgo, der russische Gesandte, gegen 
die Akquisition gewesen, Wolkonsky 
und Nesselrode aber dafür; „des erste- 
ren (Wolkonsky) Frau, mit der Königin 
Hortensia oder einer ihrer Damen genau 

45) Buchanan, Memoirs of painting... II, 
London 1824, S. 296. 

46) Stengel S. 401. 


bekannt, habe lebhaft intrigiert und so 
sei die Sache endlich dabei geblieben“. 47 ) 
Der bevollmächtigte Vertreter der Fami¬ 
lie Beauharnais, ein Chevalier Soulange, 
hatte die Stirn, jede Kenntnis von der 
Gemäldesammlung überhaupt abzuleug- 
nen. 48 ) Später (in einem Schreiben vom 
4. Oktober) gab er wenigstens die Tat¬ 
sache des Verkaufs „en vertu d’an- 
ciennes conventions d’achat“ zu. 49 ) Zu¬ 
nächst scheint Grimm den ordnungsge¬ 
mäßen diplomatischen Weg versucht zu 
haben, aber derStaatsminister Graf Nes¬ 
selrode und Fürst Wolkonsky antwor¬ 
teten nicht, ebenso machte es Fürst Har¬ 
denberg; ein Versuch letzteren zu spre¬ 
chen mißlang. 50 ) So entschloß sich 
Grimm einem ihm erteilten Rat zu fol¬ 
gen und „den einzigen hier überbleiben¬ 
den, vielleicht noch fruchtenden Schritt 
einer unmittelbaren, die Gefühle, welche 
Recht und Wahrheit eingeben müssen, 
unverhüllenden Vorstellung an den Kai¬ 
ser selbst zu tun“. Dies geschah in einer 
langen Eingabe an Alexander I. vom 29. 
September, in der er die Angelegenheit 
so darstellt, als ob der Kaiser seitens der 
Familie Beauharnais über die Herkunft 
der Gemälde nicht unterrichtet worden 
sei. 51 ) Da der Monarch inzwischen be¬ 
reits Paris verlassen hatte, gab er das 
Schreiben einer „sicheren österreichi¬ 
schen Gelegenheit nach Dijon“ mit; er 
sprach allerdings später die Besorgnis 
aus, es möchte dem Kaiser erst in Ber¬ 
lin zukommen, da jener Kurier eine an¬ 
dere Route hatte nehmen müssen. Zwei¬ 
felhaft ist, ob das Schreiben je in die 
Hände Alexanders gelangt ist; wenn es 
der Fall war, so hatte es jedenfalls kei¬ 
nerlei Erfolg. 

Inzwischen hatte Grimm durch einen 


47) Stengel S. 51. 48) Stengel S. 29. 

49) Stengel S. 46. Vgl. auch die wichtige 
Darlegung Carlshausens ebendort S. 400 ff. 

50) Stengel S. 23/4. 51) Stengel S. 27 ff. 



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1100 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1200 


Vertrauensmann, den in Paris ansässi¬ 
gen Hanauer Kaufmann Toussaint, er¬ 
fahren, daß die Bilder „wirklich einge¬ 
packt und auf der Reise nach Rußland 
wären:“ 51 ) Auf demselben Wege ging 
ihm die Nachricht zu, „daß 38 StQck Ge¬ 
mälde aus Malmaison für den ruß. Kai¬ 
ser eingepackt worden und in diesem 
Augenblick bereits zu Havre befindlich 
seien" 5S ), ferner daß „ein russischer Ge¬ 
neral voriges Jahr auf seine eigene Hand 
vier Stück mitgenommen". Irgendwelche 
Angaben, welche Bilder der Kaiser wirk¬ 
lich gekauft, und wie hoch sich der 
Kaufpreis belief, waren nicht zu erlan¬ 
gen. Später erfuhr man, daß der russi¬ 
sche Hof für die Gemälde eine halbe 
Million Franken bezahlt habe. 54 ) 

So mußte man sich begnügen, auf die 
wenigen in Malmaison zurückgebliebe¬ 
nen hessischen Gemälde die Hand zu 
legen. Man hatte das Vorhandensein von 
vier Stücken festgestellt; daß es von al¬ 
len die geringwertigsten waren,wirdmie- 
manden erstaunen; nämlich zwei dem 
Poussin zugeschriebene Bilder (Galerie 
Nr. 460, das andere im Depot), eine Ma¬ 
ria angeblich von Guido Reni (Galerie 
Nr 574) und eine Landschaft von Ber¬ 
eitem. Wieder scheint es der Mitwirkung 
des preußischen Militärs zu verdanken 
gewesen zu 6ein, daß die ersten drei 
endlich in den Besitz der hessischen Au¬ 
toritäten gelangten. Das vierte jedoch, 
der Berchem, war verschwunden, als sie 
die andern fortnehmen ließen; von dem 
Chevalier Soulange war nichts zu erhal¬ 
ten, außer einer Erklärung, „daß sich 
keines der 45 Bilder in dem Gewahrsam 
des Prinzen Eugen (Beauharnais) gegen- 


52) Stengel S. 2$. 53) Stengel S. 50. 

54) Waagen, Die Gemäldesammlung in 
der kaiserlichen Eremitage zu St Peters¬ 
burg 1864, S. 20, gibt als Kaufpreis für die 
Malmaisonbilder nebst 3 Statuen Canovas 
400000 Rubel an. 


wärtig hier befinde*'. 66 ) So mußten sie 
denn auch dieses Stück preisgeben. Der 
Vertreter der Beauhainais aber hatte ih¬ 
nen wiederum bewußt die Unwahrheit 
gesagt; das Bild von Berchem war tat¬ 
sächlich im Besitz der Erben Josephi- 
nens verblieben. Es ist so gut wie sicher 
identisch mit Nr. 132 der Galerie Leuch¬ 
tenberg, ein Bild, das Waagen als ein 
Werk „ersten Ranges von diesem so un¬ 
gleichen Meister“ 66 ) hervoihebt. 

Aber mindestens noch zwei weitere 
Bilder waren im Besitz des Prinzen Eu¬ 
gen Beauharnais vorhanden und wur¬ 
den 1815 unterschlagen. Ein als „der 
Heuwagen“ bekanntes Werk von Wou¬ 
we rman ist schon 1829 als Bestandteil 
der Leuch tenbergschen Galerie (damals 
in München) beschrieben und hat sich 
noch vor wenigen Jahren in der berühm¬ 
ten Petersburger Sammlung befun¬ 
den 51 ). Ebenso war auch ein Slingeland 
in Malmaison verblieben, der wenige 
Jahre später bei König Maximilian in 
München auftaucht, um bei der Verstei¬ 
gerung nach dessen Tod in den Besitz 
des englischen Königs überzugehen. 58 ) 

Heute, wo die großen, mit aller wün¬ 
schenswerten Sorgfalt gearbeiteten Ka¬ 
taloge der kaiserlichen Sammlung in Pe¬ 
tersburg vorliegen, ist es nicht schwer 
festzustellen, welche Gemälde der Cas¬ 
seler Sammlung tatsächlich 1815 aus 
Malmaison nach Petersburg gelangt 
sind. Mit Ausnahme von einer einzigen 
Nummer findet man sie alle, 37 an der 
Zahl, in Somoffs großem Katalog, zu 
dem für die französischen Bilder Waa- 
gens Angaben als Ergänzung treten, ver- 


55) Stengel S. 87. 

56) Waagen a. a. O. S. 386. 

57) Smith, Catalogue I, S. 354, Nr. 521; 
Hofstede de Groot II, S. 561, Nr. 948. 

58) Die Provenienz ist durch die Angaben 
von Waagen, Kunstwerke und Künstler 0, 
S. 164, sichergestellt. 



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1201 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1202 


zeichnet. Von diesen 37 Bildern haben 
sich aber 16 niemals in Cassel befunden 
und müssen eine andere, uns unbe¬ 
kannte* Herrschaft haben. 59 ) Es bleiben 
demnach nur 21 Bilder (vielleicht 22, 
wenn man die nicht nachgewiesene Nr. 
38 des Ankaufs hinzuzurechnen hat) 
übrig, deren Provenienz aus Cassel un¬ 
zweifelhaft gesichert ist. Es sind dies 
nach Somoffs Katalog die folgenden 
Stücke: 

Band I. 

Nr. 251. Dolci, Mater dolorosa. 

Nr. 24. Andrea del Sarto, Heilige Familie. 
Band II. 

Nr. 1075. Berchem, Bergige Landschaft. 

Nr. 904. Dou, Die Heringsverkäuferin. 

Nr. 905. Dou, Die Heringsverkäuferin. 

Nr. 1086. K. du Jardin, Vieh auf der Weide. 80 ) 
Nr. 1206. J. van der Heijde, Ansicht von 
Köln. 

Nr. 1211. J. van der Heijde, Amsterdamer 
Ansicht. 

Nr. 880. Metsu, Das Austernfrühstück. 

Nr. 1198. Neefs, Inneres einer gotischen 
Kirche. 

Nr. 1051. Potter, Der Meierhof. 

Nr. 1052. Potter, Das Leben des Jägers. 

Nr. 880. Rembrandt, Die Kreuzabnahme. 
Nr. 672. Teniers, Die Antwerpener Schüt¬ 
zengilde. 

Nr. 673. Teniers, Die Wachtstube. 

Nr. 699. Teniers, Die Affenküche. 

Nr. 983. v. d. Werff, Die Austreibung aus 
dem Paradies. 

ferner: 

Nr. 1428—1431. Claude Lorrain, Die sog- 
Vier Tageszeiten. 61 ) 

59) Es sind die folgenden Bilder nach 
Somoffs Katalog: Bd. I, Nr. 245 Biliverti, 
194 Canlassi, 254 Dolci, 72 Luini, 185 Reni, 
42 Santi (Kopie), 272 Schiavone, 108 Tizian 
(Kopie). Bd. II, Nr. 1070, Berchem, 1207 v. 
d. Heijde, 491 Lombard, 1055 Potter, 546 
Rubens, 870 Terborch, 987 v. d. Werff. Fer¬ 
ner 1439 Claude Lorrain. 

60) Das Bild trug auf Grund einer fal¬ 
schen Bezeichnung in Kassel den Namen 
Potter. 

61) Die Angabe bei Waagen S. 293/4 
(ebenso Smith, Catalogue VIII, S. 274), wo¬ 
nach noch ein weiteres Bild von Claude 


Sucht man diese 21 Bilder in der 
Liste der 1806/7 geraubten Stücke auf, 
so stellt man fest, daß sie nicht alle in 
die Gruppe der 48 Bilder gehören, die 
durch General Lagrange abgefangen 
und nach Mainz geschafft worden wa¬ 
ren; nur auf 16 trifft dies zu. Dage¬ 
gen gehören die Bilder von Dujardin, 
Metsu, Teniers (die Affenküche) und van 
der Werff in die Rubrik der Bilder, die 
Robert als „unter dem Gouvernement 
von Lagrange fortgekommen 44 bezeich¬ 
net; eines, das Kirchenbild des Neeffs, 
waren von Denon für den Louvre 
ausgesucht worden und ist in der Liste 
der Übergabe dieser Bilder 1815 mit dem 
Vermerk versehen worden: „ce tableau 
ne s’est pas trouvG et a probablemen.t 
remis ä une autre cour. 44 Es ist also ge¬ 
nau nur ein Dritteil jener 48 Bilder über 
Malmaison in die Eremitage gekommen. 
Wie erklärt sich dieses, und was ist aus 
den übrigen geworden? Wie oben mit- 
geteilt, hatte Josephine stets erklärt, nur 
36 Bilder erhalten zu haben; Grimm 
glaubte selbst, daß nicht alle 48 Bilder 
jemals zusammen in Malmaison gewe¬ 
sen wären, und sprach unter Hinweis 
auf den Umstand, daß sich niemand er¬ 
innere, die Caritas von Leonardo je wie¬ 
dergesehen zu haben, weder in Malmai¬ 
son noch anderswo, den Verdacht der 
Veruntreuung durch Lagrange oder 
Martelliere aus. Gesichert sind also die 
Schicksale von im ganzen 22 Bildern: 3 
kamen an ihren rechtmäßigen Besitzer 
zurück, 3 verblieben bei den Beauharnais, 
16 gelangten in die Eremitage; demnach 
weiß man nichts von 26 der 1806 geraub¬ 
ten oder von 14, die Josephine erhalten 
hatte. Daß vier durch einen russischen 
General aus Malmaison mitgenommen 
worden seien, hatte Grimm in Paris ge¬ 
rüchtweise erfahren. Möglich feiner, daß 

Nr. 1439 in der Kasseler Galerie sich be¬ 
funden habe, entspricht nicht den Tatsachen. 



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1203 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der f ranz. Okkupation 12Q4 


die vier Bilder von Dujardin, Metsu, 
Teniers und van der Werff, die zweifel¬ 
los auch aus Malmaison in die Eremi¬ 
tage gekommen sind, von Lagrange be¬ 
reits 1806 gegen eine entsprechende Zahl 
der anderen Bilder vertauscht wurden. 
Immer bleibt ein stattlicher Rest, dessen 
Schicksale unaufgeklärt sind. Vielleicht 
haben manche als Geschenkgaben der 
Kaiserin sich verloren 61 *; wenigstens zwölf 
aber waren gewiß von Lagrange bei¬ 
seite gebracht worden. 

Wer die Listen jener fehlenden Bilder 
überprüft, wird finden, daß sich die 
Mehrzahl heute noch nachweisen läßt, 
und daß bei vielen die Spuren in den 
Kunsthandel der ersten Hälfte des vori- 
rigen Jahrhunderts zurückführen. Wir 
stellen hier den jetzigen Bewahrungs- 
ort der Bilder zusammen, soweit er 
durch die Literatur bekannt ist: 

1. London, National Gallery Nr. 862 
Teniers, Die Überraschung. Versteige¬ 
rung Varoc 1822, seit 1826 Sammlung 

R. Peel, mit dieser 1871 erworben. 

2. London, Wallace Sammlung Nr. 
114 Claude Lorrain, Felsige Landschaft 
mit Hirten und Herde. 1846 erworben, 
zuvor in der Sammlung Talleyrand (dort 
schon 1824 nachweisbar). 

3.... Nr. 170 Dou, Der Einsiedler. 
Seit 1859 in der Sammlung; zuvor viel¬ 
leicht Sammlung Förier, Paris. 

4. London, Buckingham-Palace. Rem- 
brandt, Noli me tangere. 1816 von 
Georg IV. erworben. 

5. . . . Dou 62 ), Frau mit Kind und 

61a) In einem Fall laßt sich ein solches 
Geschenk nachweisen. Wie aus dem bei 
den Akten der Galerie befindlichen Briefe 
des Londoner Kunsthändlers Buchanan aus 
dem Jahre 1828 hervorgeht, hatte die Kai¬ 
serin das eine Casseler Bild von Claude 
Lorrain dem Prinzen Talleyrand geschenkt. 
Es ist die weiter unten folgende Nummer 2. 

62) Hieß in Kassel Slingeland. Unter 
diesem Namen noch bei Smith, Catalogue I, 

S. 56, Nr. 24. 


Wiege. War 1826 in London in der 
British Gallery ausgestellt 

6.... Slingeland, Spitzenklöpplerin. 
Als „Dou" im Besitz des Königs Maxi¬ 
milian von Bayern, 1826 weiterverkauft 

7.Wouwerman, Der Pferdemarkt 

Schon 1842 dort vorhanden. 

8. . . . v. d. Werff, Lot mit seinen 
Töchtern. Die Identität nicht völlig ge¬ 
sichert, falls die Angaben bei Smith 
(Catalogue IV, S. 197, Nr. 55) über die 
Herkunft stimmen. 

9. New (York, Metropolitan Museum 
V 28—7 van Dyck, Bildnis des Lucas 
vanUffel. Nach Smith, Catalogue SuppL 
S. 373, Nr. 21 war das Bild 1836 bei 
einem Händler in Paris (später Duke of 
Sutherland, London, und Benj. Altman, 
New York). 

10. Montpellier, Musöe Nr. 678. Dou, 
Die Mausefalle. 1829 Sammlung Vale- 
dau, Paris (von dort 1890 als Vermächt¬ 
nis nach Montpellier). 

11. Neuwied, Fürst zu Wied. Leo¬ 
nardo da Vinci zugeschrieben (in Wahr¬ 
heit von Giampietrino), Leda mit ihren 
Kindern. Schon 1835 im Besitz des 
Prinzen von Oranien auf Schloß Ter- 
vuren bei Brüssel (1850 Versteigerung 
König Wilhelms II. von Holland, von 
dessen Tochter Fürstin zu Wied er¬ 
worben). 63 ) 

12/13. Haiton Manor (England), bei 
Baron A. de Rothschild. Rembrandt (in 
Wahrheit von Ferd. Bol), Bildnisse 
eines Herrn und einer Dame. 1837 in 
der Sammlung des Lord Ashburton in 
London (Waagen, Kunstwerke und 
Künstler II, S. 86); nach Angabe von 


63) Die Identität dieses Bildes mit der 
Kasseler „Caritas“ ist neuerdings von 
Fr. Marx, Über die Caritas des Leonardo 
da Vinci. Sächs. Ges. d. Wissenschaften. 
XXXIV. Bd. der Abhandlungen, Nr. II, 1916. 
bestritten worden; doch scheinen seine 
Grande nicht stichhaltig. 


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1205 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1206 


Smith (Catalogue VII, S. 179, Nr. 562) 
1831 von Mr. Buchanan erworben. 

14. Brüssel, Sammlung Halot. Wou- 
werman, Plünderung einer Stadt. 1816 
aus Malmaison verkauft, 1826 in Paris 
(diese Angaben nach Smith, Catalogue I, 
S. 272, Nr. 257). 

15/16. London, Lord Ashburton (noch 
jetzt?), van Huysum, Zwei Blumen¬ 
stücke. 1836 von Smith in der Samm¬ 
lung Baring beschrieben, die Her¬ 
kunft aus Cassel ausdrücklich ange¬ 
geben (Catalogue VI, S. 473, Nr. 41/2. 64 ) 

17/18. Früher Paris, Comte Pourtales. 
van Huysum, Zwei Frucht- und Blumen¬ 
stücke- Nach Smith (a. a. O. S. 478) 
1826 durch ihn aus der angegebenen 
Sammlung erworben; später in eng¬ 
lischem Privatbesitz!. Auch hier die 
Herkunft aus Cassel bezeugt 

Damit wären denn die Schicksale von 
insgesamt 40 der durch Lagrange ge¬ 
raubten Bilder festgestellt. Etwas un¬ 
bestimmtere Angaben lassen sich noch 
für einige andere gewinnen. Randbe¬ 
merkungen zufolge, die sich, von einem 
offenbar wohlunterrichteten Mann nie- 
dergeschrieben, in einem Exemplar des 
Katalogs von 1799 65 ) finden, bot der 
Kunsthändler Artaria in Mannheim die 
schon aufgeführte „Caritas“ von Leo¬ 
nardo, eine „heilige Familie“ desselben 
Meisters und die „Kartenspieler“ von 
Schalcken im Oktober 1821 zum Kauf 
an ; außerdem den Teniers (jetzt Lon¬ 
don ; obige Nr. 1), den Wouwerman 
(Nr. 14), den Slingeland (Nr. 6) und eine 
Madonna von Raphael. Nur bei dem 

64) Mit der Provenienz aus Kassel steht 
die Angabe von Smith, „Collection of M. 
Tolozan 1801“ in direktem Widerspruch, 
den aufzuklären ich nicht in der Lage bin. 

65) Im Besitz von Frl. Friderike Justi in 
Bonn. Die betreffenden Bemerkungen ab¬ 
gedruckt in der zitierten Schrift von Marx 
S. 92/93. Ich vermute, daß sie von Robert 
herrühren. 


letztgenannten Bilde findet sich die 
Randbemerkung „Paris“ als weiterer 
Hinweis; daß auch die übrigen sich 
ebendort befanden, läßt sich zwar ver¬ 
muten, aber nicht schlüssig erweisen. 

Aus diesen Angaben geht mit hoher 
Wahrscheinlichkeit hervor, daß ein be¬ 
trächtlicher Teil jener kostbaren Bilder 
sich 1815 tatsächlich in Paris befunden 
haben muß. Einiges war bei den Beau¬ 
harnais noch nach dem Verkauf der 
Malmaison-Bilder an Alexander I. ver¬ 
blieben, das meiste war, dürfen wir ver¬ 
muten, bei General Lagrange, der aber 
seine Spuren so gut zu verwischen 
wußte, daß, wie wir oben sahen, die 
hessischen Bevollmächtigten nicht ein¬ 
mal seine Wohnung in Erfahrung zu 
bringen wußten. In einem Falle wenig¬ 
stens läßt es sich fast sicher erweisen, 
daß er der Besitzer eines der geraubten 
Stücke gewesen ist. Unter diesen hatte 
sich eine dem Raffael zugeschriebene 
Madonna befunden — dieselbe, die 
Artaria 1821 in Cassel zum Verkauf an- 
bot Der hohe Preis von 80000 Francs, 
der gefordert wurde, läßt darauf schlie¬ 
ßen, daß man das Bild als Original 
des Meisters ansah,. Von diesem Bild 
tauchte in neuerer Zeit nochmals eine 
Spur auf. „Noch vor wenigen Jahren, 
so weiß der Galerie-Inspektor Friedrich 
Müller zu berichten 66 ), wurde von 
einem Neffen dieses längst verstorbenen 
Generals in Cassel angefragt, ob sich 
nicht jemand einer kleinen heiligen Fa¬ 
milie von Raffael erinnere, welche sich 
im Residenzschlosse befunden und vom 
Kaiser seinem Onkel geschenkt (!) sei. 
Es sollte durch die Antwort die Iden¬ 
tität des Bildes nachgewiesen werden.“ 
Dazu bemerkt Eisenmann ergänzend, 
das Bild sei „aus der Erbschaft des 
Generals Lagrange in den Besitz einer 


66) Zeitschr. f. bild. Kunst VI, 1871, S. 189. 


1207 G. Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz.Okkupation 1208 


römischen Adelsfamilie übergegangen, 
die es nach neueren Nachrichten in 
ihrem Palaste zu Rom bewahrt“. 67 ) 
Lagrange wartete offenbar so lange, 
bis er jede Gefahr erfolgreicher Rekla¬ 
mation beschworen glaubte; dann 
brachte er vorsichtig die einzelnen 
Stücke in den Handel — außer seinem 
Beuteanteil an den 48 Bildern noch die 
weiteren 48 Stüde, die am Schluß seines 
Gouvernements aus den Casseler Samm¬ 
lungen verschwunden waren. Auch für 
einige von diesen läßt sich nadiweisen, 
daß sie später in Paris im Handel ge- 
gewesen sind. 68 ) So wurden vier davon 
1820 durch den Casseler Rogge-Ludwig 
nebst 14 anderen, unter JGrömes Herr¬ 
schaft verschwundenen für zusammen 
80000 Francs, die der damalige Besitzer, 
ein Monsieur Drivet de Lille in Paris 
darauf geliehen hatte, angeboten. Noch 
von einigen weiteren Bildern kennt man 
die Schicksale, die hier kurz zusammen¬ 
gestellt seien. 

1. London, Sammlung Otto Beit. 
Ostade, Anbetung der Hirten. Nach An¬ 
gabe von Smith (Catalogue I, S. 164, 
Nr. 203) befand sich auch dieses Bild 
in Malmaison und wurde von dort 
durch einen Monsieur Delahante er¬ 
worben ; später (1823) bei Chev. Erard 
in Paris. 

2. London, Buckingham-Palaoe. Te- 
niers, Bergige Landschaft mit Reisen¬ 
den. Nach Smith (Catalogue III, S. 358, 
Nr.371) schon 1827 daselbst vorhanden. 

3. ... Fr.Mierisd.Ä. Herr und Dame 
(angeblich der Maler und seine Frau). 
Nach Smith (Catalogue I, SL 63, Nr. 4) 

67) Katalog der Kgl. Gemäldegalerie Cas¬ 
sel 1888, S. XIX. 

68) Vier Bilder davon sind, wie oben 
nachgewiesen wurde, inMalmaison gewesen 
und von dort in die Ermitage gelangt; 
ein weiteres, ein kleines Bild von Brueghel, 
war später in der Galerie Leuchtenberg 
(Nr. 137). 


bereits 1826 dort Die Identität mit dem 
verlorenen Casseler Bild wahrschein¬ 
lich, doch nicht völlig gesichert- 

4. London, Sammlung Alfred von 
Rothschild. Wouverman, Aufbruch zur 
Falkenjagd. 1826 im englischen Handel , 
(Smith, Catalogue I, S. 299, Nr. 348). 
Die Identität mit dem Casseler Bild 
durch die genaue Übereinstimmung der 
Maße so gut wie gesichert 69 ) 

5. Paris, Sammlung HeugeL Ostade. 
Bauemgesellschaft im Wirtshaus. Nach 
Smiths Angabe (Catalogue, Suppl. S. 96, 
Nr. 52) 1829 in der Sammlung Th. 
Emmersonj. Die Maße stimmen fast 
genau mit dem ehemaligen Casseler 
Bild. 

6. Pjaris,Sammlung Marquise d'Aoust 
Schalcken, Das Gleichnis vom ver¬ 
lorenen Grosdien. Die Identität mit dem 
Casseler Bild von H. de Groot (Verzeich¬ 
nis V, S, 333, Nr. 30 u. 30a) vermutet 

7. Paris, Kunsthandel um 1840. G. Co- 
ques, Familienstück mit 8 Personen. 
Das von Smith (Catalogue SuppL S. 584, 
Nr. 6) sehr bewunderte Stück wurde da¬ 
mals in Paris angeboten. 

8. London, Sammlung Oswald Smitb 
1842. Slingeland, Die Spitzenklöpplerin 
(Smith, Catalogue Suppl. S. 29, Nr. 14). 
Die Identität dieses Bildes, dessen ge¬ 
genwärtiger Besitzer nicht bekannt ist 
vermutet schon (und wohl mit Recht) 
Hl de Groot (Verzeichnis II, S. 457, 
Nr. 40). 

Den hessischen Bevollmächtigten 
bzw. Vertrauensmännern — Grimm, Ro¬ 
bert und Unger — waren diese Ver¬ 
stecke während ihres Pariser Aufenthal¬ 
tes alle verborgen geblieben. Das Mi߬ 
trauen, das sie gegen die Erben Joseph!- 


69) Allerdings stimmen die von de Groot 
(Verzeichnis II, S. 412, Nr. 537) Qbernomme- 
nen Provenienzangaben von Smith nicht 
denn das Kasseler Bild gehörte seit 1731 
van Röver. 


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1209 G.Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1210 


«ens hegten, die Sicherheit, daß ein Teil 
der kostbaren Beute noch im Besitz von 
JLagrange sich befinden müßte, boten 
keine genügende Handhabe, um entspre¬ 
chend vorgehen zu können. Erst Jahre 
danach, durch die Angebote von Artaria 
1820, von Rogge-Ludwig 1821, begann 
sich der Schleier des Geheimnisses eini¬ 
germaßen zu lüften, aber der überaus 
sparsame Kurfürst Wilhelm I. war nicht 
gewillt, sein ihm durch Raub entwende¬ 
tes Gut für beträchtliche Summen zu¬ 
rückzuerwerben: er hat alle entspre¬ 
chenden Anträge abschlägig beschie¬ 
ßen. Robert hat doch nach und nach den 
Verbleib mancher Bilder in Erfahrung 
gebracht, hat z. B. auch gewußt, daß 
einige in die Sammlung des englischen 
Königs gelangt waren; eine von seiner 
Hand geschriebene, unter den Akten der 
Galerie bewahrte Liste führt 50 Bilder 
auf mit Angabe ihrer Besitzer und gibt 
die teilweis sehr beträchtlichen Preise 
an, zu denen sie verkauft worden waren. 
Man darf vermuten, daß ein mit dem 
Kunsthandel genau vertrauter Mann, et¬ 
wa Artaria, ihm diese Informationen 
verschafft hat. 

Was hätten die Vertreter der hessi¬ 
schen Interessen, in diesem Falle also 
der chargö d'affaires Grimm, tun könn- 
nen? Er hat den einzigen Schritt ver¬ 
sucht, der nach Recht und Billigkeit zu 
tun war, indem er nämlich auf Kom¬ 
pensationen drang. „Ich entwarf ein Me¬ 
moria, heißt es in seinem Bericht vom 
7. November, um darzutun, daß Deutsch¬ 
land diesen Verlust (das bezieht sich auf 
die namentlich den Rheinlanden entwen¬ 
deten Kunst- und wissenschaftlichen 
Gegenstände) nicht, wie den so vieler 
anderer Dinge verschmerzen, sondern 
auf eine Kompensation, nicht in Geld, 
sondern gleichartigen Gegenständen 
dringen müsse. Es kam darauf an, den 
Plan dieser Kompensation festzusetzen 


und die Abtretung eigener Bücher, 
Handschriften usw. den Franzosen so 
annehmlich als möglich darzusteilen. 
Übrigens habe ich vorbedächtlich in die¬ 
sem Memoire allgemein und nicht bloß 
von Preußen gesprochen, sondern Hes¬ 
sen und Braunschweig als Länder, die 
sich damit in gleichem Fall befinden, 
ausdrücklich erwähnt. Sobald man nun 
französischerseits das Prinzip der Kom¬ 
pensation einmal zugestanden haben 
würde, warmeine Absicht, darauf zu fu¬ 
ßen und auch für so viele aus Hessen 
entführte und verlorene Kunstgegen¬ 
stände irgendeinen ähnlichen Ersatz zu 
begehren, wiewohl in den dreien hier 
in Betracht kommenden Verzeichnissen 
(l.dem der45Malmaisoner Bilder, 2. der 
18 aus dem Schloß geraubten, 3. der 2 
Kisten mit Kostbarkeiten) stets beson¬ 
dere unangenehme Umstände eintreten, 
nämlich nicht das französische Gouver¬ 
nement unmittelbar als einzuhaften 
schuldig betrachtet werden kann, son¬ 
dern bekanntlich die Familie Beauhar¬ 
nais und der General Lagrange dazwi¬ 
schenstehen. Dies ist bei den preußi¬ 
schen Kompensationsgegenständennidht 
der Fall. 

Auch versteht es sich von selbst, daß 
nicht auf vollständigen oder nur zu ver¬ 
gleichenden Ersatz gedrungen werden, 
sondern nur eine dadurch begründete 
und weitere Schritte in der Hauptsache 
nicht gerade abschneidende französische 
Gegengabe bezweckt werden sollt 

Obiges Memoire ging nun bereits am 
7. Oktober, mit einem Schreiben des Min. 
Altenstein an den Grafen Vaublanc be¬ 
gleitet, ab und wurde, als die Antwort 
ausblieb, moniert; darauf erfolgte 
eine bloß dilatorische, und es wurde vor 
einigen Tagen preußischerseits wieder¬ 
holt auf Entscheidung gedrungen. 

So stehet die ganze Sache, d. h. nicht 
günstig und wenn der Frieden und die 





1211 G. Gronau, DieVerluste derCasseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1212 


Abreise erfolgt, ehe sich Min. Vaublanc 
auf den Grundsatz der Kompensation 
bejahend einläßt, so dürfte aus dem 
Ganzen nichts werden und spätere 
Nachverhandlungen wenig fruchten. Um 
wenigstens für Hessen nichts zu versäu¬ 
men, setzte ich abschriftlich angeschlos¬ 
senen Brief cm Vaublanc auf und über¬ 
reichte ihn dem Min. Altenstein mittels 
Schreiben zur unterstützenden Empfeh¬ 
lung, da mich ohnedem Vaublanc nicht 
anzuerkennen braucht Min. Altenstein 
hat mich indessen ersucht, das Schrei¬ 
ben dermalen noch nicht abgehen zu 
lassen, weil durch eine neue, so ansehn¬ 
liche Nachforderung unserseits Frank» 
reich von Anerkennung des principe de 
la compensation abgeschreckt werden 
dürfte. Dringt Preußen nicht durch, so 
werden wir gewiß auch nichts ausrich- 
ten; läßt sich Frankreich darauf ein, so 
treten wir Hessen ebenfalls auf, und es 
ist, wie erwähnt, im Aufsatz vorläufig 
darauf hingewiesen.“ 70 ) 

In dem abschriftlich beigefügten, aber 
nicht abgesandten Memoire an Vaublanc 
faßt Grimm seine Forderungen in die 
Worte zusammen: „Le soussign6 a re- 
qu l’ordre de sa cour de rfeclamer au- 
prfes de V. E. pour au tan t d’objects pr6- 
tieux et presqu’ ingvaluables, dont notre 
pays se voit priv6 maintenant, les 
niemes compensations et indemnit&s, 
que la Prusse obtiendra en pareil 
cas." T1 ) 

Mit Recht aber äußerte er seine Be¬ 
sorgnis, daß alle Forderungen unberück¬ 
sichtigt bleiben würden, wenn man nidht 
mehr die bewaffnete Macht zur Verfü¬ 
gung hätte, ihnen den nötigen Nach¬ 
druck zu verleihen: „In dieser Rücksicht 
ist die über alles Erwarten sich verzö¬ 
gernde Abschließung des Friedens von 
Vorteil, weil die alliierten Behörden dar- 


70) Stengel S. 85 ff. 71) Stengel S.91. 


um länger zu Paris weilen. Allein die 
Zeit der kräftigen Maßregeln ist längst 
vorüber und der Abzug der Preußen aus 
hiesiger Stad*! ... «dem ganzen Reklama¬ 
tionswesen nachteilig!.“ 7S ) Grimm sollte 
nur zu sehr recht behalten. Kaum war 
die Befürchtung weiterer energischer 
Repressalien geschwunden, als Vau¬ 
blanc am 5w März 1816 alle früheren 
Weisungen bezüglich eventueller Rück¬ 
gabe aufhoh. 73 ) Keine der Forderungen 
der Alliierten, weder der Preußens be¬ 
züglich der rheinischen Kostbarkeiten 
noch der hessischen ist erfüllt worden. 
Die übergroße Rücksichtnahme auf die 
Stimmung des französischen Volkes gab 
den Ausschlag, und so bestätigte sich, 
was ein Franzose, Quatrerafere de Quin- 
cy, treffend bemerkt hatte: „Er sagte, so 
berichtet Grimm, was vollkommen 
wahr ist, wir schämten uns mehr bei 
Zurückforderung des Raubes, als seine 
Nation bei der Wegnahme desselben ge¬ 
tan hätte.“ 7 *) 

Von allen aus Cassel entführten Bil¬ 
dern kamen demnach nur 289 aus der 
Zahl derer, die Denon fortgenommen 
hatte, und 3 aus Malmaison an die alte 
Stelle zurück. Trotzdem empfand man 
daheim große Freude über die geret¬ 
teten Schätze; die Verluste zu übersehen 
waren wohl nur wenige imstande. Rin 
rührender Empfang wurde den An¬ 
kömmlingen bereitet „An einem Herbst¬ 
tag des Jahres 1815, so berichtete viele 
Jahrzehnte später Friedrich Müller aus 
seiner Erinnerung 7Ä ), strömten Tau¬ 
sende aus dem südlichen Tore der Stadt 
Cassel, welches von hier nach Frankfurt 
führt, um die Wagen ankommen zu 


72) Stengel S. 82. 

73) Engerand a. a. O. S. 36. 

74) Stengel S. 83. 

75) Zeitschr. f. bild. Kunst a. a. O. S. 191. 
Es war nach anderer Angabe der 1. No¬ 
vember. 


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1213 


Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


1214 


sehen, welche die so lange schmerz¬ 
lich entbehrten Schätze wieder zurück¬ 
brachten, Fuhrwerk und Pferde waren 
mit Blumengirlanden und Sträußen 
festlich geschmückt, begleitet von den 
berittenen Komissären,.die einen wah¬ 
ren Triumphzug feierten. Jedermann 
drängte sich izu ihnen freudig heran 
und drückte ihnen dankend die Hand; 
selbst der ebenfalls zum Empfang ent¬ 
gegengefahrene alte Kurfürst konnte die 
Rührung nicht unterdrücken.* 4 Und ähn¬ 
lich schrieb Wilhelm Grimm im „Rheini¬ 
schen Merkur“ 76 ): „Unsere Kunstwerke 
sind nun angekommen und mit allge¬ 
meiner Freude empfangen, selbst von 
solchen, die nur das Zeichen des besieg¬ 
ten Feindes darin erblicken und in die¬ 
sem Sinne einige Wagen vor dem Tore 
mit Bändern geschmückt haben, damit . 
sie gleichsam im Triumphe hereinge¬ 
führt würden. Alles ist wohlbehalten, 
wird nun ausgepackt und aufgestellt, 
und es soll dann jeder freien Zutritt ha¬ 
ben . .. Der Zahl nach der größte Teil 

76) Vom 6. Dezember 1815. Abgedruckt 
in den Kleineren Schriften, hrsg. von Hin- 
richs, Berlin 1881, I, S. 556. 


der Bildergalerie ist ausgeliefert, allein, 
so klingt sein Bericht mit verhaltenem 
Schmerz aus, hier werden berühmte 
Stücke von erstem Rang: die vier Ta¬ 
geszeiten von Claude Lorrain, eine hei¬ 
lige Familie von da Vinci, die wunder¬ 
herrliche Caritas, die Kuh von Pot- 
ter u. a. vermißt. 44 

Faßt man Wiedergewonnenes und 
dauernd Verlorenes ziffernmäßig zu¬ 
sammen, obwohl in diesem Falle Zah¬ 
len weniger beweisen als sonst, so ka¬ 
men alles in allem 418 Bilder 77 ) 1814 
und 1815 nach Cassel zurück, in der 
Hauptsache die Stücke, auf die sich der 
heutige Ruf der Casseler Galerie grün¬ 
det Nicht weniger als 382 aber sind in 
den Jahren der französischen Okkupa¬ 
tion der kurfürstlichen Sammlung wi¬ 
derrechtlich entzogen worden und ihr 
für immer verloren gegangen. 


77) Lavaltee gibt in seiner Zusammen¬ 
stellung der aus dem Mus6e royal zurück- 
gegebenen Bilder (Saunier S. 161) die Zahl 
der Bilder für Cassel auf 421 an. Diese 
Angabe kann nicht stimmen. In obiger Zahl 
sind auch die Bilder einbegriffen, die J6röme 
1813 zusammengerafft hatte. 


Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte. 

Von Heinrich Scholz. 


Wir haben es im Verlauf dieses Krie¬ 
ges erleben müssen, daß die Natur des 
Deutschen der Natur des Menschen ge¬ 
genübergestellt worden ist. Diese Ge¬ 
genüberstellung sollte eine ungeheure 
Zurücksetzung des deutschen Geistes be¬ 
deuten; sie sollte ihn gleichsam in die 
Klasse der bösen Geister versetzen und 
mit dem Zeichen intellektueller und sitt¬ 
licher Minderwertigkeit versehen. Wir 
sollen fortan nicht mehr berechtigt sein, 
uns als Menschen zu fühlen, und auf die 
Rücksichten zu rechnen, die Menschen 


einander schuldig sind, auch wenn sie 
in schweren Konflikten Zusammenstö¬ 
ßen. Das Band zwischen uns und der 
übrigen Menschheit soll fortan zerschnit¬ 
ten sein. 

Wir nehmen die Gefühle nicht leicht, 
die hinter dieser Herausforderung ste¬ 
hen; und wenn der Krieg, wie wir nicht 
mehr bezweifeln, auch für unsere Gei¬ 
stesgeschichte einen tiefen Einschnitt be¬ 
deutet, so wird die Wirkung dieser Zä¬ 
sur nicht zuletzt an der Schärfe erkenn¬ 
bar sein, mit der wir die Unter- 



IINDIANA UNIVERSITY 



1215 


Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschidite 


1216 


schiede empfinden, die uns tatsächlich 
von den übrigen Kulturvölkern tren¬ 
nen und für diese zum Gegenstand einer 
aus Ratlosigkeit und Mißbehagen zu¬ 
sammengesetzten Verwunderung ma¬ 
chen. Von diesen Unterschieden ist hier 
nicht zu reden; seit dem Ausbruch des 
Krieges ist ein reiches Material zu ih¬ 
rer Erleuchtung herangeschafft worden, 
und es ist zu hoffen, daß, wenn 
diese Arbeit fortgesetzt und mit gan¬ 
zem Ernst zu Ende geführt wird, aus 
dem Unterschiedsbewußtsein ein neues 
Gefühl für die Eigenart unseres Wesens 
aufquillt, das uns den dunklen Weg er¬ 
leuchtet, auf dem wir der Zukunft ent¬ 
gegengehen. 

Aber indem wir jene Herausforderung 
annehmen, dürfen wir sie im Blick auf 
das, was der Krieg in uns teils hervorge¬ 
rufen, teils beschleunigt und zu einer 
Art von Abschluß gebracht hat, in einem 
Sinne auf uns beziehen, der zwar den 
Unterschied in seiner vollen Bedeutung 
bestehen läßt, ihn aber zugleich in eine 
ganz andere Richtung verlegt. Im Ge¬ 
gensatz zu den westlichen Nationen sind 
wir durch diesen Krieg, wie durch jedes 
große, an die Wurzeln unseres Daseins 
greifende Ereignis, das sich bisher in un¬ 
serer Geschichte zugetragen hat, um so 
tiefer in uns selbst zurückgeführt wor¬ 
den. Schon heute ist die Zahl der „Be¬ 
sinnungen“, die der Krieg unter uns her¬ 
vorgerufen hat, nur mit Mühe zu über¬ 
sehen; so mächtig ist das Bedürfnis in 
uns, in allen kritischen Augenblicken uns 
von uns selber Rechenschaft zu geben. 
Wir machen für uns keine „Tugend“ dar¬ 
aus, denn das, was hier wirkt, ist unsere 
Natur; aber mit um so besserem Grunde 
dürfen wir behaupten, daß keines der 
mit uns im Konflikt liegenden Völker 
uns in dieser Hin sidht erreicht, oder auch 
nur das Bedürfnis fühlt, sich so in sich 
selbst zu vertiefen wie wir. 


I. 

Unter den „Besinnungen", die in dies? 
Klasse gehören, verdienen die Studien 
zur deutschen Geistesgeschichte, die 
Emst Cassirer unter dem Haupttite! 
„Freiheit und Form“ veröffentlicht hat 
ganz besonders hervorgehoben zu wer¬ 
den. x ) Sie sind durch den Krieg zwar 
nicht erst angeregt, sondern langst vor 
Ausbruch des Krieges begonnen worden 
Sie tragen daher auch nirgend die Spu¬ 
ren einer gewaltsam beschleunigten Ab¬ 
fassung wie etwa Max Schelers „Genius 
des Krieges“, dessen Gehalt unter dein 
Druck der Abfassungsverhältnisse nicht 
unerheblich gelitten hat. Im Gegensatz 
hierzu sindCassirersUntersuchungen völ¬ 
lig abgerundet, und es ist auch nicht eine 
Spur von erzwungener Vollendung in ih¬ 
nen zu entdecken. Mein darf sie in 
schriftstellerischer Hinsicht wohl als ein 
Meisterwerk bezeichnen. Die große, un¬ 
gewöhnliche Kunst, mit der der Verfas¬ 
ser es verstanden hat, die schwierigste . 
Probleme gefällig zu entwickeln und 
gleichsam voraussetzungslos zu behan¬ 
deln, ohne ihrer Tiefe Abbruch zu tun. 
wird erst klar, wenn man versucht, sie 
in dem Sinne, in welchem er sie entwik- 
kelt hat, aus eigenen Kräften nachzuge¬ 
stalten. Vieles, was beim Lesen zunächst 
als selbstverständlicher Ausdruck er¬ 
scheint, erweist sich bei einem solchen 
Versuch als das glückliche Ergebnis ei¬ 
ner ungewöhnlichen Darstellungskunst- 

Aber wenn der Krieg auch in keiner 
Weise störend in den Gang dieses Wer 
kes eingegriffen hat so hat er doch den 
äußeren Abschluß beschleunigt; und so 
wenig es zu den Erzeugnisse« der 
Kriegsliteratur im gewöhnlichen Sinne 
des Wortes gehört, so sehr ist es unter 

1) Emst Cassirer, Freiheit und Form 
Studien zur deutschen Geistesgeschichte 
Berlin 1916. Verlag von Bruno Cassirer 
XIX u. 575 Seiten. Groß Oktav. 



INDIANA UNIVERSITY 




1217 


Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


1218 


den geistigen Erscheinungen des Krieges 
auszuzeichnen. Denn das, was den Ge¬ 
genstand der Betrachtungen bildet, die 
in diesem Werke zusammengefaßt sind, 
ist nichts Geringeres als die Entstehung 
des deutschen Geisteslebens, also die 
Entstehung der geistigen Werte, deren 
Erhaltung für uns das letzte Ziel dieses 
weltumspannenden Krieges ist. Die Ent¬ 
stehung des deutschen Geisteslebens 
wird in abgerundeten Bildern durch die 
vier großen Gebiete der Religion, der 
Philosophie, der Dichtung und des 
Staatsgedankens hindurchgeführt. Alles 
nur zeitgeschichtlich Bedeutsame ist mit 
einer Konsequenz, die nur bei Goethe 
mit Absicht durchbrochen wird, aus die¬ 
sem Gemälde ausgeschaltet; die Vergan¬ 
genheit ist gleichsam unter dem Ge¬ 
sichtspunkt der Gegenwart gesehen und 
damit in gewissem Sinne unter jenen 
fruchtbaren geschichtsphilosophischen 
Gesichtspunkt gestellt, der, ohne der Ge¬ 
schichte selbst Abbruch zu tun, das Pro¬ 
duktive aus dem Historischen heraus¬ 
hebt, um seine an sich isolierten Mo¬ 
mente in einer Kurve zusammenzufas¬ 
sen. Es versteht sich, daß für ein solches 
Unternehmen nur die repräsentativen Er¬ 
scheinungen des deutschen Geistes in 
Frage kommen; alle sekundären Geister 
müssen aus einer solchen Darstellung 
ausscheiden. 

Diesen Voraussetzungen gemäß voll¬ 
zieht sich der Aufbau des deutschen Gei¬ 
stes in sechs Kapiteln und einer Einlei¬ 
tung. die wegen ihrer sachlichen Be¬ 
deutung als siebentes Kapitel bezeichnet 
werden kann. Sie enthält nämlich, außer 
dem Überblick über die Entwicklung des 
Persönlichkeitsbegriffs in der italie¬ 
nischen, französischen und deutschen 
Renaissance, die zwar knapp, aber au¬ 
ßerordentlich belehrend gefaßten Grund¬ 
züge des Lutherischen Idealismus und 
damit zugleich die Elemente der religiö- 

Internationale Monatsschrift 


sein Struktur des deutschen Geistes, von 
denen hernach nur noch andeutungs¬ 
weise die Rede ist. Das erste Kapitel 
hatLeibniz zum Gegenstände; es ist viel¬ 
leicht das bedeutendste und neben dem 
über Schiller das gelungenste Kapitel 
des ganzen Werkes. An das Leibnizbild 
schließt sich im zweiten Kapitel ein Über¬ 
blick über das Erbe der deutsdhenMänner, 
die an der Entdeckung der ästhetischen 
Formwelt einen grundlegenden und bis 
zum heutigen Tage fortwirkenden An¬ 
teil gehabt haben. Lessing, Hamann, 
Herder und Winckelmann stehen hier im 
Vordergründe; und zwar so, daß alles’ 
Licht der Darstellung sich unwillkürlich 
auf Lessing konzentriert, während da¬ 
gegen Winckelmann, trotz der erleuch¬ 
tenden Nachweisungen über den Zusam¬ 
menhang seiner Kunstanschauung mit 
der Plotinischen Metaphysik, verhältnis¬ 
mäßig im Schatten bleibt Nicht völlig 
auf der Höhe des Leibnizbildes scheint 
mir die Darstellung Kants zu stehen, die 
das dritte Kapitel ausfüllt. Das überzeit¬ 
lich Bedeutende an Kant kommt zwar 
immer noch eindrucksvoll genug, aber 
nicht so unzweifelhaft hell zur Erschei¬ 
nung wie bei Leibniz: man wird sich 
diesen Umstand aus der Tatsache er¬ 
klären dürfen, daß diese Darstellung die 
dritte ist, die der Verfasser von Kant 
zu entwerfen gehabt hat und daß die 
Kraft, mit der er die übrigen Stoffe be¬ 
wältigt hat, hier durch eine gewisse Er¬ 
müdung an ihrer vollen Entwicklung ge¬ 
hindert worden ist. 

Dagegen liegt die ganze Frische einer 
ersten gewaltigen Kraftanspannung über 
dem vierten Kapitel, das Goethe behan¬ 
delt. Es ist das umfangreichste von al¬ 
len und in seiner Geschlossenheit eigent¬ 
lich ein Buch für sich. Mit souveräner 
Beherrschung des Stoffes geschrieben 
und eine persönliche Hingabe verratend, 
die sich unwillkürlich dem Leser mit- 

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1210 


Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Oeistesgesdiichte 


1220 


teilt, sucht es das Ganze des Goethe- 
schen Wesens auf die Höhe zu heben, 
auf deres in den d'rei,großen Manifestati¬ 
onen: seines Lebens seiner Lyrik und sei- 
nerNaturanschauung als der konsequente 
unteilbare Ausdruck eines Lebens- und 
Weltgefühls erscheint, dem alles Äußere 
zum Symbol eines inneren, in seiner Her¬ 
kunft unerforschfichen, in seinen Wir¬ 
kungen unermeßlichen „Bildungstriebes“ 
wird. Das Wesentliche an dieser Sym¬ 
bolik ist dies, daß sie nicht etwa erst 
nachträglich durch Reflexion in diesen 
Zusammenhang hineingedeutet ist, son¬ 
dern die Art und Weise ausdrückt, wie 
dieser Zusammenhang an sich für Goethe 
besteht, und sich ihm zunächst in der 
Form der „Dumpfheit“, hernach, seit 
der italienischen Reise, in immer helle¬ 
rer Klarheit erschließt, ohne je ganz den 
Charakter des Geheimnisvollen undUn- 
erforschlichen zu verlieren. 

In scharfem Gegensatz zu der 
nächstliegenden Auffassung, die die 
Wandlungen in Goethes Leben auf 
äußere Veränderungen zurückführt oder 
wenigstens zu diesen in enge, unaufheb¬ 
bare Beziehungen setzt wird Goethes 
menschliche und geistige Entwicklung 
hier als das Ergebnis eines inneren 
Wachstums gedeutet, für welches äußere 
Bedingungen höchstens als begleitende, 
nicht als erzeugende, kaum als anre¬ 
gende Momente in Betracht kommen. 
Die äußeren Umstände sollen gleichsam 
nur die selbstgeschaffenen Symbole und 
selbstgesuchten Koeffizienten einer in¬ 
nerlich determinierten Entwicklung von 
unvergleichlicher Konsequenz und Not¬ 
wendigkeit sein. Das idealistische Mo¬ 
ment, das in dieser Anschauung durch¬ 
bricht, ist zweifellos ein berechtigtes Er¬ 
kenntnismotiv gegenüber dem groben 
Realismus, der die gangbare, von philo¬ 
logischer Seite unterstützte Auffassung 
Goethes noch immer beherrscht. Goethe 


hat selbst dieser Anschauung vorgebaut, 
wenn er den Charakter als die Fähigkeit 
bezeichnet, demjenigen eine stete Folge 
zu geben, dessen man sich fähig fühlt. 
Es ist offenbar, daß diese Worte in 
höchst bezeichnender Weise den „Cha¬ 
rakter“ seines eigenen Lebens enthüllen. 
Sie sprechen ein Bewußtsein aus, wel¬ 
ches sich in der Überzeugung wieder¬ 
holt, daß „keine Zeit und keine Macht zer¬ 
stückelt geprägte Form, die lebend sich 
entwickelt“. Goethe hat in gewissem 
Sinne wirklich immer nur das gesucht 
oder auf sich wirken lassen, was der 
produktiven Entfaltung der inneren 
Energien seines Lebens diente; wo dieser 
Zusammenhang sich lösten wie nach der 
italienischen Reise in dem Verhältnis zu 
Frau v. Stein, hat er den Fortgang sol¬ 
cher Wirkungen sogar durch entschie¬ 
dene Gegenwirkungen aufgehoben. Der 
„Egoismus“, der hierin zu liegen scheint 
verschwindet indessen bei Betrachtung 
der merkwürdigen Unbefangenheit mit 
welcher Goethe, allen Regeln einer äuße¬ 
ren Kontinuität zum Trotz, in allen Pe¬ 
rioden seines Lebens produziert hat was 
der augenblicklich erreichten Stufe sei¬ 
nes Wesens gemäß war — ohne Rück¬ 
sicht auf die „Folgen“. Hier sieht man 
tief in die innere Notwendigkeit seines 
Lebensprozesses hinein. Man versteht 
in welchem außerordentlichen Sinne er 
Eckermann gegenüber sein Wirken als 
symbolisch bezeichnen und von der 
eigentümlichen Gleichgültigkeit spre¬ 
chen konnte, mit der er dem Inhalt sei¬ 
nes Tuns gegenüberstehe. Man sieht 
aber auch, wie der Schein des Egoismus 
hier vor der Erscheinung einer Natur- 
kraft zerrinnt, die Goethes eigene Über¬ 
zeugung bewahrheitet, daß große Men¬ 
schen aus der Moralität heraustreten 
und zuletzt wie Naturkräfte wirken. 
Mit demselben Rechte könnte man die 
Leibnizische Monade, dieses Urbild aller 


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Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


1222 


Entwicklung von innen, mit dem Vor¬ 
wurf des Egoismus zu treffen meinen. 
So wenig hieran zu denken ist, so wenig 
kann von einem solchen „Defekt“ Goethe 
gegenüber die Rede sein. 

Dennoch hatte diese monadologische 
Auffassung ihre feste Schranke an den 
Bedingungen, denen jede, auch die 
größte Individualität unterliegt, und von 
denen man sie nicht losreißen kann, ohne 
ihre Struktur zu verletzen und der le¬ 
bendigen Erscheinung ein konstruiertes 
Wesen unterzuschieben. Auch Goethe 
scheint hiervon keine Ausnahme zu ma¬ 
chen. Die unvergleichliche Innenhaftig- 
keit seiner Entwicklung hebt die Bedeu¬ 
tung der „Umstände“ nicht auf, die von 
„außen“ her in den Gang seines Lebens 
eingegriffen haben. Goethe selbst hat 
den Anteil, den sie am Aufbau seines 
Lebens gehabt hatten, nie bestritten, 
vielmehr mit der ihm eigentümlichen 
Dankbarkeit, um nicht zu sagen: Ge¬ 
nauigkeit festgestefit, die in dem schö¬ 
nen Wort von der frei gefühlten Ab¬ 
hängigkeit vielleicht ihren reinsten Aus¬ 
druck gefunden hat. Es liegt also keine 
Veranlassung vor, diese Umstände aus- 
zuschließen und die Tatsache zu unter¬ 
drücken, daß auch Goethe in seiner Art 
das, was er war und für uns bedeutet, 
andern schuldig geworden ist. Der Ver¬ 
such, ihn dennoch zu isolieren, den Gun- 
dolf in seinem jüngst erschienenen 
Goethebuch gemacht hat, hat sich als 
undurchführbar erwiesen. Auch Cassirer 
ist nicht imstande gewesen, ihn über den 
Ansatz hinauszuführen. 

Indessen, wenn diese idealistische 
Methode auch nicht als Erkenntnis¬ 
prinzip zu gebrauchen ist, so bedeu¬ 
tet sie doch als Erkenntnismotiv eine 
wesentliche Vertiefung der Mittel, die 
für die Erschließung Goethes in Betracht 
kommen. Sie bedeutet eine Verinnerli¬ 
chung des Erkenntnisproblems, das in 

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Goethes Leben an uns herantritt, und 
eine Verschärfung der Erkenntnisan¬ 
sprüche, die an die Auslegung Goethes 
zu stellen sind. So wenig es gelingen 
wird, die Welt um Goethe in ihrer selb¬ 
ständigen Bedeutung für den Gang sei¬ 
nes Lebens auszuschalten, so vielver¬ 
sprechend ist der Versuch, ihn unter Zu- 
rückdrängung dieser Momente aus sieb 
selbst heraus zu verstehen und den An¬ 
teil seines „Selbstwesens“ an dem Auf¬ 
bau seines Lebens in konsequenter Ent¬ 
wicklung festzustellen. Zu einer solchen 
Entwicklung hat freilich auch Cassirer 
zunächst nur einige Bausteine geliefert; 
aber auch diese sind wertvoll genug, um 
das Interesse anzuregen, und vor allem 
ist der Gesichtspunkt^ unter dem sie ge¬ 
wonnen sind, in den angezeigten Gren¬ 
zen einer erhöhten Aufmerksamkeit 
würdig. 

Daß Goethes Dichtung kein Außen¬ 
werk ist, das „neben" seinem Leben 
steht, sondern dieses Leben selbst, in 
seiner Entäußerung erscheinend und zu 
einer Folge von Konfessionen verdich¬ 
tet, ist zwar, seit Goethe selbst zu dieser 
Auffassung den entscheidenden Grund 
gelegt hat, oft genug betont worden; 
indessen der eigentümliche Nachdruck 
und die methodische Konsequenz, mit 
der es in diesem Werke geschieht, 
macht diese Anschauung erst zu dem, 
was sie sein kann, nämlich nicht nur zu 
einem Schlüssel für die Eigenart, son¬ 
dern zu einem Beurteilungsprinzip für 
den Grundsinn seiner Dichtung, die erst 
durch diesen Bezug in der ganzen Größe 
ihres „inkalkulablen“ Charakters er¬ 
scheint. Man braucht der Bestimmtheit 
mit der der „konfessionelle" Charakter 
der Goetheschen Dichtung hier durch- 
geführt ist, durchaus nicht bedingungs¬ 
los zuzustimmen, man kann auch hier 
mit Spielräumen rechnen, die in dieser 
Deutung nicht vorgesehen sind; aber 

39* 

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1223 


Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


1224 


das Prinzip und die Energie, mit der es 
der Auslegung dienstbar gemacht wird, 
sind Hebel, deren Ansetzung das Goethe- 
Problem in eine neue Erkenntnisschicht 
hebt. Und selbst wer auch hier noch Be¬ 
denken trägt, dem Verfasser auf seinem 
Wege zu folgen, wird wenigstens das 
schöne Wort, das den Zusammenhang 
von Goethes Leben und Dichtung er¬ 
leuchtet, in seiner Erinnerung aufbe¬ 
wahren. Man kann diesen Zusammen¬ 
hang nicht treffender aussprechen, als 
es durch Cassirer geschieht, wenn er 
sagt: „Die Dichtung erst deckt den inne¬ 
ren Prozeß auf, von dem das Leben nur 
Resultat ist.“ 

Der symbolischen Beziehung, die 
Goethe selbst seiner Dichtung auf das 
Innere seines Lebens und „Bildungs- 
triebes" gegeben hat, entspricht die 
Symbolik seiner Naturanschauung. Auch 
diese Symbolik ist in ihren GrundzQgen 
bekannt. Sie drückt sich in jener Auf¬ 
fassung aus, die die Erscheinungen der 
Natur als die konsequent und kontinu¬ 
ierlich verknüpften Äußerungen identi¬ 
scher Energien betrachtet, ohne die 
Phänomene selbslt in jener Individualität 
und Bestimmtheit anzutasten, durch die 
sie für uns zu Erscheinungen werden. 
In festen Umrissen begegnet uns diese 
Symbolik zum ersten Male in dem Frag¬ 
ment über die Natur, das um 1780 ent¬ 
standen ist. Schon hier hat die in tau¬ 
send Gestalten sich ausarbeitende Na¬ 
tur sowohl den Gott, der von außen 
stößt, wie die st irren substantiellen 
Formen in ihre schöpferische Innerlich¬ 
keit und Unruhe hineingezogen, und die 
große Idee des Gesetzes leuchtet schon 
hier über dem Lebensprozeß, in dem sie 
sich durchgestaltet und auslebt; aber es 
bedurfte einer gewaltigen Arbeit, ehe 
aus der Fülle dieser dichterischen An¬ 
schauung die weltanschaulichen Über¬ 
zeugungen hervorgehen konnten, die 


Goethe gewonnen hatte, als der Kanzler 
v. Müller ihm jenes Fragment im Jahre 
1828 nach anderthalb Menschenaltern 
wieder vorlegen konnte. Der Kompara¬ 
tiv von 1780 hatte sich inzwischen in 
einen Superlativ verwandelt, und zwar 
durch das Medium ernstester Betrach¬ 
tung und immer tiefer schürfenden 
Denkens. 

Diesen Prozeß hat Cassirer mit großer 
Sorgfalt und erleuchtender Eindrück- 
lichkeit aufgeklärt. Ausgehend von der 
grundlegenden Beobachtung, daß Goethe 
sich nicht, wie die Mystiker und in ge¬ 
wissem Sinne auch noch Herder, mit 
der Zurückverlegung der Spannungen in 
den göttlichen Lebensgrund begnügt 
hat, zeigt er in scharfer Zergliederung 
die entscheidenden Gesichtspunkte und 
Denkmittel auf, durch welche Goethe das 
Problem dieser Spannungen einer imma¬ 
nenten Lösung entgegengeführt hat 
Soll die Individualität der Erscheinun¬ 
gen auf die Einheit der bildenden Kraft 
zurückdeuten, und soll die Einheit der 
bildenden Kraft die Individualität der 
Erscheinungen nicht aufheben, so muß 
die Erscheinung unter Gesichtspunkte 
gerückt werden, die diese Verknüpfung 
anschaulich machen. Goethe hat diese Ge¬ 
sichtspunkte gefunden, indem er das Mo¬ 
ment der Individualität in die fertige 
Gestalt, das Moment der Einheit hin¬ 
gegen in das Prinzip der Bildung ver¬ 
legt. Der Weg von der Individualität zur 
Einheit ist der Aufstieg vom Gewordenen 
zum Quell des Werdens. Nicht durch 
Verdünnung der Individualität wird die 
GoethischeEinheit erreicht,sondern durch 
die Unterscheidung ihres bildenden 
Prinzips von ihrer ausgebildeten Da¬ 
seinsform. Demgemäß ist die Goethische 
Einheit nicht ein Abstraktions-, sondern 
ein Funktionsbegriff, und nicht durch 
das Verhältnis des Allgemeinen zum Be¬ 
sonderen, sondern durch das Verhalt- 


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Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


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nis der Regel zum Einzelfall mit der In¬ 
dividualität der Erscheinung verknüpft. 
In dem Begriff der Metamorphose faßt 
sich das Ergebnis dieser Überlegungen 
zusammen; die Schritte, die Goethe nach 
der Entdeckung dieses grundlegenden 
Begriffes getan hat, sind nicht mehr prin¬ 
zipieller, sondern mehr materieller Na¬ 
tur. Von tiefer greifender Bedeutung ist 
lediglich die erkenntnistheoretische Ein¬ 
sicht die ihn, unter dem Einfluß Schillers, 
der idealistischen Philosophie und ei¬ 
genen fortgesetzten Nachdenkens, mehr 
und mehr von der statischen zur dynami¬ 
schen Auffassung der Erscheinungsquel¬ 
len, von den „Urbildern“ zu den Ener¬ 
gien hinübergedrängt hat. 

Indessen, der Verfasser bleibt hier 
nicht stehen; er gräbt noch tiefer und 
zeigt an einem Selbstbekenntnis, das Dil- 
they zuerst herangezogen hat, wie die 
Funktion der Goethischen Phantasie ge¬ 
nau die Forderungen erfüllt die in dem 
Begriff der Metamorphose enthalten 
sind. Wenn Goethe sich bei geschlosse¬ 
nem Auge eine Blume dachte — und 
er hatte die merkwürdige Fähigkeit, sol¬ 
che Bilder selbsttätig hervorrufen zu 
können —, so „verharrte sie nicht einen 
Augenblick in ihrer ersten Gestalt, son¬ 
dern sie legte sich auseinander und aus 
ihrem Innern entfalteten sich wieder neue 
Blumen__ keine natürlichen.son¬ 

dern phantastische, jedoch regelmäßig 
wie die Rosetten der Bildhauer.“ Hier 
löst sich, genau wie in Goethes Natur- 
anschauung, die Einheit der grundlegen¬ 
den Bildgestalt im Moment ihres Er¬ 
scheinens in eine immerfort zunehmende 
Mannigfaltigkeit individueller Neuge¬ 
staltungen auf, die, unter sich und von 
ihrem Quellpunkt verschieden, dennoch 
mit diesem durch die Konsequenz ihrer 
Erzeugungsregel unlöslich verknüpft 
sind. So findet Goethes Naturanschau¬ 
ung in den letzten Elementen seiner ei¬ 


genen Natur ihr adäquates Gegen¬ 
bild; und nun erst wird klar, inwiefern 
diese Naturanschauung, die in bewußter 
Loslösung von der Subjektivität durch 
konsequente Hingabe an die Erscheinun¬ 
gen gewonnen ist, doch zugleich als Aus¬ 
druck und Folge seiner persönlichen Le¬ 
bensverfassung gelten kann. Es wird 
klar, inwiefern der Begriff der Meta¬ 
morphose, nachdem er sich einmal in 
Goethes Bewußtsein als anschaulich-be¬ 
griffliches Symbol für die wunderbare 
und bewunderungswürdige „Technik“ 
der Natur fixiert hatte, ihm als der höch¬ 
ste Begriff erscheinen konnte, den der 
sittliche Denker wie der tätige Mann, 
der Dichter wie der Forscher zu erringen 
vermöge; ist es doch der Grundbegriff, 
der die Art und Weise angibt, wie sich das 
Leben in allen seinen Daseinsformen, bis 
zur höchsten hinauf, die wir selber zu 
führen haben, als der zwar individuelle 
und insofern durchaus „lebendige“, aber 
zugleich auch konsequente und erst hier¬ 
durch charaktervolle Ausdruck der in¬ 
nerhalb wie außerhalb der menschlichen 
Natur am Werk befindlichen Schaffens¬ 
kräfte aufbaut. Es wird endlich klar, in 
welcher Tiefe der Strukturzusammen¬ 
hang wurzelt, den Goethe andeutet, 
wenn er, den Dualisten zum Trotz, den 
Kern der Natur in das menschliche Herz 
verlegt, und auf welchem Grunde die 
merkwürdige Einheit ruht, die sein Le¬ 
bensgefühl mit seinem dichterischen 
Schaffen und seiner Naturanschauung zu 
einem unteilbaren Ganzen verbindet. 

Fein hat Cassirer die Wechselwirkun¬ 
gen betont, die demgemäß zwischen 
Goethes ästhetischen Prinzipien und dem 
gleichzeitigen Stand seiner Naturan- 
schauung bestehen. Sie sind gleichsam 
die Probe auf das Exempel und der 
Prüfstein für die Richtigkeit des er¬ 
schlossenen Zusammenhanges. „Wie 
Goethe in Italien entdeckt zu haben 


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Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


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sehen Charakter bemerkenswerte Amyn- 
tor-Elegie aus der Zeit der dritten 
Schweizerreise genannt werden können, 
die schon Lichtenberger in seinem Buch 
Ober Richard Wagner für die eigentüm¬ 
liche Art von Goethes Symbolik mit 
Recht in Anspruch genommen hat. Die 
Art, wie der efeuumrankte Apfelbaum 
mit seinen Kraftverlusten und Glücks- 
empfindungen ihm zum unmittelbar-an- 
schaulichen Symbol seines Verhältnisses 
zu Christiane Vulpius wird, ist beson¬ 
ders geeignet, die Wesenhaftigkeit des 
Zusammenhang^ von Natur und Seele, 
Welt und Geist in Goethes Dichtung 
aufzudecken und den Irrtum zu zerstö¬ 
ren, der in der Auffassung solcher Be¬ 
ziehungen als geistreicher Reflexions- 
Produkte liegt. In Goethes Sinne werden 
hier überhaupt nicht zwei an sich ge¬ 
trennte Phänomene aufeinander bezogen 
— das wäre die schlechte und gekün¬ 
stelte Symbolik der un poetischen Alle- 
goristen —, sondern die Poesie kommt 
vielmehr umgekehrt dadurch zustande, 
daß der an sich vorhandene geheime Be¬ 
zug in dem glücklichen Augenblick syn- 
. thetischer Anschauung in das Bewußt¬ 
sein des Dichters eintritt 
Man wird aus diesem Oberblick, der 
nur die Hauptpunkte andeuten konnte, 
eine Vorstellung von der Tragweite der 
Erkenntnisse gewinnen, die in dieser Er¬ 
leuchtung Goethes nach und nach zutage 
treten, und nicht ohne ein Gefühl der 
Bewunderung auf die Förderung blicken, 
die die Einsicht in Goethe durch die ein- 
dringenden Forschungen Cassirers er¬ 
fahren hat. Wenn wir dennoch dieses 
Kapitel nicht zu den bestgelungenen zäh¬ 
len, so liegt der Grund für dieses Ur¬ 
teil in einer doppelten Erwägung. Ein¬ 
mal fehlt ihm der strenge Bezug auf die 
Struktur des deutschen Geistes, die doch 
das Thema des Ganzen sein soll. Die 
Vertiefung geht zu sehr ins einzelne und 


hält sich namentlich bei den naturan¬ 
schaulichen Problemen in einer Weise 
aut die den Rhythmus des Ganzen ins 
Stocken bringt und, vom Standpunkt der 
beherrschenden Idee aus gesehen, als 
Digression erscheinen muß. So sehr es an 
sich zu billigen ist daß hier einmal ernst¬ 
lich der Versuch gemacht wird, die Er¬ 
hebung des deutschen Geistes in Goethe 
für die Erkenntnis der Struktur dieses 
Geistes zu gewinnen, so sehr ist die Aus¬ 
führung in Bahnen geraten, die von die¬ 
sem Endziel abführen, indem sie sich an 
Probleme klammert die lediglich die Er¬ 
kenntnis Goethes betreffen. Wenn die 
symbolische Apperzeption, das Aus* 
druckserlebnis und die Ausdrucksforde¬ 
rung auf der Grundlage einer ebenso 
allgegenwärtigen wie grenzenlos ge¬ 
dachten Innerlichkeit ein Grundzug des 
deutschen Wesens ist der sich in der 
deutschen Geistesgeschichte immer kla¬ 
rer herausarbeitet so mußte es in die¬ 
sem Zusammenhänge genügen, die All¬ 
seitigkeit ins Licht zu rücken, durch die 
jene Apperzeption in Goethe zu ih¬ 
rer höchsten Erscheinung und Produkti¬ 
vität gelangt ist; nicht aber durfte das 
Goetheproblem um dieses Nachweises 
willeu isoliert und gleichsam von der 
Hauptfrage losgerissen werden. 

Die zweite Einschränkung, die wir zu 
machen haben, bezieht sich auf die Dar¬ 
stellungsart. Das Kapitel über Goethe ist 
meisterhaft geschrieben; aber es hat 
einen Fehler, der nicht unbemerkt blei¬ 
ben kann, weil er die Wirkung eigentüm¬ 
lich beschränkt: es liest sich zu leicht 
und behält sich zu schwer. Wenn man 
die acht Abschnitte, in die es zerlegt ist, 
gelesen hat, so stößt man bei dem Ver¬ 
such, ihren Gehalt auszusprechen, auf 
unverhältnismäßige Schwierigkeiten. 
Diese Schwierigkeiten haben nicht nur 
in der Materie ihren Grund, sie liegen 
vielmehr in erster Linie in der eigen- 


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Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


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tOmlichen Struktur der Darstellung, die 
es mit einer gewissen Absichtlichkeit 
vermeidet, Stützpunkte iür die Über¬ 
sicht einzuschalten, die entscheidenden 
Erkenntnisse herauszuheben und den Er¬ 
trag der einzelnen Untersuchungen kon¬ 
struktiv zusammenzufassen. Es ist eine 
Folge dieser Unterlassungen, daß man 
bei aller Klarheit im einzelnen die Prä¬ 
zision im ganzen vermißt, wie sie z. B. 
in Bouckes Werk über Goethes Weltan¬ 
schauung erreicht ist. 

Um so vorzüglicher ist in dieser Hin¬ 
sicht das folgende Kapitel über Schiller 
gelungen. Hier ist nicht nur der Be¬ 
zug auf die deutsche Geistesgeschichte 
in allen Punkten innegehalten, sondern 
der Aufbau selbst so durchsichtig, daß er 
sich leicht dem Gedächtnis ein prägt und 
aus eigener Kraft im Bewußtsein haftet. 
Eine glänzende Einschaltung über die 
Struktur des Fichteschen Idealismus in 
seiner ersten Epoche, die zu dem Besten 
gehört, was über Fichte gesagt ist, er¬ 
höht die Bedeutung dieses Kapitels und 
macht es zu einem Probestück gründ¬ 
licher deutscher Geistesforschung. Sehr 
schön und eindringend ist auch der Ge¬ 
gensatz von Schiller und Goethe zum 
Ausdruck gebracht. „Die Analogie zwi¬ 
schen künstlerischer Gestaltung und or¬ 
ganisch-lebendiger Gestaltung ist für 
beide entscheidend geworden.“ Der Un¬ 
terschied aber liegt in folgenden Mo¬ 
menten. „Für Schiller erschließt sich das 
Wesen des Organischen, indem er es 
unter dem allgemeinen Gedanken der 
Autonomie begreift, indem er es sich als 
Sinnbild der Freiheit deutet. Die Welt 
des Lebens wird für ihn zum Spiegel, 
aus dem ihm der höchste Sinn der sitt¬ 
lichen Forderung rein und unverfälscht 
zurückstrahlt.“ Für Goethe hingegen gilt 
der umgekehrte Weg. Er sieht in der 
Freiheit, im Sittlichen das höchste Er¬ 
gebnis des allgemeinen „Bildungstrie¬ 


bes“ der durch die Natur hindurchgeht. 
„Wenn Schiller bis in die Dynamik des 
Lebens hinein den Gehalt des Autono- 
mieprinzips wiederfindet, so bedeutet 
für Goethe die Autonomie, wie sie sich 
im Künstlerischen und Sittlichen aus¬ 
prägt, nur die natürliche Fortsetzung 
dieser Dynamik des Lebens selbst.“ Und 
wenn für Schiller die Freiheit der Ober¬ 
begriff ist, unter den er die Gesamtheit 
aller Form und Bildung befaßt, so ist 
für Goethe umgekehrt die „Bildung“ das 
allgemeinste Prinzip, von dem aus er 
sich das Sittliche und somit die Freiheit 
selbst noch als eine besondere Energie 
zu deuten sucht. 

Wenn die Probleme der fünf ersten 
Kapitel ganz auf geistesgeschichtlichem 
Boden stehen, so ragt das letzte Kapitel 
mit seinem Gegenstände in die poli¬ 
tische Sphäre hinein. Die Entwicklung 
des politischen Freiheitsbegriffs von 
Leibniz bis Hegel macht seinen Gehalt 
aus. Diese Entwicklung vollzieht sich in 
der fortschreitenden Auseinanderset¬ 
zung des persönlichen Freiheitsbewußt¬ 
seins mit dem modernen Staatsbegriff, 
der in zunehmendem Umfange in die 
Sphäre dieses Bewußtseins eingreift und 
sie durch seine Forderungen beschränkt. 
Der Ausgleich, der auf deutscher Seite 
um so dringender gefordert war, als hier 
die geschichtlichen Hintergründe fehl¬ 
ten, die dem modernen Staatsbegriff erst 
den vollen, gefühlsmäßigen Nachdruck 
verleihen, liegt in der wachsenden Er¬ 
kenntnis der Funktionen, durch die der 
Staat dem einzelnen erst zur wahren 
Kultur der Freiheit verhilft, und die die 
Hingabe des einzelnen an die Zwecke 
des Staates als Gegenwirkung zur Folge 
haben. Die Komposition ist auch in die¬ 
sem Kapitel sehr klar. Als Höhepunkte 
der Darstellung heben sich Kant und He¬ 
gel heraus, während Fichte nicht ganz 
in seiner Bedeutung erscheint und Sehe!- 


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Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


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lings Anteil an der Begründung des ro¬ 
mantischen Staatsbegriffs, auch durch 
den Hinweis auf Adam Müller — das in 
diesem Zusammenhang wichtige Univer¬ 
sitätsstiftungsprogramm von Steffens 
scheint Cassirer entgangen zu sein — 
nicht völlig befriedigend aufgeklärt 
wird. Um so lehrreicher ist dafür die 
das Kapitel eröffnende Schilderung des 
unpolitischen Idealismus, der als Kon¬ 
sequenz einer dreihundertjährigen ge* 
waltsam nach innen gedrängten Ent¬ 
wicklung gerade im Augenblick des poli¬ 
tischen Zusammenbruches seinen Höhe¬ 
punkt erreicht, und in dem Schiller- 
schen Fragment, das Bernhard Suphan 
unter dem Titel „Deutsche Größe“ ver¬ 
öffentlicht hat, einen in jeder Hinsicht 
klassischen Ausdruck gefunden hat. 


hätten beeinträchtigen können, in glück¬ 
lichster Weise vermieden sind. Dennoch 
wird man fragen dürfen, ob der gänz¬ 
liche Verzicht auf eine abschließende Be¬ 
stimmung durch das Interesse an der 
Freiheit der Darstellung gefordert war. 
Es ist nicht ersichtlich, warum der Ver¬ 
fasser sich dieser Aufgabe völlig ent¬ 
zogen hat. Er hätte die vermißten Auf¬ 
schlüsse an das Ende der Darstellung 
rücken und als Ertrag des Ganzen hin¬ 
stellen können, ohne die Arbeit selbst 
auch nur im geringsten anders zu ge¬ 
stalten, als sie jetzt gestaltet ist. Ein ab¬ 
schließender Überblick über das Ergeb¬ 
nis seiner umfangreichen und eindrin¬ 
genden Arbeit würde die Struktur seines 
Werkes verdichtet, die einzelnen Kapi¬ 
tel fester zusammengefaßt und dem Le¬ 
ser eine Anstrengung erspart haben, der 
er sich nicht entziehen kann, wenn er 
das Werk im Sinn des Verfassers als 
einen in sich geschlossenen Beitrag zur 
Erleuchtung der deutschen Geistesge¬ 
schichte auf sich wirken lassen will. 

Bei dem Versuch, dieses Fazit zu zie¬ 
hen, muß, der Weisung des Titels gemäß 
und den Akzenten der Untersuchung ent¬ 
sprechend, der Begriff der Freiheit vor¬ 
anstehen. Er ist auf den Gegenbegriff 
der Form durch das Moment der Inner¬ 
lichkeit bezogen und tritt durch dieses 
vermittelnde Moment zu ihm in das dop¬ 
pelte Verhältnis der Antithese und der 
Kombination. Hierzu ist freilich zu be¬ 
merken, daß die Innerlichkeit in ihrer 
Bedeutung für die Entwicklung des Ver¬ 
hältnisses von Freiheit und Form nicht 
so nachdrücklich ausgezeichnet ist, wie 
sie es ihrer Funktion nach verdient hätte. 
Sie tritt allerdings in der Würdigung 
Leibnizens, in der Einschätzung seiner 
Monadenlehre für die Struktur des deut¬ 
schen Geistes, und besonders des klassi¬ 
schen Zeitalters unserer deutschen Gei¬ 
stesgeschichte, wenigstens einmal sehr 


II. 

Diese Untersuchungen zur deutschen 
Geistesgeschichte sind nun durch den 
Obertitel „Freiheit und Form“ zu einem 
Ganzen zusammengefaßt, das der Er¬ 
leuchtung des deutschen Geistes zu die¬ 
nen bestimmt ist. Fragt man, was diese 
konstituierenden Begriffe von Freiheit 
und Form zu bedeuten haben, und wie 
sie auszulegen sind, so muß man das 
Werk als Ganzes zu Rate ziehen. Man 
muß versuchen, aus den einzelnen Mo¬ 
menten, die im Lauf der Darstellung her¬ 
vortreten, ein in sich geschlossenes Be¬ 
griffsbild zu formen; denn der Verfasser 
hat es mit Absicht unterlassen, selbst ein 
solches Bild zu entwerfen. Er wollte die 
Begriffe von Freiheit und Form nicht 
wie ein Netzwerk über die Darstellung 
ausspannen, sondern aus dieser selbst in 
dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit 
ihrer Modalitäten hervorgehen lassen. 
Dieses Verhalten ist sicherlich insofern 
zu billigen, als dadurch alle Konstruk¬ 
tionen, die die Darstellung hätten bela¬ 
sten oder in der Form von Tendenzen 








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Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


schön hervor; aber ihrer vollen Bedeu¬ 
tung entsprechend wird sie durch diese 
eine Hervorhebung nicht gewürdigt. Es 
fällt aut daß sie in der Zentralität, mit 
der sie die metaphysischen Systeme der 
großen Nachkantianer beherrscht, über¬ 
haupt nicht zur Geltung kommt, wie es 
auch auffällt, daß diese Systeme ledig¬ 
lich unter dem Gesichtspunkt ihres Ver¬ 
hältnisses zur Idee des Staates und der 
politischen Freiheit gewürdigt sind. Die 
eigentümlich deutsche Metaphysik, die 
uns in ihnen entgegen tritt, ist aus der 
Darstellung ausgefallen. 

Dennoch wird der Verfasser es bil¬ 
ligen, wenn das Verhältnis von Freiheit 
und Form in dem von ihm gedachten 
Sinne durch den Bezug auf die Innerlich¬ 
keit bestimmt wird. Als Grundmotiv der 
deutschen Geistesgeschichte hat die Frei¬ 
heit für uns einen doppelten Sinn. Sie 
bedeutet einmal die Selbsterlösung von 
allen Denk- und Lebensformen, die der 
Innerlichkeit widersprechen. Als solche 
tritt sie mit der Reformation in die Er¬ 
scheinung und führt von hier aus im 
Kampf mit der Form unter dem Einsatz 
aller geistigen und sittlichen Kräfte 
den Selbstvertiefungsprozeß allmählich 
durch alle Gebiete des Geistes hindurch. 
Was Luther für die Religion geleistet 
hat hat Leibniz für die Wissenschaft 
Kant für die sittliche Lebensverfassung, 
Goethe für die Kunst geleistet. Überall 
setzt der deutsche Geist wo er zu welt¬ 
geschichtlicher Wirkung gelangt mit der 
Kritik der Formen ein, die den Durch¬ 
bruch der Innerlichkeit hemmen, und ruht 
nicht eher, als bis diese Formen zer¬ 
trümmert sind und die Innerlichkeit sich 
frei ausströmen kann. 

Aber pus der Zertrümmerung der 
Form entsteht der Innerlichkeit eineneue 
Gefahr. Es ist der Zustand der Anarchie, 
der Formlosigkeit und Zerflossenheit 
des gestaltlosen Zerrinnens im Unbe¬ 


stimmten. Die deutsche Mystik vor Lu¬ 
ther ist dieser Gefahr in beträchtlichem 
Umfange erlegen; und es ist in dieser 
Hinsicht sehr lehrreich, bei Cassirer zu 
lesen, wie sich die neue lutherische 
Freiheit von dem mittelalterlichen Frei¬ 
heitsideal der deutschen Mystiker unter¬ 
scheidet. Gerade im gegenwärtigen Au¬ 
genblick, wo Walther Lehmann bei Eu¬ 
gen Diederichs in einem an sich sehr 
feinen Buche die Stimmen deutscher Got- 
tesfreunde von Eckhart bis auf die Ge¬ 
genwart gesammelt hat, aber in einer 
fast unbegreiflichen Weise an Luther mit 
der Bemerkung vorübergeht, daß er der 
Freiheit im deutschen Sinne durch die 
Bekämpfung der Spiritualisten die Wege 
gesperrt habe, werden die erleuchtenden 
Bemerkungen Cassirers der Aufklärung 
des wirklichen Sachverhaltes dienen 
können. Um die Erlösung der Innerlich¬ 
keit handelt es sich in beiden Fällen; 
es ist Luther mit dieser Erlösung so 
ernst wie den konsequentesten Spiritua¬ 
listen. Aber indem er Formen zertrüm¬ 
mert, die diese ertragen zu können mein¬ 
ten und jedenfalls nicht zerschlagen ha¬ 
ben, hat er auch stärker als sie edle die 
Verantwortung für das Schicksal der er¬ 
worbenen Freiheit in sich empfunden. 
Für ihn und die großen deutschen Gei¬ 
ster, die auf dem Grunde, den er gelegt 
hat, fortgebaut haben, bedeutet Freiheit 
zugleich die Erlösung der Innerlichkeit 
aus dem Zustande formloser Anarchie 
durch Prägung neuer Ausdrucksformen. 
Es steht dahinter die Überzeugung, der 
Goethe den vollkommensten Ausdruck 
geliehen. ha,t: daß alles, was unse¬ 
ren Geist befreit ohne uns die Herr¬ 
schaft über uns selbst zu geben, verderb¬ 
lich sei. So erzeugt die im Konflikt mit 
der Form errungene Freiheit aus sich ei¬ 
nen neuen Willen zur Form und tritt als 
solcher in die Erscheinung. Auf allen Ge¬ 
bieten des geistigen Lebens ist auf den 


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Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte 


Loslösungsvorgang der Gestaltungspro¬ 
zeß mit innerer Konsequenz gefolgt, und 
man kann sagen, daß die deutsche Gei- 
stesgeschichte in der Abfolge und Ver¬ 
knüpfung dieser beiden Momente ihren 
eigentümlichsten Ausdruck gefunden, 
ihren innersten Sinn und Gehalt offen¬ 
bart hat. Auch der Kampf um die Staats- 
idee hat sich in dieser Richtung vollzo¬ 
gen. „Die Entwicklung des Staatsge¬ 
dankens zeigt von der Reformation 
an überall den gleichen charakteristi¬ 
schen Zug, ... daß die Kräfte,die zu¬ 
nächst gegen den Staat aufgerufen 
werden, in dem Kampf, den sie gegen 
ihn führen, vielmehr die immer weiter 
gehende ideelle Vertiefung des Inhalts 
des Staatsbegriffs selbst vollziehen hel¬ 
fen.“ 

Außer dem doppelten Bezug auf die 
Freiheit hat aber die Form noch eine 
selbständige Bedeutung. Sie dient dem 
Verfasser als ein freilich nicht völlig zu¬ 
reichender, aber kaum durch einen bes¬ 
seren zu ersetzender Ausdruck für eine 
Eigentümlichkeit, die der deutsche Idea¬ 
lismus in der Auseinandersetzung mit 
einem anders gearteten, materiellen Ge¬ 
sichtspunkten unterworfenen Idealismus 
aus sich heraus gearbeitet hat Unter 
dem materiellen Idealismus ist ein sol¬ 
cher zu verstehen, der die Idealität auf 
bestimmte Gegenstände bezieht und von 
der Hingabe an diese abhängig macht. 
Im Gegensatz zu dieser gegenständli¬ 
chen Denkart hat der deutsche Idealis¬ 
mus den Geist und die Gesinnung des 
lebendigen Subjekts als den einzigen 
und entscheidenden Prüfstein echter und 
vollkommener Idealität auf allen Gebie¬ 
ten zum Siege geführt. Er hat der Ge¬ 
genstandskultur des materiellen Idealis¬ 
mus eine Kultur des Geistes und der 
Gesinnung entgegengesetzt, die ihre Be¬ 
glaubigung nicht von den Gegenständen 
empfängt, sondern diesen vielmehr erst 


erteilt Es gibt für das deutsche Bewußt¬ 
sein keinen Gegenstand, der als solcher 
mit dem Idealismus verknüpft ist wije 
es umgekehrt für ihn keinen Gegenstand 
gibt, der nicht unter dem Einfluß ideali¬ 
stischer Gesinnung aus der Materialität 
herausgehoben werden könnte. Für Lu¬ 
ther ist nicht wie für die Mystiker vor 
ihm, ein bestimmter Komplex von Hand¬ 
lungen „gut“, etwa die Werke der Barm¬ 
herzigkeit sondern was diese und alle 
übrigen „Werke“ allein zu „guten“ Wer¬ 
ken macht ist die Gesinnung des „Werk¬ 
meisters“, der sie vollbringt. Bei Kant 
wiederholt sich derselbe Gedanke in ei¬ 
ner Zuspitzung, die Cassirer zu der Be¬ 
merkung veranlaßt, daß die Freiheit des 
Willens im Kantischen Sinne mit seiner 
Unabhängigkeit von materiellen Ge¬ 
sichtspunkten Zusammenfalle. Den Be¬ 
griff der Wissenschaft hat Leibniz zu¬ 
erst gegen Desoartes, Spinoza und Hob- 
bes in seiner vollen methodischen Rein¬ 
heit, als Ausdruck und Folge einer be¬ 
stimmten Denkart und nicht der Bezie¬ 
hung auf eine bevorzugte Klasse von 
Gegenständen, erfaßt. Auf ästhetischem 
Gebiet ist es Lessing gewesen, der ge¬ 
genüber den Schweizern mit ihrer Aus¬ 
zeichnung des Wunderbaren als des 
Poetischen den Begriff der Poesie auf 
den des Genies, also den der schöpfe¬ 
rischen Kraft im Gegensatz zu dem einer 
bestimmten Gruppe von an sich poeti-, 
sehen Gegenständen, zurückgeführt hat. 
„Auch hier handelt es sich zuletzt um 
die Entscheidung darüber, ob die Regel, 
die für die künstlerische Gestaltung gilt, 
vom Gebilde oder vom Prozeß des Bil¬ 
dens, von fertigen Musterwerken oder 
vom Genie als dem Ausdruck und Inbe¬ 
griff der schöpferisch-ästhetischen. Kräf¬ 
te herzuleiten ist.“ 

In allen diesen Fällen hat der deutsche 
Geist den Idealismus der Innerlichkeit 
und Gesinnung gegenüber dem Idealis- 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


1240 


mus der Gegenstandsbetonung als den 
ihm gemäßen und sachlich überlegenen 
durchgesetzt. In dieser Leistung tritt mit 
der selbständigen Bedeutung des Form' 
prinzips zugleich der Ertrag des Konflik¬ 
tes von Freiheit und Form und desWiilens 
der Freiheit zur Form in die Erschei¬ 
nung. Der Sinn der deutschen Geistes- 
gesdiichte ist damit soweit aufgeklärt 
wie es nach Anleitung dieses Werkes 
geschehen kann. Man kann es bedauern, 
daß der Verfasser das 19. Jahrhundert 
in seine Untersuchungen nicht einbezo- 
gen hat. Man kann auch im einzelnen 


manches beanstanden, wie die Konstruk¬ 
tionen des Mittelalters und der Renais¬ 
sance, die das Werk, nicht zu seinem 
VorteikmitStücken eröffnen, dieschwer- 
lich so zu behaupten sein werden. Man 
kann aber nicht auf das Ganze blicken, 
ohne ein starkes Gefühl davon zu gewin¬ 
nen, daß es dem Verfasser gelungen ist, 
tief in den Sinn der deutschen Geistesge- 
schichte mit seinen Untersuchungen hin¬ 
einzuleuchten, und diese Geschichte so 
aufzubauen, daß alle denkenden Wesen 
Ursache haben, an ihrer Entwicklung 
teilzunehmen. 


Französische Geistesart und ihre Formen 

Von Eduard Wechssler. 


L 

Seit nahezu achthundert Jahren be¬ 
ansprucht Frankreich den Vorrang im 
geistigen Leben Europas. Ein Minne¬ 
singer und Meister des Ritterromans, 
Christian aus Troyes in der Champagne, 
verkündete im Vorwort seines „Cligös“ 
(kurz vor 1164), daß Wissenschaft und Rit¬ 
tertum von den Griechen an die Römer 
und von diesen an die Franzosen ge¬ 
kommen seien. Und seitdem rühmen 
sich diese mit Stolz der Erbschaft und 
Nachfolgerschaft der alten Hellenen und 
Römer. Zweimal hat Frankreich diesen 
Anspruch verwirklicht: erstmals im zwölf¬ 
ten und dreizehnten, dann nochmals im 
siebzehnten und achtzehnten Jahrhun¬ 
dert. Das eine Mal geschah es im weite¬ 
sten Umkreis gedanklichen und künst¬ 
lerischen Schaffens und mit kühner, nicht 
wieder erreichter Schöpferkraft. Damals 
war Frankreich in der Tat die Vormacht 
Europas und vollbrachte Werke von un¬ 
vergänglicher Leuchtkraft und Gedie¬ 
genheit. Aus zahllosen benannten oder 
namenlosen Gestalten ragt Bernhard von 
Clairvaux hervor, ein Urbild der neuen 


Frömmigkeit; Abälard als gefeierter Hoch¬ 
schullehrer und Theologe; die Dichter 
der Sagen von Artus und Guenievre, 
Tristan und Parzival; als größte viel¬ 
leicht die Baumeister der gotischen Städte, 
Abteien und Burgen. Vier Jahrhunderte 
später gab der vierzehnte Ludwig das 
Vorbild eines unbeschränkten König¬ 
tums und eines durch Regeln be¬ 
schränkten Kunstschaffens im straff zu¬ 
sammengeschlossenen Staat. Noch zu 
seinen Lebzeiten begann die gedankliche 
Auflösung und Zersetzung der mittelal¬ 
terlich-ständischen Gesellschaftsordnung 
und Weltauffassung; bis schließlich ein 
riesenhafter Einsturz das eigene Staats- 
gebäude und die fremden der Nach¬ 
barländer in jähe Trümmer riß. Damals 
rühmte sich Frankreich lauter denn zu¬ 
vor seiner gottgewollten Sendung, die 
von ihm entdeckten Menschenrechte 
allen Völkern Europas zu verkündigen. 

Ein glückliches Zusammentreffen viel¬ 
facher treibender Kräfte hat diese zwei¬ 
malige Vormachtstellung ermöglicht Vor¬ 
ab ein meist wohnbares Ländergebiei 
zwischen zwei Meeren und drei Grenz- 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


gebirgen, das durch die bequemen Was¬ 
serstraßen fruchtbarer Beckenlandschaf- 
ten und durch leichte Landrücken, die 
mehr verbanden als trennten, zum Ein¬ 
heitsstaat vorherbestimmt erscheint; dann 
seit 600 v. Chr. an der Pforte zum Mit¬ 
telmeer die ionische Pflanzstadt Massalia, 
die weithin ihre friedlichen Siedlungen 
und Warenlager vortrieb; um dieselbe 
Zeit als Besitzer des alten Ligurerlandes 
das Kriegervolk der Gallier, mächtig 
durch das erstmals eiserne Schwert, 
flink und geweckt, fähig und willig’zur 
Bildung, damals schon das kflnftige Volk 
der Intelligence und des 6lan vital, aber 
nicht minder zugänglich jähem Wahn 
und selbstgewollter Verblendung 1 ); her¬ 
nach die römische Verwaltung, die nüch¬ 
tern und zweckvoll die Kräfte des Lan¬ 
des und der Bewohner zusammenfaßt, 
ausgleicht und einem einheitlichen Staats¬ 
gefüge einordnet; das Christentum, des¬ 
sen erste Bekenner inmitten einer be¬ 
haglich genießenden Bevölkerung die 
opferwillige Hingabe des Leibes an die 
Güter der Seele lehren und selber be¬ 
tätigen; die Bischöfe als Fürsten der 
christlichen Staatskirche, und hernach 
in den Völkerwirren Erhalter und Neu¬ 
gründer römischer Staatseinheit und 
Gesittung; die Saalfranken Chlodwigs 
und die Rheinfranken Pipins und Karls, 
die Erretter aus der allgemeinen Auf¬ 
lösung und Neugründer eines fränki¬ 
schen Weltreichs germanischer und ro¬ 
manischer Völker; bis endlich aus die¬ 
sem vergänglichen größeren Ganzen ein 
Königreich Franzien mit der alten Kai- 

1) Verfasser erlaubt sich hier zur Er¬ 
gänzung und Begründung des oben Be¬ 
merkten auf seinen Aufsatz über »Franzö¬ 
sische Volksart“ (Deutsche Politik 9. Juni 
1916) hinzuweisen, worin er zu zeigen ver¬ 
sucht, wie einige schon bei den Galliern 
festgestellte Anlagen des Gemüts und Gei¬ 
stes sich bis heute erhalten und in der Ge¬ 
schichte entscheidend nachgewirkt haben. 


serstadt Paris unter dem Geschlecht der 
ursprünglich rheinfränkischen Kapetinger 
klein, aber kraftvoll hervorgeht 

So geschah dieser älteste Bildungs¬ 
gang der französischen Volks- und Staats¬ 
einheit in immer neuen konzentrischen 
Kreisen, die alle, ob sie die schöpfe¬ 
rische Freiheit oder eine straffe Zusam¬ 
menfassung förderten, die zur Ein¬ 
heit drängende Gesittung und Volks¬ 
erziehung immer aufs neue verdichteten 
und verstärkten. Das Ergebnis, das seit 
dem elften Jahrhundert mehr und mehr 
hervortrat, war schließlich eine, von 
Zwischenspielen und Störungen abge¬ 
sehen, merkwürdig gleichmäßige und 
bis auf diesen Tag unzerstörbare Ziel¬ 
richtung französischen Denkens, Glau¬ 
bens und Wertens. 

Zwar scheint der typische Franzose — 
und ein solches Urbild gibt es wenig¬ 
stens bei dieser Nation — von fern als 
eine Sammlung innerer Widersprüche. 
Zugleich leidenschaftlich und besonnen, 
kindlich harmlos und klug berechnend, 
bald gesellig und liebenswürdig, bald 
roh und grausam, von scharfem Denken 
und zur Selbsttäuschung geneigt, in den 
Anschauungen ursprünglicher Völker be¬ 
fangen und Schrittmacher des jeweils 
Neuesten, voller Vorurteile und Träger 
der Aufklärung, unduldsam und Prediger 
der Toleranz, Dogmatiker und Skeptiker, 
Nationalist und Kosmopolit, mit dem 
Gefühl der Oberreife, und doch schneller 
Verjüngung fähig: lauter tiefe innere 
Gegensätze, die sich auflösen, sobald 
wir die Lebensinhalte, die zusammen 
diesem Einheitsvolk die Richtung gaben, 
auseinanderlegen und daraus begreifen 
lernen, wie sie geworden sind und auf¬ 
einander gewirkt haben. 

Nirgends im Westreich der römischen 
Kaiser kamen so wie in Gallien die 
Schulen der Rhetoren zur Blüte. Zwei 
Menschenalter, nachdem Julius Cäsar 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


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die Gallier unterworfen hatte, wurden 
dort die meisten der griechischen und 
römischen Lehrer von einheimischen 
Lehrkräften abgelöst. Die Nachkommen 
alter Druidengeschlechter drängten sich 
zu diesem neuen Beruf, der wie kein 
anderer damals Gewinn und Ansehen 
versprach. Seit im zweiten Jahrhundert 
v. Chr. die auf Zweck und Nutzen vor 
allem bedachten Römer den schon im 
alten Athen heftig entbrannten Streit 
zwischen Philosophen und Rhetoren für 
diese letzteren entschieden hatten, galt 
die Rede- und Woitkunst als höchster 
geistiger Besitz des gebildeten Mannes. 
Das Bildungsideal Platons war durch 
ein Stilideal verdrängt Rhetorik öffnete 
den Zugang zu den höheren Staats¬ 
ämtern und Würden; Rhetorik wurde 
von den Söhnen vornehmer Gallier in 
den Hochschulstädten Massalia und Bur- 
digala, in der Äduerhauptstadt Augusto- 
dunum, in Reims und Trier, in Toulouse 
und Narbonne, mit sichtlicher Befähigung 
Und Neigung erlernt. Damals durch¬ 
setzte oder verdrängte die Redekunst 
Poesie und Philosophie, Rechtskunde 
und Naturforschung. Zwar hatte in dem 
einheitlich verwalteten Beamtenstaat der 
Cäsaren die große Beredsamkeit der 
Volksversammlung keine Stätte mehr. 
Um so mehr gesucht und geschätzt war 
der Anwalt im Prozeß und später der 
Kanzelredner. 

Und so ist es auf gallischem Boden 
noch heute. Nichts geht dem Franzosen 
über Wort und Wortkraft in Rede und 
Schrift Für nichts kann er die Freiheit 
so wenig entbehren wie für das Wort 
und die Presse. Nichts anderes ersehnt 
er so lebhaft für sich selbst wie das an¬ 
erkennende Wort und einen gefeierten 
Namen, dem Lebenden als Ansporn, 
dem Toten als ehrendes Gedächtnis. 
Und nichts ist ihm so wie das Wort 
ein Gegenstand zärtlicher Liebe und 


Sorgfalt, ja fast der Verehrung. Über¬ 
zeugende Wortkunst verlangt er von 
jedem, der es unternimmt, Volk und 
Staat zu leiten und zu beraten. Staats¬ 
mann und Schulmann, Dichter und 
Tagesschriftsteifer, Anwalt und Philo¬ 
soph, Geschichtschreiber und. Naturfor¬ 
scher, alle wollen und sollen sich zum 
Redner und icrivain, zum Sprach- und 
Stilkünstler bilden. Wo dieser höchste 
geistige Besitz des französischen Wesens 
bedroht erscheint, da dünkt ihnen das 
Vaterland in Gefahr. 

Mit der Rhetorik wurde im griechisch- 
römischen Gallien und wird noch im 
heutigen Frankreich die Dialektik als 
die Kunst der Wechselrede in Leben 
und Unterricht vor allem andern bevor¬ 
zugt Seit alters beginnt dort der übliche 
Lehrgang mit der Grammatik, verweilt 
am längsten bei der Rhetorik und voll¬ 
endet sich in der Dialektik, d. h. der an¬ 
gewandten formalen Logik. Aus dem 
weiten und Weitblick erzeugenden Be¬ 
reich althellenischer Welt- und Lebens¬ 
weisheit hatte nur diese Schöpfung des 
Aristoteles vor dem römischen NQtzlich- 
keitssinn Gnade gefunden. Neben der 
Kunst des Oberredens bedurfte man 
der Kunst des Niederredens, der Wort¬ 
fechterkunst In den Disputationen der 
späteren Akademie, und wieder in der 
französischen Scholastik, zuletzt noch 
in den Doktorpromotionen, wurde der 
Streit um das pro und contra philoso¬ 
phischer oder theologischer Fragen aus¬ 
giebig gepflegt Nicht um die Sache 
ging es dabei, nicht um Recht oder Un¬ 
recht, Wahr oder Unwahr, sondern um 
die Schlagfertigkeit in Angriff und Ab¬ 
wehr. Ein dichterischer Niederschlag die¬ 
ser Denk- und Sprechübungen wurden 
die Minnekanzonen der Troubadours und 
die Minnegespräche in den französischen 
und provenzalischen Ritterromanen. 

Mit Recht gilt jeder Franzose, bei dem 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


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sich Anlage und Ausbildung zusammen- 
gefunden haben, als geborener Anwalt 
und Rechtskenner. Es ist kein Zufall, 
daß Pierre Corneille, dem ersten Napo¬ 
leon und vielen Franzosen noch heute 
ihr größter Dichter, den Beruf eines 
Anwalts ausübte und im „Cid“ und Ho- 
race, im „Cinna“ und „Polyeucte“ jedes¬ 
mal einen berühmten Rechtsfall auf der 
Schaubühne zum Austrag brachte. Es ist 
ebensowenig bloßer Zufall, daß Stendhal- 
Beyle, wenn er sein Stilgefühl von ver¬ 
alteten Formeln freimachen wollte, als 
Sprachmuster das eben darin vorbild¬ 
liche Gesetzbuch Napoleons I. zu Rate 
zog. Und so kann es in Frankreich ge¬ 
schehen, daß ein berühmter Verteidiger, 
wie der kürzlich verstorbene Labori, sei¬ 
nen Landsleuten zum Helden des Teiges 
wird, und daß ein spannender Prozeß, 
der die höchsten Kreise bloßstellt und 
aufregende Tagesfragen betrifft, die 
ernsthafte Teilnahme aller Volksschich- 
• ten auf sich vereinigt So wird es auch 
begreiflich, daß drüben ein redegewand¬ 
ter Advokat zum führenden Staatsmann, 
Kriegs- und Marineminister oder zum 
Leiter des Flugwesens und anderer mili¬ 
tärisch-technischer Betriebe sogar wäh¬ 
rend eines Krieges aufsteigen kann. Be¬ 
denklicher war es für das Land, daß 
in den letzten Jahren vor dem Kriege 
eine Reihe schlagfertiger und leicht¬ 
fertiger Advokaten sich der Bühne des 
staatlichen Lebens bemächtigte und die 
Männer mit Gewissen und Sachkenntnis 
in den Hintergrund drängte. Und wie¬ 
der ist es bedeutsam, daß dabei die Süd- 
franzosen auch an Zahl so stark über- 
wiegen. Man hat berechnet, daß in der 
gegenwärtigen Volksvertretung der Nor¬ 
den, der 77 vom Hundert des Volks¬ 
vermögens und 61 vom Hundert der Be¬ 
völkerung aufweist, an Abgeordneten 
nur 23 vom Hundert zu stellen vermag. 

Zur Kunst des Vortrags und der Wech¬ 


selrede gehört das Mienenspiel, die an¬ 
gemessene Haltung, die wohlabgestimmte 
Gebärde (la tenue, l'attitude, le geste), 
kurz alles, das wir Schaustellung nennen. 
Die Wortsprache verlangt, um Ausdruck 
und Eindruck zu erreichen, die Hilfe 
ihrer älteren Schwestern. Auch hier, so 
scheint es, kam den griechischen und 
römischen Lehrmeistern eine ererbte 
Anlage des gallisch-ligurischen Misch¬ 
volks entgegen. Nach den Wirren und 
Zerstörungen der Merowingerzeit waren 
die Frauenhöfe südfranzösischer Lehens¬ 
herrschaften der erste Ort, wo diese älte¬ 
sten Ausdrucksmittel des Menschen im 
Kreise von Laien wieder in bewußte 
Pflege genommen wurden. Denn diese 
Art Ausbildung war in die neue höfische 
Bildung, die cortezia, mit einbezogen. 
Der Trobador pries im Minnelied die 
gefeierte fürstliche Herrin ob ihres ho¬ 
heitvollen Auftretens und ihres ge¬ 
winnenden Lächelns und Anblickens; 
der Romanerzähler gab mit seinen Ge¬ 
stalten künstlerische Vorbilder; der 
Lehrdichter zählte mit schulmäßiger 
Ernsthaftigkeit die Pflichten feiner Um¬ 
gangsformen auf. Erst sehr viel später 
stellte dann der vierzehnte Ludwig, nach 
Blut und Wesen übrigens mehr Spanier 
als Franzose, das dauernde Muster der 
würdigen Haltung und Gebärde dar, für 
jede Lebenslage und. jeden Lebenskreis,, 
fein abgetönt nach Person, Rang, Alter 
und Gelegenheit. In Kürze dann unter 
der Regentschaft folgte die leicht an¬ 
mutige Haltung und die kleine Ge¬ 
bärde des Rokoko mit ihrem reiz¬ 
vollen Schillern und Flimmern. Bewun¬ 
dernswert in fester Haltung und mit 
gemessenem Schritt, als ginge es zu 
einem höfischen Menuett, bestiegen die 
verurteilten Adligen und Edelfrauen das 
Schafott. Und bis heute, auch im repu¬ 
blikanischen Frankreich, ist die ein¬ 
drucksvolle Gebärde und Schaustellung 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


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eine Großmacht des öffentlichen Lebens 
geblieben. 

Mit diesen vorspringenden Lebens¬ 
äußerungen innerlich verwachsen, wur¬ 
zelt in der Lebenstiefe des französischen 
Geistes eine starke Begabung und Vor¬ 
liebe für Zahl und Maß und Begriff. 
Seit alters beherrscht der Franzose die 
selbstgewissen Denkformen der Mathe¬ 
matik und der Logik. Vernunft ist ihm, 
wie der Stoa, nicht die eigentlich 
schöpferische Geisteskraft, vielmehr die 
Fähigkeit, Begriffe zu bilden, Urteile zu 
fällen, durch Schlüsse zu beweisen und 
zu widerlegen. Alles Erkennbare in 
Weltall und Menschenseele will der 
französische Geist messen und wägen, 
berechnen und bestimmen. Er lebt des 
Glaubens, die Welt und der Mensch 
seien faßbar als ein großer, wohl über¬ 
sehbarer Zusammenhang von Begriffen 
und Zahlen, als ein pangeometrisches 
Gedankensystem. Ein Descartes gefällt 
sich in der Täuschung, daß ein Denken, 
das folgerichtig vom Einfach-Evidenten 
zum Verwickelt-Schwierigen fortschreite, 
auch das Dunkle und scheinbar Unfa߬ 
liche klar und deutlich aufhellen könne. 
Jeder echte Franzose hält es für selbst¬ 
verständlich, daß sein Scharfsinn (esprit) 
alles begreifen, bemeistern und beherr¬ 
schen werde. Mit Richtblei, Winkelmaß 
und Zirkel wagt er sich auch an das 
künstlerische Schaffen, da wo er ausübt 
oder beurteilt. So entwirft mit dem glei¬ 
chen Verfahren Mansard ein Fürsten¬ 
schloß, Le Nötre einen architektonischen 
Garten, Corneille eine Heldentat in fünf 
Aufzügen, Rousseau eine Verfassung für 
Polen und Korsika. So schmeichelt sich 
französische Welt- und Lebensweisheit 
mit dem Anspruch, alles Vorhandene als 
eine unmittelbar gegebene Wirklichkeit 
zu erfassen und festzuhalten: sei es im 
Begriffsrealismus der Scholastik, sei es 
im Rationalismus eines Deseartes, sei es 


im Sensualismus eines Gassand und 
Voltaire, sei es in dem echt französischen 
Positivismus, den Auguste Comte nicht 
entdeckt, nur vollendet hat, oder endlich 
in der modischen Intuitionsphilosophie 
von Henri Bergson. 1 ) Die Wege des 
Nachdenkens über das Weltganze haben 
sich gewandelt: in sich gleich geblieben 
ist stets das vom starken inneren Drang 
vorgeschriebene Ziel. 

Dort aber, wo die Erfahrung der Sinne 
versagt, sträubt sich der Franzose, eine 
Wirklichkeit anzuerkennen. Was er nicht 
ergründen, erforschen und berechnen 
kann, das möchte er gern als bloße Ein¬ 
bildung abtun. Sein Zweifel verleugnet 
die Welt dessen, was nicht ist. sondern 
gilt: also das ganze Reich der rein geisti¬ 
gen, überindividuellen Werte; verleugnet 
die Welt des Unbewußten und Unterbe¬ 
wußten, der dunklen Ahnungen und 
des verborgenen Werdens. Sein Zweifel 
überläßt gern die höchsten und letzten 
Fragen, so die nach Gott, Freiheit und 
Unsterblichkeit, der Verantwortung des 
Theologen und Metaphysikers und be¬ 
gnügt sich mit der lächelnden Gegen¬ 
frage: „Que sais-je? u 

Dabei sei es dahingestellt, ob sich 
dem Zweifel des einzelnen überlegene 
Selbstzufriedenheit oder ängstliche Zu¬ 
rückhaltung beigesellt: vielleicht beides 
zugleich. Man gefällt sich darin, den ent¬ 
gegenstehenden Meinungen und Lehr¬ 
sätzen aufmerksam nachzugehen, hält 
vorsichtig mit der eigenen Entscheidung 
zurück und läßt mit nachsichtigem 
Lächeln die Eiferer gewähren. Männer 
wie Montaigne, Renan und France zei- 

1) Ich verdanke diese Beurteilung der 
Philosophie Bergsons dem ganz vortreff¬ 
lichen kleinen Buche von Leopold Zieg¬ 
ler: „Der deutsche Mensch*. Hier wird die 
deutsche Wesensart an dem Gegensatz zur 
französischen mit tiefster Sachkenntnis und 
sicherem Geschmack herausgearbeitet. 






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gen die reinste Ausprägung dieses grund¬ 
sätzlichen Verhaltens. Es nennt sich 
Skeptizismus oder mit feiner Selbstironie 
Dilettantismus. Und seiner rühmt sich 
seit der Renaissance der bildungstolze 
Franzose am liebsten. 

Ein Leben in Wort und Schaustellung, 
in Maß und Begriff verlangt nichts so 
# sehr wie die Gelegenheit, sich auszu¬ 
sprechen. 1 ) In Athen und Rom, den 
Stadtrepubliken, war die Volksgemeinde 
auf dem Markt, war die Ratsversamm¬ 
lung die Stelle der Betätigung gewesen. 
Nachdem sich unter den Kaisern die 
Besten des Reichs von der freien staat¬ 
lichen Mitarbeit hatten zurückziehen 
müssen, nachdem auch die Entscheidung 
vor Gericht der Beamtenschaft über¬ 
lassen worden war, zog sich der unent¬ 
behrliche Austausch der Gedanken und 
Ausdrucksformen ins Haus und in die 
häusliche Geselligkeit zurück. Lateini¬ 
sche Dichter auf gallischem Boden, Au- 
sonius und andere, bezeugen uns den 
allenthalben und auch in Gallien einge- 
tretenen Wa ndel. Und nach den Wirren 

1) Meine Ausführungen berühren sich 
mehrfach mit dem in dieser Zeitschrift 
(1. November 1916) erschienenen Aufsatz 
meines Kollegen Richard Hamann «Ober 
französische Kultur und Kunst*. Es ist das 
Eigentümliche dieser an neuen und an¬ 
regenden Ausblicken überaus reichen Ar¬ 
beit, daß sie die wesentlichen Merkmale 
des Franzosentums alle aus der geselligen 
Bindung abzuleiten oder doch aus diesem 
Zusammenhang zu erklären sucht, insbe¬ 
sondere auch die mittelalterlichen Kloster- 
gemeinschaften in diese Reihe einzuglie- 
dem sich bemüht, und schließlich alles, 
was uns von den Franzosen unterscheidet, 
auf den inneren Gegensatz von „Sachkul- 
tur* und »Personalkultur“ hinausführt. Wer 
Hamanns Gedankenreihen aus seinen Vor¬ 
lesungen und anderen Äußerungen genauer 
kennt, als er sie im engen Rahmen jenes 
Aufsatzes vortragen konnte, erwartet ge¬ 
spannt eine bevorstehende ausführliche Be¬ 
handlung dieser kulturphilosophischen Auf¬ 
gabe. 

Internationale Monatsschrift 

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der Völkerwanderung boten zum ersten 
Male die provenzalischen Minnehöfe auf 
den Burgen feudaler Grafen, Vizgrafen 
und Freiherren das Bild einer festlichen 
Geselligkeit, die mit den Reizen häus¬ 
lichen Empfangs das Bewußtsein krie¬ 
gerisch-staatlicher Macht und die Schön¬ 
heit erhöhender Kunstpflege glücklich 
vereinte. 1 ) Als die Albigenserkriege dem 
weltfreudigen Treiben ein frühes und 
jähes Ende bereiteten, flüchtete sich 
diese feine höfische Gesittung nach 
Italien. Dort folgte dem Minneritter und 
Trobador der Cortlgiano. Land und 
Menschen, Geld und Gut fielen den 
bürgerlich veranlagten, sparsamen und 
nüchternen Kapetingem zu, diesen älte¬ 
sten Typen des französischen bourgeois. 
Erst unter dem dreizehnten Ludwig ge¬ 
langte jene feine höfische Geselligkeit 
aus Italien nach Paris. Damals ließ die 
Marquise von Rambouillet, Tochter der 
Römerin Julia Savelli, das Haus ihres Gat¬ 
ten für die neuen Zwecke umbauen. Dort 
entstand die große Neuheit, der salon: 
Ding und Wort nach italienischem Vor¬ 
bild. Dort wurde sogar das Schlafzimmer 
der Hausfrau zum festlichen Empfangs¬ 
raum für bevorzugte Gäste eingerichtet 
Wie einst zur Zeit der Minnesinger gab 
die Herrin des Hauses Sitte und Gesetz. 
Und diese höfische Geselligkeit wurde 
der sichtbare Mittelpunkt des französi¬ 
schen Staates, seit der vierzehnte Lud¬ 
wig den Salon nach Versailles übernahm 
und hier den entrechteten Hochadel im 
Hofdienst durch Vergnügungen festhielt. 
Alle nährenden und arbeitenden Kräfte 
des Landes strömten hier zusammen; 
alle geistigen und künstlerischen An- 

1) In seinem Buche über das Kultur- 
Problem des Minnesangs, Band 1: Minne« 
sang und Christentum (Halle 1909, Nie¬ 
meyer) hat der Verfasser versucht, die be¬ 
deutungsvolle Erscheinung des Minnesangs 
in die weltgeschichtliche Entwickelung ein- 
zureihen. 

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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


regungen strahlten von hier nach ganz 
Europa aus: Saalbau und Gartenkunst, 
Bahnenspiel und Musik, Tänze und 
Wasserkünste, Kanzelrede und Wort¬ 
spiel. Diese Geselligkeit hat den Fran¬ 
zosen zu dem vollendeten Weltmann 
erzogen, den die Geschichte kennt. Diese 
Geselligkeit hat den Gesellschaftswillen 
zur Geltung gebracht, der bald ein ge¬ 
heiligtes Herkommen beharrlich festhält, 
bald einer verblüffenden Modelaune 
nachgibt, immer aber willige Unterwer¬ 
fung fordert und findet Seitdem gelten 
in Frankreich die Sätze: Erlaubt ist was 
gefällt, und Vorschrift, was sich schickt. 
Damals hat sich dort ein einheitlicher 
Stil für Leben und Kunst gebildet da¬ 
mals eine geschlossene Form für alle 
Betätigungen eines Daseins, das man 
sich nur noch in festlich gestimmter Ge¬ 
selligkeit denken konnte. Unzählige Zeug¬ 
nisse Einheimischer und Fremder lassen 
uns heute den geheimnisvollen Zauber 
nur ahnen, der damals im goldenen 
Zeitalter Frankreichs, und nachmals in 
den Kreisen der Aufklärung, die ersten 
Männer und Frauen an das Leben im 
Salon gefesselt hat. Eine Art Ersatz ge¬ 
währen uns noch jene lebensvollen 
und liebenswürdigen literarischen und 
künstlerischen Schöpfungen, worin sich 
das Ineinanderwirken fein zugespitzter 
Gefühlserlebnisse und scharfsinniger Ge¬ 
dankenarbeit so überzeugend gespiegelt 
hat. 

Diese höfische Geselligkeit gewann 
seit Anbeginn ihre innere Bedeutung 
und lebendige Kraft aus der französi¬ 
schen Sprach- und Bildungseinheit als 
einer Gemeinschaft des Denkens und 
der Gesittung. Als um die Wende zum 
zwölften Jahrhundert die fränkisdi-nor- 
männische Ritterschaft von französischer, 
d. h. nach Wesen und Ursprung Pariser 
Sprache, Jerusalem eroberte und die 
überlegenen Kunst- und Lebensformen 


von Byzanz und dem Morgenlande ent¬ 
deckte, lernte sie sich mit der abendlän¬ 
dischen Geistlichkeit und den dienenden 
Volksgenossen als eine sieghafte und 
ruhmreiche Gemeinschaft fühlen. Zu¬ 
sammengehalten wurde diese Gemein¬ 
schaft weder durch die Bande des Blutes 
und der Abstammung noch durch einen 
größeren staatlichen Verband in der durch 
feudale Fehden zerrissenen Heimat, auch 
nicht durch die bloße Sprache. Diese 
Gemeinschaft war in der feindlichen 
Fremde zu einem starken Ganzen er¬ 
wachsen edlein durch das erhebende Be¬ 
wußtsein einer die christliche Welt um¬ 
spannenden neuen und selbständigen 
Geistesbildung und Gesittung. Ein fran¬ 
zösisches Nationalgefühl war entstanden. 
Sein Träger war zunächst der Ritter¬ 
stand. Erst ein Jahrhundert später bahnte 
sich der durch die beharrliche Klugheit 
Philipps II. August erstarkte Beamten¬ 
staat mit der altrömischen Kernstadt 
Paris über die durch Heirat einverleibten 
südfranzösischen Grafschaften den Weg 
ans Mittelmeer, und machte sich damit 
zum Erben und rechtmäßigen Inhaber 
jener ritterlich-französischen Geistesge- 
meinschaft. Der Bildungsverband wan' 
delte sich mit geschichtlicher Notwendig¬ 
keit in einen Zweckverband und ver¬ 
doppelte damit seine Kräfte. Damit war 
dem französischen Einheitsstaat auf lange 
hinaus jene freie und glückliche Ent¬ 
wickelung gesichert, die ernstlich nie¬ 
mals von einem feindlichen Nachbarn, 
öfter von der unruhigen Gemütsart der 
Untertanen oder durch die Unfähigkeit der 
Herrscher gestört worden ist Richelieu 
und Ludwig der Vierzehnte vollzogen 
mit zielbewußtem Blick nur Abschluß 
und Krönung an einem Gebäude, für 
das Natur und Geschichte selber gear¬ 
beitet hatten. Seitdem empfängt dort aus 
der nationalen Größe das kleinste Sonett 
oder Madrigal, der geringste Spottvers, 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


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das flüchtigste Wortspiel geheime Be¬ 
deutung und wirksamen Wert. 

Und noch immer erweist der Ruhm 
des gefeierten französischen Namens 
seine erstaunliche Anziehungs- und Wer- 
bekraft bis in ferne Länder und Zeiten. 
Dem tat keinen Eintrag, daß die Revo¬ 
lution mit dem König und der Königin 
auch dem Königshof und der höfischen 
Geselligkeit ein Ende bereitet hatte. Die 
Volksheere der Revolution, das Welt¬ 
kaisertum des Korsen als Nachfolgers 
des „Franzosenkaisers“ Karl, neue Er¬ 
oberungskriege, zuletzt das Kolonial¬ 
reich der dritten Republik gewannen 
dem nationalen Ruhm neue Leuchtkraft. 
Paris strahlt noch immer als Mittelpunkt 
einer vergeistigten Bildungsgemeinschaft, 
ln diesem Sinne konnte noch kürzlich 
Maurice Barrös die spirltualiti seines 
Volkes rühmen, konnte auch Bazalgette, 
der strenge Beurteiler, von dessen id6a- 
lisme sprechen, konnte unser Lands¬ 
mann Oskar Schmitz bekennen: „Nir¬ 
gends wie in Frankreich fühlt man so 
das Leben der Ideen.“ Und da auch der 
bescheidenste Bürger und schlichteste 
Arbeiter das verfassungsmäßige Recht 
hat, sich für seine Person als Inhaber 
der Volkssouveränität zu fühlen, nimmt 
jeder den leidenschaftlichsten Anteil cm 
allem, was den Ruhm und das Ansehen 
(la gloire et le prestige) seiner Nation 
fördert oder gefährdet. „Der ärmste 
Pariser sogar achtet in sich selbst die 
Idee seiner Nation.“ (Karl Scheffler.) 
Die Nation als sichtbare und in der Ge¬ 
sellschaft gipfelnde Geistesgemeinschaft, 
worin die abgeschiedenen Geschlechter 
über die lebenden den künftigen die 
Hand reichen, überdauert den Wechsel 
der Staatsformen und der Regierenden; 
sie ist dem echten Franzosen sein Ein 
und Alles; sie gilt ihm als die religiöse 
und metaphysische Macht, die ihm die 
Welt des Unendlichen und ewig Un¬ 


sichtbaren ersetzt; sie wird auch dem 
ungläubigsten Franzosen das Heilige 
schlechthin. 1 )Wer immer dieses anspruchs¬ 
volle Ehrgefühl verkennt, der wird im 
Verkehr der Völker und von Mensch zu 
Mensch Fehler über Fehler begehen; 
wer es aber vorsichtig schont oder ihm 
gar entgegenkommt, der erreicht von 
ihm alles. 

Im Dienste dieser ursprünglich höfi¬ 
schen Geselligkeit und dieser ehrwürdi¬ 
gen nationalen Geistesgemeinschaft ent¬ 
stand als erste nationale Literatur des 
neueren Abendlands ein Schrifttum, das 
aus beiden Quellen seine Kraft und Fülle 
ziehen konnte. Und noch einmal fällt 
hier die Übereinstimmung mit dem rö¬ 
mischen Hellenismus ins Auge. So man¬ 
nigfaltig die literarischen Erzeugnisse 
Frankreichs zunächst erscheinen, sind 
doch zwei Arten von Sinnesart und 
Geisteshaltung (zweierlei deutlich 

erkennbar, die seit bald 2000 Jahren, ob 
auch mehrfach abgetönt, sich darin immer 
wieder erneuern. Als erster, soviel ich 
sehe, hat Karl Hillebrand, dem französi¬ 
sches Wesen so wenig verhüllt geblieben 
ist wie das seiner deutschen Landsleute, 
die Bemerkung niedergeschrieben, daß 
der französische Geist sich vorzugsweise 
in der rhetorisch-pathetischen und in der 
witzig-verspottenden Haltung gefalle. 
Und es ist schwerlich ein Zufall, daß ge¬ 
rade die größten und am höchsten ge- 


4) VorzOglich hat Karl Nötzel (Der 
deutsche und der französische Geist S. 29) 
bezeichnet, „was denn eigentlich dein 
Franzosen seine Nation ist: tatsächlich 
sein Gott im Diesseits und Jenseits, der 
lebendige Inbegriff alles dessen, was ihn 
den Schrecken vor den drohenden Ge¬ 
heimnissen der Ewigkeit vergessen läßt 
auf dem kurzen Wege von einer Unend¬ 
lichkeit zur andern, was ihn seine Neigun¬ 
gen als gerechtfertigt, seine Hoffnungen als 
begründet und seine Befürchtungen als 
wesenlos erleben läßt. . . .“ 

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Willibald Klatt, Pädagogik und Politik 


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achteten Geister Frankreichs diesen bei¬ 
den Grundrichtungen angehören, wie 
weit sie sonst nach Zielen und Wegen 
auseinandergehen mögen. Wir gewah¬ 
ren auf der einen Seite Seneca, Cor¬ 
neille, Bossuet, Rousseau, Chateaubriand, 
Victor Hugo; auf der anderen Lukian, 
die Meister des Fable!, Rabelais und Mon¬ 
taigne, Molifere und La Bruyöre, Montes¬ 
quieu und Voltaire, Bfcranger und 
Anatole France. Dort die große er¬ 
habene Form des Lebens und der Kunst, 
der leidenschaftliche Hochflug zu ein¬ 
drucksvoller Menschheitsbildung und ver¬ 
edelter Lebensgestaltung. Dort auch die 
große Gebärde und der »tragische“, d. h. 


erhabene Stil. Hier dagegen wird der 
Mensch seiner Würde entkleidet und 
in allem, was klein und schwach, leer 
und hohl an ihm ist, einem schallenden 
Gelächter oder ironischen Lächeln preis¬ 
gegeben; hierher gehört auch die kleine 
Gebärde und der „komische“, d. h. nie¬ 
dere Stil. Die besonnene Schlichtheit 
eines Descartes und Racine, die kühle 
Sachlichkeit eines M6rim6e, Flaubert und 
Maupassant haben behutsam die Farben 
gedämpft. Aber doch vermag auch keiner 
von ihnen auf die Dauer zu verbergen, 
wo seine Wesensart wurzelt, ob im rhe¬ 
torisch-pathetischen oder im witzig-spöt¬ 
tischen Lebensgefühl. (Schluß folgt) 


Pädagogik und Politik. 

Von Willibald Klatt 


I. 

Mein verehrter Lehrer Professor 
Rein (Jena) hat zu wiederholten Ma¬ 
len, 1 ) zuletzt im „Tag“voml2.AprU1916, 
die Forderung der nationalen Einheits¬ 
schule als ein Gebot richtiger Staatspäd¬ 
agogik zu erweisen gesucht. Er hat da¬ 
bei vorausgesetzt daß eine weise Staats¬ 
pädagogik ihre Maßnahmen ohne Rück¬ 
sicht auf parteipolitische Sonderwünsche 
trifft, und er hat mit Recht die gleiche 
Unabhängigkeit von aller Parteipolitik 
für jede echt wissenschaftliche Pädago- 


Diese Arbeit ist vor den Einheits- 
schulkämpfen des Winters 1916 ab¬ 
geliefert worden. Daher konnten 
weder diese noch der Vorschulerlaß 
des Preußischen Unterrichtsmini' 
sters darin berücksichtigt werden. 

1) Vgl. W. Rein, Deutsche Schulerziehung 
Bd. 1 (München, Lehmann, 1907). W. Rein, 
Die nationale Einheitsschule (Osterwieck, 
Zickfeldt, 1913) und die Leitsätze im Jahr¬ 
buch 1914 des Vereins für wissenschaftliche 
Pädagogik (Dresden-Blasewitz, Bleyl und 
♦ Kaemmerer, 1914). 


gik in Anspruch genommen. Er weih na¬ 
türlich besser als ich, daß viele Ver¬ 
fechter der Einheitsschulbestrebungen 
auch starke politische Wünsche mit 
ihren Forderungen verquicken. Wenn er 
trotzdem die Ausschaltung aller poli¬ 
tischen Parteirücksichten für möglich 
hält, wenn er sich bewußt ist, mit seinen 
Gedanken über den politischen Par¬ 
teien zu stehen, so hat er auch zu ver¬ 
langen, daß seine Gedanken ohne Be¬ 
zugnahme auf etwaige politische Folgen 
geprüft und, wenn nötig, mit rein päda¬ 
gogischen Gedankengängen widerlegt 
werden. 

Zweifellos ist es — so sagen die Ein¬ 
heitsschulfreunde — ein berechtigter 
Grundsatz jeder wahren Kulturpädago¬ 
gik, daß alle geistigen Kräfte des Volkes 
zu möglichst weitgehender Entwicklung 
kommen müssen, und man wird daher ein 
Schulsystem verdammen dürfen, das 
durch seinen ganzen Aufbau diese För¬ 
derung aller vorhandenen Talente aus¬ 
schließt. Von einer idealen Kulturschule 


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Willibald Klatt, Pädagogik und Politik 


1258 


werde also zu fordern sein, daß sie allen 
begabten Schülern ohne Rücksicht auf 
ihre soziale Herkunft die nötige Ausbil¬ 
dung gewährleiste, und daß sie andrer¬ 
seits — wenn nicht aus Gründen der Ge¬ 
rechtigkeit, so doch aus Gründen natio¬ 
naler Sparsamkeit — unbegabten Köp¬ 
fen die mühsame Aufpäppelung zur Er¬ 
reichung fragwürdiger Erfolge versage. 

Die nationale Einheitsschule soll diese 
beiden Möglichkeiten bieten. Die Staf¬ 
felung von der allgemeinen Volksschule 
zur Mittelschule und zur höheren Schule 
soll derartig sein, daß der begabte Knabe 
(dasselbe gilt innerhalb gewisser Gren¬ 
zen auch vom Mädchen) je nach dem 
Grade seiner Begabung zur rechten Zeit 
in die Mittelschule oder die höhere 
Schule übertreten kann. Faßt man die 
Schule als reine Staatsangelegenheitund 
als ihr Ziel die bestmögliche Ausbildung 
aller Talente, so muß masn in dem vo¬ 
rigen Satze an die Stelle des Könnens 
das Müssen setzen und somit dem Staate 
die Verpflichtung !zuschieben, die Kosten 
für die Förderung aller unbemittelten Ta¬ 
lente bis zu den höchsten Ausbildungs¬ 
möglichkeiten hinauf zu tragen. Dies aus¬ 
sprechen, heißt nicht, die ganze Ange¬ 
legenheit „mit Fragen belasten, die die 
Hauptsache nur verwirren und verdun¬ 
keln können“, vielmehr liegt es genau 
in der geraden Linie der Voraus¬ 
setzungen, die in dem Satze „dem Ta¬ 
lente freie Bahn!“ gegeben sind. Wer mit 
diesem Satze Emst macht, muß dem 
Staate auch diese Aufgabe zumuten, 
sonst denkt er den in ihm liegenden Ge¬ 
danken eben nicht bis zum Ende durch. 
Ja, er müßte eigentlich noch weiter gehen 
und dem Staate das Recht einräumen, 
besonders Begabte auch gegen den Wil¬ 
len der Eltern zu höherer Ausbildung 
zu zwingen. 

Für die wissenschaftliche Pädagogik, 
die sich um die für die Verwirklichung 


ihrer Gedanken notwendigen Kosten 
micht zu kümmern braucht, bestände also 
nur die Aufgabe der Prüfung, ob die von 
Professor Reim angenommene Staffe¬ 
lung die richtigen Übergangsmöglich¬ 
keiten bietet. 

Da ist nun zunächst festzustellen, daß 
die vielen höheren Schulen angeglie¬ 
derte Vorschule auf die Dauer kein 
Hindernis für den Übertritt von Volks¬ 
schülern in die höhere Schule bleiben 
darf. Ich bin aus Gründen, die hier nicht 
hergehören, weil sie mehr sozialer als 
pädagogischer Art sind, ein Anhänger 
der Vorschule, nicht aber der Vorschule 
in der bestehenden Form. Da die Vor¬ 
schule ihre Schüler ohne Rücksicht auf 
ihre Begabung aufnimmt (schon weil sie 
über diese Begabung noch gar nichts 
aussagen kann), so ist es eine Ungerech¬ 
tigkeit, wenn sie ihren Lehrplan so ein¬ 
richtet, daß auch begabte Volksschüler 
gleich bei ihrem Übertritt in die höhere 
Schule mit einem Minus an Kenntnissen 
ankommen, falls sie nicht noch schnell 
einen Förderungs- oder Vorbereitungs¬ 
kursus durchgemacht haben, in dem sie 
auf den Standpunkt der nach Sexta ver¬ 
setzten Vorschüler gedrillt worden sind. 
Und da niemand die unbegabten Vor¬ 
schüler bei ihrer Versetzung aus der 
obersten Vorschulklasse zwingt, der hö¬ 
heren Schule den Rücken zu kehren, so 
müßte die Sexta ihre Aufmahmebedbv 
gungen derart ermäßigen, daß begabte 
Volksschüler ohne besondere Veranstal¬ 
tung diesen Bedingungen genügen kön¬ 
nen. Sie könnte dies leicht, wenn sie 
der Vorschule nicht die Aufgabe zu¬ 
wiese, ihre Schüler für die „besonderen 
Bedürfnisse der höheren Schule“ zu¬ 
rechtzumachen; diese bestehen nämlich 
zur Zeit hauptsächlich in einem stär¬ 
keren Rechendrill und einem unerträg¬ 
lichen Einfuchsen von grammatischen 
Fertigkeiten, wobei nach den beson- 




1259 


Willibald Klatt, Pädagogik und Politik 


1260 


deren Bedürfnissen des Kindesalters 
gar rficht gefragt wird. 

Die Frage der Vorschule und ihrer 
Daseinsberechtigung scheidet aber, ge¬ 
nau genommen, für die Einheitsschul- 
mänoer im Sinne Professor Reins aus 
der Betrachtung aus. Denn für sie be¬ 
ginnt künftig die höhere Schule gar 
nicht mit Sexta, sondern erst mit Tertia. 
Die Einheitsschule zwingt ja jeden 
Schüler zum sechsjährigen Besuche der 
allgemeinen Volksschule, und erst dann 
wird über seine Begabung für die Mittel¬ 
schule einerseits, die höhere Schule an¬ 
drerseits entschieden. 

Wir Verfechter der Sonderziele der 
höheren Schule sind uns nun durchaus 
bewußt, daß wir ebenfalls nur von 
Grundsätzen wissenschaftlicher Päd¬ 
agogik, nicht von sozialen oder gar poli¬ 
tischen Vorurteilen geleitet werden, 
wenn wir diesen sechsjährigen Besuch 
einer allgemeinen Volksschule ablehnen. 
Ich mache mir dabei nicht die Gründe 
zu eigen, die etwa aus einer minderwer¬ 
tigen Vorbildung der an den Volks¬ 
schulen wirkenden Lehrer abgeleitet 
werden. Denn da Professor Rein und mit 
ihm die Volksschullehrer eine streng 
wissenschaftliche Vorbildung jedes 
Volksschullehrers fordern, so fiele 
in Zukunft dieser Einwand fort. Außer¬ 
dem wird kein Sehender behaupten wol¬ 
len, daß alle akademisch gebildeten Leh¬ 
rer ihren Unterricht wirklich in muster¬ 
gültiger Weise erteilen. Aber selbst wenn 
wir annehmen, daß künftig an allen 
Volksschulen wissenschaftlich durchge¬ 
bildete Lehrer arbeiten werden, so müs¬ 
sen wir doch aus zwei Gründen gegen die 
sechsklassige Grundschule sein: Erstens 
kann die höhere Schule — ganz gleich, ob 
sie humanistisch oder realistisch ist — 
den Betrieb der Fremdspraclien nicht so¬ 
weit hinausschieben. Die Frische des Ge¬ 
dächtnisses, die Bereitwilligkeit zum 


Auswendiglernen von Vokabeln und For¬ 
men ist vom neunten bis zum zwölften 
Jahre weit größer als nachdem zwölften, 
wo sich bereits die Vorboten der Ge¬ 
schlechtsreife zeigen;es ist einfach nicht 
richtig, daß durch das größere Verständ¬ 
nis und die größere allgemeine Reife die 
geringere Lernfreudigkeit dieses Alters 
wettgemacht wird. Zweitens aber wird, 
wenn erst bei dem Zwölf jährigen über die 
Begabung entschieden werden soll, hin¬ 
sichtlich der Fremdsprachen nichts ge¬ 
wonnen. Die Begabung für fremde Spra¬ 
chen kann doch erst erkannt werden, 
wenn der Schüler sie treibt, nicht vor¬ 
her; es wäre also damit zu rechnen, daß 
auch bei so später Entscheidung doch 
noch zahlreiche Mißgriffe vorkämen und 
Schüler, die iein, zwei Jahre fremde 
Sprachen getrieben haben, von der 
höheren Schule wieder abgeschoben 
werden müßten. Da ist es doch besser, 
man schiebt heute den Quintaner ab als 
künftig den Tertianer, denn dieser 
würde sich noch viel schwerer in die ent¬ 
sprechende Klassenstufe der Volks- oder 
Mittelschule wiedereinpassen lassen als 
jener. Daß auch Professor Rein die Not¬ 
wendigkeit, frühzeitig eine Probe in be¬ 
zug auf die fremdsprachliche Begabung 
zu machen, selbst empfindet, zeigt sein 
anderwärts gemachter Vorschlag, schon 
in der Grundschule (im vierten Schul¬ 
jahr) wenigstens wahlfreies Französisch 
einzuführen. 2 ) Nun könnte man aller¬ 
dings einwenden: wer bis zu seinem 
zwölften Jahre in der Grundschule ent¬ 
schiedene Begabung gezeigt hat, wird 
diese Begabung gewiß auch den frem¬ 
den Sprachen gegenüber nicht vermis- 


2) Vgl. dazu die Bemerkungen von Schul¬ 
rat Dr. Reu kauf bei Gelegenheit der Ver¬ 
handlungen des Vereins für wissenschaft¬ 
liche Pädagogik über die Reinschen Leit¬ 
sätze zur nationalen Einheitsschule (Dresden- 
Blasewitz, Bleyl u. Kaemmerer, 1917, S. 7). 





1261 


Willibald Klatt, Pädagogik und Politik 


1262 


sen lassen. Selbst wenn dies im all¬ 
gemeinen stimmen sollte und die höhere 
Schule bereit wäre, den Lehrern der 
Grundschule die Fähigkeit, die Be¬ 
gabung für höhere Schulen zu beurtei¬ 
len, ein für allemal zuzugestehen, so 
wäre doch noch zu beachten, daß die 
Zeit der beginnenden Geschlechtsreife 
die unglücklichste Zeit für Begabungs- 
Prognosen ist. Entschiedene Begabung 
tut sich oft erst nach der Geschlechts¬ 
reife kund, während die Zeit der wer¬ 
denden Geschlechtsreife oft geradezu 
eine Art Stillstand der intellektuellen 
Kräfte vortäuscht. 

Nimmt man jedoch an, alle diese Ein¬ 
wände wären nicht stichhaltig, so muß 
doch auch noch von andern Gesichts¬ 
punkten aus manches gegen die mit der 
Einheitsschulidee verbundene Zwangs¬ 
staffelung der Bildungswege gesagt 
werden. Zunächst liegt in ihr doch das 
Vorurteil, daß die höhere Schule auch 
immer und für jedermann die bessere 
„Bildung“ biete. Das trifft aber für eine 
große Fülle von Talenten nicht zu, die 
ich die praktischen Talente nennen 
möchte. Wir alle haben zahllose Schüler 
gekannt, die keineswegs unfähig waren 
für das, was die höhere Schule lehrt, die 
sogar Gutes hätten leisten können, wenn 
sie nur Lust gehabt hätten. An dieser 
Lust fehlte es, aber nicht aus Intel- 
lektmangel, sondern aus der Richtungih- 
rer ganzen Natur; sie gingen aus der Ter¬ 
tia oder—wenn’s hoch kam—mit dem 
Einjährigenschein ab, und zwar „ins 
praktische Leben“. Sie wurden dann, 
vielleicht nach einigen Umwegen, eben 
wegen ihrer praktischen Begabung, sehr 
brauchbare, tüchtige Männer. Andere — 
ich denke an Naturen mit frühzeitig her¬ 
vortretender künstlerischer Begabung — 
zeigten eine unüberwindliche Abnei¬ 
gung gegen jeden geordneten Schulbe¬ 
trieb, nicht etwa bloß gegen fremde 


Sprachen oder Mathematik. Sie waren 
der Schrecken ihrer Lehrer, sie haßten 
die Schule; später, nachdem sie ihren 
Weg gemacht hatten, empfanden sie 
selbst die Lücken ihrer Bildung und 
holten auf eigne Faust durch Lektüre 
vieles nach. Ihre geistige Entwicklung 
unterlag offenbar besonderen Gesetzen, 
die keine Schule (es sei denn die Kunst¬ 
schule) berücksichtigen konnte, und die 
intellektuellen Bedürfnisse, *an die sich 
die Schule notwendig immer vorwie¬ 
gend wenden wird, traten bei ihnen 
augenscheinlich erst viel später auf. Fer¬ 
ner gibt es viele Talente, die auf der hö¬ 
heren Schule spielend fortkommen, de¬ 
nen auch auf der Universität das 
Wissen nur so „zufliegt“, und die doch 
verbummeln, und zwar gerade deswe¬ 
gen, weil es das Schicksal mit ihnen zu 
gut gemeint hat, weil sie nicht ge¬ 
nug Schwierigkeiten hatten, keine 
Kämpfe, keine Opfer nötig hatten. 

Diese Typen sollen nur daran erin¬ 
nern, daß auch bei der schönsten und 
psychologisch bestbegründeten Staffe¬ 
lung die geistige Entwickelung beson¬ 
ders der einseitig Begabten durchaus 
nicht so geradlinig und ohne Sprünge 
verläuft, wie wir Lehrer es wünschen 
möchten. Vor allem aber sollen sie dar¬ 
auf hin weisen — und zwar mit großem 
Nachdrude —, daß es für die meisten 
Menschen ein Unglück wäre, wenn sich 
ihnen die Bildungswege gleichsam von 
selbst ebneten. Ich möchte die Schwierig¬ 
keiten, die sich meinem Bildungsgang 
in den Weg stellten, nicht missen, am 
allerwenigsten die äußeren, die pekuni¬ 
ären. Natürlich, wenn ein Hochbegabter 
ganz und gar vergeblich an der Kette 
seiner Armut zerren muß, das ist tief 
bedauerlich und sollte in einem Kultur¬ 
staate möglichst selten oder nie Vorkom¬ 
men. Aber die Statistik zeigt, daß schon 
jetzt der kleine Mittelstand, ja selbst der 


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Willibald Klatt, Pädagogik und Politik 


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Arbeiterstand Kinder zur höheren Schule 
schickt, und wenn dem letzteren nicht 
gepredigt würde, daß Sparen unsittlich 
sei, so wäre er vielleicht noch viel öfter 
in der Lage dazu als etwa die kleinen 
Beamten oder Kaufleute. Vor die Tu¬ 
gend haben nun einmal die Götter den 
Schweiß gesetzt; und wenn man auch 
gewiß dafür eintreten muß, daß in be¬ 
sonderen Fällen neue, reichere Hilfs¬ 
quellen eröffnet werden, so tut man aus 
volkserzieherisctien, also staatspädago¬ 
gischen Gründen nicht gut, den „An¬ 
spruch“ auf unentgeltliche Förderung je¬ 
des Talents großzuziehen. 

Ebenso wie Eltern oft dem Lehrer un¬ 
recht geben werden, der über die Gabe 
ihres Kindes aburteilt, weil sie auf 
Grund tausendfacher Beobachtung es 
doch besser zu kennen sich bewußt 
sind, ebenso sollte man auch den El¬ 
tern nicht die Hauptsorge und die 
Hauptlast der Berufsvorbildung abneh¬ 
men. Diejenigen, die „es sich leisten kön¬ 
nen“, würden sich doch nie hindern las¬ 
sen, ihr Kind privatim ausbilden zu las¬ 
sen, wenn die öffentliche höhere Schule 
es als unfähig abweist. Ebenso sollte die 
Schule es sich zehnmal überlegen, ehe 
sie Kinder der niederen Stände in die 
höheren Schulen hineinnötigt. Ob die Be¬ 
gabungsprognose stichhaltig bleibt, dar¬ 
über entscheidet eben nicht bloß der In¬ 
tellekt (der übrigens auch viele Überra¬ 
schungen bereitet), sondern auch der 
Charakter (dessen Entwicklung nie¬ 
mand Voraussagen kann). Und die 
Verantwortung für die Zukunft und die 
Berufswahl müssen auch in Zukunft die 
Eltern und späterhin die Zöglinge selbst 
tragen, wenn auch die Schule ihren Rat 
nie verweigern wird. 

II. 

Nun aber wird gerade von manchen 
Anhängern der .Einheitsschule den El- 


tem die Fähigkeit und damit das Recht, 
über Bildungsgang und Erziehung ihrer 
Kinder die Entscheidung zu treffen, ab¬ 
gesprochen. 3 ) Und wenn es richtig ist, 
daß der Staat um seiner selbst willen die 
Aufgabe hat, alle Talente zu ermitteln 
und ihnen die höchste nur irgend mög¬ 
liche Förderung angedeihen zu lassen, 
dann gilt, was ich schon oben ange¬ 
deutet habe: dann hat der Staat 
das Recht, ja die Pflicht, auch gegen den 
Willen der Eltern die begabten Köpfe 
zur höchsten Entfaltung ihrer Gaben zu 
zwingen, und er darf andrerseits die un¬ 
begabten in bestimmte Bildungsschran¬ 
ken zurückweisen. Auch Professor Rein 
sagt jaUnsre innere Politik ist darauf 
gerichtet, aus pmserm Volk einen Orga¬ 
nismus herzustellen, der sein Ideal in 
der höchsten denkbaren Kultur sieht und 
ihrer allmählichen Verwirklichung nach¬ 
eifert.“ 

Hier muß ich nun aber — auf die Ge¬ 
fahr hin, für sehr rückständig erklärt zu 
werden — den eigentlichen Hauptein¬ 
wand erheben, und hier erst wird sich 
zeigen, warum ich diese Arbeit „Päd¬ 
agogik und Politik“ überschrieben habe. 
(Ich hätte auch „Schulpädagogik und 
Staatspädagogik“ sagen können.) 

Ich behaupte nämlich — und gerade 
Professor Rein als Anwalt der „Erzie¬ 
hungsschule“ müßte mir eigentlich bei¬ 
pflichten — folgendes: Der Staat hat 
durchaus nichtein unbedingtes Interesse 
daran, daß alle Talente zur höchsten 
Entfaltung kommen, aus dem einfachen 
Grunde, weil er keinerlei Gew’ähr dafür 
hat, daß diese Talente nicht zum 
Teil auch in einem den Zwecken des 


3) Der Sozialpädagoge P. Berge mann 
fordert z. B., daß den zur Erziehung un¬ 
fähigen Eltern ohne Rücksicht auf den Stand 
die Kinder fortgenommen werden sollen, 
und A. Döhring will sogar den Eingriff 
des Staates „von Anbeginn des Lebens“. 



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Willibald Klatt, Pädagogik und Politik 


1266 


Staates durchaus feindlichen Sinne Ver¬ 
wendung finden werden. Wenn ich dies 
sage, so liegt darin nicht etwa eine ver¬ 
blümte Befürwortung des „beschränkten 
Untertanenverstandes“, noch weniger 
die Befürchtung, daß dieser oder jener, 
der durch Eröffnung aller Bildungsmittel 
sich in eine höhere soziale Schicht erhebt, 
in dieser Schicht notwendig als Fremd¬ 
körper erscheinen und eine zersetzende 
Wirkung ausüben müsse. Es ist vielmehr 
der auch von Kerschensteiner mit Nach¬ 
druck ausgesprochene Gedanke, den er 
auf viele peinliche Wahrnehmungen im 
Münchner Schulwesen stützt, daß die in 
Frage stehende Staffelung zur Ver¬ 
ödung der oberen Klassen der Volks¬ 
schulen führt und die Mittelschulen fast 
ganz überflüssig macht. Alles drängt, 
wie Kerschensteiner sich ausdrückt, zur 
Staatskrippe, und die Volksschule behält 
auf ihrer Oberstufe nur die schlechteren 
Köpfe. Das ist aber ein großer Unsegen 
für das Handwerk, dessen Förderung be¬ 
kanntlich Kerschensteiner seine großzü¬ 
gigen Fortbildungsbestrebungen gewid¬ 
met hat. Der Staat hat nicht daran ein 
Interesse, daß möglichst viele Talente 
diejenige höhere Bildung erlangen, 
deren sie fähig sind, sondern daß in a 1- 
len Schichten, also auch in der Arbeiter¬ 
schicht, möglichst viel Intelligenz vor¬ 
handen sei und daß diese der jeweiligen 
Schicht zugute komme. Kerschensteiner 
hat vortrefflich nachgewiesen, daß das 
Grundübel, an dem unser Volk — beson¬ 
ders im seinen arbeitenden Ständen — 
krankt, nicht der Mangel an Verstandes¬ 
bildung, sondern das Fehlen der „staats¬ 
bürgerlichen Gesinnung“ ist. Und auch 
der Süvernsche Schulgesetzentwurf von 
1819, den die Einheitsschulfreunde so 
gern als das erste große Programm der 
Einheitsschule hinstellen, hat —wie Pro¬ 
fessor Seibt kürzlich im „Deutschen 
Philologenblatt“ ausgeführt hat — zwar 


Übergangsmöglichkeiten von der niede¬ 
ren zur mittleren und höheren Schule 
ins Auge gefaßt, aber ausdrücklich be¬ 
tont, daß die höhere Schule ihre Eigen¬ 
art den andern Schulen nicht anpassen 
könne, sondern daß allenfalls das Um¬ 
gekehrte zu geschehen habe. Das Große 
an den Bestrebungen Süverns war viel¬ 
mehr der Gedanke, das gesamte Schul¬ 
wesen der Erziehung der Staatsge- 
sinnung dienstbar zu machen, und das 
ist auch die Aufgabe, die neuerdings 
wieder ein Mann, der in vielem auf 
Fichtes Schultern steht, der Inhaber des 
Lehrstuhls für Pädagogik an der Univer¬ 
sität Berlin, Ferd. Jak. Schmidt, als 
die einzige gemeinsame Aufgabe aller 
Schulen bezeichnet. Nicht möglichst 
weitgehende Gleichheit der Bildung, 
sondern Gleichheit und Einheit der Er¬ 
ziehung muß nach Schmidt das Ziel 
aller Schulen werden. „Das segensreiche 
Gedeihen der Natiorialgemeinschaft be¬ 
ruht gerade darauf, daß ihr geistiges 
Volksleben von der Idee einer mannig¬ 
faltigen und kraftvollen Gliederung, 
nicht aber von der Doktrin der soziali¬ 
stischen Gleichmacherei beherrscht 
wircL“ Gewaltpädagogik nennt er die 
Eimheitsschulbestrebungen, und er er¬ 
wartet von ihnen „Förderung der schein¬ 
baren auf Kosten der wahren Talente“, 
weil er überzeugt ist, daß viele, die in 
der Grundschule als hochbegabt erschei¬ 
nen, später — bei den gänzlich anders¬ 
artigen Anforderungen des höheren 
Schulbetriebs — versagen werden. „Alle 
Schüler aller Schularten müssen zu per¬ 
sönlichen Vertretern des einen, gleichen 
Nationalethos erzogen werden“, und 
„nur die sittliche, nicht die intellektu¬ 
elle Bildung kann ein ganzes Staatsvolk 
zu einer nationalen Geistesgemeinschaft 
verbinden. 4 ) 


4) F. J. Schmidt, Das Problem der natio 





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1207 


H. Oldenberg, Eine indisch-französische Dichtung 


1268 


Es wäre ja gewiß sehr angenehm, wenn 
sich ein Aufbau des Schulwesens finden 
ließe, hei dem jeder Schüler in Dorf und 
Stadt jederzeit in die Bildungsanstalt 
übergehen könnte, die seiner besondem 
Begabung und seinen Neigungen oder 
seinem Berufsziele entspräche. Aber ab¬ 
gesehen davon, daß das bei der Mannig¬ 
faltigkeit und Verschiedenheit der Be¬ 
gabungen niemals auch nur annähernd 
durchführbar wäre (von den Kosten zu 
schweigen), so würden Volks- und Mit¬ 
telschule in ihrer Eigenart schwer leiden, 
wenn sie immer nach der nächsthöheren 
Schule hinüberschielen und ihre begab¬ 
testen Zöglinge an sie abgeben müßten, 
während andrerseits die höhere Schule 
ihrem Zwecke nicht mehr gerecht wer¬ 
den könnte, wenn sie ihren Lehrplan 
nicht nach eignem Bedarf aufbauen, ihre 
erzieherische Aufgabe nicht von der 
Kindheit an an ihren Schülern mit den 
auf ihrem eigenen Kulturwege“ liegen¬ 
den Mitteln verfolgen könnte. 

nalen Einheitsschule. (Vorträge und Auf¬ 
sätze aus der Comenius-Gesellschaft XXV 1. 
Jena, Diederichs, 1916.) 


Die Vertreter der „Erziehungsschule“, 
als deren eifrigster Führer Professor 
Rein sich seit Jahrzehnten betätigt hat. 
hätten eine fruchtbarere und aussichtsrei- 
chereAufgabe, als sie die Einheitsschulbe¬ 
strebungen versprechen: nämlich die hö¬ 
here Schule immer wieder daran zu erin¬ 
nern, daß auch sie in erster Linie eine 
Erziehungsschule sein soll, und ihr 
zu zeigen, wie sie sich davon befreien 
kann, eine Fachschule oder vielmehr eine 
Anhäufung mehrerer Fachschulen auf 
einmal zu sein. Kann und soll sie 
zugleich Fach- und Erziehungsschule 
sein? Wieweit darf sie sich ins Fach¬ 
schulwesen verlieren, ohne das höchste 
Ziel aller Schulen, das der Erziehung zur 
sittlichen Persönlichkeit und zum be¬ 
wußten Gliede der nationalen Gesamt¬ 
heit, zum deutschen Staatsbürger, preis¬ 
zugeben? Diese Fragen waren auch für 
Fichte, Humboldt und Süvem wohl 
wichtiger als die der mechanischen Staf¬ 
felung der deutschen Bildungsanstalten. 
In ihnen berühren sich Pädagogik und 
Politik. 


Eine indisch-französische Dichtung. 

Von H. Oldenberg. 


Deutsche Truppen in Saint-Quentin: 
dort ist die unvergleichliche Sammlung 
La Tourscher Porträts. Und ein kunst- 
geschichtliches Prachtwerk entsteht, das 
dem französischen Meister huldigt, her- 
ausgegeben von — einem deutschen Re¬ 
servekorps. 

Ganz im kleinen möchte ich hier et¬ 
was Ähnliches tun, wie man es dort in 
so viel größerem Maßstab ausgeführt 
hat: von einer französischen Dichtung 
erzählen, die mir auf weit abliegenden 
Wegen philologischer Forschung be- ! 


J gegnet ist. Ein Zufall machte mich 
darauf aufmerksam — natürlich bean¬ 
spruche ich nicht, das zuerst gesehen 
zu haben —, daß ein von mir unter¬ 
suchter altindistfier Text eins* das 
Interesse eines großen Dichters der 
feindlichen Nätion erregt hat und einer 
seiner Schöpfungen zugrunde liegt, in 
denen seine Eigenart sich mächtig aus¬ 
spricht. 

Von diesem Gedicht und seiner in¬ 
dischen Quelle will ich berichten. 

Der alte Textisteine Upanlshad — 


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H. Oldenberg, Eine indisch-französische Dichtung 


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einer der theosophischen Traktate, die 
zur Literatur der Veden gehören. Der 
Dichter aber ist Victor Hugo. 

In der Meer- und Felseneinsamkeit von 
Guernsey — der rechten Umgebung — 
afliegen ihm jene Visionen auf, die er 
in den ersten Teilen der Legende des 
stecles verkörpert hat: das grandiose 
Bild der ganzen Menschheit „in einer 
einzigen, unermeßlichen Bewegung des 
Aufsteigens zum Licht", über jene Wei¬ 
ten von Raum und Zeit hin, 

.wo Indien sich in Deutschland hat ver¬ 
wandelt“ — 

grenzenlose Pfade, dunkel und lichtum- 
strömt, beschritten von Göttern und 
Halbgöttern, von den kolossalen Mäch¬ 
ten der Natur, von Tyrannen, Helden, 
Duldern. In Götterwelten liegen die 
Tore, durch die der Eingang in die 
Reiche der Menschheit führt. Auf der 
einen Seite sieht man Jehova, Kain, 
Jesus. Auf der andern hellenische Ge¬ 
stalten: so Phtos den Titanen, der in 
die Abgründe der Unendlichkeit hinab- 
geschaut und in den ungeheuren Fin¬ 
sternissen ein Auge entdeckt hat; nun 
ruft er furchtbar in die lachende Heiter¬ 
keit der Olympier hinein: „GötterI Es 
ist ein Gott!“ 

Zwischen Biblischem und Griechi¬ 
schem steht ein kurzes Stück in der 
Mitte. Es ist überschrieben Suprema¬ 
tie. In welches Land es führt, sagen die 
Namen der Götter, die dort auftreten: 
Vayu, Agni, Indra. Das sind indische 
Götter — nicht die allbekannten des 
heutigen Indien, wie Vishnu und Shi- 
va, sondern Götter des hohen indischen 
Altertums, der Veden. Jene drei, er¬ 
zählt der Dichter, haben die Dämonen 
und Ungeheuer bezwungen. In der Höhe 
haben sie sich hingesetzt, und jeder von 
ihnen am Haupte mit einem Stern ge¬ 
schmückt haben sie gesprochen: „Wer 
ist Gott? Wir allein!“ 

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Da plötzlich erhebt sich in den Fin¬ 
sternissen vor ihnen ein Licht wie“ ein 
Mondstrahl in Waldesgründen oder wie 
der Schein eines Leuchtturms auf einem 
Riff — schweben dem Dichter nicht die 
Leuchtfeuer vor, die überall auf den 
Klippen um Guernsey den Schiffer lei¬ 
ten und warnen? Die Götter erstaunen: 
was ist jenes Licht? Vayu, der Wind, 
wird es erforschen. Er geht auf die Er¬ 
scheinung los:„Wer bist du?“ „Wer bist 
du selbst?“ fragt jene. „Ich bin Vayu, 
der Wind,“ „Und was kannst du?“ „Ich 
kann die Eichen beugen, jede Kette zer¬ 
brechen, die Erde durch die Sterne hin¬ 
wehen, so leicht wie man Spinngewebe 
zerreißt!“ Da legt das Phantom einen 
Strohhalm vor ihm nieder: „So wehe 
dies hinweg!“ Mächtige Verse malen, 
wie da vor Vayus Stürmen das Univer¬ 
sum erbebt. Aber 

.der Strohhalm ihm zu Füßen rührt sich 

nicht“. 

Vayu kehrt um, er hat das Geheimnis 
nicht ergründet. Nun versucht es Agni, 
der Gott des Feuers. Das rätselhafte 
Licht befiehlt ihm, den Strohhalm zu 
verbrennen. Agni läßt seine ganze Flam¬ 
menglut auflodem: so kocht der Vesuv, 
der Hekla. Aber der Strohhalm bleibt un¬ 
versehrt. Nicht einmal der Rauch jenes 
Weltenbrandes hat ihn berühren kön¬ 
nen. Nun ist die Reihe an Indra, dem 
Gott des Raumes. „Was ist deine Kraft, 
o Gott?“ „Die Unendlichkeiten durch¬ 
schaue ich! Ich weiß alles! Ich sehe al¬ 
les! Wäre ein Wesen mir unsichtbar, 
wäre jenes der Gott, nicht ich.“ „Siehst 
du diesen Strohhalm?“ „ Ich sehe ihn, 
du Licht! Mein Blick umfaßt das All. 
Vor ihm kannst selbst du nicht ver¬ 
schwinden !“ 

.So sprach der Gott Da war das Licht 
verschwunden.“ — 

Und nun schreiten wir über ei¬ 
nen Zeitraum von wohl mehr als dritt- 

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H. Oldenberg, Eine indisch-französische Dichtung 


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halb Jahrtausenden hinüber, von der 
nördlichen Felseninsel zum Ganges, von 
der Lügende des siedes zur alten Upa- 
nishad. 

Die Upanishaden sind, wie bekannt, 
der Verherrlichung des Brahma gewid¬ 
met, des all-einen Wesens, das die Spe¬ 
kulation der Brahmanen über, hinter 
der bunten Götterwelt der alten Opfer¬ 
hymnen entdeckt hatte. Das Brahma ist 
der ungesehene Seher, der ungehörte 
Hörer, der unerkannte Erkenner — das 
„Nein, Nein“, von dem doch zur Men¬ 
schenseele gesprochen wird: Tat tvam 
asi — „das bist du“. Die Kena Upa- 
nishad, mit der wir es zu tun haben, 
sagt vom Brahma: 

„Nur wer es nicht denkt, hat’s gedacht; 

Wer es denkt, der erkennt es nicht: 

Unverstehbar Verstehendem, 

Verständlich dem, der nicht versteht.“ 

Zwischen solchen Worten, die das Brah¬ 
ma in die letzten Tiefen des Unfaßbaren 
verlegen, gibt nun die Upanishad eine 
Erzählung, in der das Gestaltlose zwar 
rätselhafte Gestalt, aber doch immerhin 
Gestalt angenommen hat. 

Das Brahma hat für die Götter den 
Sieg über die bösen Geister gewonnen. 
Die Götter aber brüsten sich, als hätten 
sie selbst gesiegt. „Da zeigte das Brah¬ 
ma sich ihnen. Und sie erkannten es 
nicht: „Was ist das für ein Wunder¬ 
ding?“ Sie sprachen zu Agni: „Wesen¬ 
kenner, erforsche du, was das für ein 
Wunderding is>t.“ Er sagte: „Das will 
icn tun“, und lief darauf los. Da sprach 
jenes z)u ihm: „Wer bist du?“ „Agni bin 
iah“, erwiderte er, ,,der Wesenkenner bin 
ich.“ „Wenn du der bist, was für eine 
Kraft hast du?“ „Ich kann alles verbren¬ 
nen, was auf Erdenist“ Da legte ihm das 
Brahma einen Grashalm hin und sprach: 
„Verbrenne dem“ Da ging er darauf 
los mit allem Ungestüm, aber er konnte 
ihn nicht verbrennen* Und er kehrte 
um: „Ich habe nicht erforschen können. 



was das für ein Wunderding ist.“ Nun 
wiederholt sich dieselbe Szene mit Va- 
yu. Der kann alles fortreißen, was auf 
Erden ist. Aber vor dem Grashalm ver¬ 
sagt er. Zuletzt folgt Indra. „Er lief dar¬ 
auf los. Da verschwand es vor ihm/ 4 
Indra begegnet einem schönen Weibe 
Uma, der Tochter des Himalayaberges.) 
Von ihr hört er, daß jenes Wunder¬ 
ding das Brahma gewesen ist. Darum 
sind jene drei Götter, und vor allem In¬ 
dra, über die andern Götter erhaben. 
Denn sie hatten das Brahma am näch¬ 
sten berührt und zuerst erkannt, daß es 
das Brahma ist. 

Dies die Erzählung der Kena Upani- 
shad. Irre ich nicht, so hat der theolo¬ 
gische Verfasser hier — es wäre nicht 
der einzige derartige Fall — ein altes 
Märchenmotiv seinen Spekulationen an¬ 
gepaßt Man weiß ja, wie viele solcher 
Motive jede Grenze der Länder, der Kul¬ 
turen, der Jahrtausende überspringend 
eine Art Allgegenwart auf Erden besitzen. 
So kehrt überall wieder, was man „das 
Märchen von den Menschen mit den 
wunderbaren Eigenschaften“ genannt 
hat: eine Anzahl starker oder kunstrei¬ 
cher Männer tritt auf, von denen jeder 
irgendeine bestimmte Kraft in höchster 
Vollendung besitzt — in einem solchen 
Märchen der Trinker, der Esser, der Frie- 
rer, der Läufer, der Schütz; in einem 
andern der Riesenstarke, der Bläser, der 
Schütz, der Scharfsichtige, der Läufer — 
und so fort in zahllosen Abwandlun¬ 
gen. 2 ) Hier also erscheinen zwei Starke, 

1) Woher diese? Stammt sie aus einer 
älteren Gestalt der Erzählung, in der es 
sich vielleicht nicht um das Brahma, son¬ 
dern um Shiva, den Gatten der Uma, han¬ 
deln mochte? 

2) In der Regel allerdings, anders als 
im vorliegenden Fall, so, daß alle diese 
Männer als Diener oder Gefährten dem 
Helden des Märchens hilfreich sind. Wer 
über diesen Märchentypus Näheres zu wis¬ 
sen wünscht, sei auf Benfeys Aufsatz ver¬ 
wiesen: „Das Märchen von den Menschen 


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H. Oldenberg, Eine indisch-französische Dichtung 


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die, wie »es in solchen Märchen zu ge¬ 
schehen pflegt gefragt werden: Was 
kannst du?, und die sich als der große 
Brenner und der große Bläser zu erken¬ 
nen geben; beim dritten kommt es nicht 
so weit, daß er seine besondere Kraft 
nennen und erproben kann. Das Mär¬ 
chen ist halb Märchen geblieben, halb 
aber ist es zum Ausdruck — nicht dem 
reinsten Ausdruck — für den großen 
Upanishadgedanken geworden: über al¬ 
lem Gewaltigsten des Diesseits gibt es 
ein wunderbares Jenseitiges, vor dem 
das hienieden Größte zu kraftlosem 
Schein herabsinkt. Ohne Kunst, kindlich 
unbeholfen beschreibt die Upanishad, 
wie die Götter herumlaufen, sich über 
den seltsamen Anblick wundern, als 
starke Leute ihre Kraft versuchen. Ne¬ 
ben dem Geplätscher dieses Märdhen- 
bachs klingt die Sprache Hugos wie das 
Brausen sturmgepeitschter See. In der 
indischen Erzählung verschwindet das 
Brahma so wie Götter und Geister eben, 
wenn sie ihre Arbeit getan haben, wie¬ 
der zu verschwinden gewohnt sind; da¬ 
nach geht die Geschichte weiter: eine 
schöne Frau gibt die Lösung des Rät¬ 
sels. Dieser Ausgang ist von Hugo 
selbstverständlich weggeschnitten. „Mir 
kannst du nicht verschwinden“, hat In¬ 
dra gesagt. Da war das Licht ver¬ 
schwunden. Jählings der Aktschluß ei¬ 
nes letzten Akts .. . 


mit den wunderbaren Eigenschaften“ (Klei¬ 
nere Schriften III, 94ff.); ferner auf Bolte- 
Polivkas Anmerkungen zu den Kinder- 
und Hausmärchen der Gebrüder Grimm 
II, 86ff. (zum Märchen: „Sechse kommen 
durch die ganze Welt“); Cosquin, Contes 
populaires de Lorraine I, 23ff. — In den¬ 
selben Zusammenhang scheint mir eine Er¬ 
zählung der Veden zu gehören, wo sich 
zwei Götter begegnen und der eine sagt: 
„Ich bin der Treffer im Versteck. Wer aber 
bist du?“ „Ich bin der Holer aus dem Ver¬ 
steck.“ Worauf die beiden ihre Kunst am 
Eber Emusha hinter den sieben Bergen 
beweisen. 


Die Upanishaden mit ihrer Brahma¬ 
mystik, ihrem Helldunkel, dem Herein¬ 
leuchten stillen Sonnenscheins in die flie¬ 
ßenden Nebel sind unter den Schöpfun¬ 
gen Indiens wohl nicht das, was auf den 
französischen Geist die stärkste An¬ 
ziehung üben konnte. Ein Franzose, An- 
quetil Duperron, hat Europa die erste 
Kunde von diesen wundersamen und 
wunderbaren Werken gebracht. Aber die 
Schätze auszuschöpfen, die dort ruhen, 
diese — es darf nicht verschwiegen wer¬ 
den — zwischen viel leerem Wortge¬ 
klingel sich auftuenden ahnungsvollen 
Tiefen zu durchsinnen und zu durchfüh¬ 
len, waren doch wohl vor allem Deut¬ 
sche berufen: man braucht nur Schopen¬ 
hauer zu nennen. Ließ sich denken, daß 
in Frankreich eben Hugo zu diesen Emp¬ 
fänglichen gehörte? Ich weiß nicht, wie 
weit seine Lektüre der Upanishaden ge¬ 
reicht hat. Aber auch wenn er die Teile 
von ihnen kannte, die man das innerste 
Heiligtum der Upanishaden nennen 
möchte, wo das Mysterium am ein¬ 
dringlichsten ausgesprochen wird: es ist 
doch, scheint mir, begreiflich, daß sich 
seine Aufmerksamkeit vielmehr eben auf 
diese Erzählung lenkte, in der das 
Brahma — bezeichnenderweise nennt er 
dessen Namen nicht — greifbar verkör¬ 
pert einen Wettstreit mit persönlichen, 
in bunter Gestalt dem Auge erscheinen¬ 
den Gegnern besteht. Ihm, dem Dichter 
gewaltigster Antithese, fiel offenbar vor 
allem die Antithese in die Augen, wel¬ 
che diese Stelle der Upanishad enthält 
und die sich so machtvoll steigern ließ. 
Hier die Götter in der engen Selbstge¬ 
nügsamkeit ihres Wesens, dort die rät¬ 
selhafte, unendliche Macht. Das schwei¬ 
gende Verschwinden der Erscheinung 
ruft den kleinen Größen des vedischen 
Himmels dasselbe zu, was der Dichter 
jene Stimme des Titanen den Olympiern 
zurufen läßt: O dieux, il est un Dieu! 






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Nachrichten und Mitteilungen 


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Nachrichten und Mitteilungen. 


Zur Wiedereinführung der Sommerzeit 
Die Wiedereinführung der Sommerzeit 
auch in diesem Jahre hat den Mitgliedern der 
Pariser Acad6mie des Sciences Anlaß zu aller« 
lei geschichtlichen Betrachtungen gegeben, 
bei denen nidit bloß auf die Stundenrech' 
nung der Türken und Japaner, sondern 
auch auf das alte Babylon zurückgegriffen 
wurde. Was dabei die gelehrten französi¬ 
schen Mathematiker, Techniker und Natur¬ 
forscher äußerten, scheint sich nicht ganz 
mit den Ergebnissen gededct zu -haben, 
welche die historische Wissenschaft in be¬ 
zug auf die Geschichte der menschlichen 
Zeitrechnung anerkennt, und die zuletzt 
der Observator am Kgl. preußischen astro¬ 
nomischen Recheninstitut, Professor F. K. 
Ginzel, in der groß angelegten Neubearbei¬ 
tung des alten Idelerschen Handbuchs der 
Chronologie mit aller Gründlichkeit zu- 
sammengefaßt hat. Aber es verlohnt sich 
nicht, in einer Zeit gewaltiger Gegensätze 
über Kleinigkeiten zu streiten. Besser wird 
es sein, auch mit den eigenen Gedanken 
den Weg eines historischen Rückblickes 
einzuschlagen, indem wir zum zweitenmal 
unsere Uhr auf Sommerzeit stellen. 

Als das zum erstenmal geschehen sollte, 
ist |es nicht jedem leicht geworden; auch 
abgesehen von kleineren Sorgen hatte doch 
mancher das bange Gefühl eines Sprunges 
ins Dunkle. Gerade wer sich des hohen 
Wertes genauer und gemeinverständlicher 
Tageseinteilung recht bewußt war, dem 
konnte es in bedenklichem Licht erscheinen, 
daß mit plötzlichem Ruck mitten im Krieg 
ein durch Jahrhunderte erprobter Kultur¬ 
besitz urogestaltet werden sollte. Nachdem 
nun aber das Wagnis das eine Mal ge¬ 
lungen, und da man dies- und jenseits der 
Schützengräben daran gegangen ist, es 
zu wiederholen, ist vielleicht die nötige 
Ruhe eingekehrt, um die Sache in etwas 
größerem Zusammenhang anzusehen. Da¬ 
bei ergibt sich bald, daß unsere bis 1916 
ausschließlich gebrauchte Stundenordnung 
gar nicht so ehrwürdigen Alters war, als 
der oder jener meinte. Es gibt unter den 
Zeitgrößen, mit denen wir Tag für Tag ge¬ 
duldig Weiterarbeiten, viel ältere. Man 
denke an die aus jüdischem Ritus und 
ägyptischer Sterndeuterei hervorgewachsene 


und vielleicht auch durch sie nur hindurch- 
gegangene siebentägige Woche, nach der 
wir unsere Arbeit richten; an die mit un¬ 
gleicher Tageszahl bemessenen und den¬ 
noch bis heute gleich bezahlten Monate, 
die einst Julius Cäsar, hierin ein recht zag¬ 
hafter Neuerer, aus dem abergläubischen 
Kalender der römischen Republik zusam- 
menflickte; oder man denke an das unser 
akademisches Leben störende, aber auch 
von anderen Kreisen längst als Nachteil 
empfundene Hin- und Herschwanken des 
Osterfestes, das als ein Überbleibsel eines 
den führenden Völkern der Erde fremd¬ 
gewordenen uralten Mondjahres immer noch 
fortlebt. Im Vergleich zu solchen Alter¬ 
tümern unseres zeitrechnerischen Haushal¬ 
tes, welche die Last der Jahrtausende so 
merklich an sich tragen, ist die Stunde und 
die Form, in der wir sie jetzt handhaben, 
fast eine moderne Sache zu nennen. Als 
praktischer Behelf des täglichen Lebens 
steht sie nicht einmal sechshundert Jahre in 
Gebrauch, and die uns geläufige Zählweise 
ist in deutschen Landen überhaupt nicht viel 
länger als ein Jahrhundert alleinherrschend 
gewesen. Vorher gab es auch da recht be¬ 
deutende örtliche Verschiedenheiten. Man 
kann also abseh en von der 24stündigen 
Zählweise jenseits der Alpen, deren ältere 
Form Goethe zu Beginn seiner Italienischen 
Reise eingehend beschrieben hat; und man 
kann auch den kühnen, aber ergebnislosen 
Versuch der Franzosen beiseite lassen, die 
im Jahre 2 der Republik das Dezimalsystem 
bis auf die Einteilung des Tages ausdehnen 
wollten; auch unsere eigenen Vorfahren 
haben mehrfache Reformen der Stunden- 
rechnung erlebt, und ihre Chronometer, so¬ 
weit sie welche besaßen, schon bei ver¬ 
schiedenen Gelegenheiten neu einzurichten 
gehabt. Nur darin liegt also für den weiter 
Zurückblickenden das Neuartige der 1916 
getroffenen Umgestaltung, daß sie so glatt, 
so gleichmäßig, in so weit ausgedehnten 
Gebieten mit einem Schlag volliührt wurde. 
Bei dieser Einheit des Handelns, der die 
Geschichte nichts Gleiches an die Seite zu 
stellen hat, darf neben der zweckmäßig 
angewandten Macht des Staates auch das 
Zusammenarbeiten wissenschaftlicher Kräfte 
nicht vergessen werden, dem die Vortoe- 


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Nachrichten und Mitteilungen 


dingung und Vorbereitung dieses großen 
Schrittes zu danken ist Von den 1883 zu 
Rom gefaßten Beschlossen der Europäi- 
Gradmessungskommission, welche die Welt¬ 
zeit nach dem Meridian von Greenwich, 
regelten, bis zu der 1912 in Paris abgehal¬ 
tenen Internationalen Stundenkonferenz, 
die um den ganzen Erdball ein Netz von 
funkentelegraphischen Stationen mit täg¬ 
licher Abgabe vorherbestimmter Zeitsignale 
legte, zieht sich eine ganze Reihe von sol¬ 
chen Ober die Stundeneinteilung getroffe¬ 
nen Verabredungen, die ebensosehr der 
Wissenschaft als dem Verkehr zu dienen 
hatten. Erst durch diese großzügige Kultur¬ 
arbeit sind wir an jene strenge Gleichheit 
und feste Ordnung in den Fragen unserer 
Zeiteinteilung gewöhnt worden, die in der 
allgemeinen Einführung der Sommerzeit 
eindrucksvoll zutage trat und die, hatten 
wir nicht Krieg, in lauten Tönen als ein 
Zeichen des Kulturfortschritts gepriesen 
worden wäre. 

Es kann die Wertschätzung dieser chro¬ 
nologischen Neuerung nicht vermindern, 
ja vielleicht trägt es zu ihrer vollen Wür¬ 
digung bei, wenn hier an eine vergessene 
Vorläuferin der Sommerzeit erinnert wird. 
Nicht gar weit von uns, in einer Stadt am 
Rhein, haben einst die Uhren schon durch 
vier Jahrhunderte fast genau so geschlagen, 
wie sie es während des vorigen Sommers 
im ganzen Deutschen Reich und darüber 
hinaus tun mußten. Das war in Basel. 
Dort schlug es, wenn die Sonne am höch¬ 
sten stand, nicht »Zwölf“, sondern »Eins“ 
und ebenso wieder .Eins“ zu Mitternacht. 
Diese Eigentümlichkeit der „Basler Uhr“ 
ist schon durch eine Ratsverordnung vom 
Jahre 1422 bezeugt und sie hat in derselben 
Stadt bis 1798 fortbestanden. Die Uhr am 
Münster zu Basel wird also wohl schon 
seit ihrer Aufstellung, die vor 1381 ge¬ 
schehen sein muß, denselben Gang ein¬ 
gehalten haben. Verglich man sie mit den 
Uhren der Nachbarstädte oder auch der 
umliegenden Dörfer, die sich freilich erst 
später den Luxus solcher Zeitmesser ge¬ 
stattet haben werden, so schien die Basler 
Uhr allemal um eine Stunde vorauszugehen. 
Wie das gekommen, darüber gab es dort 
mancherlei Gerede und Kopfzerbrechen. 
Sebastian Brant, der Verfasser des„Narren- 
schiffs“, hat zur Erklärung gleich vier lustige 
Geschichtlern aufgetischt, von denen eine 
den Brauch gar auf Herkules zurückführt, 


der, von Spanien über die Vogesen nach 
Griechenland heimkehrend, dem guten 
Elsässer Wein etwas zu lange zu sprach 
und zur Hereinbringung der verlorenen Zeit 
beim Aufbruch am andern Morgen den 
Baslern die Vorwegnahme einer Stunde 
anbefahl. Der um die Erforschung älterer 
Tageseinteilungsformen vielverdiente Gu¬ 
stav Bilfinger hat in seinem Buch über „die 
mittelalterlichen Horen und die modernen 
Stunden“ (Stuttgart 1892) diese Dinge hübsch 
zusammengestellt und zweifellos das Rich¬ 
tige getroffen, wenn er nicht bloß solche 
Märchen, sondern alle auf absichtliche Vor¬ 
rückung des Zeigers hinauslaufenden Er¬ 
klärungen der „Basler Uhr“ ablehnte. Was 
man in Basel übte, war nach seinen Aus¬ 
führungen nur eine Anwendung des auch 
sonst hier und da auftauchenden Brauches, 
nach der anfangenden Stunde zu zählen 
anstatt nach der vollendeten. Dachte man 
nämlich bei der Stundenzählung in dem 
Augenblick, da sie zur Einführung kam, 
weniger an den Zeitpunkt des Stunden- 
Wechsels als an den ganzen Zeitraum der 
Stunde, so stand die Wahl frei, ob man das 
Uhrwerk gleich zu Beginn oder erst am 
Schluß eines solchen Zeitraumes die seiner 
Benennung entsprechende Zahl von Schlä¬ 
gen abgeben ließ, und ob demnach der 
oberste Platz des Zifferblattes mit der Zif¬ 
fer 1 oder mit 12 bezeichnet werden sollte. 
In der Mehrzahl der Fälle entschied man 
sich wohl von Anfang an dafür, sowohl das 
hörbare als das sichtbare Zeichen an den 
Schluß des vom Zeiger durchlaufenen Weges 
zu setzen, wie wir ja auch gewöhnt sind, 
den soundsovielten Geburtstag erst nach 
Zurücklegung des betreffenden Lebensjahres 
zu feiern. Aber gleichwie sprachlich kein 
Hindernis bestünde, uns, wenn wir dabei 
nicht ein Mißverständnis zu fürchten hätten, 
ebendieses Ausdrucks für den Anfang des¬ 
selben Zeitabschnittes zu bedienen, so waren 
zunächst auch die Basler ganz im Recht 
mit ihrer von den anfangenden Stunden¬ 
räumen hergeleiteten Zählung. Nur daß sie, 
aller Vereinsamung zum Trotz, so hart¬ 
näckig an ihr festhielten, zog ihnen den 
Spott der andern zu, so daß noch Karl 
Simrock lange nach der Abschaffung der 
„Basler Uhr“ hänselnd von ihr sagen durfte, 
„sie sei in jedem Stücke wohl hundert Jahr 
zurücke und vor ein Stündchen nur“. Der 
gelehrte Dichter hat bei diesen Worten 
nicht vorausahnen können, daß schließlich 


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Nachrichten und Mitteilungen 


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doch die Basler, wenigstens !0r die eine 
H&lfte des Jahres, in gewissem Sinne recht 
behalten sollten. Bewußt oder unbewußt 
hat im vorigen Frühjahr ganz Mitteleuropa 
seine Uhren nach der alten Basler Münster' 
uhr gerichtet, und wir sind, wie es scheint, 
auf dem besten Wege, das zu einer stän¬ 
digen Gewohnheit werden zu lassen. 

Ein großer Unterschied bleibt freilich be¬ 
stehen. Er liegt nicht bloß in der engen 
Örtlichen Beschränktheit jenes Brauches, die 
so grell von der einheitlichen Regelung 
unserer Tage abstidit. Die Hauptsache ist, 
daß sich die Basler in ihren Lebensgewohn- 
heiten von den vorauseilenden Uhren der 
Stadt offenbar nicht weiter stören ließen. 
So wie laut der erwähnten Ratsverordnung 
von 1422 die näditlidie Ablösung der Wäch¬ 
ter nicht etwa um 12 Uhr erfolgen soll, son¬ 
dern „ze Mitternacht, daz es eins slaht“, 
so werden die Bürger dort wohl allezeit 
erst um „Eins“ das Mittagmahl genommen 
haben und des Morgens um keine Stunde 
früher aufgestanden sein, als es bei ihren 
Standesgenossen in Straßburg oder Zürich 
üblich war. Hier wie dort lebte man im 
Grunde trotz Einführung und sorgsam eifer¬ 
süchtiger Pflege der städtischen Uhren doch 
nach der großen, allgemein menschlichen 
Uhr des Himmels. Wir aber wollen nicht 
allein, wie es in Basel eigentlich geschehen 
war, das Zifferblatt um eine Stelle nach 
rückwärts drehen oder statt dessen den 
Zeiger entsprechend vorwärtsschieben, son¬ 
dern wir wollen mit dieser Umstellung der 
Maschine unser eigenes Leben, das nicht 
mehr so sehr an die Natur, sondern in 
höherem Grade an die Stundenzahl gebun¬ 
den ist, verändern. Die Uhr, bisher nur als 
ein Verständigungsmittel der Menschen ge¬ 
schätzt, ist nun ein Mittel zur Ersparung 
künstlichen Lichtes, ein Hebel zur Verbes¬ 
serung der Volkswirtschaft, ein Sporn zur 
höchsten von der Natur gestatteten An¬ 
spannung menschlicher Kraft geworden; 
von uns wie auch von unseren Gegnern 
wird sie als eine unerläßliche Helferin des 
Sieges mit in den Dienst des Kampfes ge¬ 
stellt Das haben sich die alten Basler, 
unsere Vorgänger in der jetzt wieder ange¬ 
nommenen Zählweise, wohl noch weniger 
träumen lassen als die Männer der Wissen¬ 


schaft und des Verkehrs, die in dem fried¬ 
lichen Zusammenwirken der letzten Jahr¬ 
zehnte Weltzeit und Zonenzeit schufen und 
dadurch auch für die Sommerzeit den Weg 
bahnten. 

Innsbruck. W. Erben. 


Pädagogische Auslandsstudien — umfas¬ 
sende, systematische — dringend zu fordern, 
hat Professor P. Rühlmannim diesjährigen 
Juliheft der „Deutschen Schule“ das Wort 
ergriffen. Die in unserer letzten Februar¬ 
nummer abgedruckte Denkschrift des preußi¬ 
schen Unterrichtsministeriums, vom deut¬ 
schen Volke aufgenommen „mit einer Ein¬ 
mütigkeit, die einer staatlichen Denkschrift, 
zumal einer von der Unterrichtsverwaltung 
herrührenden, selten widerfährt“, hat den 
besonders mit dem pädagogischen Frank¬ 
reich vertrauten Schulmann zur Aussprache 
einer schon vordem in ihm feststehenden 
Forderung aufs neue veranlaßt. Zunächst 
zu Nutz und Frommen der deutschen Päd¬ 
agogik, dann aber auch zum Dienst unsrer 
auswärtigen Politik. Dieses zweite Motiv 
hatte Rühlmann schon in dem Artikel der 
Internat. Monatsschrift: „Die französische 
Schulpolitik“ (Sept. 1915) betont; in seiner 
neuen Erörterung jetzt tritt vor allem das 
erste hervor. Zum Schluß skizziert er das 
Tätigkeitsgebiet dieser wissenschaftlichen 
Pflegestätte für das Studium der ausländi¬ 
schen Pädagogik, wie er es etwa vorstellt 
Sie müßte „die moderne pädagogische Li¬ 
teratur des Auslandes sammeln, sichten und 
bearbeiten, sei es in Form der wissenschaft¬ 
lichen Monographie, sei es in Korrespon¬ 
denzen für die pädagogische Presse*. Sie 
hätte „größere Auslandsrundfragen zu wich¬ 
tigen pädagogischen Tagesfragen zu ver¬ 
anstalten, pädagogische Studienreisen zu 
organisieren*. Sie w würde auch dem Aus¬ 
wärtigen Amt die Namen der Schulmänner 
angeben, die als pädagogische Beiräte ein¬ 
zelnen diplomatischen Stellen von Zeit zu 
Zeit beigegeben werden könnten. Dazu 
kommt die wissenschaftliche und praktische 
Vertretung der pädagogischen Interessen 
in den mit uns verbündeten, etwa unserer 
Führung sich anvertrauenden Staaten usw. 
usw.“ 


Für die Schriltleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W 30, Luitpold strafte- 4. 

Druck von B.Q.Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


11. JAHRGANG HEFT 11 1. AUGUST 1917 


Die Reformation. 

Von Adolf von Hamack. 


I. Die römisch-katholische Kirche im Mittelalter. 


Die römisch-katholische Kirche im Mit¬ 
telalter war ein politisches Reich und 
eine Gesinnungsgemeinschaft zu¬ 
gleich. Sie war ein äußeres Reich, mäch¬ 
tiger als das römische Weltreich, dessen 
Erbe sie seit dem 5. Jahrhundert ange¬ 
treten hatte, und sie war die Ausgestal¬ 
tung der christlichen Religion, Sittlich¬ 
keit und Kultur im Abendland. Als Im¬ 
perium besaß sie das Zepter und Schwert 
Cäsars und Konstantins. Als Gesin¬ 
nungsgemeinschaft aber war sie von 
dem Geiste des tiefsten und reichsten 
Mannes durchwaltet, den die Christen¬ 
heit nach dem Apostel Paulus beses¬ 
sen hat, von Augustin, daneben aber 
auch von dem Geist des römischen 
Rechts und dem ihm verschwisterten 
Rationalismus des Aristoteles und der 
Stoa. 

Aber in dem Anspruch, den diese rö- 
misch-augustinische Kirche erhob, ver¬ 
sanken Cäsar und Konstantin ebenso 
wie Augustin, Aristoteles und das römi¬ 
sche Recht; denn sie griff aus der Zeit 
in die Ewigkeit, aus dem Irdischen ins 
Göttliche, begründete von dorther ihr 
Recht und deutete von dorther ihr We¬ 
sen. Schon die Unterscheidung von 
Gesinnungsgemeinschaft und äußerem 
Reich lehnte sie als ketzerisch ab. Weil 
sie Gemeinschaft des Glaubens ist, ist 
sie ein äußeres Reich und umgekehrt: 
so behauptete sie selbst. Sie ist eine 
vollkommene Einheit; denn sie ist das 


sichtbare Reich Gottes auf Erden 
(civitas dei in terris peregrinans), das 
Reich der Gerechtigkeit und Seligkeit, 
ruhend auf der ewigen von Gott selbst 
geoffenbarten Wahrheit und gestiftet zur 
Erlösung der Menschheit vom Sohne 
Gottes selbst. Indem sie diesen Anspruch 
durchsetzte, wurde ihre Machtfülle schier 
unermeßlich. Und sie verstand es, mit 
wenigen großen Sätzen diese Machtfülle 
zu begründen. 

Sie knüpfte dabei an den alten Besitz 
der Christenheit an und verkündete die 
Nichtigkeit alles Irdischen, die jenseitige 
Welt und das ewige Leben, die Schuld¬ 
verhaftung der Menschheit, aber dazu 
die Erlösung von Sünde, Tod und Teufel 
durch Christus und die Stiftung der Kirche 
durch seinen Geist. Erhaben und tief 
war diese Verkündigung und drang bis 
in das Innerste der Seelen. Aber sie fol¬ 
gerte nun, daß diese Kirche als ein 
„Reich“ gegründet sei, ein „Reich“ könne 
aber nur etwas Sichtbares sein; denn es 
müsse gegen die bösen Mächte auf Er¬ 
den kämpfen, sie besiegen und alles 
Gottfeindliche niederzwingen. Und wei¬ 
ter folgerte sie, Christus, der im Himmel 
thronende Herr des Reichs, müsse einen 
von ihm selbst eingesetzten Stellvertre¬ 
ter auf Erden haben; denn kein geschrie¬ 
benes Offenbarungswort, kein bloß 
menschliches Haupt,auch keine Versamm¬ 
lung der frömmsten und umsichtigsten 
Lehrer könne die Notwendigkeit seiner 

41 




1283 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


ständigen Gegenwart und wirklichen 
Regierung auf Erden ersetzen. 

Daher lehrte die Kirche, sie selbst, die 
rOmis(h>katholische Kirche mit allem, 
was sie sichtbar ist und hat, sei das 
Reich Gottes, und ihr Haupt, der Bischof 
von Rom, sei der Stellvertreter Christi. 
Nur er und kein anderer könne es aber 
sein, weil einst Petrus als Haupt der 
Apostel Christi Stellvertreter gewesen 
sei und weil er nach Christi Willen die¬ 
ses sein Amt auf seine Nachfolger, die 
Bischöfe der Stadt Rom, fibertragen habe; 
demnach sei die große, von Rom aus 
geleitete Kirchenanstalt mitsamt ihren 
Sakramenten, Opfern, Priestern und 
Ordnungen das Reich Christi auf Erden, 
also das himmlische Reich der Wahr¬ 
heit, Gerechtigkeit und des Friedens, des 
Göttlichen und Ewigen, mitten in dieser 
unheiligen Welt, und der Bischof von 
Rom sei der wirkliche Stellvertreter 
Christi: wer ihn hört, hört Christus, den 
Sohn Gottes. 

Unwillkürlich hält man den Atem an, 
wenn man diese Verkündigung hört, und 
die Seele füllt sich mit Staunen. Zwar 
schon im grauesten Altertum und je und 
je in der Geschichte ist es versucht wor¬ 
den, die politische Gewalt dadurch zu 
weihen, daß man sie als göttliche dar- 
stellte, und umgekehrt das Gute und 
Heilige dadurch zur Macht zu bringen, 
daß man es mit einer erzwingbaren 
Rechtsordnung und der vollen Regie¬ 
rungsgewalt ausstattete. Aber erst in 
der römisch-katholischen Kirche des Mit¬ 
telalters ist der Versuch in großartiger 
Weise durchdacht, bis ins einzelne durch- 
geführt und daher zu einem vollen Er¬ 
folge gebracht worden. Alle Ideale der 
Menschheit lagen in den Händen dieser 
Kirche, der Zug zum Ewigen, die Wahr¬ 
heitserkenntnis, die Gerechtigkeitspflege, 
die Herstellung eines universalen Bru¬ 
derbundes, Bildung und Kunst, und eben 


diese Kirche war zugleich die stärkste 
politische Macht in Westeuropa, d. h. in 
dem Teil der Menschheit, dem die Ge¬ 
genwart und Zukunft gehörte. So schien 
die Gottesherrschaft auf Erden verwirk¬ 
licht! Wie und durch welche Mittel aber 
geschah das? 

Nun vor allem — diese Kirche erfüllte 
Hohe und Niedere, Gebildete und Un¬ 
gebildete, kurz alle und jeden mit der 
Oberzeugung, daß die Ewigkeit das Ziel 
der Menschheit ist, das Irdische aber im 
argen liegt, an sich zwecklos ist und 
nur eine Vorschule für das Jenseits. In 
dem Jenseits lebte der mittelalterliche 
Mensch, wenn er sich auf sich selber be¬ 
sann. Sein ganzes Dasein hatte keine 
wirkliche Gegenwart mehr für ihn; denn 
in dem Ausblick auf die Ewigkeit ver¬ 
sank sie ihm. 

Aber es war kein wüster oder trüber 
Aberglaube, der ihn in diesen Seelen- 
zustand brachte, sondern es war die 
Majestät des Guten und Heiligen, die 
ihn erfaßte und vor der er zusammen¬ 
brach. Die Idee des heiligen Gottes, des 
Gesetzgebers und Richters, erfüllte die 
Seele und die Verpflichtung, so vollkom- | 
men zu sein wie er. Aber eben diese , 
Verpflichtung erwies sich als ganz uner- 
füllbar; denn ihr stand die unbezwing- 1 
bare Macht des sinnlichen Wesens, Augen¬ 
lust, Fleischeslust und hoffärtiges Leben 
gegenüber. Der empfundene Gegensatz ! 
von Diesseits und Jenseits, Irdischem 
und Himmlischem, Vergänglichem und 
Ewigem entsprang hier also nicht aus 
einer philosophischen Spekulation, son¬ 
dern hinter ihm lag der Gegensatz von 
Heiligkeit und Sünde, von edler Freiheit 
und sinnlich-selbstsüchtiger Gebunden¬ 
heit. Das Heilige war das Jenseits und 
Ewige, die Sinnlichkeit und Schuld waren 
das Diesseits und — das Verdammliche; 
denn nicht an eine Vernichtung des Irdi¬ 
schen und Bösen durfte man denken — 


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I 



1285 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1286 


das wäre noch eine Art von Trost gewesen 
—, sondern die Hölle wartete auf den 
Sünder, der seine unsterbliche Seele ver¬ 
wahrlost hatte. So sagte es das Gewissen 
jedem. 

Die Kirche war es, die das Gewissen 
so erzogen hatte und die diese Über¬ 
zeugungen und Stimmungen nährte. Sie 
hat damit die Frage nach dem Guten 
und dem Bösen zur Kardinalfrage der 
Menschheit gemacht, wachte darüber, 
daß sie in jedes Herz eindrang und hielt 
die furchtbare Seelennot in den Gemü¬ 
tern aufrecht. Aber nun kam sie mit 
ihrer Predigt von der Erlösung aus sol¬ 
cher Not, und diese Botschaft war nicht 
minder eindrucksvoll; denn sie erfaßte 
die Seele in ihrer tiefsten Sehnsucht: 
Das Heilige und Ewige ist nicht nur 
Forderung und Gesetz, sondern es ist 
auch barmherzige Liebe, ja erst in dieser 
offenbart sich sein wahres Wesen. In 
Jesus Christus ist die Gottheit, welche 
die Liebe ist, in diese verdammliche 
Welt der Sünde gekommen, hat die 
Schuld getilgt, den Tod überwunden und 
eine feste Brücke über die Kluft zwi¬ 
schen Himmel und Erde geschlagen. 
Aber nicht nur eine Brücke hat Christus 
geschlagen — er hat die Kräfte der 
Gnade und Liebe hinterlassen, als er in 
den Himmel zurückkehrte, hinterlassen 
nicht nur in seinem trostreichen Wort, 
welches die Herzen entzündet, sondern 
auch in heiligen Sakramenten, welche 
Liebe und ewiges Leben wirklich ent¬ 
halten und auf geheimnisvolle Weise in 
die Seelen eingießen. Wenn nun eine 
Seele das Wort Gottes für wahr hält und 
ihm gehorsam ist: dem Herrn Christus 
gläubig vertraut und die heiligen Sa¬ 
kramente gebraucht, so werden ihr alle 
Sünden vergeben, und sie darf und soll 
auf das ewige Leben hoffen; denn die 
Gnade Gottes hat sie ergriffen, erfüllt 
sie mit Liebe und wird sie bis zum seli¬ 


gen Ende führen. Auf ihr eigenes Ver¬ 
dienst und Würdigkeit soll sie nicht 
bauen; wohl aber wird sie durch die 
Gnade immer mehr Freiheit gegenüber 
Sünde und Welt gewinnen und durch 
die eingeflößte Liebe sich in guten Wer¬ 
ken Verdienste erwerben, mit denen sie 
vor Gott am Jüngsten Tage bestehen 
kann. 

Das sind die Grundzüge der Predigt 
von Glaube und Liebe, wie sie die Kirche 
verkündigte; aber sie fügte noch sehr 
wichtige Bestimmungen hinzu. Erstlich 
lehrte sie, daß die Hinterlassenschaft 
Christi — Wort und Sakrament, Ver¬ 
gebung und die heiligenden Kräfte, dazu 
die Wiederholung seines Opfers — 
einem bestimmten Stande anvertraut 
seien, nämlich den Priestern, denn es ge¬ 
höre zum Wesen jeder Religion, daß 
solche da seien; also seien die Prie¬ 
ster auch allen Christen nötig. Zweitens 
lehrte sie, daß auch darüber hinaus kein 
Mensch so selbständig sei, daß er sein 
religiöses und sittliches Leben mit Gott 
allein zu richten und zu ordnen vermöge, 
viemehr bedürfe er dazu Seelenführer, 
und das seien ebenfalls die Priester, 
denen man sich älso in Gehorsam unter¬ 
werfen müsse. Drittens lehrte sie, daß 
alle diese Priester unter der souveränen 
Oberleitung des Papstes die Regierung 
Christi auf Erden darstellen und ihnen 
daher alle Rechte und Gewalten zu¬ 
kommen, die sie zur Regierung bedür¬ 
fen; insonderheit kommt ihnen auch die 
Gewalt über die Fürsten und Staaten 
zu; denn wenn die Kirche diese irdi¬ 
schen und wechselnden Größen auch ge¬ 
währen läßt, wo es sich um geringe 
Dinge handelt, so muß sie sie doch wei¬ 
sen, korrigieren und strafen können, 
wenn sie die Gerechtigkeit verletzen 
oder gar in das Gebiet des Göttlichen 
und der Erziehung der Menschen ein- 
greifen. Nicht einmal auf dem Gebiete 

41* 



1287 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


des Irdischen können die Fürsten und 
Staaten ein volles souveränes Recht be¬ 
sitzen, weil sie für ihre Regierung die 
Gerechtigkeit bedürfen, diese aber eine 
göttliche Tugend ist, also zum Besitz 
der Kirche gehört und von ihr geliehen 
werden muß. Viertens endlich lehrte sie, 
daß zwar jedermann unter der Bedin¬ 
gung des Gehorsams, des Glaubens und 
der Liebe in die Ehe treten und im 
welüidien Berufsleben bleiben kann, 
ohne an seiner Seele Schaden zu neh¬ 
men, daß es aber ratsamer und sicherer 
ist, sich in den mönchischen Stand zu 
begeben und in diesem in Entsagung 
und Heiligkeit schon hier auf Erden ein 
engelgleiches Leben zu führen. 

Aus diesen Anschauungen heraus hat 
die mittelalterliche Kirche die Völker ge¬ 
leitet und ihnen eine Lebensweisheit 
und Lebensordnung gebracht, die trotz 
aller Widersprüche, die sie umklam¬ 
merte, in ihrer Geschlossenheit und Ein¬ 
heitlichkeit vorher niemals erreicht und 
noch nicht übertroffen worden ist. Wie 
ein hoher gotischer Dom steht sie vor 
uns, den ein Stilgesetz bis ins kleinste 
beherrschtl Alles ist von den Idealen und 
den Kräften des Glaubens und der Liebe 
durchdrungen; die Ewigkeit ragt in die 
Zeit hinein und hat sich in ihr nicht nur 
ein Heiligtum geschaffen, sondern arbeitet 
auch fort und fort an der inneren Um- 
wandelun^ der Menschheit. Von Gott, 
durch Gott, zu Gott — das war die Lo¬ 
sung, durch welche die sündige und ge¬ 
spaltene Menschheit zur Reinheit geführt 
und zu einem heiligen Bruderbund in 
der Liebe umgewandelt werden sollte. 
Zwar der Kirche gegenüber sollten alle 
stets Unmündige und Unselbständige 
sein und blieben es; aber konnte man 
daran denken, die Geschlechter jener 
Tage auf andere Weise zum Guten zu 
erziehen? Jedes Ideal mußte als äußere 
Autorität auftreten und Unterwürfig¬ 


keit fordern; auch die Gnade und Li^e 
waren in gesetzliche Bestimmungen und 
Zuteilungen gefaßt und nur den Gehor¬ 
samen zugänglich. Jedes Ideal mußte 
.aber auch irgendwie den Sinnen sich 
darstellen, um als wirklich zu gelten und 
erlebt zu werden. Doch waren die Sinne 
jener Menschen nicht wählerisch und ihr 
Verstand dem Heiligen gegenüber nicht 
kritisch. Wenn die Kirche sprach, wenn 
sie einen Gegenstand berührte und 
weihte, so sah, hörte und fühlte man 
das Heilige. Und sie sorgte dafür, daß 
es einem in Geschichte und Gegenwart, 
in Raum und Zeit begegnete und die 
Seelen vom Irdischen abzog und zum 
Himmlischen rief. Da gab es kaum eine 
natürlich-irdische Lebensbewegung, der 
nicht eine heilige Übung entsprach, und 
kein natürliches Ding, das nicht durch 
ein geistliches Höheres ersetzt oder von 
ihm begleitet war. Dem Essen und Trin¬ 
ken entsprach das Heilige Mahl und an¬ 
dererseits das Fasten, der Arbeit das 
Beten, dem Waschen das Weihwasser 
und die Seelbäder, dem Reisen das Wall¬ 
fahren, dem Geschäft und Verdienen das 
Almosengeben, Messestiften und Ablaß 
kaufen, dem Lichte der Sonne die Ker¬ 
zen des Altars, dem Ernste der Nacht 
das zur Einkehr mahnende Dunkel der 
Kirchen, und diese selbst erschienen mit 
ihren Altären, ihrer ewigen Lampe, ihren 
Reliquien und in der ganzen Hoheit 
ihres Baues und der herrlichen Fülle von 
Gestalten einer anderen Welt wie die 
Hütte Gottes bei den Menschen und wie 
Golgatha und das Paradies zugleich. 
Alles dieses wurde als eine himmlisch¬ 
heilige Einheit empfunden: es zu üben, 
zu verehren, zu genießen von der An¬ 
betung Gottes an bis zum mechanischen 
Schlagen des Kreuzeszeichens und bis 
zur geringsten Zeremonie — das war 
in gleicher Weise Religion. Sie war so 
weitschichtig und mannigfaltig wie die 


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1280 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1290 


Welt selbst und das Leben; sie war eine 
zweite Welt, in der man lebte. Verbun¬ 
den aber war all dieses Heilige mit 
Tausenden von Wundern, die überall 
an den heiligen Statten oder sonst ge¬ 
schahen. Durch sie ragten die Kräfte 
des göttlichen Wirkens in das tägliche 
Geschehen hinein. Im Mittelpunkt dieser 
Wunderwelt stand das große Geheimnis 
des Brotes und des Weines, die sich 
täglich und überall in der Kirche auf 
das Wort des Priesters hin in den Leib 
und das Blut des Erlösers verwandelten. 
Neben diesem Wunder flössen aus der 
Hinterlassenschaft Christi und der Hei¬ 
ligen alle die anderen geringeren: die 
Hilfleistungen, Heilungen, Änderungen 
des Naturlaufs, Vorzeichen und wun¬ 
derbare Begnadigungen und Strafen. 

Man lebte in einer Wunderwelt, ja in 
einer doppelten; denn man verkennt die 
mittelalterliche Religion und Weltan¬ 
schauung, wenn man nicht auch darauf 
achtet, welche Rolle in ihr der Teufel 
mit seinen Dienern, Unholden und greu¬ 
lichen Werken gespielt hat Trotz Christus 
und seiner Erlösung empfand der mittel¬ 
alterliche Mensch, wenn er die Welt und 
Gegenwart betrachtete, streng dualistisch, 
ja er zweifelte nicht daß der eigentliche 
Herrscher in Natur und Welt zur Zeit 
noch immer der Teufel ist und Gott und 
die Kirche ihm nur dazwischenfahren. 
Den Untergrund aller Stimmungen bil¬ 
deten daher die Furcht vor dem Teufel 
und der Argwohn gegenüber der Natur 
als der Buhlerin des Teufels. In dieser 
Furcht flössen alle Schrecken zusammen 
von der rechtschaffenen Scheu vor 
dem Bösen und der Sünde an bis 
zu den unzähligen Formen des dü- 
stern und schreckvollen Aberglaubens, 
der aus der grauen Vorzeit stammte. 
Zwar Gott war überall, aber auch der 
Teufel und seine Diener waren überall, 
machten Land und See, Berg und Flur, 


Haus und Hof unsicher und benutzten 
jede Schwäche der Menschen für ihre 
Tücken; vor allem aber — sie waren die 
Herren des furchtbaren Höllenfeuers und 
der ewigen Verdammnis und hatten ein 
Recht auf die Menschen, wenn sie in 
Sünden starben. 

Damit noch nicht genug: wie über der 
Erde und unterhalb des Sitzes, auf wel¬ 
chem die heilige Dreieinigkeit thronte, 
eine himmlische Sphäre sich befand, be¬ 
völkert von Erzengeln und Engeln, Hei¬ 
ligen — voran die Himmelskönigin 
Maria —, Aposteln, Propheten und Mär¬ 
tyrern, so sah die Phantasie jener Zeit 
unterhalb der Erde oder in ihrem Innern 
auch noch ein Gebiet. Es war nicht die 
Hölle, aber es war fast so schrecklich 
wie sie; denn auch dort brannte ein 
Feuer. Es war für die Seelen bestimmt, 
denen zwar die Sünden vergeben waren, 
die aber die notwendigen zeitlichen Sün- 
denstrafen auf Erden noch nicht abge- 
büßt hatten. Wer durfte hoffen, diesem 
Feuer zu entgehen; denn wer durfte 
sich sagen, daß er alle Bußleistungen 
richtig und vollständig geleistet habe? 
Und wenn die Strafen in diesem furcht¬ 
baren Feuer Hunderte von Jahren dauern 
konnten, worin unterschied sich für die 
Vorstellung dieses Feuer von dem der 
Hölle? Sie mußten notwendig ineinan¬ 
der fließen. 

So wurden die Stimmungen und Er¬ 
wartungen des mittelalterlichen Men¬ 
schen zwischen Hoffnung und Schrecken 
hin- und hergeworfen. Wie im zackigen 
Blitz wechselten Beseligung und Furcht. 
Und je mehr ihre noch ungebändigte 
Natur^ die Menschen zu gewalttätigem 
Herrentum, Beute- und Fehdelust und 
zu allen sinnlichen Freuden trieb, um so 
fürchterlicher wurden die Stunden der 
Zerknirschung und der Angst. Schien 
durch die zugesagte Gnade der Himmel 
sicher, so schien doch durch die unver- 


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Adolf von Harnack, Die Reformation 


1292 


gebenen Sünden auch die Hölle sicher, 
und wenn nicht sie, so doch der Schrek- 
ken des Fegefeuers! Was vermochten 
Maria und alle Heiligen und Nothelfer, 
die reichlich um ihre Fürbitte angerufen 
wurden, wenn doch Gottes Welt- und 
Heilsordnung trotz aller Gnade für 
jeden ein Konto aufstellte und die Bilanz 
der Seele stets mit ungebüßten Schulden 
endete? Wird Gottes Barmherzigkeit 
weiter reichen als sein heiliges Gesetz? 

In diesen tiefsten Sorgen und Zwei¬ 
feln war nur eines sicher — die Kirche; 
zu ihf mußte man fliehen und bei ihr 
sich bergen. Sie hatte man als eine trost¬ 
reiche Wirklichkeit überall vor Augen, 
und überall war sie zu finden; sie war 
die Mutter. Wenn man sich gehorsam 
in ihre Arme warf, glaubte, was sie 
glaubte, und tat, was sie befahl, wenn 
man alle ihre Gnadenschätze aufsuchte 
und sich zu wandte, dann durfte man 
hoffen zum seligen Ziele zu gelangen. 
Sie war die Mächtige; sie besaß den 
Schlüssel, der aufschloß und zuschloß; 
sie verfügte über alle Sakramente, die 
von der Geburt bis zum Tode nötig 
waren; sie verwaltete das Verdienst 
Christi und der Heiligen; sie verkürzte 
die zeitlichen Sündenstrafen bis zu ihrer 
völligen Aufhebung und sie griff selbst 
in das Fegefeuer hinein und führte die 
Seelen heraus. Wahnsinn und Selbst¬ 
vernichtung ist es, ihr zu widerstehen, 
ihr nicht überall zu folgen und sie nicht 
gegen jeden Widersacher zu verteidigen. 
Die Kirche aber als sorgende, zuteilende 
und leitende waren die Priester, an ihrer 
Spitze der Papst. Anfang und Ende jeg¬ 
licher Frömmigkeit und alles Glaubens 
war daher der unterwürfige Gehorsam, 
den man ihnen zu leisten hatte. 

Diese Grundgedanken und Grundord¬ 
nungen der Kirche aber fanden begei¬ 
sterte Lehrer, die sie ausarbeiteten und 
verteidigten. Der größte von ihnen war 


Thomas v. Aquino, der in der zweiten 
Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte. Ei 
gehört zu den bedeutendsten Denken 
aller Zeiten. Er hatte den Aristoteles und 
den Augustin gründlich studiert und 
durchdachte nun alles Wissenswürdige 
vom Wesen Gottes an bis zu den wirt¬ 
schaftlichen und politischen Fragen dei 
Gegenwart. Und in das Reich der Kirche 
und des Papstes stellte er alle Erkennt¬ 
nis hinein und verband die alte christ¬ 
liche Glaubenslehre mit einer Lehre von 
der Kirche, welche alle Ansprüche des 
weltherrschenden Papsttums rechtfertigte 
So trat der stolze Gedankenbau der mit¬ 
telalterlich katholischen Lehre neben den 
Bau der Kirche selbst als ihr Spiegelbild, 
und an diesem Bilde stärkten und be¬ 
geisterten sich die denkenden Söhre 
der Kirche. Die im 14. und 15. Jahrhun¬ 
dert nach dem Vorbild von Paris gestif¬ 
teten Universitäten waren streng kirch¬ 
liche Anstalten; die Päpste mußten sie 
bestätigen, und sie lehrten die Philoso- 
sophie und alle Wissenschaften im Sinne 
und zu Ehren der Kirche. Ihr Geist durch¬ 
waltete die sich mächtig entwickelnde 
allgemeine Bildung. Eine kirchenfreie 
Laienbildung gab es bis tief ins 15. Jahr¬ 
hundert hinein überhaupt nicht, und 
wenn auch Fürsten und Städte das 
Schulwesen selbständig in die Hand 
nahmen, so geschah das nicht im Gegen¬ 
satz zum Geist der Kirche. 


Die abendländisch-katholische Kirche, 
wie sie uns in ihren Grundordnungen 
und Grundgedanken entgegentritt, ist 
nicht immer so gewesen. Erst durch 
schwere Kämpfe und mancherlei innere 
Veränderungen hindurch ist sie so g& 
worden; aber weil sie sich folgerecht 
von dem Zustand her entwickelt hat, in 
welchem sie sich im 9. Jahrhundert und 
schon früher befand, darf man doch sa¬ 
gen, daß sie in der Hauptsache seit dem 




1293 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1294 


Beginn des Mittelalters immer dieselbe 
geblieben ist. Zwar früher erhielten auch 
die Laien den Kelch, bekamen schon die 
Kinder gleich nach der Taufe die heilige 
Kommunion, wurde die Priesterehe häu¬ 
fig geduldet, gab es noch keinen allge¬ 
meinen Zwang zur Ohrenbeichte, war 
die Bußordnung und Glaubenslehre min¬ 
der kompliziert, fehlten die Ablässe noch, 
war die Marienverehrung und -Lehre 
samt den Marienfesten noch nicht aus¬ 
gebildet, schwankten die Vorstellungen 
vom Fegefeuer noch, war selbst die 
Sakramentslehre noch sehr unsicher, und 
das Fronleichnamsfest und andere Feier¬ 
tage kannte man noch nicht; aber alle 
diese Neuerungen galten den meisten 
nicht ohne Grund wie Blüten an dem 
alten Baum. Gerade dort aber, wo äußer¬ 
lich die größte Veränderung erschien, 
nämlich in dem Umfang der päpstlichen 
Gewalt und in der Art ihrer Ausführung, 
handelte es sich um Ansprüche, die vom 
römischen Stuhl schon im karolingischen 
Zeitalter und z. T. schon früher erhoben 
worden waren. Der volle Sieg des 
Papsttums über das Kaisertum nach 
jahrhundertelangem Kampf machte auf 
alle Gläubigen den Eindruck, daß hier 
die gerechte Sache zum Siege gekommen 
war; denn das Jenseits mußte doch über 
das Diesseits die Oberhand behalten, 
das Jenseits aber lag unbedingt beim 
Papst und nur bedingt beim Kaiser. 
Dennoch aber wurde der Sieg für die 
folgenden Jahrhunderte dem Papsttum 
zum Verhängnis; denn nun mußte es 
das tatsächlich und bis ins einzelne aus¬ 
bilden, wonach es immer gestrebt hatte 
— die politische Weltherrschaft. Diese 
aber zwang das Papsttum und seine 
Kirchenregierung zu einer „Weltlich¬ 
keit“, die gerade die Gläubigsten und 
Frömmsten unter den Fürsten und Staa¬ 
ten nicht nur stutzig machen, sondern 
auch empören mußte; denn der geist¬ 


liche Beruf der Kirche trat nun hinter 
dem politischen zurück, ja schien häufig 
ganz vergessen. War denn diese Kirche 
noch die geistliche Mutter, die Hütte 
Gottes bei den Menschen und die Seelen¬ 
führerin? Aber bis in die Tiefe fler 
Grundlage des Papsttums und der Kirche 
drang doch weder die Empörung noch 
der Widerspruch. Wie sollte das Sicher¬ 
ste, was es giebt, der einzige Halt der 
Menschheit, Gottes sichtbares Reich auf 
Erden, ein Irrtum sein? Unmöglich! In 
den Gemütern wie in den Köpfen der 
Menschen blieb die Kirche bestehen, 
und bei aller Verweltlichung, der sie 
sich hingab, war sie noch immer das 
Heiligtum der abendländischen Völker, 
das Band ihrer Einheit in Ideen und 
Sprache und die Kraft, welche die Ge¬ 
sellschaft ordnete und zusammenhielt, 
die Schwachen stärkte und dem Übermut 
wehrte. 


Diese Skizze des Wesens der mittel¬ 
alterlichen Kirche wäre unvollkommen 
ohne die Hinzufügung eines sehr wich¬ 
tigen Zuges, der in den beiden letzten 
Jahrhunderten vor der Reformation mit 
besonderer Stärke hervortrat. Von An¬ 
fang an durfte sich in der abendländi¬ 
schen Kirche neben der „Autorität“, 
welche die Offenbarung und alle Dog¬ 
men einschloß, die „Vernunft“ („Ratio“) 
geltend machen; sie war ein Erbe des 
Stoizismus und des römischen Geistes. 
Und zwar durfte sie sich in doppelter 
Weise zu Gehör bringen, indem sie die 
Dogmen bearbeitete und verteidigte und 
indem sie eine angeblich natürliche 
Gotteserkenntnis, eine natürliche Moral 
und ein natürliches Recht entwickelte, 
die sämtlich als „richtig“, weil mit dem 
Verstände gegeben, anerkannt wurden. 
Mit dieser Anerkennung war dem Men¬ 
schen nicht nur eine unverlierbare, wenn 
auch durch die Sünde geschwächte in- 




1295 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1296 


tellektuelle Würde zugesprochen, son¬ 
dern auch die Freiheit und die unver¬ 
lierbare Fähigkeit zur Erfüllung des hei¬ 
ligen Gesetzes Gottes, zum Guten. Da¬ 
durch stand der Mensch Gott als selb¬ 
ständiges Wesen gegenüber, und das 
Grundschema des Verhältnisses zu ihm 
war unverrückbar in der Formel gegeben: 
Der Mensch soll und kann das Gute aus 
seiner Freiheit tun; tut er es, so wird er 
beim Gericht belohnt, versagt er, so wird 
er bestraft werden und des ewigen Todes 
sterben. Offenbar ist diese Formel der 
anderen entgegengesetzt, daß der durch 
Schuld und Tod geknechtete Mensch 
der Erlösung und Gnade bedarf, um 
Gutes tun und seine Bestimmung er¬ 
reichen zu können. Hier ist die Religion 
der Moral nicht nur übergeordnet, son¬ 
dern ermöglicht und erzeugt sie erst; 
dort ist die Moral das A und O, und die 
Religion kann ihr nur Stärkungen und 
Krücken gewähren. Hier ist die geschicht¬ 
liche Offenbarung edles; dort ist die 
„Schöpfungsgnade“ alles, und die Offen¬ 
barung verstärkt und verdeutlicht sie 
nur. In Augustin und Pelagius traten sich 
in der abendländischen Kirche die beiden 
Denkweisen gegenüber, und die augusti- 
nische siegte. Die Kirche folgte ihr, so 
jedoch, daß sie der moralistischen und 
rationalen einen gewissen Spielraum 
ließ, der sich immer mehr vergrößerte. 
Als dann im 13. Jahrhundert die ge¬ 
schlossene rationale Philosophie des 
Aristoteles den abendländischen Theo¬ 
logen bekannt geworden, durfte Thomas 
von Aquino hoffen, daß es ihm gelun¬ 
gen sei, den Augustinismus durch die 
„Ratio“ des Aristoteles wissenschaftlich 
zu durchdringen, vor falschen Konsequen¬ 
zen zu schützen und eben dadurch sieg¬ 
reich zu behaupten. Eine Versöhnung der 
beiden großen Denkweisen schien her¬ 
gestellt zu sein, in der unter dem Prin¬ 
zipat der augustinischen Gnadenlehre 


„der vernünftige Mensch“ doch sein 
Recht erhielt. 

Allein nach Thomas zeigte es sich, 
daß seine Vermittelung nicht überall 
überzeugte, vor allem aber daß sich die 
Kirchenpraxis selbst und namentlich ihre 
Seelenpädagogie und der Wert, den sie 
auf Autorität, Gehorsam und Verdienste 
legte, bei dem Thomismus nicht auf¬ 
richtig beruhigen konnte. Die Kirche war 
„pelagianischer“ als ihr großer Theologe, 
und die nachfolgende Theologengene 
ration folgte ihren Spuren und be¬ 
merkte zugleich verborgene Risse und 
Spalten in der Theologie des Thomas, 
die sie aufdeckte und die ihr Scharfsinn 
zu erweitern sich genötigt sah. So ent¬ 
stand die Theologie des Duns Scotus 
und des Occam, und im 15. Jahrhundert 
drängte dieser „Modernismus“, den die 
Kirche gern gewähren ließ, sogar den 
Thomismus zurück. Der Nominalismus be¬ 
arbeitete „die Offenbarung“, zu der alles 
Kirchliche gehörte, besonders und die 
Vernunftreligioiu besonders, und zog 

dort und hier rücksichtslos-formalistisch 

alle Konsequenzen — starr und spröde 
standen sich zwei idealistische Systeme 
gegenüber und durften doch nicht in der 
Trennung verharren! Es ergaben sich 

hier also zwei auseinanderklaffende 

„Wahrheiten“; denn alles lautete auf 
dem Boden der Offenbarung anders als 
auf dem Boden der Vernunft. Unter sol¬ 
chen Umständen blieb dem Denkenden, 
wenn er doch die Offenbarung nidit 
preisgeben wollte, nichts übrig, als sich 
durch einen Willensakt des Gehorsams 
der ganzen geoffenbarten Kirchenlehre 
zu unterwerfen. Eine solche Unterwürfig* 
keit mißbilligte die Kirche selbst aber 
nicht, vielmehr sah sie nach alter Über¬ 
lieferung gerade in ihr eine korrekte un 
verdienstliche Beziehung der Menschen 
wie zu Gott so zu ihrer eigenen Autorität, 
wenn sie es sich auch andrerseits g erD 





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Adolf von Harnack, Die Reformation 


1298 


gefallen ließ, daß andere unter Gottes 
Beistand die Kirchenlehre als die speku¬ 
lativ einleuchtende Wahrheit verstanden 
und verkündigten. 

Der Nominalismus war auf Grund 
seiner Verrmnfttheologie, z. B. in Occam, 
ganz moralistisch-pelagianisch und blieb 
es bei den meisten seiner Anhänger; die 
augustinische Gottes-, Sünden- und Gna¬ 
denlehre war zersetzt und verschwunden. 
Alles Religiöse gehörte „der zweiten 
Buchführung“ an und trug den Charakter 
der Glaubensunterwerfung. 

Allein diese theologische Denkweise, 
nach welcher die Gnade in Wahrheit nur 
ein „Zierat“ und das einzig spezifische 
Christliche die „Armut“ war, war doch 
keineswegs nur eine rückläufige, vielmehr 
zeigte sie eine Fülle progressiver Ele¬ 
mente, das läßt sich — paradox genug — 
selbst auf dem eigentlich religiösen Boden 
behaupten; denn bei dem scharfsinnigen 
Nachdenken über den Glaubens-Unter- 
werfungs-Akt trat nicht nur die Souve¬ 
ränität des Glaubens hervor (an sich 
und im Unterschied vom Erkennen), son¬ 
dern es wurden auch Züge in ihm ent¬ 
deckt, die nicht aus blinder Unterwürfig¬ 
keit stammten, sondern aus der Welt 
des Vertrauens. Ferner wurde dem No¬ 
minalismus bei seiner hellen Denkart 
zilles Sakramental-Mechanische immer 
unerträglicher, und er suchte es unter 
der Hülle der Anerkennung durch geistige 
Akte zu ersetzen; das „Wort“ wurde 
ihm wichtiger als die „Sachen“, die in¬ 
nere Verfassung beim äußeren Tun wert¬ 
voller als dieses selbst. Dadurch wurde 
die Subjektivität in der Religion ent¬ 
fesselt. In diesem Zusammenhang mußte 
aber notwendig auch der „eingeflößte 
Glaube“ bez. die „eingeflößte Liebe“, und 
der aus ihnen folgende „Liebes-Habitus“ 
als ein dunkler, mystischer Begriff durch 
Bearbeitung entfernt werden. An die 
Stelle tritt einfach das freisprechende 


Urteil Gottes über den Sünder kraft sei¬ 
nes souveränen Willensentschlusses. Die 
Schuldvergebung (Nicht-Anrechnung) er¬ 
hält so im Nominalismus eine viel grö¬ 
ßere Bedeutung als in der thomistischen 
Theologie; sie ist nicht nur ein Initiations¬ 
akt, sondern die Tendenz geht darauf, 
sie als die eigentliche Heilsgnade selbst 
zu erkennen. Und auch darauf geht die 
Tendenz, von der subjektiven Seite her 
bereits in der Reue selbst die Sünden¬ 
tilgung zu sehen. Weiter, weil der Nomi¬ 
nalismus, statt mit Allgemeinbegriffen, 
mit dem Realen rechnete, zog er in viel 
größerem Umfang als bisher überall die 
Erfahrung heran, und das Wirkliche 
erhielt sein Recht, mit dem Wirklichen aber 
auch das Individuum, die Geschichte und 
das Relative. Endlich, auch die Autorität 
selbst wurde bearbeitet, und es ergaben 
sich Unterschiede und Stufen in ihr. Die 
Ausgliederung der Heiligen Schrift aus 
der übrigen heiligen Überlieferung als 
der einzigen Quelle und Autorität für den 
Glauben ist ein Ertrag der nominalisti- 
schen Arbeit gewesen. 

„Kritizismus“, „Positivismus“, „Prag¬ 
matismus“ „Voluntarismus“ und „Fideis¬ 
mus“ — sie alle haben ihre Wurzeln im 
Nominalismus, aber ebenso ist er in be¬ 
grifflich-technischer und z. T. auch in 
sachlicher Hinsicht die Voraussetzung 
der reformatorischen Lehrbildung. 

Als Luther auftrat, herrschte an den 
meisten Lehrstätten dieser Nominalismus; 
der Reformator ist in ihm erzogen worden 
und blieb ihm trotz des prinzipiellen 
Gegensatzes im Religiösen und trotz 
alles Scheltens auf die Vernunft doch als 
Denker in vielen Stücken treu; er hat 
die thomistischeTheologieniemals gründ¬ 
lich studiert, aber ihre Hauptgrundlage 
kannte er von Augustin her. Energische 
thomistische Reaktionen gegen den Nomi¬ 
nalismus haben im 15. Jahrhundert nicht 
gefehlt; dafür sorgte schon der Domini- 



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Adolf von Harnack, Die Reformation 


1300 


kanerorden. Einige Thomisten wandten 
sich dabei nicht nur gegen den pelagia- 
nischen Rationalismus der Nominalisten, 
sondern auch gegen den kaum mehr 
verkappten Moralismus und die Werk- 
gerechtigkeit in der Kirche selbst. Aber 
Luther hat erst verhältnismäßig spät von 
ihnen Notiz genommen. 

Was die Stärke der mittelalterlichen 
Kirdie war, war auch ihre Schwäche — 
neben der bunten Fälle dessen, was sie 
als „Religion“ darbot, stand die Fälle 
entgegenstehender Gedanken, die sie 
umklammerte. Wie sie Gott selbst als 
den Schöpfer und Richter im Sinne des 
Moralismus, als den Eifernden Im Sinne 
des Alten Testaments, als den Gott 
Platos und als den Vater Jesu Christi 
verkändete, so verkändete sie Jesus 
Christus als den von Maria geborenen 
Gottmenschen mit den zwei Naturen, 
der in dieser Verbindung schon der Hei¬ 
land ist, als den gekreuzigten Versöhner, 
der durch seine Todesleistung Gottes Zorn 
gestillt hat, als den in jeder Messe aufs neue 
Geopferten, als den in den Sakramenten 
unpersönlich gewordenen Gnadenschatz, 
als den Ecce homo im Sinne Bernhards, 
als den Armen und Hilfreichen im Sinne 
des heiligen Franziskus und als den un¬ 
erbittlichen Richter. Und den Glauben 
definierte sie als den blinden Gehorsam 
unter die Kirchenlehre, als durchdachte 
Orthodoxie, als Zuversicht und Vertrauen, 
aber auch als ein Minimum von diesem 
allen, bzw. als „fides implicita“, die Gott 
nur als den Schöpfer und Richter kennt. 
Und wie hier, so war es äberall: in bunter, 
widerspruchsvoller Menge drängten sich 
auf derselben Fläche heilige Tatsachen, 
Mittel und Gedanken, Äußerliches und 
Innerliches, Glaubenssätze, Spekulationen 
und Kirchengebote durcheinander. Und 
an jedem Punkte stritten widersprechende 
Anschauungen um ihr Recht; Abgründe 
taten sich auf, und ein Abgrund rief 


den anderen. Mähsam zwang die Kirche 
dieses heilige Chaos in eine gewisse Ein¬ 
heit, indem sie die Gegenpole umklam¬ 
merte. Eine Redifktion war nötig, 
ja ein neuer Schöpfungstag, der 
Ordnung schaffen und jedem,seine Stelle 
geben, aber auch ein Gerichtstag, der 
vielem „Heiligen“ ein Ende bereiten 
sollte. 

II. Vorreformation und 
Vorreformatoren. 

Zwei gewaltige Krisen hatte das Papst¬ 
tum bald nach der Mitte des 15. Jahr¬ 
hunderts äberstanden, den Kampf um 
das Recht seiner weltpolitischen Macht 
äberhaupt und den Kampf um seine ab¬ 
solute Herrscherstellung in der Kirche. 
Der erste Kampf kam ihm sofort nach 
dem Siege äber das hohenstaufische 
Kaisertum von dem zu nationaler Selb¬ 
ständigkeit erstarkten französischen Staat 
gleichzeitig aber auch aus den Kreisen 
strenger franziskanischer Mönche, die 
sich zeitweilig sogar mit dem Kaisertum 
wider die Anspräche des Papsttums ver¬ 
banden. Der französische König ver¬ 
langte volle politische und finanzielle 
Unabhängigkeit und verbot dem Papste 
jede Regierung in seinem Lande; die 
Mönche aber hielten ihm die Armuts¬ 
regel Christi vor, sprachen ihm Besitz 
und Rechtsgewalt äberhaupt ab und er¬ 
klärten die zu einem Staat des irdischen 
Rechts und der Gewalt gewordene Kirche 
fär Babel, den weltherrschenden Papst 
fär den Antichrist. Dem Kaiser, so er¬ 
klärten sie, stehe alle Macht und alle 
Gewalt zu und unter ihm in abgestufter 
Weise den anderen Färsten. Der Heils¬ 
ordnung der Kirche, die Recht und Macht 
in sich hineinzog, stellten sie die Schöp- 
fungs- und Naturordnung Gottes in bezug 
auf Obrigkeit und Recht entgegen, die 
unverbrächlich sei. Auf dem Gebiete des 
Gedankens gelang es den Verteidigern 
des Papsttums leicht, diese revolutionft- 


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ren Satze zu widerlegen. Denn da auch 
sie sich auf die Bibel stützten, die allge¬ 
meine Sündhaftigkeit voraussetzten, dem 
irdischen Leben noch immer keinen 
Selbstzweck zu geben wußten und die 
geistliche Gewalt des Papstes aner¬ 
kannten, so war es nicht schwer, die 
künstliche und schwächliche Konstruk¬ 
tion dieser Revolutionäre zu widerlegen. 
Man konnte ruhig zugestehen, daß es 
nach dem göttlichen Weltplan in der die 
Menschheit darstellenden Christenheit 
einen universellen Herrscher, einen Kaiser, 
geben müsse, einen Konstantin nach dem 
Vorbilde Davids und Salomos; aber war 
es denkbar, daß diesem auch über Christus 
und seinen Statthalter die Oberhoheit 
zustehe? War nicht das Umgekehrte das 
allein Vernünftige? Und wenn selbst der 
Kaiser dem Papste unterworfen war, wo 
blieb das selbständige Recht der Könige 
von Frankreich und England, von denen 
doch die Bibel gar nichts sagte. Behaup¬ 
teten deren Anwälte aber gar, wohl sei 
der Kaiser dem Papst untergeben, nicht 
aber ihre Könige, so mußte das als eine 
skandalöse Profanierung alles Rechts 
und aller Geschichte erscheinen. Offen¬ 
bar — auf dem Gebiete des Gedankens 
mußte mit der geistlichen Betrachtung 
der Weltgeschichte auch die geistliche 
Gewalt stets die Oberhand behalten über 
die weltliche I Aber in den Kämpfen um 
die Herrschaft-trat der „Gedanke“ immer 
mehr zurück, und tatsächlich erlangten 
die Könige — nicht der Kaiser — be¬ 
deutende Regierungs- und finanzielle 
Rechte in bezug auf ihre Landeskirchen. 
Aber da sie, ihrerseits nun gesättigt, in 
dem radikalen Widerspruch gegen die 
Rechtsgewalt der Kirche den extremen 
Mönchen nicht folgten, kamen Kompro¬ 
misse zustande, bei denen das Papst¬ 
tum sich, wenn auch in beschränkterer 
Weise, doch behaupten konnte. Deutsch¬ 
land wurde bei der Schwäche seiner 

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Zentralgewalt zunächst nur wenig von 
diesen Entwickelungen berührt Während 
man vom Papst abhängiger blieb als 
irgendein Land sonst, arbeitete hier aber in 
der Tiefe der einmal entfesselte Gedanke 
vom Recht der Fürsten und Völker fort 
und suchte nach einer besseren Begrün¬ 
dung. Noch immer glaubten nicht wenige, 
ihn mit der Idee des universellen Kaiser¬ 
reichs in nationaler Färbung verbinden 
zu können. Es hat etwas Rührendes zu 
sehen, wie gegenüber dem kirchlichen 
Druck jene Idee wieder an Leben ge¬ 
wann und der erstarkende deutsche Pa¬ 
triotismus sie ergriff. Daneben machte 
auch in Deutschland das „Landeskirchen- 
tum“ in den einzelnen Gebieten lang¬ 
same, aber sichere Fortschritte, und die 
Päpste verstanden sich allmählich auch 
hier dazu, diesen und jenen Fürsten 
durch Übertragung kirchlicher Rechte zu 
gewinnen oder sich warm zu halten. 
Haben sie doch sogar das territoriale 
Kirchentum, aus der Not eine Tugend 
machend, gestärkt, wenn Größeres, näm¬ 
lich .ihre Hauptstellung in der Welt, es 
verlangte. Die halb religiöse, halb poli¬ 
tische Kaiseridee — der Kaiser neben 
und über dem Papst Haupt der Christen¬ 
heit und ihr Schutzherr nach außen und 
innen — und das Territorialkirchentum 
kamen Luther entgegen, als er seine 
Reformation durchzuführen begann. Das 
war von hoher Bedeutung für die Ver¬ 
breitung der Reformation und eine 
schwere Gefahr für die Ansprüche des 
Papsttums. An dem Kaiser und seinem 
Reichstag hingen viele Hoffnungen zur 
Verbesserung auch der kirchlichen Zu¬ 
stände — leider sollten sie alle ent¬ 
täuscht werden —; die Hoffnungen aber, 
die man auf die deutschen Fürsten und 
ihr Regiment setzte, sind von einzelnen 
voll erfüllt worden. 

Noch größer war ein halbes Jahrhun¬ 
dert hindurch von einer anderen Seite 

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Adolf von Harnack, Die Reformation 


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her die Gefahr für das Papsttum, seine 
monarchische Regierungsgewalt ganz und 
gar zu verlieren und auf die Stufe eines 
unpolitischen Hohepriestertums oder 
eines bloßen Symbols der Einheit der 
Kirche herabzusinken. Das große Schisma 
im Papsttum um das Jahr 1400, in eine 
Zeit fallend, in welcher neue Mächte 
(Staat, Volk, Wissenschaft) erstarkten, er¬ 
zeugte zu seiner Abhilfe eine neue Idee, 
die sich aber in ein ehrwürdiges Gewand 
hüllte und sich trotz ihrer Undurchführ¬ 
barkeit in den Köpfen und Gemütern 
festsetzte. Pariser Professoren hatten sie, 
wenn auch nicht erdacht, so doch aus- 
gebildet. Weil einst in der alten Kirche 
Glaubens fragen mit dem Anspruch einer 
unfehlbaren Entscheidung von den Kon¬ 
zilien gelöst worden waren, so griff 
man huf diese zurück und sprach ihnen — 
das war die Neuerung — als dem eigent¬ 
lichen Organ des Heiligen Geistes die 
oberste Regierungsgewalt in der 
Kirche zu, der sich auch der Papst un¬ 
terzuordnen habe. Aber auch das war 
eine unerhörte Neuerung, daß man. in¬ 
dem man nun wirklich ein Konzil zu¬ 
sammenrief, nicht nur die Bischöfe ein- 
lud, sondern auch Priester und Laien, 
Fürsten und weltliche Beamte, vor allem 
aber die Vertreter der Wissenschaft, mit¬ 
beraten ließ. 

Dieser Entschluß war das Symptom 
einer sich ankündigenden großen Um¬ 
wälzung in den Tatsachen und Ideen 
der allgemeinen Gesellschaftsordnung: 
die Christenheit ist nicht die Hier¬ 
archie mit einem Hofe unmündiger 
Laien, sondern die Gemeinschaft der 
Getauften und Gläubigen, die in 
Berufsgruppen zerfällt, deren oberste die 
Seelen leitende Priesterschaft, die für 
den Frieden sorgende Obrigkeit und die 
Vertreter der Wissenschaft (die Univer¬ 
sitäten) sind. Die letzte Wurzel des Kon¬ 
zilgedankens selbst ist hier zu suchen. 


Eine neue Zeit kündigte sich damit an, 
aber in dieser Form konnte sie sich un¬ 
möglich durchsetzen. Zwar gelang es 
dem Konzil, das päpstliche Schisma 
wirklich zu beseitigen, sich selbst als 
einen europäischen Areopag und zu¬ 
gleich als die kirchliche Regierung zu 
etablieren und auf kurze Zeit die Rechte 
des Papsttums bis zur Bedeutungslosig¬ 
keit zu beschneiden; allein sehr bald 
sank alles zusammen. An der Eigen¬ 
süchtigkeit, den Halbheiten und dem 
Streit der Konzilsväter, an der Unmög¬ 
lichkeit, den komplizierten Kirchenkör¬ 
per ständig durch das Konzil zu re¬ 
gieren, und an dem Bestreben der Für¬ 
sten, aus den Reformen, die man dem 
Papsttum auferlegte, finanziellen und 
jurisdiktionellen Vorteil für sich zu zie¬ 
hen, mußte das ganze Unternehmen 
scheitern. 

Die Kurie verhandelte mit den Für¬ 
sten einzeln und brachte ihnen große 
Opfer, aber erreichte es so, daß sie die 
oberste Gewalt des Papstes in der Kirche 
wieder anerkannten und die ganze Kon¬ 
zilsidee zunächst wieder fallen ließen. 
Schon wenige Jahre nach dem Basler 
Konzil durfte es ein Papst wagen, die 
Appellation von seiner Entscheidung an 
ein Konzil für ketzerisch zu erklären. 

Allein was der Kurie damals bei den 
Fürsten gelang, gelang ihr nicht mehr 
bei den Völkern. Zu laut und zu dring¬ 
lich erscholl schon der Ruf nach Reform 
der Kirche an Haupt und Gliedern, den 
die Konzilien von Konstanz und Basel 
mit ihrer Autorität gedeckt hatten, als 
daß er noch unterdrückt werden konnte, 
und da man kein anderes Mittel zu sei¬ 
ner Verwirklichung sah als das Konzil, 
so hoffte man in dem kirchlich stets am 
meisten benachteiligten Deutschland noch 
fort und fort mit Sehnsucht und Zuver¬ 
sicht auf dieses. Bis tief in die Laien¬ 
kreise hinein erstreckte sich diese Hoff- 


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1306 


nung, mit der sich, ohne daß man es 
selber recht wußte, das neue Streben 
nach Freiheit aller Art verband, auch 
das Streben, von dem welschen Druck 
loszukommen. Das Verbot des Papstes 
aber, ein Konzil wider seine Autorität 
anzurufen, schreckte selbst fromme Seelen 
nicht notwendig; denn noch war die 
päpstliche Unfehlbarkeit kein unumstö߬ 
licher Glaubenssatz 

„Reform der Kirche an Haupt und 
Gliedern“ — es war vor allem das Ver- 
waltungs- und finanzielle System, 
welches, was das „Haupt“ anlangt, un¬ 
erträglich geworden war. Alles hatte 
man an Herrschaft und Gewalt seitens 
des Papsttums ertragen, solange es mit 
großen Mitteln arbeitete und seine direk¬ 
ten finanziellen Ansprüche noch mäßige 
waren. Nun aber hatten sich — und 
schon seit zweihundert Jahren, und von 
Jahrzehnt zu,Jahrzehnt immer drücken¬ 
der — die Verhältnisse geändert. Die 
Besetzung sehr vieler geistlicher Stellen 
in allen Ländern, die die Kurie an sich 
gebracht hatte und für Geld vergab, fer¬ 
ner die Fülle von. Auflagen, die sie auf 
jede geistliche Stelle beim Amtswechsel 
und anderen Anlässen zu legen ver-‘ 
stand, weiter die raffinierte Kunst, mit 
der sie das gesamte System der geist¬ 
lichen Kontrolle und selbst die Vorbe¬ 
reitung heiliger Unternehmungen, wie. 
des Türkerikriegs, zu einer Finanzquelle 
machte, vor allem aber die immer un- 
gescheuter betriebene Praxis, wichtige 
und notwendige Gnaden (auch geist¬ 
liche) und zahllose Dispense nur für 
Geld zu erteilen, drohten die Kurie in 
ein großes Kaufhaus zu verwandeln. 
Gewiß — der ungeheure Verwaltungs¬ 
apparat brauchte Geld und wiederum 
Geld, und die Wiederherstellung und 
Ausschmückung des verfallenen Roms 
kostete Unsummen; aber eine Entschul¬ 
digung für die schlimme Profanierung 


des Heiligen und die moralische Ver¬ 
wahrlosung gab es nicht Allmählich war 
sie gekommen, langsam steigend wie 
eine Flut; nun aber bedeckte sie das 
ganze Land. 

Am meisten litten durch diese Politik 
der Kurie die Kleriker, vor allem die 
Erzbischöfe und Bischöfe; sie sahen sich 
in ihrer Regierung immer mehr beschränkt 
und in ihrem Vermögen und Einkommen 
beeinträchtigt. Aber bis in jede Pfarre 
reichte das würdelose System; doch konn¬ 
ten sich die Bischöfe bis zu einem ge¬ 
wissen Grade an dem niederen Klerus 
schadlos halten, indem sie ihn behan¬ 
delten, wie sie selbst behandelt winden. 
Die Ausbeutung der Laien erfolgte haupt¬ 
sächlich durch die abgenötigten „guten 
Werke“, die Geldforderungen für Dis¬ 
pense aller Art und die Sündenstrafen' 
und Fegfeuer-Ablässe, denen die ober¬ 
flächliche Frömmigkeit freilich entgegen- 
kam. Noch mehr aber litt alle Welt — 
die Obrigkeit sowohl wie auch die Laien 
und Handel und Wandel — durch die 
Steuerfreiheiten, den besonderen Rechts¬ 
stand der Kirche, ihre großen Privi¬ 
legien und ihre besondere Rechtspflege. 
Dieses ganze System paßte nicht mehr 
in die Gegenwart hinein und schädigte 
die Landeshoheit, die bürgerliche Ver¬ 
waltung und die kleinen und großen 
wirtschaftlichen Betriebe. Wenn das geist¬ 
liche Gericht zahllose Rechtsfälle an sich 
ziehen konnte, wo blieb die ordentliche 
Rechtspflege? Wenn eine Klosterbrauerei, 
wenn eine klösterliche Webstube unbe- 
steuert war, während der gemeine Brauer 
und Weber Abgaben zahlen mußten, 
wie konnten diese bestehen? 

Die Klagen gingen also nicht nur 
gegen das „Haupt“, das Papsttum — 
sie richteten sich auch gegen die Kirche 
als solche^ und in allen ihren Vertretern. 
Mit Schrecken mußten die Ernsten, mit 
Ärger und Neid die Geschädigten erken- 


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nen, daß der alte Feind, die Simonie, 
in der Kirche schlimmer als jemals 
herrschte und sich mit den Privilegien 
und der Regierungsgewalt der Kirche zu 
einem bösen Bündnis verbunden hatte. 

Aber das ganze Kirchensystem selbst 
war von gefährlichen Spannungen an- 
gefällt und von Zersetzung bedroht, so 
kräftig es noch funktionierte. Da war 
der oben berührte Gegensatz zwischen 
dem Papst und den Bischöfen — Luther 
durfte sagen, er habe sich am Anfänge 
seines Auftretens des Beifalls vieler Bi¬ 
schöfe erfreut, weil er für ihre Rechte 
durch seine Forderungen eingetreten sei. 
Da war der Gegensatz zwischen den 
Bischöfen und dem Mönchtum; jene 
wollten die Klöster aus finanziellen und 
anderen Gründen unter ihre Gewalt 
zwingen. Da gab es tiefe Gegensätze im 
Mönchs- und Klosterwesen selber. Neben 
einetn hohen Aufschwung im Sinne 
strenger Frömmigkeit, der um das Jahr 
1500 zu beobachten ist, machte die Ver¬ 
wahrlosung in einigen Orden und Klö¬ 
stern Fortschritte; namentlich die Bettel- 
orden waren in der Auswahl ihrer Glie¬ 
der oft nicht wählerisch und erzeug¬ 
ten ein ungebildetes und leichtfertiges 
Mönchsproletariat. Im ganzen waren die 
Zustände gewiß nicht schlimmer als in 
früherer Zeit; aber die sittliche Kritik 
der Laien wurde schärfer. Daher sank 
das Ansehen des Standes der Mönche, der 
nur noch zum kleinsten Teil zum »Her¬ 
renstande“ gerechnet werden konnte, 
unverkennbar, und der sittliche Auf¬ 
schwung des tätigen Lebens gegenüber 
dem beschaulichen drängte ihn dazu noch 
zurück. Auch die fortwährenden Streitig¬ 
keiten und Zänkereien zwischen den 
Orden sowie in ihrer eigenen Mitte und 
das üble Trachten so mancher Klöster 
nach Geld und Gut schädigten das 
Ansehen des Mönchtums. 

Aber auch in der Weltgeistlichkeit, mit 


der es der Bürger und Bauer zu tun hatte, 
fehlte es nicht an Spannungen und schlim¬ 
men Anstößen. Noch immer gab es zahl¬ 
reiche »Meßpfaffen“, die ohne feste Stel¬ 
lung um ihre tägliche Nahrung sorgen und 
aus dem geistlichen Dienst ein Gewerbe 
machen mußten; sie verunehrten den 
ganzen Stand. Die anderen aber litten 
unter den unaufhörlichen Kämpfen um 
den Besitz der Pfarreien: die Bischöfe, 
die Klöster, die Landesherren, die Grund¬ 
besitzer wollten sie für sich haben, um 
die Einkünfte zu genießen und dem 
Pfründner zu nehmen, was sie nehmen 
konnten; dieser suchte sich dann wieder 
an seinen Beichtkindern schadlos zu hal¬ 
ten. Was das sittliche Leben des Welt¬ 
klerus betrifft, so darf man den Klagen, 
es sei schlimmer und schlimmer gewor¬ 
den, so wenig trauen wie in bezug auf 
die Mönche, so groß das Ärgernis der 
Konkubinate noch immer war und so 
lax in der Regel die Oberen diese Ver¬ 
hältnisse beurteilten. Unzweifelhaft hoben 
sich in der städtischen Weltgeistlichkeit 
der Bildungsstand und der Emst; aber 
er blieb hinter den Wünschen und An¬ 
forderungen der Gebildeten und From¬ 
men doch zurück, und das erzeugte 
Spannungen und Klagen. 

Die Berichte, die fort und fort aus 
Rom kamen über das schlimme Leben 
und Treiben am päpstlichen Hofe, die 
bösen Sitten einzelner Päpste und ihre 
fortgesetzten kriegerischen Unternehmun¬ 
gen, politischen Bündnisse und Treu¬ 
brüche machten weniger Eindruck, als 
man erwarten sollte. Teils blieb die 
Kunde auf engere Kreise beschränkt, 
teils war man längst gewöhnt, die Per¬ 
son des Papstes von seinem Amte zu 
trennen. Die zahlreichen Bilder der Ver¬ 
dammten in der Hölle, unter ihnen ein 
Mann mit der dreifachen Krone des 
Papstes, reden hier eine deutliche Sprache. 
Aber alles, was man von Rom aus er- 


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fuhr, schloß sich doch mehr und mehr 
zu der schweren Anklage zusammen: 
das Papsttum erfüllt seine geist¬ 
liche Aufgabe nicht mehr! Ein Weit¬ 
blickender hätte darauf antworten kön¬ 
nen: „Wartet nur! Das aus Frankreich 
zurückgekehrte und vom Schisma und 
Konzil befreite Papsttum kann sich erst 
dann seiner geistlichen Aufgabe wieder 
mit voller Hingebung zuwenden, wenn 
es in Italien festen Fuß gefaßt und sich 
die ewige Stadt und einen Kirchenstaat 
gesichert hat; denn nur unter dieser Be¬ 
dingung kann es ein .Reich 1 bleiben und 
seine geistliche Herrschaft ausüben“ — 
aber wäre das eine Antwort gewesen? 
Darf die geistliche Aufgabe jemals hinter 
eine andere zurücktreten, geschweige 
denn aufgeschoben werden? 

Man sieht, es gab hier nicht nur An¬ 
lässe zu Reformen die Fülle — das ganze 
Kirchenwesen war reformbedürftig. Aber 
wenn man unter „Reformen“ solche 
Änderungen versteht, bei denen die 
Grundlage des ganzen Zustands unver¬ 
ändert bleibt, dagegen unter „Refor¬ 
mation“ solche, welche auch diese Grund¬ 
lage selbst antasten, so war eine Refor¬ 
mation hier durchaus nicht gefordert. 
Weise Verzichte, Kompromisse, die alle 
Teile befriedigten, feste Abgrenzungen 
der Rechte, innere Einkehr und sittliche 
Reinigung konnten die meisten dieser 
Obeistände, wenn nicht gar alle abstel¬ 
len, und die Kirche blieb doch ein äußeres 
Reich, und der Papst verlor seine mon¬ 
archische Gewalt und seine „geistliche“ 
Weltherrschaft nicht. Tatsächlich hat ja 
auch das Tridentinische Konzil durch seine 
Reformdekrete sehr viele dieser Mi߬ 
stände beseitigt. Es ist daher ein Irrtum, 
wenn man die Ursache der Reforma¬ 
tion Luthers hier sucht. Die genannten 
Mißstände haben zwar diese Reformation 
sehr bald auf sich gelenkt und ihr die 
entsprechenden Aufgaben vorgezeichnet; 


aber sie lagen nur erst am Horizonte 
des Gesichtskreises Luthers, als er in der 
entscheidenden Hauptsache bereits mit 
sich im reinen war und öffentlich auf¬ 
trat. Man kann sie daher nicht einmal 
zu den „Voraussetzungen“ seiner Refor¬ 
mation rechnen; sie halfen sie ausge¬ 
stalten und förderten ihre Verbrei¬ 
tung. 

Noch viel weniger gehören zu den 
„Voraussetzungen“ des reformatorischen 
Auftretens Luthers die sozialen Zustände 
in Deutschland, wie sie damals bestan¬ 
den. Hier ist viel Schiefes, Übertriebenes 
und Irriges behauptet worden. Diese 
Zustände waren in allen Ständen im 
allgemeinen gesund, und der Prozeß, 
in welchem sie sich den neuen wirt¬ 
schaftlichen Verhältnissen, welche die 
Zeit aufnötigte, anpaßten, verlief zwar 
nicht ohne Kämpfe und Aufstände, aber 
im ganzen doch gut und ohne Umwäl¬ 
zungen. Alle Stände, die Ritter, die rei¬ 
chen handeltreibenden Bürger, der Mit¬ 
telstand, die kleinen Leute und selbst 
die Bauern — obschon diese in sehr 
vielen Gegenden noch unter schwerem 
Druck standen — befanden sich in einer 
aufsteigenden Entwickelung, weil der 
Strom des wirtschaftlichen Lebens reich¬ 
licher flutete und die Bildungsmittel 
zahlreicher und zugänglicher wurden. 
Aus diesem Aufstieg heraus, nicht aus 
miserablen Zuständen, die nur verdump- 
fen, erhoben sich die Wünsche nach 
einer größeren Selbständigkeit und nach 
Beschleunigung des ausgleichenden 
Prozesses; denn um einen solchen han¬ 
delte es sich überall, ohne daß die Haupt¬ 
zäune der ständischen und wirtschaft¬ 
lichen Schichtung verschoben wurden. 
Nicht sowohl ein demokratischer Zug 
ging durch die Gesellschaft, wiewohl 
auch er nicht ganz fehlte, als vielmehr 
ein erhöhtes Klassenbewußtsein und da¬ 
neben auch ein gewisses Freiheitsstreben, 






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Adolf von Harnack, Die Reformation 


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wie es stets aus wachsender Bildung 
entspringt. Nur wenn mißverstandene 
biblische oder halbverstandene natur¬ 
rechtliche Sätze hineinspielten und sich 
gar noch mit Phantasien vom Jüngsten 
Tage verbanden, führten die heftigen 
Klassen- und Zunftkämpfe zu schweren 
Ausbrüchen. Der schlimmste war, neben 
einigen bösen Kämpfen in den Städten 
zwischen dem Patriziat und den aufstre¬ 
benden Klassen, der Bauernkrieg in Süd- 
Westdeutschland; denn die wilde hussiti- 
sche Bewegung, die einst über den Böh- 
merwald in Deutschland eingebrochen 
war, war zu Luthers Zeit fast nur noch eine 
böse Erinnerung. Die Führer der Bauern 
beriefen sich wohl auf Sätze des lutheri¬ 
schen Evangeliums, die ihnen paßten; 
aber wie ihre Klassenbestrebungen nichts 
mit der Reformation zu tun hatten, so 
waren auch jene Berufungen nur zum 
kleinsten Teil berechtigt* Noch weniger 
freilich als die Reformation der Bauern- 
bewegung genützt hat, nützte die Bauern- 
bewegung der Reformation; dagegen 
hat sie ihr viel geschadet Ein wirkliches 
inneres Band zwischen beiden war eben 
nicht vorhanden. 

Mit mehr Recht kann man sagen, 
daß die innere Entwickelung in' den 
Städten — in diesen hatte die Kultur 
in jenem Zeitalter ihren Mittelpunkt 
— der Reformation entgegenkam; denn 
zur ehrenfesten bürgerlichen Selbstän¬ 
digkeit und zu den wirksamen Ver¬ 
suchen, eine geschlossene städtische 
Kulturgemeinschaft mit eigenem Schul¬ 
wesen und geordneter Armenpflege zu 
begründen, stand sie, sobald sie zur 
Volkskirche wurde, wirklich in einer Art 
von Wahlverwandtschaft. Aber das, was 
dieser Eigenart der Stadtgemeinde den 
tiefsten Halt gab, mußte die Reformation 
erst hinzubringen. So handelt es sich auch 
hier nicht um eine wichtige Vorausset¬ 
zung der Reformalion selbst, sondern nur 


ihrer Verbreitung > nd Organisation. Die 
selbständige Stadt^emeinde mit sittlichen 
und Kultur-Aufgaben ist das gegebene 
Vorbild der neuen kirchlichen Gemeinden 
gewesen. 

Hiermit haben wir bereits die Kultur 
des Zeitalters berührt Ihr floß neben 
der Hauptquelle, die in der kirchlichen 
Wissenschaft und Bildung gegeben war, 
damals noch eine zweite Quelle — der 
Humanismus. Wie man nun versucht 
hat, die Reformation einfach als Reaktion 
gegen die kirchlichen Mißstände zu er¬ 
klären oder kurzerhand als eine Teiler¬ 
scheinung innerhalb der damaligen auf¬ 
strebenden wirtschaftlichen und Gesell- 
schaftsentwickelifng, so hat man sie auch 
aus dem Humanismus ableiten wollen 
bez. in die engste Beziehung zu ihm 
gesetzt. Allein auch das ist nicht ge¬ 
glückt; es konnte schon deshalb nicht 
glücken, weil der Humanismus seinem 
Wesen nach in bezug auf die Religions- 
und Weltanschauungsfrage stets nur ei¬ 
ne Begleiterscheinung gewesen ist 
Wenn er leiten wollte, mußte er selbst 
borgen oder einen Schein erwecken, dem 
der Inhalt fehlte. Aber als Begleiter¬ 
scheinung, die überall erweckt, befruch¬ 
tet, ja auch bis ins Tiefste umgewandelt 
hat, hat er eine unermeßlich^ Bedeutung. 

Für die Geschichte der Religion und 
Kirche kommt hier folgendes in Be¬ 
tracht. Erstlidr durch seine Kunst- und 
Weltfreudigkeit zog der Humanismus 
die Gemüter und dann auch die Köpfe 
von der einseitigen Hingebung an das 
„Jenseits“ ab, führte sie zur Erkenntnis 
der wirklichen Welt und gab dem dies¬ 
seitigen Leben damit einen Wert, ja 
einen eigenen Zweck. Wenn es nun 
eine Folge des von Luther gepredigten 
Evangeliums war, daß das Bewußtsein 
sicheren Gottesfriedens tiefe Befrie¬ 
digung schon auf Erden, ohne Mön¬ 
ch erei und asketische Obungen, er* 


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1313 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1314 


weckte, so floß aus ihr eine unbefan- I 
gene und freudige Stimmung auch der 
Welt gegenüber als dem Vaterhause 
Gottes, oder es durfte doch diese Stim¬ 
mung mit der überlieferten abwechseln, 
nach welcher die Welt ein Jammertal 
und ein Kerker ist. Das Jenseits und 
das Diesseits rückten naher zusammen, 
und dieses war nicht mehr ganz ver¬ 
femt. Ist das richtig, dann kann man 
sagen, daß der Humanismus etwas Refor- 
matorisches vorbereitet hat; aber man darf 
dabei nicht vergessen, daß die treibende 
Wurzel hier und dort eine andere war. 

Zweitens hat der Humanismus das 
persönliche Leben und das Individuum 
gleichsam erst entdeckt, von dem Druck 
der Klassen und Autoritäten befreit und 
zu Eigenleben geführt. Wie er das getan 
hat, kann auf sich beruhen bleiben; daß 
aber die Religion dabei nur in wenigen 
Humanisten, und auch in ihnen mehr 
unbewußt, beteiligt war, ist gewiß. Das 
.Selbst sein wollen“, .Selbst leben 
wollen“, .Sein Ich der Welt entgegen¬ 
stellen“, wie es im Humanismus bald als 
rücksichtsloses Herrentum, bald als un¬ 
gebundenes Ästhetentum, bald auf mo¬ 
ralischer Grundlage auftritt, zeigt, wenn 
man von Phrasen absiöht, nur bei we¬ 
nigen eine Beziehung auf den Gott, 
dessen Kraft den Menschen frei macht. 
Dann aber ist wiederum klar, daß der 
Humanismus zwar der Reformation eine 
außerordentliche Vorbereitung geleistet 
hat, indem er die Geltung der Autori¬ 
täten lockerte und den Sinn für das 
Eigenleben erweckte, daß es aber doch 
noch einer neuen Kraft bedurfte, um 
diese neue Stufe des Lebens wirklich zu 
erobern. Die .guten“ Humanisten waren 
in der Regel schwächliche Individuen 
und Charaktere, und die .starken“ Indi¬ 
viduen aus dieser Bildungswelt waren 
schlimme Herren. Also wartete die neue 
Zeit noch auf ihre Erfüllung, 

Internationale Monatsschrift 

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Drittens hat der Humanismus jedem 
seiner wirklichen und echten Jünger ein 
Erlebnis zugeführt, nämlich literarische 
Kunstwerke und Oberlieferungen auf 
ihren Gehalt prüfen, aus ihnen Leben 
schöpfen und dieses Leben steigern zu 
können. An und aus dem wiederer¬ 
weckten reichen Erbe der Griechen und 
Römer haben sie das gelernt, dessen 
Wiedererweckung freilich in Wechsel¬ 
wirkung stand mit der gesteigerten Bil¬ 
dung des Zeitalters. Wer aber Leben 
aus Schriften zu schöpfen vermag, der 
kommt dadurch stets irgendwie über diese 
hinaus, mag der Lebensinhalt, den er 
vorfindet, noch so reich sein. So ist 
Erasmus als Denker und Schriftsteller 
größer als sein bewunderter Cicero I 
Hier ist nun aber auch die Stelle, wo 
eine wirkliche Voraussetzung der Refor¬ 
mation selbst vorliegt und nicht nur 
ihrer Verbreitung: daß Luther die 
Psalmen, den Apostel Paulus und 
den Augustin zu lesen vermochte 
und daß er sie so gelesen hat, 
wie er sie las, nämlich ihre Er¬ 
kenntnisse und ihr Leben empfin¬ 
dungsvoll fortsetzend und stei¬ 
gernd — das verdankt er nicht nur 
seinem Genius, sondern auch sei¬ 
nem Zeitalter, nämlich dem Hu¬ 
manismus. Diese Bedeutung des Hu¬ 
manismus reicht weit darüber hinaus, 
daß er die Echtheit alter Urkunden zu 
prüfen vermochte, Autoritäten stürzte 
und den Wechsel und das Werdende in 
der Geschichte zu erkennen begann. 

Daß Luther ein .Bibelerlebnis“ hatte, 
d. h. daß er an dem Bibel wort eine ganz 
neue Einsicht und Erhebung für sein 
Leben gewann, damit stand er nicht 
allein. Solche Bibelerlebnisse waren seit 
der Mitte des 15. Jahrhunderts im Zu¬ 
sammenhang mit den literarischen 
Erlebnissen des Humanismus in 
Deutschland und in anderen Ländern 

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1315 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1316 


nicht selten, und die neue Verbreitung 
der Bibel durch den Druck und das 
Studium des Grundtextes beförderten 
sie. Erasmus hatte ein Bibelerlebnis, 
der Franzose Faber Stapulensis und 
manche andere. Die Evangelien oder 
der Apostel Paulus gingen den sie Stu¬ 
dierenden auf und wurden ihnen dann 
regelmäßig zu einem Maßstab, an wel¬ 
chem sie die Kirche der Gegenwart 
maßen und zu schweren Anklagen gegen 
sie kamen. Zwar der Inhalt und Erfolg 
des Bibelerlebnisses Luthers unterschied 
sich sehr bestimmt von dem der an¬ 
deren; aber daß er es erlebte, stand im 
Zusammenhang mit seinem Zeitalter. 

Darf dem Humanismus somit — ab¬ 
gesehen von seiner nationalen Bedeu¬ 
tung, die nicht hierher gehört — ein 
positiver Anteil an der Vorbereitung 
der Reformation zugesprochen werden, 
so ist dieser Anteil zwar eine große, 
das Neue auch in der Religion her¬ 
vortreibende Kraft, , nicht aber der 
Keim des Neuen selbst gewesen. Daß 
er das nicht war, hat niemand klarer ge¬ 
sehen als Luther selbst. Er erkannte sehr 
bald, daß ihn eine unüberbrückbare 
Kluft von dem Fürsten der Humanisten, 
Erasmus, trennte, weil dieser nur „Mensch¬ 
liches“ und „Moralität“ habe, aber Gottes 
Kraft nicht kenne. 

Wo aber ist der wirkliche Keim des 
Neuen dann in der Vorgeschichte der 
Reformation zu suchen? Gab es über¬ 
haupt einen solchen ? Gab es eine 
wirkliche Vorreformation? Man nennt 
wohl alle die Männer „Vorreformatoren“, 
welche die Ohrenbeichte, die Ablässe, 
das Fegefeuer, die Entziehung des Kel¬ 
ches, den Heiligendienst usw. vor Luther 
angegriffen haben; aber offenbar braucht 
man diesen Namen zu Unrecht, wenn 
man ihn auch denen in dieser Gruppe 
gibt, die des guten Glaubens waren, das 
sichtbare priesterliche Kirchenreich und 


die kirchlichen Grundanschauungen vom 
Heil und von den Sakramenten mit die¬ 
sen ihren Reformen zu stärken. 

Ebenso nennt man auch die »Vorrefor¬ 
matoren“, welche des Papstes und der 
Priester Gewalt angriffen und zu schwä¬ 
chen suchten; aber wenn das nicht im 
■ Interesse einer neuen Oberzeugung vom 
Wesen des Heils und des Glaubens ge¬ 
schah, so hat, wie wir schon gesehen 
haben, der Ursprung der Reformation 
damit nichts zu tun. 

Dennoch hat es eine wirkliche Vor¬ 
reformation gegeben. Worin sie bestan¬ 
den hat, darüber wußten die alten pro¬ 
testantischen Theologen besser Bescheid 
als die meisten Historiker des vorigen 
Jahrhunderts; doch stellt sich langsam 
die richtige Anschauung jetzt wieder her. 

Nach dem bisher Ausgeführten darf 
die „Vorreformation“, wenn es eine sol¬ 
che gegeben hat, in nichts anderem ge¬ 
sucht werden als in der innern Ge¬ 
schichte der Religion selbst Diese befand 
sich, als Luther auftrat, nicht in einem 
Niedergang; man kann vielmehr von 
einem Aufschwung sprechen, und darf 
sich durch die Anklagen Luthers und 
seiner Schüler nicht täuschen lassen. 
Zwar scheint die Zeremonien-, Werkhei- 
ligkeits- und Sakraments-Religion mit 
ihrem Heiligen- und Reliquiendienst ihren 
Ablässen und alten und neuen Nothel¬ 
fern, Meßstiftungen, Weihungen und Ge¬ 
lübden blühender gewesen zu sein als 
je; aber man wäre im Irrtum, wollte 
man in ihr nur eine Veräußerlichung 
der Frömmigkeit sehen. Auch innere und 
ernste, wenn auch mißleitete Frömmig¬ 
keit kam hier zum Ausdrude. Mit und 
neben ihr aber waren die rein geist¬ 
lichen Darbietungen reichlicher und tiefer 
als in irgendeiner Periode der Kirche 
vorher, und die Kirche kam in den Lan¬ 
dessprachen in Predigt, Unterricht und 
Seelsorge dem Gewissen näher als frQ- 


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1317 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1318 


her. Die Zahl der Predigten nahm zu, 
und neben solchen, welche nur das Ge¬ 
setz und die äußere Kirchlichkeit samt 
dem Marien- und Heiligendienst ein¬ 
schärften, wuchs wahrscheinlich die Zahl 
der tüchtigen, wahrhaft geistlichen Pre¬ 
digten. Die persönliche Seelsorge war 
reger; zu wahrer Buße, nicht nur zu Bu߬ 
werken und Ablässen wurde ermahnt, 
und der Religionsunterricht der Laien, 
wenn auch immer noch dürftig genug, 
machte langsam Fortschritte. Audi neue 
Bruderschaften sorgten für ihn, und eben 
diese Bruderschaften und andere sorg¬ 
ten auch für die armen Mitbrüder. Lang¬ 
sam begann sich die Liebestätigkeit von 
dem Banne, der auf ihr lag, zu befreien, 
daß man lediglich um des eigenen See¬ 
lenheils willen für den Kranken, Armen 
und Schwachen sorgte. Eine Laienfröm¬ 
migkeit begann sich zu entwickeln, die 
mehr war als Kirchengehorsam und die 
doch an ihrer Kirche hing. Die Bibel 
selbst lag zwar den Laien in der Regel 
noch fern, aber sie schickte sich an, auch 
zu ihnen zu kommen. Freilich auch bei 
den Frömmsten, und gerade bei ihnen, 
waren Glaube und ungestillte Seelenun¬ 
ruhe, Hoffnung und drückendste Furcht, 
innerliche Religion und äußeres Tun 
miteinander aufs festeste verflochten. Ein 
tiefes ungelöstes Problem lag auf dem 
Grunde dieser Frömmigkeit. Wo haben 
wir es zu suchen? 

Innerhalb der christlichen Religion des 
Abendlandes gab es seit dem 5. Jahr¬ 
hundert, auf den Kern der Sache gese¬ 
hen, nur einen einzigen großen 
Gegensatz, der oben bereits zum Aus¬ 
druck gekommen ist: Steht der Mensch 
in Hinsicht seiner höheren Bestimmung 
lediglich auf sich selber, auf seiner Ver¬ 
nunft, seiner Freiheit? Schafft er aus 
sich heraus das Gute als sein Werk und 
Verdienst? Und hilft ihm dabei die Re¬ 
ligion — Gott und Christus — nur als 


Krücke, die zur Not auch fehlen könnte? 
Oder ist nicht Gott-Anhangen das Gute 
und quillt nicht daher alles, was den 
Menschen aus dem Staube und der Sünde 
erhebt, aus der göttlichen Gnade, die 
erst die Freiheit schafft? Ist nicht also 
Gott Anfang, Mitte und Ende des sitt¬ 
lichen Lebens und Christus Gottes wirk¬ 
same Kraft? Dort sagte man mit Pela- 
gius: Das Gute ist die freie und verdienst¬ 
liche Erfüllung der heiligen Gebote des 
gesetzgebenden Gottes. Hier bekannte 
man mit Augustin: Das Gute strömt aus. 
dem Glauben und der Liebe, welche 
Gott schenkt. Dort hielt man sich an 
das Gesetz, hier an die Gnade, wie man 
sie im Evangelium fand. Die abendlän¬ 
disch-katholische Kirche hat sich schon im 
5. Jahrhundert auf die Seite Augustins 
gestellt und diesen Boden prinzipiell 
stets und bis heute behauptet. Aber tat¬ 
sächlich ist der Pelagianismus, d. h. der 
Moralismus und die Werkgerechtigkeit, 
nicht wirklich in ihr überwunden wor¬ 
den, weil die Ordnungen und Ansprüche 
der Kirche in dieser Richtung schon ge¬ 
festigt waren, als sie von ihrem größten 
Genius, Augustin, bezwungen, seine 
grundlegenden Religionsgedanken über¬ 
nahm. Daher ist das tiefste, ja bei¬ 
nahe das einzige Thema der inner¬ 
sten Geschichte der christlichen 
Religion im Abendland das fort¬ 
gesetzte Ringen zwischen Augu¬ 
stin und Pelagius, zwischen Reli¬ 
gion und Moral, zwischen Gesetz 
und Evangelium. Auch der große 
Kampf in der mittelalterlichen theologi¬ 
schen Wissenschaft, der sog. Scholastik, 
hat letztlich kein anderes Thema. Aus 
diesem Ringen heraus und ledig¬ 
lich aus ihm ist auch Luthers Re¬ 
formation geboren. Aber die Größe 
Luthers besteht nicht nur darin, daß er 
kräftiger und reiner als irgendein Abend¬ 
länder vor ihm den Augustinismus wie- 

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Adolf von Harnack, Die Reformation 


1320 


der in Geltung setzte, sondern daß er 
ihn auch selber reinigte, zum Abschluß 
brachte und ihm dadurch erst die Kraft 
verlieh, die ihm noch gefehlt hatte, alles 
Fremde wirklich abzustoßen. 

Steht es aber so mit der Vorausset¬ 
zung der Reformation, dann dürfen als 
wirkliche Vorreformatoren nur die Män¬ 
ner gelten, die vom 5. bis zum 15. Jahr¬ 
hundert für das augustinische Bekennt¬ 
nis in bezug auf Gnade und Freiheit, 
Gesetz und Evangelium gegen den gro¬ 
ben und feinen Pelagianismus gekämpft 
haben, und unter ihnen sind wiederum 
diejenigen als Vorreformatoren im eng¬ 
sten Sinn zu bezeichnen, bei denen sich 
Ansätze zu der Vollendung des Augusti¬ 
nismus finden, wie sie Luther gebracht 
hat Jene Vorreformatoren sind zahl¬ 
reich, diese viel spärlicher. Das Wichtige 
aber ist, daß sie keineswegs immer in 
Konflikt mit der Kirche kamen, selbst 
diejenigen nicht, welche den Augusti- 
nismus durch Betonung der souveränen 
Bedeutung des Glaubens noch steigerten. 
Zwar die Waldenser, Wiclif, Hus, 
Wesel, We s s e 1 u. a. gerieten in schwere 
Kämpfe, aber zunächst nicht deshalb, 
weil man ihren Glauben für ketzerisch 
hielt — man beachtete ihn weniger —, 
vielmehr weil man ihre Angriffe auf den 
Kirchenbegriff, das Kirchenwesen und die 
kirchlichen Einrichtungen nicht dulden 
wollte. Sätze wie die, daß unsere Ge¬ 
rechtigkeit überhaupt unter keinen Um¬ 
ständen vor Gott in Betracht komme, 
sondern nur seine Gnade und unser 
Glaube, haben Männer wie Bernhard 
von Clairvaux u. a. ungefährdet aus- 
sprechen können, weil sie nicht die Fol¬ 
gerungen aus ihnen zogen, die in ihnen 
steckten und die Luther gezogen hat, 
und weil sie daneben andere Sätze aus- 
sprachen, die jenen Sätzen widersprachen. 
Aber diese Bekenntnisse waren doch 
da, waren in den Sterbegebeten und 


sonst in der Kirche zu finden und blie¬ 
ben nicht ganz ohne Wirkung. Die 
Schüler Augustins — alle die, wel¬ 
che seinen Glauben wiederer- 
weckten und gegen den kirch¬ 
lichen Moralismus richteten — und 
sie allein, sind die Vorreforma¬ 
toren; selbst die thomistischen Scho¬ 
lastiker waren es, wenn sie sich gegen 
die neue Theologie der pelagianischen 
Scholastiker richteten, welche von Duns 
Scotus, Occam u. a. vertreten wurde. 
Dann aber ergibt es sich, daß die 
Vorreformation in dem von Augu¬ 
stin stammenden Erbe der Kirche 
selbst steckte und nirgendwo an¬ 
ders. Hieraus folgt aber weiter, daß die 
mittelalterliche Kirche auch für Luther 
die Mutterkirche fm vollen und tiefen 
Sinn gewesen und er aus ihr herausge¬ 
wachsen ist. Seine Vorläufer sind nicht 
nur bei den Sektierern zu suchen, die die 
spirituellen und religiösen Gedanken 
Augustins wieder aufgenommen und dem 
Kirchentum entgegengesetzt haben, son¬ 
dern hier steht die Kirche selbst, so¬ 
fern sie die augustinische Glaubens¬ 
lehre noch in ihren Fundamenten hatte. 
Luthers Werk ist daher wirklich .Refor¬ 
mation“ gewesen und nicht eine Revo¬ 
lution von außen. Wohl hat er das 
ganze Kirchentum gesprengt; aber die 
Kraft dazu hat er aus dem religiösen 
Erbe der Kirche selbst gewonnen; denn 
aus ihm stammen die Voraussetzungen 
seines religiösen Erlebnisses. 

Aber müssen nicht auch alle die zu 
den Vorreformatoren gerechnet werden, 
die vor Luther dem tätigen Leben der 
Frömmigkeit den Vorzug vor dem be¬ 
schaulichen der Mönche gegeben ha¬ 
ben? Und weiter, sind nicht die deutschen 
Mystiker die eigentlichen Vorreforma- 
toren? Was jene betrifft, so darf gewiß 
der Einfluß nicht verkannt werden, den 
die Wendung zum tätigen Leben, wie 


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Adolf von Harnack, Die Reformation 


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sie sich in den frommen Bruderschaften 
des Zeitalters zeigte und schon in Fran¬ 
ziskus von Assisi und seinem Orden 
aufleuchtete, für Luther und die Refor¬ 
mation gehabt hat. Aber eben die Tat¬ 
sache, daß zahlreiche Mönche in bewun¬ 
derungswürdiger Weise sich selbst ver¬ 
gaßen und ganz in dem Dienst der armen 
Brüder aufgingen, lehrt, daß dies mit 
dem höchsten katholischen Lebensideal, 
welches Luther bekämpft hat, wohl ver¬ 
einbar war, ja aus ihm abgeleitet wer¬ 
den konnte. Also darf das tätige Leben 
der Frömmigkeit nicht als „vorreforma- 
torisch“ in Anspruch genommen wer¬ 
den; es steht mit ihm anders als mit 
dem Bekenntnis zur Glaubensgerechtig¬ 
keit. Dennoch wird man überall dort 
eine Vorbereitung des reformatorischön 
Lebensideals anerkennen dürfen, wo 
man dem Nächsten nicht geholfen hat, 
um seiner eigenen Seele Verdienste zu 
erwerben, sondern wo man liebte und 
half. In diesem Sinne weist vor allem 
schon Franz von Assisi, der treueste 
Sohn der katholischen Kirche, auf ein 
neues Erleben der christlichen Religion 
hin, welches das Mönchtum sprengen 
sollte. 

Eine herrliche religiöse Erscheinung 
ist die deutsche Mystik, wie sie um die 
Wende des 13. zum 14. Jahrhundert 
emporblühte. Sie hat die Frömmigkeit 
aus den Äußerlichkeiten herausgeführt, 
belebt und vertieft. Sie hat sie inner¬ 
licher und selbständiger werden lassen; 
sie hat befreiend gewirkt und der Seele 
Nahrung zu freudigem Wachstum gege¬ 
ben. Sofern sie dabei auf augustinischer 
Überlieferung fußte, diese gegen die 
Werkgerechtigkeit, die „Verdienste“ und 
den äußeren Heils- und Glaubensmecha¬ 
nismus richtete, die Seele ganz unter 
die göttliche Gnade und Liebe beschloß 
und das Erlebnis der Wiedergeburt im 
schmerzlichsten Seelenkampf erlebte, ge¬ 


hört die Mystik einfach zu der Vor¬ 
reformation, von der wir oben gesprochen 
haben. Aber das, was das eigentliche 
Wesen der Mystik ausmachte, ist teils 
gut katholisch im Gegensatz zum Evan¬ 
gelischen, teils ist es aus der Schatz¬ 
kammer geschöpft, aus der auch der 
Katholizismus geschöpft hat, dem Neu¬ 
platonismus — nur schöpfte die Mystik 
reichlicher und übersprang die Grenzen, 
die die Kirche sich bei ihren Entlehnun¬ 
gen gezogen hatte. 

Mystik ist eine Religionsphilosophie 
mit praktischen Anweisungen. Sie ist 
diejenige Stellung zum gesamten Sein, 
kraft welcher man dieses auf die drei 
Begriffe: Gott, Welt und Seele, reduziert, 
ihr Auseinandersein als schwerste Span¬ 
nung empfindet, aber als Identität zu 
ahnen glaubt und es daher als die 
höchste Aufgabe, ja als die einzige er¬ 
kennt, aus dem Spannungsdruck zum 
Identitätserlebnis — sei es im Erkennen, 
sei es im Willen und Gefühl — zu ge¬ 
langen. Während des höchsten Span¬ 
nungsdrucks erscheint die Welt als der 
Feind, d. h. als das große Hemmnis 
zwischen Gott und der Seele; im Iden¬ 
titätserlebnis aber ist auch die Welt in 
der Fülle der Gottheit ganz verschwun¬ 
den. In der Zwischenzeit aber erscheint 
sie in ihren Stufen, die vom Nichts bis 
zur Gottheit reichen, als die Leiter zum 
Aufstieg der Seele. Auf jeder Stufe ist 
man von der je unteren als von einem 
bösen Übel befreit, und für jede Stufe 
ist die nächstfolgende die Befreiung. Die 
Stufen sind Kräfte und helfen der Seele, 
und sie muß sie doch alle hinter sich 
lassen; denn sie stammt aus Gott, geht 
zu Gott und verschmilzt in und mit 
Gott. 

Dies ist für jede höhere Religion eine 
wundervolle Melodie; aber sie ist kein 
christlicher Text, sondern ein spekulativer. 
Wohl kann die Mystik den christlichen 











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Adolf von Harnack, Die Reformation 


1324 


Text an sich ziehen und ihn ausgiebig in 
verschiedener Weise — als tröstliches Pa¬ 
radigma, als Symbol, als Erregungsmittel, 
als wirkliche Kraft — benutzen, aber 
notwendig braucht sie ihn nicht. Und 
nicht nur der christlich-geschichtliche 
Text fehlt der Mystik — auch das Grund¬ 
verhältnis von Gott und der Seele ist 
hier und dort ein anderes: Hier ist Gott 
der Vater und der Mensch sein erlöstes 
Kind, dessen Gottebenbildlichkeit aber 
keine wirkliche Stammverwandtschaft 
bedeutet; denn Gott bleibt der Herr und 
der Mensch die Kreatur, und ohne Gott 
ist der Mensch nicht ein .Nichts“, son¬ 
dern ein schuldiger Geist. Dort dagegen ist 
Gott die Falle alles Seins und der einzig 
Seiende, die Seele aber ihm entströmt — 
ein Teil von ihm, wenn sie bei ihm 
bleibt oder zu ihm zurQckkehrt, ein 
Nichts in der Entfremdung. Wohl kön- 
nen sich diese beiden Grundanschauun- 
gen ineinander schieben, ja befruchten, 
aber sie bleiben doch sehr verschieden. 

Auf Luther hat diese Mystik in ihrer 
unkirchlichen Form niemals, in ihrer 
kirchlichen, d. h. von der Kirche still¬ 
schweigend anerkannten, erst dann ein¬ 
gewirkt, als er längst ein Schüler Augu¬ 
stins geworden war, dessen Überzeugung 
von Sünde und Gnade nacherlebt *und 
auch die pantheistisch-mystischen Ele¬ 
mente bei ihm kennen gelernt hatte. Ja, 
er war schon über Augustin hinausge¬ 
wachsen und hatte den gnädigen Gott als 
seinen Gott schon erlebt, als er die Pre¬ 
digten Taulers und .die deutsche Theo¬ 
logie“ las. Sie konnten ihn daher im 
strengen Sinn nichts mehr lehren, am 
wenigsten .Mystisches“,denn das kannte 
er schon lange und das hatte ihn inner¬ 
lich unberührt gelassen. Dennoch hat 
er sie als seine Lehrmeister bezeichnet, 
und nicht mit Unrecht. Denn erstlich 
lehrten sie ihn, daß seine eigene Erfah¬ 
rung von dem Höllenschrecken der Gott¬ 


verlassenheit und des Hochmuts als 
Voraussetzung des Gotterlebnisses trotz 
ihrer Paradoxie nichts Individuelles und 
kein Irrtum gewesen sei, sondern daß 
Gott geradeso und nicht anders mit 
den Menschen handeln wolle, daß also 
jeder diesen Weg gehen müsse. Zwei¬ 
tens bestärkten sie ihn in der Sicherheit 
des Gottbesitzes, weil auch die Erfah¬ 
rung der Sünde und Gottverlassenheit 
Gottes Schickung sei, der also bei den 
Menschen bleibt, auch wenn dieser in 
der Hölle der Anfechtung liegt Das war 
bei Tauler und in der .deutschen Theo¬ 
logie“ deutlich zu lesen, und diese heilige 
Erfahrung und Dialektik des Gewissens, 
die schon der Apostel Paulus entfesselt 
hat und die nur der Unkundige .Mystik“ 
nennen kann, gab ihm eine Klärung und 
Zuversicht, dazu den Mut der sicheren 
Aussprache des Erlebten, für die er Tau¬ 
ler und dem Verfasser der .deutschen 
Theologie“ den innigsten Dank wußte. 
So darf man diese Mystiker wirklich 
neben Augustin, an dem sie Luther 
selbst als dem Größeren gemessen hat, 
auch als Vorreformatoren bezeichnen; 
aber nicht weil sie Luther gelehrt haben, 
.was Gott, Christus, Mensch und alle 
Dinge“ an sich seien, sondern weil sie 
nach Luthers Urteil über die Gesinnung, 
die wirkliche Betätigung und den Wert 
dieser Größen die Wahrheit erkannt 
hatten. 

Die Ausgestaltung und Verbreitung 
der Reformation hat fast so viele Voraus¬ 
setzungen und Ursachen, als es kirch¬ 
liche, staatliche, kulturelle und soziale 
Zustände gab, die Verbesserungen und 
Umgestaltungen bedurften und sich be¬ 
reits in einer Entwickelung zu ihnen be¬ 
wegten. Die Reformation selbst aber hat 
nur eine Wurzel gehabt: sie liegt aus¬ 
schließlich in Luthers Glaubenskampf 
und Glaubenserkenntnis. Soweit diese 
von geschichtlichen Voraussetzungen und 


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Original fram 

INDIANA UN1VERSITY 





1325 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


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Vorbereitungen abhängig waren, kommt 
als vorreformatorische Kraft nur jenes 
alte Erbe der Kirche selbst in Betracht, 
welches in den Kreuz- und Trostpsal¬ 
men, in den Briefen des Apostel Paulus 
und in Augustins Bünden- und Gnaden¬ 
lehre gegeben und immer aufs neue 
durch Augustins Schüler der Kirche vor¬ 
gehalten worden war. Dazu brachten 
Tauler und der Verfasser der „deut¬ 
schen Theologie“ für Luther eine beson¬ 
dere Note, die ihn geklärt und gestärkt 
hat. Die Reformation Luthers ist also ein 
echter Sproß aus dem Wurzelstock der 
mittelalterlichen Kirche, obgleich sie sich 
gegen sie wenden mußte. In dieser 
Kirche war zwar in weitesten Kreisen 
die Notwendigkeit von Reformen aner¬ 
kannt; aber jeder empfand sie nur dort, 
wo ihn gerade der Schuh drückte. Alle 
Bestrebungen waren daher zersplittert, 
unkräftig und bezogen sich größtenteils 
nur auf abgeleitete Mißstände. Was hilft 
es aber an den Früchten pflegen, wenn 
der Baum selbst krank ist? Um so ver-' 
söhnender wirkt die Erkenntnis, daß 
Luthers Reformation aus „der Bi¬ 
bel und St. Augustinus“ geflossen 
ist. In der entscheidenden Epoche zwi¬ 
schen 1508/9 und 1515/16 hat Luther 
diese beiden Größen oftmals zusammen 
genannt und keine anderen hinzugefügt 
Eben deshalb hat er auch niemals die 
Überzeugung und den Anspruch aufge- 
geben, der einen, alten „Christenheit“ 
anzugehören und sie fortzusetzen, die in 
den Jahrhunderten vor ihm in der katholi¬ 
schen Kirche zusammengefaßt war. Wohl 
erkannte er allmählich immer deutlicher, 
daß eine falsche Entwickelung schon sehr 
früh begonnen hat, nämlich bereits bei 
„den lieben Vätern“, d. h. bei den Kir¬ 
chenvätern der alten Zeit. Aber das 
störte ihn nicht in der Anerkennung, daß 
die Kirche zu allen Zeiten Christus und 
die Sündenvergebung in ihrer Mitte ge¬ 


habt hat. Zwar berief er sich zeitweilig 
mit Genugtuung auch auf Wiclif, Hus und 
andere, welche dem römischen Kirchen- 
tum Opposition gemacht hatten, und sah 
in ihnen seine Geistesverwandten und 
Ahnen gegenüber den Kirchenmännern. 
Aber auch sie waren ihm in den 
Glaubensgedanken, die er an ihnen 
schätzte, nicht „Sektierer“ neben der Kir¬ 
che, sondern, wie er selbst, ihre treuen 
Söhne, die sich mit Fug und Recht gegen 
angemaßte Ansprüche und falsche Leh¬ 
ren erhoben hatten. Sind aber Augustin 
und seine geistige Deszendenz (in der 
Sünden- und Gnadenlehre, in der Lehre 
vom Wort Gottes und im spirituellen 
Kirchenbegriff) die Vorreformatoren, 
so ist es andererseits ebenso gewiß, daß 
die Vertreter des herrschenden Kirchen-, 
Sakraments- und Priesterbegriffs sich 
gegen Luther mit Recht auf Augustin 
berufen durften, der überall als altkatho¬ 
lischer Kirchenmann die Konsequenzen 
seiner Heilslehre entweder nicht verfolgt 
oder abgebrochen oder verfälscht hat. 
Von hier aus stellt Luthers Unternehmen 
nicht nur einen Kampf mit Augustin gegen 
Pelagius dar, sondern auch einen Kampf 
gegen Augustin. Das unendlich reiche 
und komplizierte, ja in sich antithetische 
Erbe des unvergleichlichen Mannes kam 
erst elfhundert Jahre nach seinem Er¬ 
scheinen zu wirklicher Klärung l 1 ) 

Nicht zu den Vorreformatoren dürfen 
Occam und die Nominalisten gerechnet 
werden trotz ihrer wertvollen Erkennt¬ 
nisse, von denen Luther (s. oben das 
erste Kapitel), halb unbewußt, einen so 
reichen Gebrauch gemacht hat und ohne 

1) In seiner akademische Rede (Histor. 
Ztschr., 3. Folge, 20. Bd., S. 377—458) hat 
v. Below jüngst „die Ursachen der Refor- 
tion“ vorzüglich behandelt, aber m. E. den 
Hauptpunkt doch nicht mit ins gebührende 
Licht gerückt, weil er den reichen, aber kom¬ 
plexen Besitz der mittelalterlichen Kirche 
nicht genügend gewürdigt hat. 


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1327 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1328 


die seine Theologie geschichtlich unver¬ 
ständlich bleibt; denn seinem Glaubens¬ 
erlebnis stehen sie fern. Doch mag man 
sie in dem Sinne Vorläufer nennen, in 
welchem die Aufklärung Vorläuferin des 
deutschen Idealismus gewesen ist. 

ID. Luther. 

Altertum, Mittelalter, Neuzeit 
— diese Einteilung der Weltgeschichte 
behauptet sich gegenüber allen Versuchen 
sie zu ändern. Wann aber hat die Neu¬ 
zeit begonnen? Auf diese Frage gibt es 
drei Antworten. Die einen meinen, sie 
habe ihren Anfang genommen, als sich 
die heute noch bestehenden großen 
Staaten als wirklich selbständige gebil¬ 
det haben, die verschiedenen National- 
literaturen entstanden und Kunst und 
Wissenschaft einen neuen Aufschwung 
von Italien her genommen. Dann wäre 
der Anfang der Neuzeit schon ins 14. 
Jahrhundert zu setzen. Im Gegensatz zu 
diesen gehen die anderen viel weiter her¬ 
ab: Erst als Religion und Kirche nicht 
mehr die Mittelpunkte des politischen 
Lebens und des Lebens überhaupt bilde¬ 
ten, die Religionskriege aufhörten und 
die Glaubens-, die Denk- und die bür¬ 
gerliche Freiheit in Kraft traten oder 
sich vorbereiteten, erst da beginne die 
Neuzeit, also frühestens nach dem Drei¬ 
ßigjährigen Krieg, ja, noch später im 
Laufe des 18. Jahrhunderts. Die dritten 
aber urteilen: Die Neuzeit hat mit der 
Reformation Luthers ihren Anfang ge¬ 
nommen, und zwar am 31. Oktober 1517; 
die Hammerschläge an der Türe der 
Schloßkirche zu Wittenberg haben säe 
eingeleitet. 

Die letzteren haben redet: jener Tag 
ist der Anfang der Neuzeit Worin be¬ 
steht denn der entscheidende Unter¬ 
schied zwischen ihr und dem Mittelal¬ 
ter? In der unbefangenen Er¬ 
kenntnis des Wirklichen und in 


der mutigen und umsichtigen 
Ordnung aller Lebensgebiete 
auf Grund dieser Erkenntnis. Ge¬ 
genüber dem Mittelalter ist das Charak¬ 
teristische der Neuzeit der Realismus, 
der keinen Gegensatz zum Idealismus 
bildet, aber ihn an reale Voraussetzun¬ 
gen bindet. Suum cuique: alles Leben¬ 
dige steht auf seinem eigenen Rechte 
und soll sich in Selbständigkeit und 
Freiheit entwickeln, der einzelne, die Fa¬ 
milie, das Recht,, der Staat, die Kirche, 
die Schule und Wissenschaft, die Kunst 
und jegliche Berufsarbeit Die unge¬ 
heure Aufgabe aber, alle diese Kreise 
in eine friedliche und fördernde Einheit 
zu bringen und in ihr zu erhalten, soll 
nicht durch die kirchliche Autorität ge¬ 
löst werden — war sie es doch gerade, 
die den großen Gebieten ihre Freiheit 
genommen und zugleich den Blick für 
sie getrübt hatte—.sondern ist dem ein¬ 
zelnen, der Gesellschaft, dem Staat und 
der Kirche im Zusammenwirken anheim- 
gegeben. 

Wann hat diese neue Zeit, die freilich 
noch immer im Werden begriffen ist ja 
durch den grauenvollen Weltkrieg ge¬ 
sprengt zu werden scheint, begonnen? 
Auf einigen Linien gewiß schon geraume 
Zeit vor Luther, wie das vorige Kapitel 
gezeigt hat. Aber allen diesen Anfängen 
hat die befreiende und fortwirkende Tat 
gefehlt. Auf die Tat aber kommt hier 
alles an; denn das, was bekämpft wer¬ 
den mußte, war ja nicht wie im ersten 
Kapitel daigelegt worden ist ein bloßes 
Glaubens- und Gedankensystem, das 
man ausschließlich mit dem Wort be¬ 
kämpfen konnte, sondern es war ein po¬ 
litisches Reich, ja in gewissem Sinn das 
Weltreich. Also konnte es nur durch die 
Tat bekämpft werden, d. h. man mußte 
den Mut haben, sich von ihm loszusa¬ 
gen, und man mußte die Kraft haben, 
die Menschen wirklich und dauernd von 


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Adolf von Harnack, Dje Reformation 


1330 


dieser Herrschaft, die ihnen bisher im 
höheren Leben nahezu alles bedeutete, 
zu befreien und sie auf eine neue Bahn 
zu stellen. Das hat Luther getan und 
keiner vor ihm; die anderen haben nur 
erfolglose Versuche gemacht. „Im An* 
fang war die Tat“: Dies Wort gilt, wenn 
irgendwo, so hier, und darum hat erst 
Luther die Neuzeit begründet — und 
nicht nur für Deutschland, sondern auch 
für ganz Westeuropa, ja für die Mensch¬ 
heit. Denn wo nur immer der Bann der 
Kirche gebrochen worden ist, da hat 
seine Tat entweder direkt gewirkt oder 
doch den entscheidenden Anstoß gege¬ 
ben. Anderseits aber — wirklich er und 
kein Späterer hat sie begründet; denn 
so gewiß es ist, daß er kein Vollender 
gewesen ist, vielmehr noch sehr vieles 
hat bestehen lassen, was fallen mußte, 
so gewiß hat er mit seiner Tat ein Dop¬ 
peltes geleistet: er hat das schwerste 
Hemmnis einer neuen Entwicklung zu¬ 
rückgeschoben, zugleich aber das Fun¬ 
dament für die Neuzeit gelegt und es 
selbst aus zu bauen begonnen. 

In dieser zweieinigen Leistung liegt 
seine epochemachende Größe: er hat 
nicht nur als Revolutionär die Allein¬ 
herrschaft der römischen Kirche zu Fall 
gebracht, sondern er hat auch als ein 
echter Reformator an dem alten Glau¬ 
bensbesitz der mittelalterlichen Kirche 
durch ein tiefes inneres Erlebnis eine 
neue Art des Glaubens und der Fröm¬ 
migkeit und eine neue Stellung zur Welt 
gewonnen. Diese neue Art aber wurde 
eine starke Wurzel für die Kräfte, Trie¬ 
be ufld Blüten der Neuzeit. Die Selbstän¬ 
digkeit der Persönlichkeit und des eige¬ 
nen Gewissens und wiederum die Selb¬ 
ständigkeit aller großen Gebiete des Le¬ 
bens entwickelten sich langsam, aber fol¬ 
gerecht aus Luthers Glaubenstat. So 
liegt hier die Tatsache vor, die fast wie 
ein Rätsel erscheint, daß eine Glaubens¬ 


tat, die als solche ganz dem Gebiet des 
innem Lebens angehörte, die weltlichen 
Gebiete des Staats, des Rechts, der Fa¬ 
milie, der Wissenschaft usw. befreit hat. 
Aber das Rätsel löst sich leicht: weil 
Luther durch seine Glaubenstat die Re¬ 
ligion aus allen diesen Verbindungen 
und Verflechtungen heraus- und ganz 
auf ihr inneres Wesen zurückführte, so 
wurde nun auch alles andere, was ein 
Recht auf Geltung hatte, vom Druck be¬ 
freit und konnte unbevormundet zur 
Selbständigkeit emporwachsen. Das an¬ 
spruchsvolle corpus permixtum, die 
Kirche, wurde durch eine gewaltige Re¬ 
duktion ins Unrecht gesetzt. Dadurch 
wurde die Religion sich selbst zurückge¬ 
geben; aber eben diese notwendige und 
heilsame Beschränkung und Entlastung 
emanzipierte alle die Gebiete, welche die 
Religion widerrechtlich und zu eigenem 
Schaden besetzt hatte. Denkt man Lu¬ 
ther aus der Geschichte weg, so gäbe es 
neben der römischen Kirche in West- 
und Mitteleuropa wahrscheinlich nur die 
atheistische Aufklärung, wie wir sie bei 
den römischen Völkern heute finden; 
was aber aus den Staaten ohne ihn ge¬ 
worden wäre, das vermag niemand zu 
sagen. Also ist Luther der Begründer 
der Neuzeit. — 

In einer treffenden und tiefen Betrach¬ 
tung hat Luther öfters das, was Gott 
(bzw. Jesus Christus) an und für sich ist 
und hat, unterschieden von dem, was er 
für uns ist und hat. Jenes ist verbor¬ 
gen, dunkel, letztlich also für uns ein 
Geheimnis, dieses ist hell, klar und wirk¬ 
sam. Diese Unterscheidung trifft aber 
für jedes höhere Personleben zu und 
daher auch für Luther selbst Wir haben 
uns an den hellen Luther zu halten — 
bis Izuletzt hat er vieles „für sich“ gehabt 
— aber eben diesem Luther ist es mög¬ 
lich gewesen, Großes und Entscheiden¬ 
des ins helle und klare zu setzen, was 


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Adolf von Harnack, Die Reformation 


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andere in der Tiefe ihrer Seelen lassen 
müssen, weil sie nicht die Fähigkeit und 
Kraft besitzen, es auszusprechen. Auch 
Luther hat diese Fähigkeit nicht sofort 
erworben, nachdem seine inneren Erleb¬ 
nisse zum Abschluß gekommen waren. 
Nur stoß- und bruchstückweise ver¬ 
mochte er anfangs von dem, was er ge¬ 
wonnen hatte, zu reden, konnte wohl 
auch Angefochtene und Betrübte damit 
trösten und andrerseits die kritische Be¬ 
deutung des Erlebten einzelnen gegen¬ 
über zum Ausdruck bringen. Dann aber 
— erst seit 1519/20 — haben sich die 
Riegel in ihm gelöst, und er vermochte 
mit gegenständlicher Deutlichkeit und in 
Fülle und .Kraft das, was er erlebt hat, 
für alle anderen auszusprechen. Ja 
es drängt und treibt ihn zur rückhaltlo¬ 
sen Mitteilung. Er empfindet das See¬ 
lenheil der Christenheit, und er redet und 
schreibt wie einer, der in der letzten 
Stunde das Ganze retten muß. 

Das Erlebnis war, daß ihm Gott auf¬ 
gegangen war und daß er sagen durfte: 
„Ich habe Gott; er gehört mit seinem 
Geist und Gaben, ja mit seinem heiligen 
Wesen unzertrennbar zu mir, wie ich zu 
ihm. Er gibt mir das Seine, und ich gebe 
ihm das Meine.“ So war er auch Au¬ 
gustin aufgegangen und schon vorher 
dem Paulus, und mit beiden war es Lu¬ 
ther zweifellos, daß die Gnade Gottes 
allein das gewirkt hat und daß auch 
das zuversichtliche Vertrauen, der 
Glaube, der das festhält, ausschließlich 
Gottes Geschenk sei: kein Wollen seiner¬ 
seits hat diesen Tatbestand begründet 
und hält ihn in Kraft Niemals hat Lu¬ 
ther den Glauben als seine eigene Tat- 
empfunden, sondern immer nur als Got¬ 
tes Werk in ihm. Venit creator Spiritus. 

Aber Luthers fortwirkendes Erlebnis 
ging noch um einen gewaltigen Schritt 
über das Erlebnis Augustins hinaus und 
brachte selbst über das des Paulus erst 


volle Klarheit Augustin vermochte sich 
trotz seines Erlebnisses von der Frage 
nicht loszureißen: „Wie werde ich ein 
tugendhafter Mensch und erlange das 
Maß von Sündenfreiheit und Heiligkeit, 
welches dem Gesetz Gottes entspricht 
und in seinem Gerichte bestehen kann?“ 
Eben diese Frage aber verlor als 
solche für Luther ihre prinzipi¬ 
elle Bedeutung: Seines Gottes 
gewiß, setzte er sich mutig über 
sie hinweg, obgleich ihm die Macht 
der „Sünde“ tiefer aufgegangen war als 
Augustin. Man darf sagen, daß die reli¬ 
giöse Größe und Originalität Luthers 
hier ihre alles bestimmende Wurzel hat. 

Des näheren stellt sich sein Verhält¬ 
nis zu Gott also dar: aus den Verhei¬ 
ßungen Gottes, die er in der Bibel fand, 
bzw. aus dem Worte Gottes, wie er 
es mit Augustin nannte, letztlich aber 
aus der Erscheinung Christi, dem Ge¬ 
kreuzigten und Auferstandenen, der ihm 
das Wort Gottes war, entnahm er die 
Gewißheit der unerschöpflichen Gnade 
Gottes, die es — es komme, was da mag 
— mit ihm, dem Sünder, halten will und 
daher auch mit den Sündern überhaupt 
Mit ihm dem Sünder: im Gegensatz zur 
Kirche war er überzeugt, daß er und 
die anderen Kinder Gotteä tatsächlich 
noch immer sündigen werden; denn er 
wollte nichts wissen von einer schuld¬ 
losen Konkupiszenz, die nicht Sünde sei, 
und er hatte zudem die Erfahrung ge¬ 
macht, „daß er täglich viel sündige“. 
Also — das war seine Lehre von der 
Kraft der Gnade — können Glaubens¬ 
stand und tatsächliches noch Sündigen 
mit- und ineinander bestehen; denn 
eben der Glaube, welcher in der Gewi߬ 
heit der Sündenvergebung an Gott fest¬ 
hält, hat die Eigenart der stetigen De- 
mutsgesinnung Gott gegenüber und der 
stedgenBußgesinnung der eigenen Sünde 
gegenüber. Damit aber ist die innere 


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Adolf von Harnack, Die Reformation 


1334 


Zuständlichkeit gegeben, die den Wider¬ 
spruch zwischen dem gleichzeitig beste¬ 
henden Gnadenstand und dem „noch 
Sündigen" aufhebt und Gott wohlgefäl¬ 
lig ist. Der Sündenstand besteht in 
Wahrheit eben nicht mehr, weil die 
Schuld fort und fort vergeben wird. 
„Wohl dem Menschen, dem Gott die 
Sünde nicht an rechnet." Der Mensch 
lebt von der Vergebung der Sünden, und 
seine „Rechtfertigung" besteht darin, 
daß Gott mit dem Glauben, der Glaube 
an die Vergebung der Sünden ist, in dem 
Menschen die Zuversicht erweckt, daß 
er als Demütiger und Bußfertiger seinen 
Gott niemals verlieren kann. Dann aber 
ist der Sünden st and auch nicht einmal 
empirisch mehr vorhanden« Denn wenn 
der Begriff der Sünde letztlich aus¬ 
schließlich die „Gott—losigkeit“ ist, 
Gott aber dem Sünder treu bleibt, so 
gibt es wohl noch Sünden, aber keinen 
Sündenstand. 

Ein so tiefes Sündengefühl aber besaß 
Luther, daß er mit der Gewißheit der 
Sündenvergebung sofort die volle Se¬ 
ligkeit empfand. Sein bekannter Satz: 
„Wo Vergebung der Sünden ist, da ist 
auch Leben und Seligkeit", drückt das 
mit voller Deutlichkeit aus. Übel, Not, 
Tod und Teufel existierten nun für ihn 
nicht mehr; in dem Bewußtsein: meine 
Schuld wird mir nicht angerechnet, fie¬ 
len ihm alle anderen Hemmungen und 
Feinde des Lebens und der Seligkeit wie 
kraftlose Schatten in sich selbst zu¬ 
sammen. 

Das Verhältnis aber zu Gott, waches 
er gewonnen hatte, beschrieb er mit dem 
Apostel Paulus als Kind- und Erbver¬ 
hältnis: als Kind Gottes wußte er sich 
und wollte von keinem anderen Verhält¬ 
nis zu ihm mehr wissen. Dadurch wurde 
der komplizierte Gottesbegriff der kirch¬ 
lichen Überlieferung eindeutig. 

Weiter aber: Das Bestehen dieses Ver- 


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hältnisses hat er sich niemals klarge- 
macht oder versichert durch das Maß 
der pathetischen Gottesempfindung oder 
religiösen Emotion, sondern lediglich 
im Vertrauen wollte er es gegenwär¬ 
tig haben, und wenn dieses Vertrauen 
selbst schwach wurde, so sollte es durch 
kein anderes Mittel gestärkt werden als 
durch den Blick auf Gottes Verhei¬ 
ßungen. Dadurch wurde der kompli¬ 
zierte Frömmigkeitsbegriff der kirchli¬ 
chen Überlieferung eindeutig. Das ge¬ 
genständliche Erleben Gottes und die 
mystische Kultusreligion wurden ausge¬ 
schaltet. 

Ferner: Als die nächste Frucht dieses , 
Verhältnisses empfand er der Welt ge¬ 
genüber mit dem Apostel Paulus die 
Freiheit — die Freiheit, welche die 
Geschlossenheit des ganzen Ichs und die 
königliche Herrschaft über alle Dinge 
zugleich bedeutet. In dieser Herrschaft 
lag ihm aber vor allem die Erhabenheit 
über jegliches von außen kommende Ge¬ 
setz, mochte es selbstals göttliches pro¬ 
klamiert sein; denn ein jedes solches Ge¬ 
setz empfand er als Knechtschaft und 
Unseligkeit. 

Mit der Religion auf der Gesetzesstufe 
brach er also ganz und gar, ja er ent¬ 
hüllte die Heteronomie des Gesetzes als 
die eigentliche Qual des Menschen. Da¬ 
mit wurde das Evangelium souverän 
und begründete die Autonomie des nur 
in Gott gebundenen Christen. 

Endlich: Diese ganze Konzeption ist 
nach Luther keine subjektive, individu¬ 
elle und daher unkontrollierbare und 
phantastische — der in der Bibel gege¬ 
bene Tatbestand schützte sie bereits vor 
dieser Beurteilung —, vielmehr bezieht 
sie sich auf den einzelnen überhaupt nur 
deshalb, weil er Glied eines geschicht¬ 
lichen Ganzen ist In den Aposteln war 
die Gemeinde Jesu Christi vorgefaildet, 
die sein Geist beruft, sammelt und er- 


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Adolf von Harnack, Die Reformation 


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leuchtet. Dieser Gemeinde, die sich in nur dieser Glaube das Gute tun könne 
einer geschichtlichen Kette fortsetzt, gilt und ohne ihn alle Anstrengungen vergeh- 
Gottes gnädiger Wille, und nur durch sie lieh sind. Denn nur ein guter Baum kann 
und in ihr kommt der einzelne zu Gott, gute Früchte bringen, gut aber ist nur der 
Sie ist nicht sichtbar, vielmehr ein un- Baum des Glaubens, d. h. das Herz, das 
sichtbares Häuflein. Aber sie ist in ihren bei Gott steht. Unzählige Male hat er 
Wirkungen erkennbar und erzeugt not- sich darüber ausgesprochen, besonders 
wendig auf Erden eine. Gemeinschaft, eindrucksvoll aber in der Vorrede zum 
Sie ist für jeden einzelnen die Mutter, Römerbrief. Hier vor allem wird klar, 
aus der er mit seinem Glauben stammt; warum und inwiefern die Glaubensfrage 
denn nur aus der sich in der Gemeinde im höheren Leben bereits alles entschei- 
fortpflanzenden Predigt des Wortes Got- det. »Glaube ist nicht der menschliche 
tes erzeugt sich der Glaube des einzelnen. Wahn und Traum, den etliche für Glau- 
Dessen soll er eingedenk sein, sich mit ben halten. Und wenn sie sehen, daß keine 
seinem Glauben als ein Glied derunsicht- Besserung des Lebens noch gute Werke 
baren Gemeinde wissen und in der Liebe folgen und doch vom Glauben viel hören 
seinem Nächsten mit allen Kräften die- und reden können, fallen sie in den In¬ 
nen, ja ihm ein Christus werden; denn tum und sprechen: der Glaube sei nicht 

weil die Gemeinde der Gläubigen Christi genug, man müsse Werke tun, soll man 

Leib ist, setzt sich der lebendige Chri- fromm und selig werden. Das macht, 

stus auf Erden in ihr fort. Das Glau- wenn sie das Evangelium hören, so fal* 

benserlebnis ist also nicht auf die Be- len sie daher und machen ihnen aus 
Ziehung beschränkt: n Gott und die Seele; eigenen Kräften einen Gedanken im 
die Seele und ihr Gott“, sondern es ist Herzen, der spricht: Ich glaube. Dashal- 
ein soziales. Damit ist alle religiöse ten sie dann für einen rechten Glauben. 
„Schwarmgeisterei“ als unchristlich ver- Aber wie es ein menschlich Gedicht und 
bannt. Kein Christ hat den Glauben „für Gedanken ist, den des Herzens Grund 
sich“, sondern er hat ihn nur mit den nimmer erfährt, also tut er auch nichts, 
anderen. und folget keine Besserung hernach.“ 

•Die Frage aber, wie denn nun bei die- „Aber Glaube ist ein göttlich Werk in 
ser Konzeption das „Moralische“ zu sei- uns, das uns wandelt und neu gebiert 
nem Rechte kommt, wenn doch Gnaden- aus Gott und tötet den alten Adam, ma- 
stand und tatsächliches Sündigen hier chet uns ganz andere Menschen von 
nebeneinander bestehen, ist Luther stets Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften und 
als selbständige Frage nur von außen bringet den Heiligen Geist mit sich. Oh, 
oder durch die Pädagogik aufgedrängt es ist ein lebendig, geschäftig tätig, 
worden. Er selbst empfand sie als iso- mächtig Ding um den Glauben, daß es 
liert-moralische Frage gar nicht und war unmöglich ist, daß er nicht ohn Unterlaß 
daher immer in einer gewissen Verlegen- sollte Gutes wirken. Er fragetauch 
heit, wenn er sie in dieser Weise beant- nicht, ob gute Werke zu tun sind, son- 
Worten sollte, was dann ungenügende dem ehe man fraget, hat er sie getan 
Antworten zur Folge hatte. Er empfand und ist immer im Tun. Wer aber nicht 
sie nicht, weil er vielmehr umgekehrt mit solche Werke tut, der ist ein glaubloser 
voller Klarheit erkannte, daß erst diese Mensch tappet und siehet um sich nach 
seine Auffassung das Moralische („gute dem Glauben und guten Werken und 
Werke“) ermögliche und begründe, da weiß weder, was Glaube oder gute 













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Adolf von Harnack, Die Reformation 


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Werke sind, wäschet und schwätzt doch 
viel Worte vom Glauben und guten 
Werken.“ 

„Glaube ist eine lebendige, erwogene 
(völlige) Zuversicht auf Gottes Gnade, 
so gewiß, daß er tausendmal darüber 
stürbe. Und solche Zuversicht und Er¬ 
kenntnis göttlicher Gnade macht fröh¬ 
lich, trotzig und lustig gegen Gott und 
alle Kreaturen; welches derHeiligeGeist 
tut im Glauben. Daher der Mensch ohne 
Zwang willig und lustig wird, jeder¬ 
mann Gutes zu tun, jedermann zu die¬ 
nen, allerlei zu leiden, Gott zu Lieb und 
Lob, der ihm solche Gnade erzeiget hat, 
also daß unmöglich ist, Werk vom Glau¬ 
ben scheiden, ja so unmöglich, als Bren¬ 
nen und Leuchten vom Feuer mag ge¬ 
schieden werden. Darum siehe dich für 
vor deinen eigenen falschen Gedanken 
und unnützen Schwätzern, die vom 
Glauben und guten Werken klug sein 
wollen zu urteilen, und sind die größten 
Narren. Bitte Gott, daß er den Glaubenin 
dir wirke; sonst bleibst du wohl ewig¬ 
lich ohne Glauben, du dichtest und tust, 
was du willst oder kannst.“ 

„Gerechtigkeit ist nun solcher 
Glaube und heißet Gottes Gerechtigkeit, 
oder die vor Gott gilt, darum daß sie 
Gott gibt und rechnet für Gerechtigkeit, 
um Christi willen, unseres Mittlers, und 
macht den Menschen, daß er jedermann 
gibt, was er schuldig ist. Denn durch 
den Glauben wird der Mensch ohne 
Sünde und gewinnet Lust zu Gottes Ge¬ 
boten. Damit gibt er Gott seine Ehre 
und bezahlet ihm, was er ihm schuldig 
ist; aber den Menschen dienet er willig, 
womit er kann, und bezahlet damit auch 
jedermann.“ 

Und von der Sünde heißt es ebendort: 

„Sünde heißet in der Schrift nicht al¬ 
lein das äußerliche Werk am Leibe, son¬ 
dern alle das Geschäft, das sich mit reget 
und weget zu dem äußerlichen Werk, 


nämlich des Herzens Grund mit allen 
Kräften. Also, daß das Wörtlein »Sünde 
tun* soll heißen, wenn der Mensch ganz 
dahinfällt und führet in die Sünde. 
Denn es geschieht auch kein äußerlich 
Werk der Sünde, der Mensch fahre denn 
ganz mit Leib und Seele hinein.. Und 
sonderlich siehet die Schrift ins Herz und 
auf die Wurzel und Hauptquelle aller 
Sünde, welche ist der Unglaube im 
Grunde des Herzens. Also daß, wie der 
Glaube allein gerecht macht und den 
Geist und Lust bringet zu guten äußer¬ 
lichen Werken, also sündiget allein 
derUnglaube und bringet das Fleisch 
auf und Lust zu bösen äußerlichen Wer¬ 
ken. Daher Christus allein den Unglau¬ 
ben Sünde nennet Darum auch, ehe 
denn gute oder böse Werke geschehen, 
als die guten oder bösen Früchte, muß 
zuvor im Herzen da sein Glaube oder 
Unglaube als die Wurzel, Saft und 
Hauptkraft aller Sünde .... Um des un- 
getöteten Fleisches willen sind wir noch 
Sünder; aber weil wir an Christum glau¬ 
ben und des Geistes Anfang haben, ist 
uns Gott so günstig und gnädig, daß 
er solche Sünde nicht achten noch richten 
will.“ 

Die ganze „Reformation“ liegt in die¬ 
ser hohen Erkenntnis beschlossen, wenn 
man zu ihr hinzunimmt, was oben über 
Luthers Anschauung von der Kirche 
kurz mitgeteilt ist. Dieses Bekenntnis 
von dem Glauben und der Kirche schloß 
eine gewaltige Reduktion in sich und 
faßte die Kirche doch tiefer, ja in ge¬ 
wissem Sinn auch weiter als die alte 
Lehre. Es ruht ganz und gar auf folgen¬ 
den einfachen Grundgedanken: (1) daß 
Gottes Geist ausschließlich und allein 
durch das Wort die Kirche begründet, 
leitet und erhält, (2) daß dieses Wort 
ausschließlich die Predigt von der Sün¬ 
denvergebung ist, die an der Offenba¬ 
rung Gottes in Christus und an Christi 







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Adolf von Harnack, Die Reformation 


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Werk ihren Grund und ihre Gewißheit 
hat und den Glauben schafft, (3) daß die 
Kirche deshalb keinen anderen Spiel¬ 
raum hat als den des Glaubens und daß 
sie die unsichtbare und doch wirksame 
Mutter ist, in deren Schoße man zum 
Glauben kommt, (4) daß, weil die Reli¬ 
gion nur Glauben ist, nicht besondere 
Leistungen, auch nicht ein besonderes 
Gebiet, sei es nun der öffentliche Kultus 
oder eine selbsterwählte oder vorge¬ 
schriebene Lebensführung, die Sphäre 
sein kann, in der die Kirche und die ein¬ 
zelnen den Glauben bewähren, sondern 
daß der Christ in den natürlichen Ord¬ 
nungen des Lebens, wie Gott sie durch 
seine Schöpfung gestiftet hat, seinen 
Glauben in dienender Nächstenliebe zu 
betätigen und zu bewähren hat. 

In diesen Sätzen liegt die Abkehr von 
dem römisch-katholischen Kirchenbe¬ 
griff beschlossen. Die Kirche ist nicht 
sichtbar, auch ist sie keine Rechts- und 
Regierungsanstalt, auch kennt sie 
keinen besonderen Priesterstand: 
dies alles fällt mit einem Schlage weg. 

Durch den ersten Satz hat Luther das 
Wort Gottes — und zwar nach dem 
reinen Verstand, d.h. jeden maßgebenden 
Auslegungsanspruch zurückweisend — 
zum Fundament der Kirche gemacht und 
die augustinische Formel „verbum et 
sacramentum“ so verstanden bzw. kor¬ 
rigiert, daß das Sakrament im Worte 
einfach aufgeht. 

Durch den zweiten Satz hat er im Ge¬ 
gensatz zu allen Theologen, Asketen und 
Sektierern des Mittelalters und der alten 
Kirche das Evangelium im Evangelium 
wiederhergestellt und die „consolatio- 
nes in Christo propositae“, die der 
Glaube ergreift, zur einzigen Norm er¬ 
hoben, zugleich aber die augustinische 
Formel „fides et caritas“ so gefaßt, daß 
die Liebe als die eingeborene Funktion 
des Glaubens erscheint 


Durch den dritten Satz hat er die 
augustinische Doppeldefinition der 
Kirche, sie sei zugleich societas fidelium 
und externa sodetas sacramentorum (als 
solche sichtbar und eine politische Grö¬ 
ße) korrigiert, indem er die zweite Hälfte 
der Definition strich, aber doch dabei 
blieb, daß es auf Erden eine heilige 
Kirche gebe. 

Durch den vierten Satz endlich hat Lu¬ 
ther den natürlichen Ordnungen in Ehe, 
Familie, Beruf und Staat ihr selbstän¬ 
diges Recht zurückgegeben. Damit hat 
er die mittelalterliche und altkirchliche 
Weltauffassung und Lebensordnung 
durchbrochen und das Ideal religiöser 
Vollkommenheit so umgestimmt, wie 
kein Christ seit dem apostolischen Zeit¬ 
alter, und zwar hat er jene Lebensord¬ 
nung zweimal durchbrochen: weder 
erkannte er den Unterschied von „ge¬ 
ringeren“ und „höheren“ Werken an — 
diese Unterscheidung war auf seinem 
GLaubensstandpunkt völlig sinnlos —, 
noch suchte er die Vollkommenheit über¬ 
haupt in den Werken. Ausschließlich in 
der Zuversicht zu Gottes gnädigem Wil¬ 
len, in dem freudigen Mute gegenüber 
allen finstern Mächten, in der Demut, in 
der Geduld und in der dienenden Liebe 
ist sie zu finden. An Stelle der Kom¬ 
bination von mönchischer Weltflucht 
und Gehorsamsleistung einerseits und 
kirchlich-politischer Weltherrschaft an¬ 
dererseits entwickelte er aus dem Glau¬ 
ben heraus die größere Aufgabe, 
innerhalb der Ordnungen des natür¬ 
lichen Lebens in jenen Tugenden 
den Glauben zu bewähren. Der pes¬ 
simistische Zug gegenüber der Welt, 
der sich dabei bei ihm zeigt, darf nicht 
überschätzt w r erden, wie es jetzt öfters 
geschieht: Gewiß erwartete er von der 
Welt und der Menschheit nichts und sah 
nur ein „Häuflein“ Christen in ihr; ge¬ 
wiß war er überzeugt, daß in der Breite 





1341 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1342 


der Entwicklung der Teufel sein Spiel 
treibt und die Welt sich bei diesem grau¬ 
sen Spiel dem Ende nähere; unverkenn¬ 
bar geht ferner ein tiefer Zug von Bit¬ 
terkeit und Zorn durch seine Seele, wenn 
er an die Zustände denkt, wie sie sind, 
an diese Sünden-, Teufels- und Todes¬ 
herrschaft, und endlich predigt er so 
scharf wie nur ein Asket, man solle sich 
mit der Welt ganz und gar nicht einlas¬ 
sen, sondern seinen Sinn ausschließlich 
auf Gott und die Ewigkeit richten — 
aber hinter alledem, was sich teils als 
Erbe aus dem Mittelalter bei ihm erklärt, 
teils aus der Tiefe seiner Anlage floß, 
lag groß und stark die Zuversicht, die 
mit dem Bekenntnis begingt: „Ein’ feste 
*Burg ist unser Gott“, und mit dem Be¬ 
kenntnis schließt: „Das Reich muß uns 
doch bleiben.“ Aus dieser Zuversicht zu 
Gott und seinem Reiche heraus floß ihm 
die Anerkennung und Freude in bezug 
auf Gottes Ordnungen in derWelt und der 
frohe Mut, sich als Gottes Mitarbeiter in 
ihnen zu betätigen. Er fand und sah 
Gott überall in der Welt trotz aller Teu¬ 
feleien und verstand es, sich an seinen 
Werken im Großen und Kleinen zu ent¬ 
zücken. Und so ist es doch e r gewesen, 
welcher eine neue, unbefangene Stel¬ 
lung zur Welt begründet und in Wahr¬ 
heit die negative Askese abgetan hat. Er¬ 
schütternd weiß er von dem täglichen 
Kampfe mit der Sünde zu sprechen — 
wer das übersieht, der kennt ihn nicht 
— und ist doch friedvoll; voll Sehnsucht 
blickt er auf die Ewigkeit und das Jen¬ 
seits aus und steht doch fest in sei¬ 
nem Berufe auf dieser Erde und hat die¬ 
sem Berufe für sich und für alle ande¬ 
ren erst einen Sinn gegeben. 

In der Heilslehre, in der Lehre von 
der Kirche, in der Lehre von der christ¬ 
lichen Vollkommenheit und in der Ab¬ 
schaffung des Priestertums sind die fun¬ 
damentalen Abweichungen von der ka¬ 


tholischen Kirchenlehre und die großen 
religiösen Neubildungen enthalten. Die 
neue Heilslehre war ihm schon voll¬ 
kommen aufgegangen, als er seine The¬ 
sen anschlug, und sie steckt bereits rest¬ 
los in der ersten These, wenn man sie 
richtig versteht („Da unser Herr und 
Meister Jesus Christus sprach: ,Tut Bu¬ 
ße 4 , wollte er, daß das ganze Leben der 
Gläubigen Buße sei“); denn diese ist eine 
verstiegene Phrase, wenn man ihr nicht 
den Glaubens- und Heilsbegriff Luthers 
zugrunde legt. Die religiöse Lehre von 
der Kirche ist zwei bis drei Jahre spä¬ 
ter von ihm erreicht worden, um dieselbe 
Zeit, da er in dem Sermon von den gu¬ 
ten Werken alle Konsequenzen der Er¬ 
kenntnis vom Glauben für die „Werke“ 
zog. 

Die das Kirchentum und die Weltge¬ 
schichte erschütternden Sätze von der 
angemaßten Würde des Priester- und 
Papsttums und von der Fehlbarkeit der 
Konzilien ergaben sich — man darf sa¬ 
gen : erst zur schmerzlichen Überra¬ 
schung, dann zum grimmen Erstaunen 
Luthers — nun von selbst. Die schweren 
Fragen aber, die sich an die Herstellung 
bzw. Gestaltung einer sichtbaren Kirche 
anknüpfen, rücken erst etwas später in 
den Gesichtskreis Luthers; er hat auch, 
hier originell, genial und richtig gesehen, 
aber in seinem eigentlichen Elemente 
war er bei Behandlung dieser Fragen 
nicht. 

Die Lehre von der christlichen Voll¬ 
kommenheit hat gegenüber dem Mönch¬ 
tum auf der Wartburg eine besondere 
Förderung erfahren; aber auch sie war 
vorher schon erreicht, wie der Trak¬ 
tat von der Freiheit eines Christen¬ 
menschen zeigt; nur die Klarheit über 
den speziellen Punkt der „Gelübde“ 
fehlte noch. 

In und mit der Lehre vom Glauben, 
von der Kirche und von den Werken 












1343 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1344 


und der Vollkommenheit hat Luther 
noch Außerordentliches in der Reini¬ 
gung des Christentums geleistet. Nur 
folgende Hauptpunkte seien hervorge- 
hoben: 

Er hat die katholische Sakraments¬ 
lehre, vor allem in der Schrift „Von der 
babylonischen Gefangenschaft der Kir¬ 
che“, in Trümmer geschlagen, nicht nur 
die sieben Sakramente. Durch die drei 
Sätze: 1. Die Sakramente dienen der 
Sündenvergebung und nichts anderem; 
2 . sie wirken nicht durch ihren bloßen 
Vollzug, sondern nur durch den Glau¬ 
ben; 3. sie sind eine eigentümliche Dar¬ 
bietung des seligmachenden Wortes 
Gottes und haben lediglich von ihnen 
ihre Kraft — verwandelte er die sakra¬ 
mentalen Elemente (Wasser, Brot, Wein) 
in bloße „Sakramentalien“ und erkannte 
in ihnen nur e i n wirkliches Sakrament 
an, nämlich das sündenvergebende Wort 
Gottes. Am einschneidendsten war seine 
neue Behandlung des Bußsakraments auf 
Grund der schärfsten Kritik an dem ka¬ 
tholischen Bußsakrament. 

Er hat das ganze hierarchische und 
priesterliche Kirchensystem umgestürzt 
und ihm das allgemeine Priestertum und 
den Dienst am Wort entgegengestellt, 
der Kirche jede Jurisdiktionsgewalt über 
die Anwendung der „Schlüssel“ (Sün¬ 
denvergeben und -behalten) hinaus ab- 
gesprochen, die bischöfliche Sukzes¬ 
sion für eine Fiktion erklärt und die 
Geistlichen einfach in die Berufsstände 
der Christenheit gleichwertig eingereiht. 
Damit hat er nicht nur die mittelalter¬ 
liche Kirchenordnung, sondern auch die 
altkatholische aufgelöst. 

Er hat die überlieferte Kultusordnung 
nach Form, Zweck, Inhalt und Bedeu¬ 
tung so revidiert, daß ein vollkommen 
Neues entstand, trotz der Anlehnung an 
manche alte Ordnungen und Stücke. Er 
wollte von einem spezifischen und meri- 


torischen Gottesdienst und besonderen 
Opfern nichts mehr wissen. Die Opfer¬ 
idee hat er überhaupt, im Hinblick auf 
das einmalige Opfer Christi und auf das 
Unstatthafte der „Werke*, ganz zurQck- 
geschoben, soweit sie nicht Darbringung 
des eigenen Herzens ist. Der Gottes¬ 
dienst kann und soll nichts anderes sein 
als die Einheit der Gottesverehrung der 
einzelnen nach Zeit und Raum. Wer ihm 
einen besondern Wert beilegt, um auf 
Gott einzuwirken, der sündigt Um Er¬ 
bauung des Glaubens durch Verkündi¬ 
gung des göttlichen Wortes und gemein¬ 
sames Lobopfer des Gebets handelt es 
sich allein — vor allem zur Stärkung des 
noch schwachen Bruders und der Erzie¬ 
hung der Jugend. Der wahre Gottes* 
dienst ist das christliche Leben im Ver- i 
trauen auf Gott, in Buße und Glauben, 
in Demut und Treue im Beruf. Diesem 
Gottesdienst hat der öffentliche zu die¬ 
nen. Auch hier hat Luther nicht nur die 
Kirche des Mittelalters, sondern auch die 
alte zerschlagen. 

Er hat die formalen äußeren Autoritä¬ 
ten in Religion und Kirche abgetan: die 
Sache und die Autorität sollen sich 
decken. Weil ihm der gepredigte Christus 
(Gott in Christus, Wort Gottes) die Sache 
und die Autorität war, so lehnte er die 
heteronomen Autoritäten sämtlich ab. 
Selbst vor dem Bibelbucbstaben machte 
er nicht halt, wenn es ihm klar wurde, 
daß er mit dem „Worte Gottes“ unver¬ 
einbarist. Eben in derzeit, in weicherer 
die Autorität der Überlieferung, der 
Päpste und Konzilien bekämpfte, setzte j 
er das, was Christum treibt, einzelnen 
Bibelstellen entgegen und scheute sich 
nicht, von Irrtümern biblischer Schrift¬ 
steller in Glaubenssachen offen zu 
reden. Nichts Neues war es, wenn er sich 
neben der Heiligen Schrift (dem Worte I 
Gottes) auch auf helle Gründe (also auf 
den Verstand) berief; aber er führte , 


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Original frurn 

INDIANA UNfVERSITY 







1345 


Adolf von Ffarnvck, Die Reformation 


dabei keine doppelte Rechnung wie die 
Scholastiker, vielmehr wo er sich auf 
Ihn berufen zu müssen glaubte — abge¬ 
feimt und geschmäht hat erden Verstand, 
der sich dem Pelagianismus und der 
Wunderscheu entgegenstellte —, da tat 
eres im Sinn einer eindeutigen und voll* 
gültigen Entscheidung. Aber auch auf 
das Gewissen hat er sich berufen — 
vor allem in der großen Stunde zu 
Worms — und diesem, obwohl er das ir¬ 
rende Gewissen kannte, sein volles Recht 
gegeben gegenüber jener kirchlichen 
Vergewaltigung, die im Namen Gottes 
das Gewissen unter die Lehren der Kir¬ 
che beugte. Luther hat auch damit eine 
neue 2eit begründet, daß er das Gew»' 
ften für unantastbar erklärte. Lieber 
wollte er sehen, daß einer mit seinem 
irrenden Gewissen zur Hölle fahre, als 
daß man ihn zur Unterwerfung zwinge. 

Die überlieferte Trinitätslehre und 
Christologie hat Luther nicht angetastet, 
auch nicht das Knochengerüst der 
kirchlichen Dogmatik; aber er hat.das 
Alte doch auch in systematische r Hinsicht 
mit neuem Geist erfüllt und an wichtigen 
Punkten auch die Terminologie bean¬ 
standet. Auf Heilsgewißheit und 
auf Vereinfachung und Zusam- 
menschau kam es ihm an, und von 
hier aus hat er dem Dogmatiker sehr 
wichtige Fingerzeige gegeben, ohne 
selbst einen starken Trieb nach syste¬ 
matischem Aufbau zu empfinden. In 
jedem Hauptteil der Lehre das Ganze 
zu erkennen — so ist ihm bereits das 
Lehrstück von Gottes Vorsehung, recht 
verstanden, das ganze Christentum —, 
jede Einzellehre in den festesten Zusam¬ 
menhang mit dem Hauptzweck zu setzen, 
d. h. überall Gottes Gnade und Trost 
anderseits aber die Gebundenheit des 
natürlichen Menschen zu erkennen und 
die Zuversicht zu Gott zu stärken: das 
war sein Hauptanliegen als Theologe. 

Internationale Monatsschrift 


1346 

So stellte er in Wahrheit in der Trini¬ 
tät» lehre die spekulativen Bestandteile 
zurück und sah in dem dreieinigen Gott 
den Gott des Heils, und in bezug auf 
Christus konnte er schreiben: „Christus 
ist nicht darum Christus genannt, daß 
er zwei Naturen hat, sondern er tragt 
diesen herrlichen und tröstlichen' Namen 
von dem Amt und Werk, so er auf sich 
genommen hat.“ Daß die dogmatische 
Terminologie durchgreifend zu korrigie¬ 
ren sei, hat er deutlich empfunden, ist 
aber über wertvolle Ansätze nicht hin- 
weggekommen und glaubte sie schlie߬ 
lich den Gegnern „nachsehen“ zu müs¬ 
sen. An den Terminis „Kirche“, „Sakra¬ 
ment“, „iustificatio, sanctxficatio, vivifi- 
catio“, „homousios“, „trinitas und uni- 
tas“ hat er gerüttelt, wenn er sie schlie߬ 
lich auch bestehen ließ. 

Niemals hat in der Geschichte der Re¬ 
ligion und des Geistes ein anderer Epi¬ 
gone — und Epigone war auch Luther, 
nämlich des Paulus — so vieles auch im 
Ausbau der Gedanken und der neuen 
Ordnungen geleistet wie Luther. Bereits 
diese Übersicht wird das bewiesen ha¬ 
ben. Sie hat aber auch gezeigt, was al¬ 
lein die Wurzel und Triebkraft seiner 
ganzen Reformation gewesen ist, und 
damit die Betrachtungen über die „Vor¬ 
reformation“ (s. oben Abschnitt 2) ge¬ 
rechtfertigt: Der Gegensatz „Au¬ 
gustin— Pelagius“ist erst durch 
Luthers Reformation zum Aus- 
trag gekommen; letztlich hat es 
sich in ihr nur um ihn gehandelt, 
und der Kampf gegen die alte 
Kirche ist lediglich von hier aus 
zu verstehen. 

Die Antworten auf die beiden Fragen, 
die sich nun erheben, was Luther vom 
Alten zu Unrecht noch festgehalten und 
ob er umgekehrt nicht zu viel niederge- 
rissen und für alles, was er aufgelöst, 
auch volle Entschädigung gebracht hat, 

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INDIANA UNfVERSITY 



1347 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1348 


sollen in unsrer festlichen Betrachtung 
nicht in ausführlichen Erwägungen ge¬ 
geben werden; sie mögen bei einer an¬ 
deren Gelegenheit zu ihrem vollen Recht 
kommen. Doch sei wenigstens angedeu¬ 
tet, um was es sich hier handelt Ich 
versuche es unter Hinweis auf meine 
Darlegungen in der „Dogmengeschichte“ 
(Bd. 3 4 S. 863 ff.) und auf meinen Auf¬ 
satz: „Was wir von der römischen Kir¬ 
che lernen und nicht lernen sollen“ (Re¬ 
den und Aufsätze Bd. 2 S. 247 ff.): 

1. Luther hat die bei den großen überlie¬ 
ferten Voraussetzungen der Anschauung 
über Gott, Welt, Geschichte und Reli¬ 
gion—das vorkopernikanische Weltbild 
und das mit der Lehre vom Sündenfall 
und der Erbsünde gegebene Geschichts¬ 
bild, sowie die aus letzterem fließende 
pessimistisch-eschatologische Stimmung 
—, dazu den Glauben an die Notwendig¬ 
keit und Wirklichkeit einer durch äußere 
Eingriffe Gottes sich vollziehenden 
Heilsgeschichte (samt dem stärksten 
Wunder-, Teufels- und Hexenglauben) 
als selbstverständlich festgehalten. So 
war und blieb er als Denker ein mittel¬ 
alterlicher Mensch und hat das Neue, 
welches er besaß, in die alten Schläuche 
gießen müssen. 

Dazu kam, daß die Kritik noch nicht 
so weit vorgeschritten war, um über das 
Verhältnis der alten Kirche zu Paulus 
und dieses Apostels zum Evangelium 
Jesu klare Erkenntnisse zu ermöglichen. 
Ferner: Da sich die alte griechische 
Kirche in ihrer Dogmatik viel weni¬ 
ger mit den „Werken" befaßt hatte als 
mit dem, was Gott durch Christus ge¬ 
tan hat, und da der Papst in jener Zeit 
eine geringe Rolle spielte, so fühlte sich 
Luther gegenüber dem Mittelalter der 
alten Kirche verwandt sah in ihren dog¬ 
matischen Hervorbringungen ausschlie߬ 
lich Zeugnisse für den in Christus gnädi¬ 
gen Gott und die Sündenvergebung und 




übersah das Trennende. So kam es» daß 
er trotz guter Kritik im einzelnen — 
namentlich in seiner Schrift „Von den 
Konziiiis und Kirchen“ und in den Be¬ 
merkungen gegen Hieronymus — die 
dogmatische Arbeit der griechischen 
Kirchenväter als wesentlich zutreffende 
Darlegung des evangelischen Glaubens 
anerkannte. 

Die hiermit bezeichneten Schranken 
seiner Erkenntnis und Lehre waren fast 
unvermeidliche, wenn auch in bezug auf 
die Trinitätslehre und Christologie in 
seinem Zeitalter bereits kühnere Er¬ 
kenntnisse hervorzutreten begannen. 
Aber es waren in seiner Eigenart außer¬ 
dem noch Schranken gegeben, die kei¬ 
neswegs „unvermeidlich“ waren. Die 
empfindlichste war, daß er nahezu unfä¬ 
hig gewesen ist, bei Gegnern die Wahr 
heit, die sie vertraten, anzuerkennen und 
dazu noch von einem argwöhnischen 
Mißtrauen gegen ihre Personen erfüllt 
war. Man hebt gewöhnlich nur sein bö¬ 
ses Schmähen und Schimpfen hervor 
und die Robustheit und Rustizität sei¬ 
ner Angriffe, sowohl gegen seine Feinde 
als gegen die feinen Bauten, welche ro¬ 
manischer Geist und Klugheit gezimmert 
hatten. Aber das ist das geringere ge¬ 
genüber der trotzigen Verhärtung, die 
er allem entgegensetzte, was von sei¬ 
ten seiner Feinde kam, und sein Feind 
konnte man leicht werden. Gewiß diente 
ihm zur Entschuldigung, daß er aus un¬ 
reinen Händen überhaupt nichts emp¬ 
fangen wollte und daß er einem schlech¬ 
ten Baum keine guten Früchte zutraute. 
Aber bei so manchem Gegner traf weder 
das eine noch das andere zu, und na¬ 
mentlich im Kampf mit den „Schwär¬ 
mern“ und in seinem Urteil über Zwingli 
hat er schwere Ungerechtigkeiten began¬ 
gen und seine Sache dauernd geschädigt 
Zwar wirkte im Kampfe gegen sie auch 
sein intuitiver Blick für deutsche ES- 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




1349 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1350 


genart und für die besonderen Gefahren, 
die den Deutschen drohen („Rotte' 
reien“), dazu sein treffendes Urteil dar¬ 
über, was die Stunde verlangt und was 
der nächste Schritt gebietet, mit; 
aber das alles entlastet ihn nur zum Teil. 
Er hat Fortschritte gehemmt, die sich 
schon damals zu entwickeln begannen. 

Daneben kommen Widersprüche in 
Betracht, die bei ihm teils in dem Man¬ 
gel systematischen Denkens, teils in der 
Anhänglichkeit an die Überlieferung, 
teils in seinem Trotze begründet sind. 
Er hat den Begriff der „reinen Lehre“ 
in einer Unklarheit gelassen und so 
eine Verwirrung von „evangelium“ und 
„doctrina evangelii“ hinterlassen, trotz 
der zahllosen Stellen, in denen er den 
rein religiösen Begriff des Evangeliums 
formuliert; daher sind nicht seine Epi¬ 
gonen allein an der lutherischen Scho¬ 
lastik schuld. Er hat die Größen „Wort 
Gottes“ und „Heilige Schrift“ teils aus- 
einandergehalten, teils identifiziert und 
wider seine bessere Erkenntnis im ein¬ 
zelnen häufig doch einer buchstäblichen 
Schätzung der Heiligen Schrift und ihrer 
äußeren Autorität Raum gegeben. Er hat 
ebenso in der Sakramentslehre nicht die 
letzten Konsequenzen gezogen, sie viel¬ 
mehr seinen Anhängern mit schweren 
katholischen Belastungen überliefert 
und speziell in der Abendmahlslehre, in 
nominalistische Spekulationen zurück¬ 
fallend, eine Formulierung verteidigt, 
die nicht nur an sich unerträglich war, 
sondern auch auf andre Lehrstücke ver¬ 
hängnisvoll einwirkte und die wieder 
heraufziehende Scholastik verstärkte. 
Überall kann man hier und bei anderen 
großen Widersprüchen, die ich beiseite 
lasse, mit vollem Recht gegen Luther 
an Luthe rappeliieren; aber an den ge¬ 
brochenen Wirkungen, die dr gehabt, 
läßt sich dadurch nichts ändern. Wahr¬ 
haft groß und über die Jahrhunderte ra¬ 


gend bleibt er eben nur, wenn er das re¬ 
ligiöse Erlebnis ausspricht, welches seine 
ganze Persönlichkeit zu dem gemacht 
hat, was sie war, und wenn er die Kon¬ 
sequenzen zu Mut, Kraft und Trost aus 
ihm zieht. Dies zu tun — in unver¬ 
gleichlicher und herrlicher Weise — da¬ 
zu ist er bis zum Ende seines Lebens fä¬ 
hig gewesen, wenn er es auch später 
nicht mehr in der Fülle vermocht hat 
wie im Jahre 1530 auf der Feste zu Ko- 
burg. Das aber entschädigt reichlich für 
alle Beschränktheiten und Widersprüche. 

2. Hat Luther umgekehrt zu viel nie¬ 
dergerissen und hat er dasAufgelöstevolI 
ersetzt? Eine Doppelfrage, die die tief¬ 
ste geschichtliche Einsicht und das ge¬ 
schärfteste Urteil verlangt! Andeutun¬ 
gen, wie sie hier allein gegeben werden 
können, müssen unbefriedigend bleiben; 
dennoch seien sie gewagt. 

Die Auflösung des ganzen Kirchen - 
wesens war eine Notwendigkeit, da Me- 
lanchthons Meinung, man könne den 
Papst gelten lassen, wenn er das Evan¬ 
gelium anerkenne, ein Traum war und 
ist. Mit der radikalen Auflösung fie¬ 
len aber auch Stücke des Kirchenwe¬ 
sens dahin, die wertvoll und 
doch nicht zu ersetzen waren — ich 
rechne dazu das Bischofsamt —; vor al¬ 
lem aber fiel die Selbständigkeit der 
Kirche dahin. Kann man Luther hier 
eine Schuld geben oder trifft die Schuld 
andere oder niemanden? Vielleicht war 
Luther zu vorsichtig in bezug auf das 
Unternehmen, selbständige Gemeinden 
und einen selbständigen Verband sol¬ 
cher zu begründen; aber vielleicht war 
er in seiner Zeit im Rechte, gerade so zu 
handeln, wie er hier und daher auch in 
Beziehung auf Fürsten und Obrigkeit ge¬ 
handelt hat. Er kannte seine Deutschen 
und speziell die Sachsen und Branden¬ 
burger! Eine Entscheidung wage ich 
nicht zu geben. 

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INDIANA UNIVERSITY 





1WI 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


DaB man eine Kirche, die 1500 Jahre 
all wan einen großen Teil Europas um¬ 
spannte und sich als „Christenheit" emp¬ 
fand, mindestens zunächst nicht „erset¬ 
zen“ kann, sollte sich von selbst ver¬ 
stehen. Aber daB Luther für seine Auf¬ 
fassung der „Christenheit“, die ihm 
doch eben so ah wie die römische 
Kirehe, ja älter war, so wenig Verständ¬ 
nis fand, ja daB der Sinn für die eine 
große Christenheit in den lutherischen 
Kirchen fast ganz unterging und bis 
heule nahezu fehlt — vielleicht der 
traurigste Mangel im deutschen Pro¬ 
testantismus, an dem er sterben kann —, 
Ist das nicht Luthers Schuld? Man wird 
ihn hier von der Mitverantwortung nicht 
freisprechen können. Er hat zu wenig 
dafür getan, um durch eine engere Ver¬ 
bindung der „Landeskirchen" den Sinn 
dafür zu erwecken, bzw. aus der alten 
Kirche zu übertragen, daß es auf eine 
große und weite Gemeinschaft an¬ 
kommt Auch diese ist natürlich so we¬ 
nig die Kirche des dritten Artikels wie 
die kleine Landeskirche, aber sie fördert 
das Verständnis für jene; denn dem 
idealen Gedanken steht eine weite und 
große Kirchengemeinschaft doch näher 
als eine kleine Landeskirche, in der sehr 
bald die kirchlichen Interessen mit den 
politischen und gesellschaftlichen zu- 
sammenfließen, um dann in ihnen zu er¬ 
loschen. Im deutschen Protestantismus 
ist hier ein schweres religiöses Manko 
entstanden: die Kirchenflucht in allen 
Schichten ist eine natürliche Folge des¬ 
selben, und wenn auch niemals jene Art 
von Kirchlichkeit im Protestantismus er¬ 
wünscht ist« die aufrechterhalten wird, 
weil' sie als „verdienstlich" insinuiert 
wird, so zeigen doch z. B. die kalvini- 
schen Kirchen, daß es hier ein Mittleres 
gibt. Alles Kirchliche ist im Leben des 
deutschen Laien-Protestantismus so 
sehr zurückgedrängt, daß man es be¬ 


reits als eine Anmaßung empfindet, 
wenn sich die Kirche überhaupt nnr 
selbständig regt und daß es wider den 
guten Ton verstößt, von ihr in der Ge¬ 
sellschaft zu sprechen. Vor allem aber: 
der Sinn für eine allgemeine und wirk¬ 
same Verbrüderung der Menschen durch 
das Evangelium und das Streben nach 
Verwirklichung des Gedankens: »Ein 
Hirt und eine Herde“, ist seit der Tren¬ 
nung vom Katholizismus im Protestan¬ 
tismus sehr schwach geworden. Der 
ernste Katholik empfindet den Segen 
einer großen christlichen Gemeinschaft 
lebendiger, die Spaltung der Christen¬ 
heit schmerzlicher und die Aufgabe der 
Vereinigung brennender. Es gibt bei uns 
viele, die nicht nur die Trennung der 
Konfessionen sozusagen für normal hal¬ 
ten, sondern auch die Zerklüftung der 
christlichen Völker. Aber — ich darf die 
Worte wiederholen, die ich vor 36 Jah¬ 
ren geschrieben habe und die heute nö¬ 
tiger sind als je — der große Gedanke 
der allgemeinen durch das Christentum 
herbeizuführenden Einheit der Völker 
wird durch andere Ideale nicht ersetzt 
Wir freuen uns, wenn in dieser Welt 
der materiellen Interessen ein edler Pa¬ 
triotismus gepflegt wird. Aber wie arm¬ 
selig ist doch der Mensch, der im ftj- 
triotismus sein höchstes Ideal erkennt 
oder im Staat die Zusammen Fassung al¬ 
ler Güter verehrt! Weich ein Rückfali, 
nachdem wir in dieser Welt Jesus Chri¬ 
stus erlebt haben! Wir sollen daher 
mit aller Kraft die christliche Einheit-der 
Menschen erstreben, und in unseren klei¬ 
nen Kreisen aufgeschlossen und weit¬ 
herzig sein, um fähig zu werden, daran 
zu glauben, daß die brüderliche Einheit 
der Menschheit kein Traum der Träu¬ 
mer ist, sondern ein vom Evangelium 
unabtrennbares Ziel Daß wir hier so 
stumpf geworden sind, ist u. a. aueh eine 
Folge unserer Trennung. Diese Tren- 


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INDIANA UNtVERSITY 


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1353 


♦ 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


nutig war notwendig; aber nur ein ganz 
kurzsichtiger Protestant kann verkenne«, 
daß sie nicht nur unsem GegnernScha- 
den gebracht hat, sondern auch uns. 

Mit dem öffentlichen Gottesdienst 
steht es ähnlich wie mit dem Kirchen- 
wesen. Die Messe mußte abgetan wer¬ 
den und keine Art von meritorischem 
Gottesdienst durfte an die Stelle treten. 
Aber in psychologisch-religiöser Hin¬ 
sicht genügte nicht, was Luther darbot, 
so ausgezeichnet sonst seine Gottes¬ 
dienstordnung ist Das Moment der 
Feierlichkeit und der stillen gemeinsa¬ 
men Anbetung, in der jede subjektive 
religiöse Stimmung ihre Anregung fin¬ 
det und sich dabei von der Gemeinschaft 
der Gläubigen getragen weiß, tritt zu 
sehr zurück und findet keine Fürsorge. 
Und weiter, auch vom Opfergedanken 
darf man sagen, daß er zu radikal ent¬ 
fernt worden ist. Audi hier hat sich das 
Bessere als der Feind des Guten erwie¬ 
sen, weil der „reine“ Glaubensgedanke 
keine genügende Rücksicht auf das 
psychologisch-pädagogische Moment 
nimmt, welches im Opfergedanken liegt. 

Durch eine gewisse abstrakte Strenge, 
das Höchste zu fordern oder nichts, ent¬ 
gleiten die Seelen der religiösen Füh¬ 
rung. Da der Mensch im Leben des Ta¬ 
ges nicht deutlich in den großen Kon¬ 
trasten, sondern in dem Widerspiel ab¬ 
gestufter Stimmungen und Motive lebt, 
so kann im Sittlichen kein anderes 
Schema das des Opfers ersetzen. Man 
muß Opfer bringen, wenn man Ideale 
hat und geistige Güter erwerben und 
festhalt«« will. Der Mensch hat nur so 
viele Ideale, als er Opfer bringt. Es wird 
bei uns zu wenig Entsagung verlangt, 
und zu selten hört man die eindring¬ 
liche Mahnung an unser Geschlecht, 
daß es opferscheu ist und deshalb 
lau, mutlos und charakterlos. Das Wort 
„OpfeP‘ hat fast einen so schlimmen 


m 

Klang wie das Wort „Tugend“. Damm 
ist die ganz auf den Glauben gerichtete 
Eigenart Luthers, die sich praktisch in 
einem gewissen Doktrinarismus nieder- 
schlagen mußte, nicht ohne Schuld. Frei¬ 
lich kann man sich an diesem Punkt Lu¬ 
ther nicht anders wünschen, als er war. 
Aber wenn die heroische Eigenart gro¬ 
ßer Männer als Vorbild und Influenz auf 
die kleineren übergeht, entsteht oft et¬ 
was Ungenügendes oder ein Manko. — 

Nicht schuld ist Luther daran, daß die 
Übung des mündlichen Bekennens und 
der offenen Aussprache von Verfehlun¬ 
gen im Protestantismus kaum noch von 
den Kindern verlangt wird, hat doch 
kaum jemand so stark wie er, trotz Ab¬ 
lehnung der obligatorischen Ohren¬ 
beichte, die befreiende Kraft und die 
vorbeugende Wirkung des offenen 
Schuldbekenntnisses und der beichtvä- 
terlichen Beratung von Bruder zu Bru¬ 
der verkündet. Aber so, wie er die Hilfs¬ 
mittel des gemeinschaftlichen religiös- 
sittlichen Lebens geordnet hat und vor 
jeder Reglementierung sich scheute, die 
in das innere Leben einzugreifen schien, 
mußte sich bald die Lücke einsteilen, die 
hier zu beklagen ist. Wohl wird noch im 
Protestantismus gebeichtet, aber in der 
Regel nur, wenn es schon zu spät ist; für 
die prophylaktische Übung der Beichte 
besteht keine Tradition und kein anlok- 
kender Anhaltspunkt. 

Endlich — das Mönchtum mußte ab¬ 
getan werden. Wer aus der Geschichte 
den Jammer der obligatorischen Gelüb¬ 
de, der erzwungenen „Religion“ und der 
befleckten Gewissen kennt, wird nicht 
aufhören, die befreiende Tat Luthers an 
diesem Punkte zu preisen. Aber blickt 
man andrerseits auf das, was die Klöster 
und die Mönche geleistet haben, so kann 
man das Urteil nicht unterdrücken, daß 
hier au viel geschehen ist und daß die 
Aufhebung der obligatorischen Ge- 


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1355 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


lübde einen besonderen Stand in der Kir¬ 
che nicht aufzuheben brauchte, der sich 
von Berufs wegen von der Welt zurück¬ 
zieht, um in dienender Liebe zu helfen, 
zu heilen und den Brüdern und dem gan¬ 
zen christlich-sozialen Körper Gesund¬ 
heit des Leibes und der Seele zu gewin¬ 
nen. Die christliche Gemeinde kann 
einen solchen Dienst nicht entbehren und 
muß ihn sich daher schaffen; aber Lu¬ 
ther hat es — wieder in jenem Idealis¬ 
mus, der jedem einzelnen Christen das 
Höchste und Beste als Aufgabe zumu¬ 
tete — unterlassen, in seiner Gemeinde¬ 
bildung dem Mönchtum ohne obligato¬ 
rische Gelübde Raum und eine feste 
Stelle zu geben. Und noch etwas anderes 
fiel damit fort — die Zufluchtsorte für 
solche, die im Sturm des Lebens Schiff¬ 
bruch erlitten haben, sich in der großen 
Welt nicht mehr zu halten vermögen, 
aber im Kloster nicht nur Unterkunft 
und Halt gewinnen, sondern auch durch 
besondere Dienstleistungen wieder wert¬ 
volle Glieder des Gemeinwesens werden 
können. 

In den vorstehenden Andeutungen ist 
auch die Frage zum Teil beantwortet, 
was uns die Reformation gekostet hat. 
Daß man in der Geschichte — die, je 
befreiender sie eingreift, um so einseiti¬ 
ger verfährt — nichts umsonst erhält, 
das bezeugt auch Luthers Werk. Die Ko¬ 
sten waren groß, und wir tragen noch 
an ihnen. Im Hinblick auf sie muß man 
ein religiöses Existenzrecht der katho¬ 
lischen Kirche anerkennen und ist außer¬ 
stande, Luthers Urteil und Kampfes¬ 
weise noch fortzusetzen, ja man darf und 
muß bekennen, daß die unter uns beste¬ 
hende Spannung zwischen beiden Kir¬ 
chen und ihr Wirken auf demselben 
Boden für beide Teile auch Gutes und 
Förderung bedeutet — aber das vermag 
nicht im geringsten den unauslöschli¬ 
chen und freudigen Dank zu schmälern, 


den wir Luther schulden. Er hat ca 
Wirklichkeits- und Wahrheitssinn in dq 
Religion erweckt, den wir als höchst 
Gut preisen, gegenüber jener Scheu, oe 
Wirklichkeit ins Auge zu sehen und 
lern zuvor der Wahrheit die Ehre zu gt 
ben, von der wir den Katholizismus nick 
loszusprechen vermögen. Wir wiss* 
sehr wohl, welche respektvollen Rück 
sichten und welche Sorgen für das Gc( 
samtwohl ihn hindern, die Wahrheit 
frage über alles zu stellen, wir wissd 
auch, daß der faszinierende Eindruck da 
Autorität der heiligen Mutterkirchehea« 
noch hoch gemutete und lautere Geister 
wie einst Augustin, gar nicht bis zoi 
letzten Wahrheitsfrage kommen läßt) 
aber im Hinblick auf das Erlebnis dei 
Freiheit — zum Leben in der Wahrhai 
— erscheint uns alles Kümmerliche des 
Protestantismus gering und erträglich 
Und deshalb vermögen wir auch den Vor¬ 
wurf, die Reformation sei * Säkularisie¬ 
rung“ der Religion, ruhig hinzunehmea 
In gewissem Sinne ist sie das wirklich 1 ), 
aber, auf die Hauptsache gesehen, ist sie 
vielmehr Vollendung der Religion, in¬ 
dem sie an die Stelle der extensiven 
Absolutheit die intensive gesetzt hat 

Von hier aus stellen wir noch einmal 

1) S. meinen Aufsatz: »Die Bedeutung 
der Reformation innerhalb der allgemeiner 
Religionsgeschichte“ in den „Reden und 
Aufsätzen“ Bd. 2 S. 295ff: »Die Reformation 
bedeutet einen epochemachenden Um¬ 
schwung in der Religionsgeschichte über¬ 
haupt; denn Luther hat das, was man bis¬ 
her für das Wesen der Religion hielt (In¬ 
spiration, Enthusiasmus, Mystik, Weltflucht 
usw.), als vorübergehende oder sekundäre 
oder als bedenkliche Erscheinung betrachtet, 
und er hat das, was als abgeleitete Wirkung 
der Religion galt (Glaube, Gottvertrauen 
und Zuversicht zu seiner Weltregierung. 
damit Geduld, Treue im Beruf) als ihr We¬ 
sen beurteilt. Zu den Religionsstiftem darf 
er dennoch nicht gerechnet werden, wie 
Döllinger wollte, wohl aber ist er unter 
allen Reformatoren der größte. 







1357 


Adolf von Harnack, Die Reformation 


1358 


die Frage, ob Luther mit seiner Refor¬ 
mation die Neuzeit begründet hat, mit 
der wir oben begonnen haben. Von drei 
Erwägungen aus kann sie verneint wer¬ 
den : Luther sei eine zu partikular 
deutsche Erscheinung,um als Begrün¬ 
der der Neuzeit gelten zu können, ferner 
wurzle seine gesamte Lehre in einer Vor¬ 
stellung von der Sündhaftigkeit der 
Menschheit, die wir nicht mehr teilen, 
und endlich sei seine „Religion“ und 
„Freiheit“ grundsätzlich von der Reli¬ 
gion und Freiheit verschieden, welche 
heute, sei es in der Aufklärung, sei es 
im deutschen Idealismus hochgehalten 
werden. 

Können diese Einwürfe nicht wider¬ 
legt werden, so ist der Anspruch der 
Reformation, die Neuzeit zu begründen, 
hinfällig; denn mit solchen Hinweisen, 
wie daß die heutigen altgläubigen Pro¬ 
testanten doch auch zur Neuzeit gehö¬ 
ren, ja noch immer einen bedeutenden 
Einfluß auf sie besitzen, daß die Wert¬ 
schätzung der Berufsarbeit und zum Teil 
auch die bürgerlichen Ordnungen der 
Gegenwart auf die Reformation zurück¬ 
geführt werden müssen, daß die Schöp¬ 
fung des evangelischen Predigerstandes 
die Schöpfung eines sehr wichtigen neuen 
Berufsstandes bedeutet usw., ist es na¬ 
türlich nicht getan. 

1.Luther, der Deutsche — gewiß, 
er war ganz und gar ein deutscher Mann, 
so sehr, daß ihn in der Totalität seines 
Wesens niemand aus der Zahl der nicht- 
germanischen Völker jemals begriffen 
hat. Die „Heimlichkeiten“ seines We¬ 
sens, die Größe und die Kindlichkeit, 
kann nur ein Deutscher nachempfinden 
und sich an ihnen erbauen, und nicht 
einmal jeder Deutsche — der Protestant 
Lagarde hat ihn mit Härte offen ab¬ 
gelehnt, und wie viele Protestanten tun 
es heimlich! Aberdas, was den Kern 
seines Wesens bildet, waretwas 


Universales, das nachzuerleben 
auch ein Nichtdeutscher befähigt ist: 
es hat den internationalen Humani¬ 
sten Melanchthon so erfaßt, daß er 
ganz in Luther aufging; es hat den 
Franzosen Calvin zum Schüler Lu¬ 
thers gemacht, und es hat sogar Itali¬ 
ener ihm zugeführt. Ferner ist zu beden¬ 
ken, daß man immer nurcumgranosalis 
einen Mann den Begründer einer neuen 
Epoche nennen kann, da neben ihm stets 
eine Fülle von Bedingungen nötig ist, 
damit eine neue Zeit entstehe. Man darf 
aber mit mehr Recht — wie jeder Unbe¬ 
fangene zugestehen muß — Luther an 
die Spitze der Neuzeit stellen, als ir¬ 
gendeinen anderen, auch wenn man auf 
die westeuropäische Geschichte blickt. 
Direkter freilich sind hier Calvin und 
die Väter des Independentismus zu nen¬ 
nen; aber Calvin ist im Hauptstück sei¬ 
ner Religion Lutheraner, und selbst hin¬ 
ter der Hugenottischen, niederländi¬ 
schen, englischen und schottischen „Frei¬ 
heit“ liegt als eine ihrer Voraussetzun¬ 
gen die „libertas Christiana“ Luthers. 

2. Luthers Auffassung und 
Lehre vonSünde und Schuld — 
nicht die Ablösung des alten Weltsystems 
durch das kopemikanische und newton- 
sche, sondern die Auflösung der Vorstel¬ 
lungen von Adam und Eva, Teufel, Ver¬ 
stand, Sündenfall usw. bezeichnet die 
größte Umwälzung in der Religions-und 
Geistesgeschichte. Diese Umwälzung 
mit allen ihren Folgen in bezug auf die 
Betrachtung der Welt, der Menschheit 
und der Geschichte ist in der Tat so 
einschneidend, daß diejenigen, so scheint 
es, unweigerlich recht haben müssen, 
welche behaupten, Luther dürfe schon 
deshalb nicht an die Spitze der Neuzeit 
gestellt werden, weil er jene Lehren 
noch festgehalten hat. Allein bei nähe¬ 
rer Erwägung zeigt sich hier eine para¬ 
doxe Beobachtung: Unleugbar ist das 











1360 


Adolf von Hernack, Die BatornaatttBi 


1360 


Menschheits- und Geschichtsbild durch 
jenen Wandel ein total anderes gewor¬ 
den — aber nicht dasselbe gilt in be- 
zugauf die innere Selbstbeurtei- 
lung. Wir besitzen leider noch keine 
kritisch-historische Geschichte der Leh¬ 
ren von dem Bösen und von der Sünde 
in der Neuzeit und von den dazugehöri¬ 
gen soziologischen Erscheinungen — ein 
höchst empfindlicher Mangel —; aber 
ich wage zu behaupten, ohne auf Kants 

Lehre vom radikalen Bösen besonders 

• 

Rücksicht zu nehmen, daß sich in der 
Selbstbeurteilungin bezug auf Gut 
und Böse, Verantwortung und Schuld 
trotz aller modernen Erkenntnisse (des 
Ursprungs der moralischen Empfindun¬ 
gen usw.) In zarten Seelen und bei hohen 
Geistern wenig geändert hat. „Der Obel 
größtes ist die Schuld“, hat der Dichter 
gesagt, der den kirchlichen Lehren so 
fern wie möglich gestanden hat, und 
dusch die Fortschritte in der Philosophie 
und Geschichtserkenntnis fühlt sich per¬ 
sönlich kein ernst denkender Mensdi 
moralisch entlastet. Er entlastet die 
anderen , aber er entlastet sich 
nicht selbst. Aber auch die tiefe Stim¬ 
mung wahrer Demut, die eine Begleiter¬ 
scheinung der Würde ist, und wiederum 
die aktive Zuständlichkeit innerlicher 
Bußgesinnung ist ganz unabhängig von 
dem. Welt- und Geschichtsbilde. Daher 
finden Röm.5—7, Augustins Konfessio¬ 
nen und Luthers Schuldgefühl auch dort 
ein verständnisvolles Echo im Herzen, 
wo im Geiste ganz andere theoretische 
und geschichtliche Konfessionen herr¬ 
schen. Ist diese Tatsache, die freilich erst 
der Erklärung harrt, richtig, so kann Lu¬ 
thers theoretische Rückständigkeit, die er 
übrigens mit Newton und auch noch 
mit bedeutenden Geistern des 19. Jahr¬ 
hunderts geteilt hat, nicht gegen sein 
Recht entscheiden, als der Begründer der 
Neuzeit zu gelten. Dabei ist die sich auf- 


d rängen de Frage noch gar nicht erörtert, 
ob wirklich bei ihm selbst seinEiieben wua 
Schuld und Gnade untrennbar an die ok- 
kirchliehe und mittelalterliche Lebte von 
Adam und Eva, dem Sündenfell usw. ge¬ 
bunden war. 

3. Luthers Freiheitsbegriff — 
der Freiheitsbegriff der Aufklärung und 
wiederum der des deutschen Idealismus 
ist im Vergleich mit dem Luthers eia 
anderer, ja man scheint sogar genötigten 
sein, sie nur in «men Gegensatz ai mel¬ 
len ; denn bei Luther ist das Moment «im 
Glauben (ein freier Herr aller Dinge)“ 
das Fundament, das man nicht entfernen 
kann, ohne seine Grundanschauung zu 
stürzen. Daß dem gegenüber der Frei¬ 
heitsbegriff Kants und der Aufklärung 
etwas ganz anderes will, ja dies Funda¬ 
ment negiert, darüber bedarf es keiner 
Worte. Nur eine üble Sophistik kann 
versuchen, hier Verwandtschaft heraus- 
zufinden. Allein man muß seinen Augen¬ 
punkt höher nehmen und darf vor allem 
nicht bei einer rein theoretischen Be¬ 
trachtung stehen bleiben, was deutschen 
Forschern immer so nahe liegt Ent¬ 
scheidend ist: Luther hat zuerst die 
innere Freiheit, auf die es an- 
kommt, wirklich gebracht; erbat 
sie für sich gewonnen, und es ist zu¬ 
nächst ganz gleichgültig, auf welchem 
Wege. Er war wieder der erste wahr- i 
haft freie Mensch, und ferner, er hat die 
Freiheit zugleich für seine Brüder im 
weitesten Sinn gewonnen. Indem er täg¬ 
lich bereit war, für die Freiheit zu ster¬ 
ben, Jahre hindurch der Tod über ihm 
schwebte und er vor allem auf dem Tage 
zu Worms öffentlich das todesbereite 
Zeugnis für die Freiheit abgelegt hat 
wirkte dieses Zeugnis wie sonst 
nur der Tod des Helden selbst 
Damit erhielt in der Konstellation der 
geschichtlichen Dinge sein Verhahaa je¬ 
nen Wert der Tat, der die Wirkung ins 


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1361 


Adolf vß« Uarnack, Die Reformation 


1362 


Große zum Lohn wird. Entnommen al¬ 
len Partikulari täten und spekulativen 
oder sonstigen Voraussetzungen, wirkte 
sie so, wie alles Bedeutende in der Ge¬ 
schichte wirkt: es zwingt dazu, sich 
dem Helden anzuschließen. Damit 
fallt die aristokratische Beschränkung, 
die sonst den Freiheitsbegriffen anhaf¬ 
tet, fort: durch Anschluß an den Helden 
ist ein königlicher und zugleich allen zu¬ 
gänglicher Weg eröffnet. Nicht anders 
war es im 2. Jahrhundert, als das ju¬ 
gendliche Christentum die Freiheit und 
Herrschaft über die Welt allen Menschen 
verkündete. Luther hat gegenüber der 
Zaghaftigkeit, dem Kleinmut und der 
Freiheitsberaubung durch die Kirche die 
Freiheit wieder in die Welt gebracht und 
damit den Mut, frei sein zu wollen. 
Wenn spater andere dies auf ganz ande¬ 
rem Wege versucht haben, so ändert das 
nichts an der Tatsache, daß er auch für 
sie der Bahnbrecher gewesen ist. 

Diese Erwägung entscheidet bereits; 
aber neben ihr ist darauf hinzuweisen, 
woran schon oben erinnert worden, daß 
die westeuropaische-kalvinische Frei¬ 
heit, aus der die sog. bürgerlichen Frei¬ 
heiten entsprungen sind, in der „libertas 
Christiana“ Luthers eine Wurzel hat, 
und ferner darauf, daß auch im Frei¬ 
heitsbegriff eines Hauptzweigs des deut¬ 
schen Idealismus ein innerer und sach¬ 
licher Zusammenhang mit Luthers Frei¬ 
heit deutlich vorliegt. Das ist ganz klar 
bei Leibniz, der überhaupt nach dem 
Zeitalter der Orthodoxie verdeckteHaupt- 
triebe der Reformation erst wieder ent- 
wickelt hat, und jener Zusammenhang ist 
feiner überall dort gegeben, wo der Frei¬ 
heitsbegriff in enger Verbindung mit 
dem tiefen Gefühl einer Begnadigung 
und göttlichen Inspiration auf tritt — 
nicht bei Kant und Schiller, wohl 
aber bei Goethe in der Epoche seiner 
Vollendung, Schelling und den ro¬ 


mantischen Philosophen und Dichtem. 
Und fehlt hier bei einigen die Beziehung 
auf Christus, so dürfen wir hoffen, daß 
die fontschreitende Eikenntnis dessen, 
was wir überall der Geschichte und den 
Personen verdanken — wir sind hier 
noch in den Anfängen der zutreffenden 
Betrachtung —, diese Lücke ergänzen 
wird, wenn auch nicht in der Weise der 
für immer widerlegten altprotestanti¬ 
schen Dogmatik. Jene anderen Freiheits¬ 
begriffe, wie sie ja auch unter sich große 
Verschiedenheiten zeigen, sind doch 
selbst nichts Abschließendes, sondern an¬ 
spruchsvolle und doch nur tastende Ver¬ 
suche, der Wahrheit näherzukommen. 

Luther ist der Begründer der neuen 
Zeit. Dies nicht nur an seinem Werke, 
sondern auch an seiner Persönlich¬ 
keit nachzuweisen, ist eine Aufgabe, die 
außerhalb dieses Aufsatzes liegt; sie 
wird sicher gelingen trotz aller der of¬ 
fenbaren mittelalterlichen Züge, die 
sein Bild aufweist. 1 ) Sein Ich hat er der 
Welt geboten wie niemand im Mittel- 
alter, auch Dante nicht, und doch hat 
er sich selbst niemals mit irgendeinem 
Werke auf die Bühne gestellt. Fest ist 
er seines Wegs gegangen, als habe er al¬ 
les selbst geplant, und hat doch bekannt: 
„Gott hat mich hineingeführt wie einen 
Gaul, dem die Augen geblendet sind.“ 
Hier wie in vielen anderem zeigt er den 
Genius, in dem Freiheit und Notwendig¬ 
keit zusammenfalien. 

1) ln dem jüngst erschienenen Werk von 
Walther .Luthers Charakter*(Leipzig 1017) 
ist uns aus reicher Kenntnis eine geordnete 
Sammlung von Charakterzügen Luthers m 
dankenswerter Weise geboten — aber eben 
nur von Charakterzügen, und auch da ver¬ 
mißt man so manches, und nicht nur die 
Schatten. Auch sonst besitzen wir treffliche 
Darstellungen, eine der besten ist die von 
Gustav Freytag. Aber die Aufgabe steht 
noch aus, Luthers Charakter in der Tiefe und 
in der Einheitlichkeit der Züge zu erlassen. 


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1363 


Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


1364 


Die Kirche, aus der er stammte, hat 
er verlassen müssen, weil sie das Reich 
Christi, also die tiefste Gesinnungsge- 
meinschjaft, und das Reich des Rechts und 
der Macht zugleich sein wollte. Diese 
Verbindung hat er als eine unerträgliche 
für sich und die Glaubensgenossen, die 
er erweckte, gesprengt und eben durch 
die Sprengung die neue Zeit begründet, 
die da Gesinnung und Macht auseinan- 
derhält. Unzweifelhaft hat er damit der 
Kultur ein großes pädagogisches Mittel 
geraubt und ihre Aufgabe erschwert 1 ) 

1) Niemand hat das in der Gegenwart 
deutlicher erkannt als Fr. Wilh. Foerster. 


Er hat das gewußt und die Folgen der 
Erschwerung selbst schon erlebt, aber 
das hat ih% nicht irre gemacht; denn er 
war der sicheren Überzeugung, daß die 
Wahrheit und Reinheit in der Be* 
trachtung und Ordnung der Dinge und 
in der Führung der Seelen auf seiner 
Seite standen. Noch hat ihm der Gang 
der Geschichte nicht völlig recht gege¬ 
ben ; aber wer von seinem Gedanken ein¬ 
mal erfaßt worden ist, der kann ihn nie¬ 
mals wieder fahren lassen, weil er auf 
eine höhere Stufe des Menschentums ge¬ 
treten ist. 


Französische Geistesart und ihre Formen 

Von Eduard Wechssler.*) 


II. 

Diese so umschriebenen Bildungs- 
ziele haben die Lebenswertung und 
Volkserziehung im alten Frankreich be¬ 
stimmt, und bestimmen sie trotz der 
Revolution und ihrer Folgen im wesent¬ 
lichen noch heute, auch in dem angeb¬ 
lich demokratischen, tatsächlich oligarchi- 
schen Frankreich. Diese Lebensinhalte 
haben sich . darum so lange erhalten, 
weil sie nicht gewaltsam anerzogen, son¬ 
dern aus den geistigen Anlagen der Be¬ 
völkerung entwickelt worden sind und 
durch die Gunst der geschichtlichen Ver¬ 
hältnisse zu einem dauernden Eigen- 
wesen sich gefestigt haben. Wer ver¬ 
gleichend' auf die anderen romanischen 
Völker und Staaien blickt, wird erken¬ 
nen, daß dort, wo diese inneren und 
äußeren Ursachen fehlten, der römische 
Hellenismus nicht derart nachwirken 
konnte. 

Diese Lebensinhalte sind aber mehr 
als das: es sind die Glaubenssätze der 

•) Siehe Heft 10. 


Franzosen. Obschon auf keine ehernen 
Tafeln eingegraben, gelten sie doch 
für alle Angehörigen der Nation, die 
mit Bewußtsein denken und wollen. 

Scharf sinnig bemerkt unser Lichtenberg: 
.Bei den meisten Menschen gründet sich 
der Unglaube in einer Sache auf blinden 
Glauben in einer anderen.“ So viele 
Glaubenssätze, so viele Schranken 
des französischen Denkens und 
Urteilens. 

Es gibt einen uralten, der ursprüng¬ 
lichen Menschheit gemeinsamen Volks¬ 
glauben: den an die Zauberkraft der 
Namen und Worte. Götter und Men¬ 
schen, gute und böse Geister lassen un¬ 
gern ihre Namen wissen: denn wer die¬ 
sen kennt, hat Macht über sie und kann 
den guten Geist zur Hilfe herbeizwin¬ 
gen und den Bösen von Schädigung ab¬ 
halten. 1 ) 

1) Wilhelm HeitmQller hat auf die 
Bedeutung dieses bisher kaum beachteten 
Völkerglaubens in größerem und wichtigem 
Zusammenhang hingewiesen durch seine 
höchst lesenswerte Untersuchung: .Im 


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1365 


Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


1366 


Was den alten Völkern gute und böse 
Geister waren, das sind den Franzosen 
von heute die überlieferten heiligen 
Wertbegriffe ihrer nationalen Geistes¬ 
gemeinschaft. Wunderglaube und Wun¬ 
derkraft wirken hier aus neuen Formen, 
heute wie damals. Der Ablauf der fran¬ 
zösischen Geschichte wird in manchen 
ihrer Wendepunkte erst von "hier aus 
verständlich. Man kennt die Zauberge¬ 
walt der Worte libertö, ögalitö, frater- 
nitö: in diesen Zeichen hat die Revolu¬ 
tion nach innen und außen gesiegt. 
Guizot spricht einmal (in einem beson¬ 
deren Schriftchen vom Jahre 1849) über 
ein anderes Wort ähnlicher Art: Le 
chaos se Cache sous un mot: Dömo- 
cratie . Charles Maurras, der Herausgeber 
der Action francaise, sagt von den for¬ 
males seines Meisters Auguste Comte 
(L’Avenir de Tlntelligence S. 104): 
m Les plus abstraites en apparence me 
touchent dune magn&tique lumiöre. A 
demi-voix dans le silence de la nuit il 
me semble que je redis des syllabes 
sacrees: Ordre et Progrös — Familie, 
Patrie, Humanite — LAmour pour prin¬ 
cipe et VOrdre pour base; le Progrös 
pour but — Induire pour d&duire, afin 
de construire — Savoir pour prövoir , 
afin de pouruoir.* 

Darum enthält dem Franzosen ein 
Scheltwort auf den Feind eine Kraft 
und Bedeutung, von der wir arglose 
Deutsche nichts ahnen. 1 ) Der französische 
Staatsmann oder Gelehrte glaubt seinem 
triebartigen Haß eine wirksame Folge 
zu geben, wenn er uns Boches oder 
Alboches oder Archiboches schilt. Wie 
harmlos ist dagegen das deutsche Knall¬ 
max oder Blechkopp! Aber, im Emst 

Namen Jesu“. (Göttingen 1903: Bousset und 
Gunkel, Forschungen zur Religion und 
Literatur des Alten und Neuen Testaments. 
1. Band 2. Heft). 

1) Das neue und neueste Frankreich 


gesprochen, haben nicht diese und an¬ 
dere Beschimpfungen bei unbefangenen 
Gemütern und urteilslosen Köpfen wäh¬ 
rend dieses Weltkriegs ihre uralte Zau¬ 
berkraft erwiesen? Hat unser Friedrich 
Hebbel unrecht, wenn er davor warnt, 
die Macht der Worte zu unterschätzen: 
„Ich bin überzeugt, ein Mensch kann 
dadurch schlecht werden, daß man ihn 
schlecht nennt.“ Jedenfalls wird uns jetzt 
das eine klar, daß Victor Hugo nicht 
bloß rhetorisches Pathos von sich gab, 
als er ausrief (Contemplations I, 7—8): 

„Qui dölivre le mot, dölivre la pensöe. 

Car le mot, qu’on le Sache, est un et re 
vivant . 

Out, vous tous, coniprenez que les mots 
sont des choses. 

So steht es bei Hugo zu lesen, dem 
größten Zaubermeister des Wortes, den 
Frankreich kennt, und schon darum als 
sein größter Dichter gefeiert. 

Oui; tout puissant. Tel est le mot. Fou 
qui s’en jouef 

II est vie, esprit, germe, ouragan, vertu, 
feu; 

Car le mot, c’est le Verbe, et le Verbe, 
_ c’est Dieu. u 

schildern u. a.: Hippolyte Ta ine, Vie et 
Opinions de M. FrGdöric Thomas Grain- 
dorge. Paris, Hachette 1910 17 (zuerst 1867). 

— Romain Rolland, La Foire sur la Place. 

— Dans la Maison (Jean-Christophe V und 
VII; Paris, Ollendorf 1908—9). — Vicomte 
d’Avenel, Les Riehes depuis sept Cents 
ans. Colin 1909. — Karl Sch eff ler, Paris, 
Notizen. Leipzig, Inselverlag 1908. — Oskar 
A. H. Schmitz, Was uns Frankreich war. 
Sechste Auflage der Französischen Gesell¬ 
schaftsprobleme (Das Land der Wirklich¬ 
keit). München, Georg Müller 1914; geschrie¬ 
ben zuerst 1906. — Karl Hillebrand, 
Frankreich und die Franzosen. Straßburg 
1886* (Zeiten, Völker und Menschen 1. Bd.). 
Als Buch zuerst 1873. — Joseph Henges- 
bach, Frankreich in seinem Gesellschafts¬ 
und Staatsleben. Jena, Diederichs 1915 
(Tat-Flugschriften 8). — A. Lien [und Franz 
Oppenheimer], Das Märchen von der fran¬ 
zösischen Kultur. Berlin, Karl Curtius[1915].— 
Nostra-Damus, Die Franzosen wie sie sind. 
Gegenwart und Zukunft. Freiburg i. Br. 1916. 








1367 


Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


Dagegen unser Goethe läßt den Dok- 
tor Faustus vor de« Neuen Testament 
sitzen und sprechen: 

.Geschrieben steht: ,Im Anfang war das 

Wort/ 

Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir wei¬ 
ter fort? 

Ich kann das Wort so hoch unmöglich 

schützen, 

ich muß es anders abersetzen. 

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet 

bin. . . . 

Mir hilft der Geist! Aaf einmal seh’ ich 

Rat 

Und schreibe getrost: ,1m Anfang war 

die Tat/“ 

Und es ergibt eine reizvolle ironische 
Beleuchtung, wenn A. France den Prä¬ 
fekten Worms-Clavelin sagen läßt 
(Mannequin d’osier S. 182): „// faut dire 
qu’on marche, ne füi-ce que pour se 
dispenser de mar eher. ,Mardions ! mar - 
chons!‘ Ce que la Marseillaise a dü 
servir ä ne pas aller ä la fronti&re!“... 

Ernsthafter hat es Bazalgette beklagt 
(inferioritö S. 249), daß in Frankreich so 
oft das Wort die Tat femhalte, statt sie 
herbeizurufen: „La Revolution a tri- 
omphä dans les constitutione, les for- 
mules, les dderets et les discours, dchoud 
finalement dans les rdallsattons. L’d- 
norme sacriflce consommd, il n’est restd 
que des Souvenirs et des mots.“ 

Dürfen wir hier daran erinnern, daß 
die erste große Kriegsanleihe in Frank¬ 
reich Siegesanleihe genannt worden ist, 
und daß erst kürzlich (April 1917) bei 
den Versuchen, an der Aisne durchzu¬ 
brechen, eine große Reservearmee auf¬ 
trat, die den stolzen Namen armde de 
poursuite führte? 

Auch abgesehen von diesem primi¬ 
tiven Glauben an die Allmacht der 
Worte bedeutet das Vorherrschen der 
* Redekunst eine empfindliche Schranke 
des französischen Wesens. Als römischer 
Nützlichkeitssinn der hellenischen Rhe¬ 
torik vor der Philosophie den Vorrang 


einräumte, da wurde auch schon Aber 
das künftige Frankreich das Urteil ge¬ 
sprochen. Ernest Renan, an deutscher 
Philosophie und Wissenschaft gesduilt, 
erkannte bereite in seinem Jugend werk 
„L’Avenir de la Science“ mit scharfem 
Blick die Hemmung, die damit auf die 
Geistesarbeit seines Volkes gelegt wor¬ 
den waf. Strenge Wahrheitsforscbung 
und tiefe Welt- und Lebensweisheit 
blieben bis zu seiner Zeit einer Höver¬ 
schaft unterworfen, die anger^t und 
unterhalten sein wollte. 1 ) 

Ebensowenig kann ein Nordländer 
eine Vorstellung davon gewinnen, was 
dem Franzosen Haltung, Gebärde und 
Schaustellung bedeuten. Seine patheti¬ 
sche attitude erscheint uns, die wir 
Natürlichkeit vor allem lieben, als ge¬ 
machte pose, und sein wohlberechneter, 
fein abgestimmter geste als störende 
gesticulatlon. Aber oftmals an den Wen¬ 
depunkten französischer Geschichte und ! 
in den Zeugnissen französischen Geistes¬ 
lebens hat dieses beides seine Stelle ge¬ 
huden und entscheidend gewirkt. So hat 
Maurice Barras am Ende seiner Erzäh¬ 
lung von Colette Baudoche, dem Mäd¬ 
chen aus Metz, begeistert und begeisternd 
ausgerufen: Nous, cependant,acceptons- 
nous qu’une vive Image de Metz subisse 
les constantes atteintes qui doivent ä 
la longue Veffacer? Et sufflra-i-il d 
notre immobile Sympathie (fadmirer de 
loin un geste qui nous appelle? 

Damit vergleiche man in der bekann¬ 
ten Erklärung der einundsiebzig Fran¬ 
zosen mittleren Alters gegen den dro¬ 
henden Krieg (La Paix arm6e S. 6): 
„Avant tout nous sommes convaincut 
que notre unique devoir est de pdndinr 
la rdalitd sans chercher ä l’dcarter cf an 
geste ou (tune pkrase“ Aber auch hier 

1) Diese und einige andere Äußerungen, 
die im Text erwähnt werden, enthält metne 
kleine Schrift: «Die Franzosen und wir*. 


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Eduard Wechasler, Französische Geistesart und ihre Formen 


1370 


müssen wir fragen, ob wir Deutsche 
nicht den Wert einer gut gewählten 
Schaustellung bisher unterschätzt haben. 
Denn nicht sachlicher Emst und klares 
Urteil bestimmen die gegenseitigen Be¬ 
ziehungen der Völker, sondern das ein¬ 
drucksfähige Auge und Ohr. 

Nächst dem Wortglauben gibt es keine 
andere so wirksame Schranke französi¬ 
scher Geistesverfassung als den ebenso 
alten, in immer neuen Formen wieder¬ 
kehrenden (Hauben an die AHmacht des 
Begriffs. Dieser Glaube gefährdet, wie 
Alfred FouiHöe freimütig anerkennt, die 
Beobachtung so sehr wie die schöpferi¬ 
sche Einbildungskraft; er hält aber auch, 
was schwerer wiegt, den Blick zurück 
von dem, was auf immer unbegreiflich 
und unbegrifflich bleibt: von den un¬ 
sichtbaren und unerweislichen Mächten, 
die im Gemüt und Weltall wirksam und 
wirklich sind. Mitleidig lächelnd oder 
ganz verständnislos schaut der Franzose 
auf den Deutschen, dessen begriffliches 
Denken bescheiden halt macht vor dem 
Heiligen und dauernd Rätselvollen, vor 
dem Geheimnis. Sein Witz verlacht des 
Deutschen Andacht und Ehrfurcht vor 
dem, was uns in religiöser Offenbarung, 
in der Anschauung des Denkers, im 
Gleichnis des Dichters, Gestalt gewinnt. 
Sein Witz verlacht das deutsche Hinaus¬ 
streben ins Metaphysische; genau so wie 
der Weltmann Mephistopheles, der un¬ 
verkennbare Züge des Franzosentums 
trägt, den faustischen Erkenntnisdrang 
verspottet Sein Witz sträubt sich, im 
Menschen- und Völkerleben unlösbare 
Widersprüche zuzugeben: noch ein Ro¬ 
main Rolland nannte in seinem Brief an 
Gethart Hauptmann »das Schicksal die 
Entschuldigung der Schwachen“. Zwar 
hat Victor Hugo auf Jfersey als erster 
der groben Franzosen das Unerkannte, 
Gestaltlose entdeckt und mit immer 
neuen Namen belegt: le-gouffre, tabtm s. 


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Finconnu, le mystire. Er hat vor dem 
pemer das songer gepriesen und reich¬ 
lich betätigt. Aber einige aus der 
jüngsten Altersgemeinschaft Frankreichs 
tadeln ihn wegen seiner germanischen 
Seele: nur seine anderen echt franzö¬ 
sischen Fähigkeiten haben ihm seine 
pantheistischen Verirrungen verzeihen 
lassen. Bis heute besteht jener Gegen¬ 
satz zwischen Deutsch und Französisch 
in ungebrochener Schärfe: Der Tief¬ 
sinn des Deutschen, so könnte man 
sagen, denkt in Antinomien, der 
Scharfsinn des Franzosen in Anti¬ 
thesen. 

Darum ist der Franzose selten ein 
homo rollgiosus. Ihm fehlt dieses Gefühl 
der Bindung, diese Gläubigkeit, diese 
Gottinnigkeit. Und denen es heiliger 
Emst damit war, die Kalvinisten und 
Jansenisten hat der vierzehnte Ludwig 
unterdrückt und ausgetrieben. Und noch 
jüngst hat Pierre Lasserre den Pantheis¬ 
mus als verwünschtes germanisches Ge¬ 
wächs verschrien und verdammt. 

Um dieser Schranken willen hat es 
der Franzose so viel leichter, seine Ge¬ 
danken in klare Gestalt zu bringen: eben 
dämm, weil sie sich auf das Endliche 
und Begrenzte einengen. Er freue sich 
des wohlfeilen Vergnügens, über unsere 
Tiefe und Unklarheit zu spotten. Dafür 
hat er es unserem schwer mißverstan¬ 
denen Kant Übertassen müssen, zu sagen: 
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit 
immer neuer und zunehmender Bewun¬ 
derung und Ehrfurcht, je öfter und an¬ 
haltender sich das Nachdenken damit 
beschäftigt: der bestirnte Himmel 
über mir und das moralische Ge¬ 
setz in mir.“ 

Niemals hat sich der französische Geist 
aus eigenem Antrieb die eine letzte Frage 
vorgelegt, die den Eingang zur Welt¬ 
erkenntnis erschließt: Vermag ich über¬ 
haupt zu erkennen? Wie entsteht für 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


1372 


mein Denken der Gegenstand vor mir 
und außer mjj? Wie kommt die Welt 
und wie die Natur in mir zustande? — 
Daß die Formen unseres Erkennens un¬ 
abhängig von aller Erfahrung gelten, 
aber nicht Ober diese hinaus: diese Ent¬ 
deckung unseres Kant erscheint den 
Franzosen notwendigerweise als querelle 
allemande. Erkennen als ein Tun, Er¬ 
fahrung als ein Handeln; die Welt für 
jeden eine andere durch Neigung und 
Abscheu, Wertschätzung und Entwer¬ 
tung; das Weltbild eines jeden unter 
seine sittliche Verantwortung gestellt: 
solche Frage und Antwort erscheinen 
dem herkömmlichen französischen Geist 
nörrisch oder dreist oder gar schamlos. 

Er läßt sich genügen an dem begrenz¬ 
ten und geformten Wissen, das ihm sein 
festes Vertrauen auf Wort und Begriff, 
Empfindung oder Anschauung verbürgt. 
Das übrige überläßt sein Skeptizismus 
dem lieben Gott oder dessen Stellver¬ 
treter in Rom. Nie kann er’s verstehen, 
noch weniger würdigen, wie die besten 
der Deutschen immer aufs neue an den 
Eisengittern ihrer Endlichkeit rütteln 
und rastlos sich bemühen, die Grenzen 
immer weiter hinauszuschieben. Nie kann 
er die Sehnsucht des Deutschen nach 
freier Forschung, libre examen, nach¬ 
fühlen, die unser Lessing in die unver¬ 
geßlichen Worte gefaßt hat von dem 
immer regen, wenn auch immer wieder 
irrenden Trieb nach Wahrheit, den wir 
Menschen uns von Gott erbitten sollen. 

Mögen also immerhin die Franzosen 
sich rühmen, Nachfolger oder gar Über¬ 
winder der Griechen und Römer zu sein. 
Für den römischen Hellenismus, für das 
späte Griechentum der Kaiserzeit haben 
sie recht Denn diese Geisteswelt ist 
ihnen völlig genehm und verwandt 
Aber einen Platon, für den das Erkennt- 
nisproblem allem andern voranstand, 
können sie so wenig verstehen wie un¬ 


seren Kant; und den echten Homeros 
so wenig wie Shakespeare oder den Dich¬ 
ter des Faust 

Den faustischen Drang zur freien For¬ 
schung würde in Frankreich schon allein 
der Gesellschaftswille ersticken und die 
weltmännische Erziehung. Bis an die 
Lebensquellen des sittlich-geistigen Ein¬ 
zelwesens reicht diese unheilvolle Macht, 
wenn sie das freie, nur sich selber ver¬ 
antwortliche Gewissen dem guten An¬ 
stand unterwirft: dort consclence (und 
dieses Wort enthält nicht annähernd 
dasselbe wie unser .Gewissen“), hier 
convenance und bimsfance. Wie scharf 
hat sich darüber Emest Renan geäußert 
(L’Avenir S. 444): II ne s'agit plus de 
veritö, mais de bon goüt et de bon ton. 
II ne s’agit plus de dire ce qui est, mais 
ce qu’il convient de dire. 

Verhängnisvoller wirkt es, daß der 
Franzose durch seinen Wortglauben und 
einen mehrfachen Wortsinn sich von 
der liebgewordenen Täuschung verleiten 
läßt, daß er in der Geselligkeit und Ge¬ 
sellschaft die Gemeinschaft aller seiner 
Volksgenossen, ja die ganze Menschheit 
mit Liebe umfasse (sociable = social; 
cluiliti = humanlte; polltesse — altruis- 
me). Und doch bedarf es keines Bewei¬ 
ses, daß eben dort, wo die Gesamtheit 
in Gesellschaftsfähige und Gesellschafts¬ 
unfähige geschieden wird, diese Tren¬ 
nung ein soziales Gemeingefühl und 
tätigen Gemeinsinn nicht fördert, son¬ 
dern hemmt In der Tat ist gerade aus 
Frankreich wenig von Neigung zu größe¬ 
ren Spenden und Stiftungen zu berichten. 

Trotzdem hört und liest man dort 
allenthalben jene Gleichsetzung aus¬ 
gesprochen oder als selbstverständlich 
angenommen. So sagt Brünettere von 
den Schriftstellern seiner Nation (Rtudes 
critiques V, 266): , Dans les questions 
qu’ils agitent, il y ua des intirßts essen - 
tiels de la ,civllit6‘ ou de l’humaniti 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 


1374 


mime.“ Deutlicher hoch erklärt sich Alfred 
Fouill6e (Psychologie du peuple frangais ‘ 
S. 186): „Les idäes qui ont un caractire 
social et humain seront particuli&rement 
en Harmonie avec Fesprit frangais. 
Dans leur application ä la sociäti les 
idies ginärales deviennent les idies 
ginireuses; ce sont celles qui eurent 
toujours en France la plus grande 
chance de succis .* 

Seitdem die große Revolution mit 
seinen Gtttem auch den alten Adel zer¬ 
schlagen hat, ist der neue Geldadel, die 
bourgeoisie, in dessen Stellung einge¬ 
rückt und vertritt als Inhaber und Macht¬ 
haber die Gesellschaft und den Gesell- 
schaftswillen. Eine Einkommensteuer, 
diese Hauptquelle der Staatseinkünfte, 
ist erst jetzt während des Weltkriegs 
von dem alten Ribot durchgedrückt wor¬ 
den, nachdem der verdienstliche Caillaux 
über seine gerechten Steuerpläne ge¬ 
stürzt war. Noch Anatole France konnte 
in seiner Geschichte der Pinguine (S. 308) 
mit beißender Ironie bemerken: „La 
justice sociale, (fest la difense des 
richesses." So sagen dort die Reichen 
zu den Sozialisten; und er fährt fort: 
„Les riches refusant de payer leur juste 
part des impöts, les pauvres, comme 
par le passi, payirent pour eux.* Und 
in dem an guten Beobachtungen und 
Urteilen reichen Buche der Frau A. Lien 
(Das Märchen von der französischen 
Kultur), möge man nachlesen, was sie 
an ergötzlichen oder betrübenden Be¬ 
legen beiträgt zu der „gemeinnützigen 
Fürsorge“ für Sauberkeit und Gesund¬ 
heitspflege in Gemeinde und Haus. 

Selbsttäuschungen ebenso bedenklicher 
Art verbergen sich hinter dem geheilig¬ 
ten Worte Nation. Diese gilt seit al¬ 
ters als die ruhmreiche Geistesgemein¬ 
schaft und Hüterin von Bildung und Ge¬ 
sittung nicht nur für das eigene Volk, 
auch für nahe und ferne Fremdvölker. 


In dem bedeutungsvollen Buche von 
Gaston Riou, Aux Ecoutes de la France 
qui vient (Grasset 1913) wird füT dieses 
Ziel die Jugend zu neuer Begeisterung 
aufgerufen. Ob das geweihte Banner 
Roms oder die Sturmfahne der Revo¬ 
lution oder das Hugenottenkreuz der 
jungen Freunde von Riou vorgetragen 
wird, immer fühlt sich Frankreich von 
Gott zu einer Sendung an die Völker 
der Erde berufen und auserwählt. Mit 
schönem Freimut bekennt Alfred Fouill6e 
(S. 181): „Nous avons souventla nalveti 
de croire que ce qui nous rend heureux 
rendra heureux le monde, que toute 
Fhumaniti doit penser et sentir comme 
la France. De lä notre prosilytisme, 
de lä le caractire contagieux de 
notre esprit national. ... Le revers de 
cette qualiti, d-est une certaine tyrannie 
de bonne volonte ä Figard de nos 
semblables, qui fait que nous voulons 
absolument les amener ä sentir et ä 
penser comme nous .* 

Weil der Franzose seine Nation über 
alles stellt und jedes Ding aus diesem 
Gesichtswinkel beurteilt, wird es ihm 
schwer, sachlich zu bleiben, sobald er 
dieses sein Heiligstes bedroht oder ge¬ 
fährdet weiß. Wir) schweigen hier, um 
selber die Pflicht der Sachlichkeit nicht 
zu verletzen, von manchen Vorkomm¬ 
nissen dieses Krieges. Aber davon haben 
wir zu reden, daß auch in ruhigen Frie¬ 
denszeiten in Frankreich keine Zeitung 
oder Zeitschrift, jakeine harmlose Bücher¬ 
besprechung erscheint, deren Verfasser 
nicht von dem Gedanken an seine Nation 
vor allem anderen erfüllt und dadurch 
voreingenommen wäre. Wir müssen ge¬ 
stehen, daß darin Größe liegt; ja wir 
könnten die Franzosen fast um dieses 
nationale Ehrgefühl beneiden. Aber 
schlimm genug wirkt es, wenn die lite¬ 
rarhistorische Würdigung der eigenen 
großen Männer von dem politischen Par- 


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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und- ihre Formen 


tatet andpunkt abhängig gemacht wird: 
Man denke daran, wie sogar der Ruhm 
eines Victor Hugo zum Spielball der 
feindlichen Parteien gemacht worden ist. 
Um so herzlicher denken wir Deutsche 
in tiefer Verehrung eines Mannes, der 
sich so ganz von dieser französischen 
Eigenschaft freigemacht hat, daß er an 
seine deutschen Fachgenossen Anerken¬ 
nung und Tadel so sachlich erteilte, wie 
es einem Menschen irgend möglich ist. 
Gasten Paris war dieser unvergeßliche 
Gelehrte, und das unerfreuliche Gegen- 
stück dazu ist sein Nachfolger im Pari¬ 
ser College de France, dessen Namen 
ich hier unterdrücke. Jene nationale 
Voreingenommenheit erstreckt sich so¬ 
gar auf die fernste Vorzeit und hält auch 
gegenüber den ersten Forschem des 
eigenen Landes mit dem Tadel nicht 
zurück. So mußte sich der Geschicht¬ 
schreiber Fustel de Coulanges (in einer 
Anmerkung zum ersten Bande seiner 
Histoire des Institution8 poiitiques de 
ta France S. 64) ausdrücklich gegen die 
Landsleute wenden, die in seiner Schil- 
derang von der Unterwerfung Galliens 
die vaterländische Gesinnung vermißt 
hatten: „Ceux qai pensent que l'histotre 
est un art qui constste ä paraphraser 
quelques faits convenus, pour en faire 
profiter leurs opinions ou poiitiques, 
ou religieuses, ou pedriottques, so nt 
libres de pritendre que les Gaulois 
ont dü lütter longtemps et s* ins arger 
incessamment contre la domination 
ttrangbre; ils n’en peuvent donner la 
preuve, mais leur patriotisme exige 
qufil en ait 6t6 ainsl, et leur sens histo- 
riqus est la dupe de leur patriotisme . 
Ceux qui pensent que Fhistoire est une 
pure Science, cherchent simple ment ä 
voir la vertti teile qu’ette fut ... La 
Science ne doit pas avoir dtantre souct 
que la redtercke du oral. 

Auffallender und da» aHerseltsamste 


an der französischen Geistesart ist aber 
die Tatsache, daß dort die Nation dem 
Staat, daß das Vaterland den Gesetzen 
übergeordnet wird. So )eidenschaftßcf> 
jeder echte Franzose den Gedanken auch 
des Staates heilig hält: vor der Revolu¬ 
tion hatten die wenigsten daran selber 
teil, und nach der Revolution hat man 
allzu oft mit der Stilart dieses schützen¬ 
den Gebäudes gewechselt, als da® man 
es für unvergänglich halten müßte. Sein 
Patriotismus äußert sich mehr im glü¬ 
henden Eifer für die äußere Machtgektmg 
seines Staatswesens, weniger in der Für¬ 
sorge für die innerstaatlichen Aufgaben 
und Zwecke, und in williger Befolgung 
der Gesetze. Der dürftige, oft jämmer¬ 
liche Zustand der Eisenbahnen, der Post 
und des Femsprechwesens; die häufige 
und grundsätzliche Umgehung der Schul¬ 
pflicht; die Neigung, eine im privaten 
Leben selbstverständliche Ehrlichkeit 
gegenüber dem Steuereinnehmer beiseite¬ 
zusetzen; überhaupt die Widerspenstig¬ 
keit dieses Volkes der igaliti, sich dem 
Staat als Gesetzgeber gleichmäßig unter¬ 
zuordnen: alles das ist bekannt genug 
und früher von Kart Hillebrand, neuer¬ 
dings von Frau A. Lien ins Licht gestellt 
worden. 

Worin ist dieser beim Franzosen kaum 
verständliche Widerspruch begründet? 
Auf den richtigen Weg führt uns Mer 
die z. B. von Nostradamus sehr gut be¬ 
obachtete Tatsache, daß der französische 
Diener seinem Herrn, daß der Ange¬ 
stellte seinem Vorgesetzten, wenn er 
ihn kennt, treu und zuverlässig dient. 
Aber die Sachlage ändert sich sofort 
wenn der Arbeitgeber keine Person ist, 
die den Ehrgeiz des Untergebenen durch 
Lohn und Lob antreibt, sondern ein im- 
persönliches, unsichtbares Wesen, etwa 
eine Aktiengesellschaft Die Trägheit. 
Gleichgültigkeit, manchmal auch Grob¬ 
heit vieler Staatsbeamten in Frankreich, 


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1377 Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 1378 


besonders der kleineren, ist nur allzu 
bekannt. Es scheint dem französischen 
Denken zu widerstreben, daß es einem 
unsichtbaren und unfaßbaren Wesen, 
wie dem Staat und seinen Beauftragten, 
freudig den Willen tue. Das hat Alfred 
de Vigny wohl erkannt, dieser tiefern¬ 
ste, unserer Lebensauffassung so nahe¬ 
stehende Denker. In seinen Erzählungen 
schildert er uns den äußerlich rühmlosen 
und armseligen Lebenslauf dreier Dich¬ 
ter und dreier Soldaten: „Ce qu’il y a 
de plus beau que l'inspiration, c’est le 
dövouement; aprös le PoSte, (fest le 
Soldat; ce n’est pas sa faute s’il est 
condamne ä un 6tat (Filote Dort lernt 
der Capitaine Renaud, ein blinderge¬ 
bener Diener Napoleons, in dem engli¬ 
schen Admiral Collingwood einen Mann 
kennen, der sein ganzes Leben dem 
Vaterland und der Pflicht gewidmet hat, 
und empfängt zum Abschied den Rat: 
„Je n’ai qu’une chose ä vous recom- 
mander, c’est de vous devouer ä un 
Principe plutöt qu’ä un Homme.“ 

Unheilvoll in anderer Richtung wirkt 
eine Beschränkung von anderer Art — es 
ist die letzte, von der wir hier reden — daß 
der französische Geist unter den für ein 
Gedankenwerk möglichen Einstellungen 
die rhetorisch-pathetische und die witzig¬ 
spöttische vor allen anderen immer wie- 
* der bevorzugt. Wieviel reicher ist hier 
das deutsche Schrifttum in der Entfaltung 
verschiedener Möglichkeiten! Der Lyris- 
mus, das schlichte Bekenntnis ganz per¬ 
sönlicher Erlebnisse, verschwand mit 
Thöophile und Saint-Amant, bis die 
Romantiker auf Rousseaus Spuren ihn 
wieder entdeckten. Einigen Liedern von 
Müsset und der Traumdichtung eines 
Verlaine läßt sich nicht viel Gleichwer¬ 
tiges aus Frankreich zur Seite stellen. 
Nur selten ist treuherzige Kindlichkeit 
und Weltunerfahrenheit dargestellt wor¬ 
den, ohne daß der heimische Witz sich 

Internationale Monatsschrift 


daran erprobt hätte: Moliöre mit seiner 
Agnes und seiner Louison steht einsam 
auf stiller Höhe. Merkwürdig genug: La¬ 
fontaine gilt drüben als Kinderschrift¬ 
steller. Am schmerzlichsten aber ver¬ 
mißt der Deutsche bei seinem Nachbarn 
<fen Humor. Wer diesen Begriff nur in 
jener liebevollen Wertung des lächerlich 
Geringen und Ärgerlichen erkennt, die 
von Spott und Hohn gleichweit entfernt 
bleibt wie von aller Ironie, der wird 
trotz ernstlichem Bemühen kaum so viele 
Namen finden, wie er an den Fingern 
aufzählen kann. Das kann nicht wunder¬ 
nehmen, da die von Paris ausströmende 
Denkart dem Wesen des Humors gerade 
entgegenstrebt. 1 ) Als echter Humorist 
darf uns Paul Aröne gelten, nicht aber 
sein engerer Landsmann Alphonse Dau¬ 
det, der sich in den meisten Fällen über 
seine Südfranzosen gleich einem Pariser 
lustig macht. 

Diese in ihren Grundrichtungen be¬ 
schriebene französische Geistesbildung 
ist in sich derart abgeschlossen und zur 
widerspruchslosen Einheit gefestigt, daß 
man kein Glied daran erneuern oder 
entfernen kann, ohne das Ganze zu zer¬ 
stören. Die Geschlechter von bald zwei 
Jahrtausenden haben daran gearbeitet: 
bis zur Revolution bauend und weiter¬ 
bildend, seitdem im wesentlichen erhal¬ 
tend und nachahmend. Dieses Gebäude 
geistigen Lebens hat allen Stürmern und 
Drängern aus dem eigenen Volk, hat 


1) Der Herausgeber dieser Zeitschrift 
hat ein sorgfältiges Buch (Halle a. S. 1910, 
Niemeyer) Claude Tillier gewidmet, dem 
burgundischen Verfasser der in Deutsch¬ 
land weitverbreiteten köstlichen Erzählung 
„Mein Onkel Benjamin“ (vom Jahre 1842). 
Der Text ist in vielen französischen und 
seit der Übertragung durch Ludwig Pfau 
auch in mehreren deutschen Ausgaben zu¬ 
gänglich. Er zeigt uns, daß der Humor in 
französischer Erde zwar selten, aber auch 
ganz urwüchsig gedeihen kann. 

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1379 


Eduard Wechssler, Französische Geistesart uud ihre Formen 


1380 


allen Einwirkungen aus Deutschland und 
England, hat vor allem der französischen 
Geniezeit, genannt Romantische Schule, 
unersdiflttert, wie es scheint, Trotz ge¬ 
boten. Von den jüngeren Altersgemein¬ 
schaften hat sich, soviel ich sehe, eine 
einzige, die von 1894, in sch raffen und 
bewußten Gegensatz zur überlieferten 
Geisteshaltung gestellt. Ihr gehören an 
die Pfcguy, Rolland, Claudel, Jammes, 
Andr6 Gide, Charles Gu&rin und andere, 
die alle, ob unter sich noch so verschie¬ 
den, scharf und streng die sittlich-religiö¬ 
sen Pflichten des einzelnen und des 
Staates zu verwirklichen streben. Die 
tiefe und nachdrückliche Stimme dieser 
dem deutschen Geist nicht fernen Alters¬ 
genossen wurde seit dem Marokkostreit 
übertönt von der allerjüngsten, noch 
kaum reif gewordenen Jugend, die unter 
der Führung eines Maurras und Barrös 
zu Katholizismus und Königtum zurück- 
lenkte und auch nicht das kleinste Ein¬ 
vernehmen, nicht die geringste geistige 
Übereinstimmung mit dem deutschen 
Nachbarn, dulden will. 1 ) 

1) Aus der großen Zahl von Gegenüber¬ 
stellungen deutscher und französischer Gei- 
stesart erwähne ich: EmestRenan, L’Avenir 
de la Science. Pensöes de 1848. Paris, Cal- 
man L6vy 1890 (geschrieben 1848). — 
Eduard Wechssler, Die Franzosen und 
Wir. Der Wandel in der Schätzung deut¬ 
scher Eigenart 1871—1914. Jena, Diederichs 
1915. (Schriften zum Verständnis der Völ¬ 
ker.) — Max Scheler, Krieg und Aufbau. 
Leipzig, Verlag der Weißen Bücher 1916. 
— Karl Nötzel, Der französische und der 
deutsche Geist. Jena, Diederichs 1916. 
(Schriften zum Verständnis der Völker.) — 
Emst Tröltsch, Der Geist der deutschen 
Kultur: Deutschland und der Weltkrieg I*. 
Leipzig, Teubner 1916. S. 52—99. - Wil¬ 
helm Wundt, Die Nationen und ihre Phi¬ 
losophie. Ein Kapitel zum Weltkrieg. Leip- 


Immerhin und trotz aller beharrenden 
Kräfte hat es Frankreich selten an den selb¬ 
ständigen Denkern gefehlt, die jene hem¬ 
menden Schranken gesellig-nationalen 
Geisteslebens nicht erkannt und wenig¬ 
stens für sich selber mutig durchbrochen 
hätten. Man könnte einmal den Versuch 
wagen, die Geschichte der französischen 
Literatur zu schreiben als eine Geschichte 
dieses tapferen und klugen Ankämpfens 
schöpferischer Geister gegen jene Vor¬ 
urteile. Jeder gedankenvolle und zugleich 
französische Dichter oder Schriftsteller 
noch der jüngsten Zeit erscheint als je¬ 
weils neue Verschmelzung echtfranzösi¬ 
scher mit fremdartigen Eigenschaften: 
durch die ersten wirkt er auf die große ! 
Zahl derZeitgenossen, durch die anderen 
auf die kommenden Geschlechter. 

Ob dieses viele Neue in den Blutum¬ 
lauf des geistigen Frankreich eingehen 
wird ? Ob es den meisten bloße Literatur 
bleiben soll, die der Geschichtschreiber 
verzeichnet, aber niemand ausschöpft? 
Oder ob die in der Action francaise 
zusammengefaßte Bewegung nur das 
Aufflammen eines letzten Widerstandes 
bedeute!? Wer kann es wissen? Wer 
kann es wagen; in einer Zeit so unge¬ 
heurer Kämpfe auch nur zu vermuten? i 
Das eine aber, möchte ich glauben, läßt 
sich Voraussagen: nach diesem Kriege 
wird der französische Geist trotz allem 
seine Kraft zur Verjüngung bewahren 
und niemals langweilig werden. 

zig, Alfred Kröner 1916. — Leopold Zieg¬ 
ler, Der deutsche Mensch. Berlin, S. Fischer 
1916*. (Ein kleines Büchlein, aber überreich 
an tiefen und treffenden Beobachtungen 
und Bemerkungen.) —Man vergleiche auch: 
Emst Cassirer, Freiheit und Form. Stu¬ 
dien zur deutschen Geistesgeschichte. Ber¬ 
lin, Bruno Cassirer 1917. 


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1382 


Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustande 


George Meredith als Kritiker englischer Zustände. 

Von Ernst Dick. 


In dem vortrefflichen Büchlein von 
Bernhard Fehr: „Streifzüge durch die 
neuste englische Literatur“ wird, gleich 
in der Einleitung, sehr hübsdi gezeigt, 
wie sich in England die verschiedenen 
geistigen Strömungen und gesellschaft¬ 
lichen Bestrebungen im Lauf des 19. 
Jahrhunderts ablösten und kreuzten. 
Von der gegen die eigene Zeit gleichgül¬ 
tigen, ja feindlichen Romantik eines 
Walter Scott war das Land, aufgesta¬ 
chelt durch Männer wie Carlyle und 
Dickens, übergegangen zu der Betrach¬ 
tung der Gegenwart und ihrer Mi߬ 
stände, eifrig darauf bedacht, zu helfen 
und zu bessern; eine große Welle von 
Mitgefühl für die Armen und Schwachen 
fegte über das Reich hinweg und riß eine 
Menge veralteter, ungerechter Gesetze 
mit sich fort. Um 1850 hatte diese Be¬ 
wegung vorläufig ihren Zweck erreicht, 
Wenn sie auch von gewissen Schrift¬ 
stellern kräftig weitergeführt wurde, so 


hatte sie doch aufgehört, die Massen zu 
beschäftigen, wirksam zu sein. Es war 
ein andrer Geist zur Herrschaft gelangt. 
Der englische Mittelstand erlebte eben 
jetzt seine gute Zeit, d. h. er wurdereich; 
und wie es in solchen Zeiten zu gesche¬ 
hen pflegt, er wurde ängstlich und kon¬ 
servativ, wollte nichts mehr wissen von 
Verbesserungen, von Opfern für das 
Land und für die Bedürfnisse derer, die 
aus dem wirtschaftlichen Aufschwung 
jener Jahre keinen Nutzen zogen. Der 
große Apostel dieses Geistes war der 
Politiker und Geschichtschreiber Ma- 
caulay. Über ihn schreibt Fehr: „In sei¬ 
ner Geschichte Englands hat er idle Er¬ 
scheinungen der Vergangenheit nach 
dem Maßstab seiner viktorianischen Ge¬ 
genwart beurteilt und seine Leser in dem 
Glauben bestärkt, daß ein goldenes Zeit¬ 
alterangebrochensei. Macaulaywarvom 
Scheitel bis zur Sohle ein Philister, und 
sein Optimismus und sein Glaube an das 


Der vorliegende Aufsatz wurde schon vor dem Kriege niedergeschrieberi und in 
meinem Beitrag zu der Germanisch-Romanischen Monatsschrift (VI, S. 32) „Deutschland 
und die Deutschen bei George Meredith“ sein bevorstehendes Erscheinen in einer Züri¬ 
cher Zeitschrift angekündigt Die-Veröffentlichung ist dann unterblieben. Da ich nun 
häufig um Zustellung des Aufsatzes ersucht worden bin, entschließe ich mich zu seinem 
Abdruck in einer reichsdeutschen Zeitschrift 

Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß der Aufsatz seit seiner Niederschrift 
keine Veränderung erlitten hat also nicht ein Erzeugnis der Kriegszeit ist Ferner darauf, 
daß der Verfasser ein neutraler Schweizer ist Ein beliebtes Mittel der papierenen Kriegs¬ 
führung hat darin bestanden, die Dichter als Ankläger ihrer eigenen Völker ins Feld zu 
führen. Die Deutschen haben sich schwer darüber beklagt und ganz richtig diesen Ver¬ 
dächtigungen entgegengehalten, ihre Dichter hätten nicht aus Haß, sondern aus Liebe 
die Zustände im eignen Land gegeißelt. Doch sie haben als belesene Leute es ihren 
Feinden mit gleichem vergolten und reichlich vergolten. Das hat gerade den Deutsch¬ 
schweizern nicht gefallen wollen, die bei aller Teilnahme für die deutsche Sache doch 
Engländer und Franzosen nicht hassen oder verachten konnten, noch vergessen, daß 
man auch deren Dichter und Künstler mit Liebe und Bewunderung genossen hat. Ich 
bitte die Leser meines Aufsatzes, sich an dem gegen das eigene Volk gerichteten Tadel 
Merediths — der ein warmer Freund Deutschlands gewesen ist — nicht schadenfroh zu 
laben, sondern zu bedenken, daß dieser edle Geist nur das getan hat, was die edelsten 
Deutschen je und je geübt haben. Der Verf. 

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Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustande 


1384 


goldene Zeitalter, den die große Masse 
mit ihm teilte, ist die Philosophie des 
Philistertums. Es hat lange gebraucht, 
* bis ein mutiger Denker aufstand, um den 
englischen Mittelklassen die Lächerlich' 
keit ihres Kultes vor Augen zu führen. 
Es ist das große Verdienst Matthew Ar¬ 
nolds, das Wort Philister eingeführt und 
damit auch die Erscheinung seinen Zeit¬ 
genossen bloßgelegt zu haben (1865, in 
seinem Essay über Heine).“ Schon vor 
Matthew Arnold hatte John Ruskin sei¬ 
nen Feldzug gegen die englische Phi¬ 
listerei begonnen, mit ganz anders hefti¬ 
gen Worten als jener. Und noch fast 
früher als Ruskin sehen wir einen noch 
Großem gegen die Anbeter des goldenen 
Kalbes auf treten, George Meredith. 
Meredith war von Natur dazu bestimmt, 
der Kritiker seines Landes zu werden. 
Es genügt, wenn man sagt: das lag in 
seinem keltischen Blut. Es mag auch an 
seiner fremden Erziehung gelegen ha¬ 
ben: er hatte seine Ausbildung zum Teil 
in det Schule der mährischen Brüder¬ 
schaft zu Neuwied am Rhein erhalten. 
Was George Meredith an seinen Lands¬ 
leuten, an den Zuständen und Einrich¬ 
tungen seines Landes auszusetzen fand, 
das bildet ein nicht unwichtiges Kapi¬ 
tel in seiner Weltanschauung. Manches 
geht wohl nicht nur das Volk der Briten 
an, sondern die Völker alle, die sich fort¬ 
geschritten wähnen; also auch uns. Und 
manches, das er vor fünfzig Jahren zum 
erstenmal aussprach, hat er vor zehn 
wieder vorgebracht und es wird heute 
von andern immer von neuem gesagt. 
Es lohnt sich wohl (wenn es uns wirk¬ 
lich dämm zu tun ist, das Wissenswerte 
über England zu wissen), seine Aus¬ 
sprüche zu sammeln und seine Ansich¬ 
ten zu vernehmen. Es darf dabei nur 
nicht vergessen werden, daß Meredith 
nicht immer nur als Ankläger geschrie¬ 
ben hat Seiner Anklage setzt er eine 


nicht weniger beredte Verteidigung ge¬ 
genüber; allerdings nicht in Worte ge¬ 
faßt — Meredith hat nie die Vaterlands- 
trompete geblasen —, sondern nur ne¬ 
benbei. Am wirksamsten in den vielen 
prächtigen Menschen, die er als Vertre¬ 
ter und Typen seines Volkes geschaf¬ 
fen hat. 

Ein Volk, das Männer hervorbringt 
wie manche in Merediths Romanen, und 
besser noch: Mädchen und Frauen wie 
die unseres Dichters, kann nur ein tüch¬ 
tiges, ehrenwertes und bewunderungs¬ 
würdiges Volk sein. Meredith war ein 
feuriger Patriot, der sein Volk und sein 
Land begeistert liebte, das Oute an ihm 
auch freudig anerkannte. Aber gerade 
seine Vaterlandsliebe war es, die ihn die 
Rolle des Ermahners, des Tadlers, 
manchmal des Verspotters übernehmen 
ließ. Als der scharfe Beobachter und 
Denker, der er war, sah nnd empfand er 
wie wenige seiner Zeitgenossen die 
Schwächen und Fehler seiner Landsleute, 
erkannte er die Schäden im englischen 
Volksleben, und unerschrocken wie kein 
andrer außer Ruskin hat er sie bloßge¬ 
legt und gegeißelt. 

I. 

Meredith hat seine Kritik sowohl im- 
plicite als expUdte geübt ;d.h. sieeigibt 
sich einerseits aus den Schilderungen 
von Land und Leuten und den Vorwür¬ 
fen seiner Romane, andrerseits aus den 
vielen bewußt kritischen Äußerungen, 
die wir in sehr vielen seiner Werke, den 
Gedichten sowohl als der Prosa, zer- , 
streut finden. 

Wir beschäftigen uns zuerst mit der 
ersten Art Sie macht sich fast von An¬ 
beginn bemerkbar, während die andre 
erst später hervortritt Gesellschaftskri¬ 
tik steht im Vordergrund bei Merediths 
erstem Hauptwerk: Richard Feve¬ 
reis Feuerprobe (1859). Der Roman 

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1385 


Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustande 


138g 


geißelt — scharfer und wirksamer als 
irgendein englisches Buch, das ich 
kenne — den Rangstolz der oberen 
Klassen. Das Ungeheuerlichste, was der 
junge Richard tut, ist nicht, daß er hin¬ 
ter dem Rücken seines Vaters heiratet, 
sondern daß er, der Sohn des vornehmen 
Baronets, die Nichte eines Pachters zur 
Frau nimmt. Es klingt dabei wie ein 
Hohn auf englische Anschauungsweise, 
wenn Richard geltend macht, seine Lucy 
sei die Tochter eines Gentleman, da ihr 
Vater ja Offizier gewesen sei. Einen un¬ 
ansehnlichen Leutnant bei den Mariner 
truppen will ja auch der große Sir Wil- 
loughby Patteme im Egoist nicht emp¬ 
fangen, trotzdem er seinen eigenen Na¬ 
men trügt. Und welch ein Bild erhal¬ 
ten wir in dem Erstlingsroman von einer 
aristokratischen englischen Familie! Eine 
Sippe von Menschen, die der Überfluß 
und der Müßiggang bis ins Mark hinein 
verdorben haben. Die Männer sind ge¬ 
nußsüchtige Zyniker, denen entweder 
Küche und Keller, oder Sport und Spiel 
über alles gehen. Neben ihnen treffen 
wir einige Herren aus dem höhern Adel, 
besonders einen unermeßlich reichen 
und ziemlich beschrankten jungen Lord, 
der mit seinen! Schweif von Schmarot¬ 
zern wie ein Wolf in einem Rudel von 
Schakalen einhergeht, Beute suchend. 
Die Geschichte laßt es mehr als klar 
werden, daß an dem traurigen Tod der 
lieblichsten aller Frauen, an dem tragi¬ 
schen Knicken des schönsten der Jüng¬ 
linge nicht allein des Knaben Heftigkeit 
und des Vaters Unverstand schuld sind, 
sondern die ganze gesellschaftliche Ein¬ 
richtung, die solche Tragödien hervor- 
ruft, sie zur Notwendigkeit macht. Das 
war denn auch der Grund, warum der 
Roman, „Richard Fevereis Feuerprobe“, 
als unsittlich verschrien wurde. 

Der zweite Roman Merediths ist ge¬ 
radezu auf den Begriff der Klassenge¬ 


gensätze in ihrer charakteristisch eng¬ 
lischen Form aufgebaut. Euan Harrlng- 
ton heißt der Titel des Werkes (1861). 
Er könnte ebensogut heißen: Tailor and 
Gentleman, denn der Held ist ein 
Schneiderssohn, der unter das Herren¬ 
volk gerät. Auch hier wieder bittere 
Anklage gegen, beißender Spott auf den 
Rangstolz, die Ausschließlichkeit dieser 
Klasse. Zum dritten Male behandelt 
unser Dichter dieses Thema in Rhoda 
Fleming (1865). Der angeborne Stolz, 
die anerzogene Selbstherrlichkeit des 
reichen Herrensohnes sind schuld, daß 
dieser das schöne Bauernmädthen, nach 
dem seine Leidenschaft gegriffen hat, 
verschmäht und unglücklich macht, ge¬ 
gen sein besseres Gewissen, ja, gegen 
seine eigene Neigung. 

Von nun an verläßt Meredith dieses 
Problem; er läßt es zum mindesten nicht 
mehr so stark hervortreten. Schon in 
dem frühen Werk Sandra Belloni (1864) 
spielt es nur eine nebensächliche Rolle. 
Hier sehen wir vielmehr, wie brüderlich 
sich der niedere und der ärmere Adel zu 
der reichen Bürgerklasse der Citykauf¬ 
leute stellt — schon vor 50 Jahren sich 
stellte. In diesem Roman gibt uns Mere¬ 
dith die Kritik ebendieser in England so 
mächtigen Bürgerklasse. Er ist weit da¬ 
von entfernt, sie zu verachten, wenn er 
auch keinen Hehl daraus macht, daß er 
sie nicht liebt. Unter ihr sind die Ge¬ 
fühlsduselei, der schöne Dünkel und das 
geistige Strebertum heimisch. Und diese 
Klasse ist die eigennützigste von allen, 
wenn auch nicht die unnützeste. Sie 
steht geistig und gemütlich tief, trotz 
den feinen Dämchen und den flotten jun¬ 
gen Kriegshelden, die sie hervorbringt. 
Sie ist innerlich verkümmert unter dem 
Fluch des Reichtums und des Wohl¬ 
lebens. 

Der Fluch des Reichtums: damit ha¬ 
ben wir den Gedanken genannt, der Me- 


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Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände 


1388 


redith vom ersten bis zum letzten seiner 
Werke wohl am meisten beschäftigt hat. 
Er kommt nicht davon los. Der Reich¬ 
tum — er nennt ihn mit Vorliebe Mam¬ 
mon oder Geldsack — ist der Urgrund 
der schlimmsten Mißstände im engli¬ 
schen Volk, der unerfreulichsten Schwä¬ 
chen im englischen Volkscharakter. Er 
verdirbt die Besitzenden und die Armen. 
Jene macht er zu krassen Egoisten. Me- 
redith nennt sie einmal (Aduentures 
of Harry Richmond): „Jene riesigen 
menschlichen Kürbisse, die euer Land 
bedecken und ihm Blut und Geist ab¬ 
zapfen — jene Aussauger der Natur." 
Mehr als einer seiner Helden wird das 
Opfer eines abermäßigen Reichtums: Sir 
Willoughby Patteme im Egoist; Lord 
Ormont in Lord Ormont and his Amirrta; 
Graf Fleetwood in The Amazing Mar - 
ringe; auch der große selfmade man 
Victor Radnor in One of our Conquerors. 

Gegen den Reichtum eifert Meredith 
durch den Mund und die Feder seines 
Dr. Shrapnel in dem politischen Roman 
Beauchamp's Career. Noch ausdrück¬ 
licher, rückhaltloser tut er es in einem 
Gedicht aus denselben Jahren. Es ist an 
seinen Freund John Morley, den jetzigen 
Lord Morley, gerichtet bei Anlaß seiner 
Reise nach Amerika, wo er in verschie¬ 
denen Städten Vorträge halten sollte. 
Der Dichter ermahnt den Freund, den 
Vettern auf dem westlichen Festland zu 
sagen, daß es mit England doch nicht 
ganz so traurig stehe, als der äußere An¬ 
schein, wie ihn besonders die Zeitungen 
erwecken, vermuten Läßt. Aber wie bietet 

es sich den beobachtenden andern Völ- 
0 

kern dar?—Aus England erschallt das 
Getön der Mammonspfeifer. Der wahre 
Geist des Landes gibt kaum ein Lebens¬ 
zeichen von sich; was man aus der Ferne 
zu sehen vermag, ist höchstens hie und 
da ein wildes Zucken, die Panik eines 
prallen Beutels, die Angst vor bösen Ta- 


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gen. Man denkt nur an den Erfolg; man 
ist immer bereit auszuweichen. Frau 
Britannia scheint zu sagen (eben durch 
ihre Sprecherin, die Presse): loh bin 
wohl versorgt; für die Schwachen habe 
ich ein Hohnlachen, den Starken, weiß 
ich zu schmeicheln. Die wahre Gesin¬ 
nung des englischen Volkes ist das aller¬ 
dings nicht; Tatsache bleibt dennoch: 
England hat die Schamlosigkeit, von den 
andern zu verlangen, sie sollten das 
Schwert einstecken, ohne selber daran 
zu denken, herauszugeben, was es ge¬ 
nommen hat. Es predigt nur Wohlleben, 
und wenn andere einen Anteil an den 
Gütern der Welt heischen, so sagt es 
fest, es selber sei satt... Ja, England 
wird von dem kopflosen Tyrannen 
Reichtum, dem Heuchler, dem Bauch¬ 
gott regiert. Ihm werden täglich Psal¬ 
men gesungen; ihm sucht man zu ge¬ 
fallen. Für. das wahre England ist kein 
Raum mehr da. Wer befreit das Land? 
Carlyle 1 ), der bloß das Übel sah, nicht 
aber die Quelle, hat die Titelträger, die 
Aristokratie, zum Kampf aufgerufen. 
Wie kann man auch? Diese sind groß 
bei den Festessen in der City. Aus dem 
Reichtum der City sind sie ja größten¬ 
teils hervorgegangen. Sie sind am aller¬ 
meisten die Anbeter Mammons, mit Ge¬ 
sichtsverdrehungen, mit Rückenbeugen, 
mit unterwürfiger Rede. — 

Das Gedicht entstand 1867. Von nun 
an hört Meredith nicht mehr auf, da9 
Heer der Mammonsdiener zu bekriegen. 
Man könnte Hunderte von vereinzelten 
Stellen anführen. In dem schönen Ge¬ 
dicht: Die Drossel im Februar, das sein 
Glaubensbekenntnis enthält beklagt er 


1) Der Name ist nicht genannt Die 
Verse lauten: „A poet, half a prophet, rose 
In recent days, and called for power | I love 
him; but his meuntain prose — | His Alp 
and valley and wild üpwer - Proclaimed 
our weakness, not its source.* 


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INDIANA UN1VERSITY 





1389 Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustande 


es, „in einem Land der Habsucht leben 
zu müssen» das für den Mammon bebt, 
wie die Erde bebt“. Seine Philosophie 
des Reichtums kommt am vollsten zum 
Ausdruck in dem edlen Gedicht The 
Empty Purse, a Sermon to our Later 
Prodigal Son. 

Der Mammonsdienst hat bewirkt, daß 
das Volk feig und gleichgültig gewor¬ 
den ist. Besonders häufig weist Mere¬ 
dith auf die Vernachlässigung der Lan¬ 
desverteidigung hin, woran der Steuer¬ 
zahler am meisten schuld ist. Was Lord 
Roberts den Engländer von heute pre¬ 
digt, das hat unser Dichter ihnen schon 
vor50Jahien warnend vorgehalten. Das 
ganze erste Kapitel von Beaucharnp's 
Ccueer (1876) ist der Behandlung dieser 
Frage gewidmet. Es schildert das Insel¬ 
reich in dem Zustand einer jener Pa¬ 
niken, die es von Zeit zu Zeit ergreifen. 
Damals zitterten die tapfem Britein vor 
einem Einfall des alten Erbfeindes und 
jetzigen Freundes, der Franzosen, ge¬ 
rade wie sie heute aus der Angst vor 
den bösen Preußen nicht herauskommen, 
geheimnisvolle Torpedoboote und Luft¬ 
kreuzer an ihrer Ostküste erscheinen 
sehen und sich vor aller Welt lächer¬ 
lich machen. Meredith hat sich nicht 
gescheut, ihnen ihre Lächerlichkeit in 
grellen Farben vorzumalen. — 

Also ein französischer General hat 
sich anheischig gemacht, mit 10000 
Mann den Kanal zu überspringen und 
nach London zu marschieren. In Eng¬ 
land schläft man nicht mehr vor lauter 
Schrecken. Die Lage wird von Meredith 
folgendermaßen dargestellt: 

„Die Ergebnisse der Volkszählung 
waren überwältigend zufriedenstellend, 
ebenso der Zustand unsrer Jungmann¬ 
schaft. Wir konnten rudern und reiten 
und fischen und schießen, und wir ver¬ 
mehrten uns reichlich. Wir waren Ath¬ 
leten mit einer schönen Geschichte und 


1390 

einem vollen Beutel. Wir hatten erst¬ 
klassige Jagdflinten, unerreicht gute 
Spazier- und Jagdpferde, vielverspre¬ 
chende Babies, und eine wundervolle 
Presse und eine Verfassung, das Höchste 
darstellend, was praktische Menschen¬ 
klugheit je erreicht hatte. Aber wo 
waren unsere bewaffneten Männer? Wo 
war unsere schwere Artillerie, wo un¬ 
sere erprobten Hauptleute, wenn es 
darauf ankam, eine plötzliche, scharfe 
Probe zu bestehen? Wo war die erste 
Verteidigungslinie Englands, seine Flot¬ 
te? Das waren Fragen, und die Minister 
wurden aufgefordert Antwort zu geben. 
Die Presse beantwortete sie kühn mit 
der erschreckenden Behauptung: Wir 
haben keine Flotte und kein Heer. 
Höchstens ein paar alte Schiffe könnten 
wir aufbringen, einige Versuchskreuzer 
und zwanzigtausend schlecht bewaff¬ 
nete Soldaten.“ 

Das bezieht sich nun allerdings auf 
die Zeit vor dem Krimkrieg. Aber Mere¬ 
dith hat seine eigene Zeit gemeint, das 
Ende der sechziger Jahre. Ungefähr um 
dieselbe Zeit, etwa ein Jahr später, be¬ 
gann dann W. T. Stead, der mit der 
Titanic untergegangene Zeitungsmann, 
seinen Feldzug für eine Hebung der 
Flotte. 

Die nun folgende Schilderung der 
Panik ist nicht wiederzugeben. „ The 
üeliberate saddllng of our ancient night- 
mare of Uwasion “ nennt unser Wort¬ 
künstler den Vorgang — das planmäßige 
Satteln unsres alten Nachtmahrs eines 
feindlichen Einfalls. 2 ) Die Panik ist als 
ein altes Weib dargestellt, das aus dem 
Schlafe aufgescheucht wird. „Im Augen¬ 
blick war sie ganz stürmische Nacht¬ 
haube und hungrig nach dem Glocken- 

2) Das englische mare bedeutet Stute, 
nightmare aber ist das Alpdrücken: wir 
haben es mit einem unübersetzbaren Wort¬ 
spiel zu tun. 



1391 


Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände 


1392 


sträng ausgestreckte Finger.“ Sie löst 
ein Zetermordio aus, sodaß sogar die 
Opposition im Parlament ihre Angriffe 
auf die Regierung einstellt. 

Die Presse, die zuerst feurio gerufen 
und Alarm geschlagen hat, bemüht sich 
nun, den Sturm zu legen. Es entstehen 
neue Leitartikel, worin auf gewisse, eben 
zum Stapellauf bereite Schiffe und auf 
einige eben aus Indien zurückkehrende 
Regimenter hingewiesen wird; ganz be¬ 
sonders aber auf die Hecken auf dem 
Lar.de, jene englischen Hecken, durch 
die allein der Anmarsch eines Feindes 
aufgehalten werden könne. Doch die 
Panik will sich nicht beruhigen. „Wel¬ 
ches Land“, winselt sie, „hat etwas zu 
verteidigen, das unsern Schätzen gleich¬ 
käme? Ungezählte Reichtümer, schöne 
Frauen, einen nie entweihten Boden!“ 
Schließlich legt sich die Aufregung, 
das Weib Panik sinkt in ihre Kissen zu¬ 
rück und schließt die Augen. Der Steu¬ 
erzahler jedoch muß nun dran glauben. 
Die ausgestamdene Angst hat ihn über¬ 
dies mürbe gemacht, und so läßt er sich 
denn herbei, zu bluten. 

Zwanzig Jahre später kommt Mere¬ 
dith wieder auf das Thema zurück —er 
hatte es inzwischen wiederholt angetönt 
— in einem Gedicht an den Oberstem 
Charles, das die unkriegerische Hal¬ 
tung des Landes brandmarkt. „Bald er¬ 
hebt es eine gichtbrüchige Faust, bald 
umkrallt es wieder seine Batzen. Was 
in der Welt herum vorgeht, versteht es 
nicht: es ist geistig zu träge. Das Wort, 
womit Gambetta den plumpen MacMa- 
hon kennzeichnete, es paßt auf England: 
Wie eine Kuh einen vorübereilenden 
Zug anglotzt, so lugt England nach den 
Russen, Deutschen, Franzosen aus.“ 
Meredith erblickt die größte Gefahr in 
der Versuchung, die ein unvorbereitetes 
England für die starken Nachbarländer 
sein muß. „Denn“, meint er, „die Völker 


sind noch immer die wahnsinnigen Mas¬ 
sen, und sollten sie einmal meinen, unser 
Wappenlöwe sei ein Schweif schwin¬ 
ge: für alles, nur nicht den Krieg, me¬ 
chanisch aufgezogen, seine Flanken zu 
peitschen von einer Presse, die das 
Schreckgespenst heraufbeschwört; er sa 
bloß ein Geldsack mit Kopf und Schwanz, 
ja, dann könnte es mit aller unsrer Tap¬ 
ferkeit zu spät sein.“ 

Nicht ein säbelrasselndes England 
verlangt Meredith, nicht ein herausfor¬ 
derndes. „Lieber Indien fahren lassen, als 
die allgemeine Wehrpflicht einführen“, 
sagt sein Dr. Shrapnel im Beauchamp. 
Später wäre der Dichter bereit gewesen, 
eine allgemeine Wehrpflicht einzufüh¬ 
ren 3 ) und Indien trotzdem fahren zu las¬ 
sen. Meredith verurteilte die erobernde 
Politik, ln einem Sonett aus seineai spä¬ 
tem Jahnen, The Warning , vergleicht er 
das Land mit einem Luftballon, „von un¬ 
serem Gas — dieses Inselchens unersätt¬ 
licher Gier nach Kontinenten — zum 
Platzen voll gebläht“. In noch einem 
andern Sonett Outside the Crowd 
wiederholt er seine Warnung und sagt 
deutlicher, welche Rolle er England spie¬ 
len sehen möchte: „wir w f ollen gegür¬ 
tete Athleten sein, gegen jeden Gegner 
bereit, oder aber zur Seite stehn in glei¬ 
chem, großem Wohlwollen für alie, 
Herr von Ländern, die keine R’aubvögel 
an sich reißen werden, wo die Gerech¬ 
tigkeit mit reinem Sinn die Wage hält, 
wir selbst gewappnet, um ihremSch wer f 
Nachachtung zu verschaffen. Sonst lie¬ 
fern wir der Geschichte Stoff zu dem 
Kapitel über untergegangene Staatswe¬ 
sen.“ Um dem Krieg vorzubeugen, muß 
England gerüstet sein. Denn der Krieg 
ist einer fortgeschrittenen Welt unwür¬ 
dig. In dem Sonett On the Danger 
of War beschwört er den Geist der 

3) Er spricht in seinen Briefen an den 
Journalisten Greenwood wiederholt davon. 



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1393 


Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände 


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Weisheit, die Kriegsdrohung abzu- 
wenden, die „nur ein hirnkrankes Land 
verrät“. Um seine Rolle unter den Völ¬ 
kern würdig zu spielen, um seiner zivi¬ 
lisatorischen Aufgabe zu genügen, 
sollte England groß und stark und jeder¬ 
zeit gerüstet dastehen. Dieser Gedanke 
unterliegt dem Gedicht The Call, aus 
dem ich ausführlich zitieren muß. Es be¬ 
ginnt mit einer ziemlich unverhüllten 
Anspielung auf die Deutschenfurcht: 
„Es heißt Exercitus (d. h. das Heer, der 
Mildtärstaat, Deutschland) beabsichtige, 
es mit dem berühmten Salsipotent (d. h. 
dem Salzmeer beherrschenden England) 
aufzunehmen. In diesen Tagen der 
Hochflut des Reichtums läßt ein Hauch 
der Warnung ganz England sich beugen 
wie das Schilf am See vor dem Wind.... 
Denn riesiger Besitz läßt die* Kraft er¬ 
schlaffen, deren wir bedürfen, ihn fest¬ 
zuhalten; es wäre denn, daß im Volk 
das Herz lebendig würde und alle einig 
machte.... Stark müssen wir sein wol¬ 
len, aber um zu helfen, nicht zu scha¬ 
den. ... Es darf nicht erklärt werden, 
wir seien eine Nation, die von einem Ende 
zum andern des Landes eine solche 
Kriegsfront zeigt, daß ein sprungberei¬ 
ter Feind seine Wut in die Luft verpufft 
und es vorzieht, uns Freund zu werden. 
Indem wir ihn fürchten, tun wir ihm un¬ 
recht. Denn die Furcht entstellt, die 
Furcht lockt. Unsere Aufgabe isit es, 
stark zu sein gleich ihm; ungleich ihm, 
nicht nach einem beneideten Schatz zu 
greifen als nach einem Recht. So kann 
eine stärkere Brüderschaft übers Meer 
gemeldet und dort verstanden werden; 
ja, noch mehr, begrüßt, wenn es sich 
zeigt, daß wir alle Pflichten umfaßt ha¬ 
ben, indem wir frei sind.... Dieses Bri¬ 
tannien 1 und sollte es fallen, die Mensch¬ 
heit würde eine rauhere Luft atmen, und 
die Nationen würden ein kostbares füh¬ 
rendes Licht vermissen.“ 


Gerade jetzt ist die Zeit, sich zu fra- 
ob England die ihm von seinem edel¬ 
sten Dichter zugedachte Rolle spiele. 
Wohl dem Lande, das einen Dichter hat, 
der zu ihm spricht über seine höchsten 
Aufgaben, wie es Meredith in den ange¬ 
führten Gedichten tut. Wehe dem Lande, 
das einen solchen Dichter hätte und 
nicht auf seine Stimme hörte! 

In Beauchamp's C:ireer und in den 
Gedichten spricht Meredith in seinem ei¬ 
genen Namen. An andern Orten hat er 
es vorgezogen, seine Kritik andern in 
den Mund zu legen. In einem berühm¬ 
ten Kapitel von The Adventures of 
Harry Richmond belehrt der deut¬ 
sche Professor Julius von Karsteg den 
reichen jungen Engländer über den wah¬ 
ren Zustand Albions. Auch hier werden 
wir um einige Jahrzehnte in die Ver¬ 
gangenheit versetzt, aber auch hier 
meint der Verfasser doch sein zeitge¬ 
nössisches England. Ein paar abgeris¬ 
sene Sätze mögen Jnhalt und Gedanken¬ 
gang veranschaulichen: 

„Ihr Engländer lebt, um des Vergnü¬ 
gens willen.“ Erwiderung: „Wir sind die 
arbeitsamsten und fleißigsten Menschen 
der Welt “ „Ja, damit ihr dem Vergnü¬ 
gen leben könnet. Ihr arbeitet um des 
Geldes willen. Ihr eßt und trinkt, und 
ihr prahlt mit euren körperlichen Übun¬ 
gen; ihr betreibt sie nur, um Appetit zu 
bekommen. ... Ihr werft uns (Deut¬ 
schen) Mangel an gesundem Menschen¬ 
verstand vor, als ob der Bauch sein Sitz 
wäre.... Eure Adeligen sind nichts als 
reiche Leute, aufgeblasen von herge¬ 
brachtem leeren und unausstehlichen, 
weil ungerechtfertigten Stolz, und ge¬ 
speist durch Verbindungen mit dem 
Handelsstand. Oder sind sie etwa eure 
Führer? Führen sie euch an in der Li¬ 
teratur, in den freien Künsten, in der Re¬ 
gierung? Wie ich höre, nein. Nicht ein¬ 
mal im Militärdienst“. ... „Sie haben’s 



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1396 


getroffen,“ laßt Meredith hierauf den 
jungen Engländer erwidern, „das ist das 
wahre Gepräge des englischen Geistes: 
hinzunehme n, was immer ihm vermacht 
wird, ohne zu fragen, ob nicht irgend¬ 
eine Änderung stattgefunden habe.... 

„Ihr verehrt eure sogenannte Aristo¬ 
kratie,“ fährt der Deutsche fort, „um ei¬ 
nen, idealen Gegensatz zu der Gemein¬ 
heit des Volkes zu bewahren.... Mei¬ 
netwegen ja, eine Darstellung der Frei¬ 
heit, das habt ihr uns gegeben. Aber ihr 
seid zufrieden damit in einer Welt, die 
sich fortbewegt.,. Ihr kühlen Engländer, 
die ihr an das Vorhandensein von Zie¬ 
len, die nicht gleich vor euren Augen 
zur Erde fallen und euch ins Gesicht 
starren, nicht glauben wollt, ihr behaup¬ 
tet, der Mensch habe seine Arbeit ge¬ 
tan, wenn die Besitzlosen nicht gerade¬ 
zu aufschieien.“ 

Gegen den englischen Dünkel, der 
zum Festhalten am Hergebrachten führt, 
zur Ablehnung höherer Ziele, zu gesell- 
schaftsleindlichem Eigennutz, gegen die* 
kleinliche Angst vor Neuerungen, hier¬ 
gegen zieht der Dichter zu Felde. Am 
übermütigsten läßt er seine Kritiker¬ 
laune walten in One of our Conque- 
rjrs (1890). Zuerst äußert er sich durch 
die Aufzeichnungen zweier Orientalen, 
eines indischen Fürsten und seines Mini¬ 
sters, die er einige sehr witzige und ge¬ 
salzene Dinge über die Beherrscher ih¬ 
rer großen Halbinsel sagen läßt. Der 
Hauptsprecher aber ist der giftige Sati¬ 
riker Colney Durance. Der schreibt eine 
Satire auf die geistige Zurückgeblieben¬ 
heit des englischen Volkes. Sie wird im 
Auszug mitgeteilt und ist ungeheuer ko¬ 
misch, wenn man einmal so weit ist, 
daß man sie versteht; denn One of 
our Conquerors ist der schwierigste 
aller Romane Merediths. Das gänzlich 
tolle Spiel zeigt den Engländer im gei¬ 
stigen Wettkampf mit den Vertretern 


der andern europäischen Völker. Der 
Sohn Albions muß überall kläglich den 
kürzern ziehn. Während die übrigen von 
ihren Regierungen unterstützt werden, 
sich auch sonst mit Vorbedacht gerü¬ 
stet haben; rennt der Engländer ahnungs¬ 
los in das Verderben hinein. „Der wür¬ 
dige Herr hatte geglaubt, ins Glück hin¬ 
einzustolpern, nach der seligen alten 
englischen Weise. Sonst war es immer 
so mit uns: ungeholfen tun wir es! ruft 
der ehrwürdige Doktor aus.“ Das lu¬ 
stigste ist, daß die wackeren Briten ihre 
Niederlage im geistigen Wettbewerb 
durch Heldentaten auf dem Sportfeld 
ausgleichen zu können meinen. Meredith 
hat an mehr als einem Ort mit wonniger 
Freude ein englisches Cricketspiel ge 
schildert. Aber daß seine Landsleute auf 
den Sport so versessen sind, neben ihm 
sozusagen keine Interessen haben, das 
hat er oft beklagt. Der Held von One of 
our Conquerors, aufgestachelt durch 
seinen Freund, den Satiriker, möchte 
eine Zeitung gründen, deren einziger 
Zweck die Bekämpfung der nationalen 
Charakterfehler sein sollte; „seinenEng¬ 
ländern klarmachen, wie und bis zu wel¬ 
chem Grade ihre Sports, ihre heftigen 
Fressereien und ihr Widerstand gegen 
Ideen und ihre Ängstlichkeit mit Bezug 
auf Änderungen und ihr Abscheu vor 
jeder auf sie angewendeten Kritik und 
ihre einmütige Anwendung ebendie¬ 
ser Kritik als Waffe gegen andere: wie 
das alles Zeichen sind einer über Ge¬ 
bühr langen Gemütlichkeit im Lehn¬ 
stuhl." 

II. 

So hat Meredith mit allen Mitteln ver¬ 
sucht, sein Volk aufzustacheln, es aus 
seiner Ruhe aufzuscheuchen. Er sah es 
im Begriff, sich zu verlieren, abzufalleo 
von seinem Rittergelübde. Sein letzter 
Roman sollte ganz der Frage gewidmet 
sein: wie kommt es, daß aus dem 


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beiden Rassen, aus denen die britische 
Nation besteht, noch keine Einheit ge¬ 
worden ist; daß der Keite immer noch 
so heftig vom Sachsen wegstrebt. Er 
hatte das britische Rassenproblem 
schon früher in einem Gedicht behan¬ 
delt: Aneurins Harfe. Hier klagt er, 
daß der Keite seine Eigenschaften nicht 
entfalten könne: * Schwert, Lied und 
feinen Geist bringt der Keite auf den 
Markt, doch alle werden übersehen. 
Der Sachse kriecht im Schatten der 
normannischen Hakennase, und der 
Normanne pocht auf seinen Titel. We¬ 
der Führer noch Ziel noch einen fer¬ 
nen, verheißenden Glanz können wir er¬ 
blicken; weder Ehre noch die zarte 
Knospe einer Verheißung winkt uns, den 
Kelten. Verbunden sind wir: eine Flut 
von Rassen dahingerollt einem gemein¬ 
samen Schidksal entgegen. England hält 
viele umklammert: welches aber ist der 
Zustand Englands? England trommelt 
mit Stolz auf seinen vollen Bauch, das 
Weib Mammons.“ 

Hierher gehört das Romanbruchstück: 
Celt and Saxon (wohl nach 1900 ver¬ 
faßt) mit dem wunderbaren Kapitel, das 
von dem „großen Mr. Bull und den kel¬ 
tischen und sächsischen Ansichten über 
ihn handelt“. Anstatt eines mageren Aus¬ 
zuges gebe ich einige längere Stellen im 
Zusammenhang. 

„Von Bull also denn: unserem Bild 
vor der Welt, unserem Herrn und Gebie¬ 
ter, uns selbst, in einem Wort — dem 
untern Teil von uns. Wenn auch im gan¬ 
zen nur kühl verehrt, kann er doch Be¬ 
geisterung erzeugen, wenn sein Roast¬ 
beef-Einfluß zu einem friedlichen 
Himmel emporsteigt und die häusliche 
Welt Englands sich mit ihm im Takte 
dreht. Was er nicht mag, wird dann zum 
verbietenden Gesetz eines sehr lenksa¬ 
men Volkes, was er liebt, wird Gebot. 
Wenn erklärt wird, daß keine Gründe 


ihn bewegen können, so wird er in der 
Form eines Pfostens angebetet. Ein 
Zeichen, daß er etwas wünscht, und es 
entsteht ein gefährlicher Andrang sei¬ 
ner Verehrer. Es ist, als ob wir das Bei¬ 
spiel unserer fanatisch unterwürfigen 
indischen Untertanen nachahmten. Doch 
dem ist nicht so. Es ist uns angeboren. 
Es sind einige so waghalsig gewesen, 
die Herrschermach't Bulhs auf den freund¬ 
lichen Schutz des guten Neptun zurück- 
zufühien, dessen Arme ihn umfangen 
und in ihm die Entwicklung einer rück-' 
sichtslosen Launenhaftigkeit fördern. 
Gewisse Unkräuter des menschlichen 
Busens blühen rasch auf, wo Sicherheit 
gewährleistet ist. . . . Neptun hat etwas 
getan. Man glaubt, er habe viel getan, 
sobald es heißt, er sei nicht imstande, 
das Äußerste zu tun. Merkt ihr etwas 
von Unsicherheit? — ein Geschöpf, das 
sonst allen Gründen unzugänglich ist, 
lauscht nun plötzlich jeder Einflüste¬ 
rung: der Eichenhlafteist ein Schilf, der 
Stier ein Rehlein. Da aber kein Angriff 
auf seine Küsten erfolgt, fehlt der Be¬ 
weis, daß sie unverletzlich sind. Man 
wendet sich um Hilfe an Neptun, Und 
der antwortet durch den Mund des letz¬ 
ten Passagiers von einer Fahrt über den 
Kanal in einer stürmischen Nacht. ,Fasse 
Mut, Sohn Hans! Es wird ihnen nicht 
ums Dreinschlagen sein, den Eindring¬ 
lingen bei dir, nach einer solchen Fahrt/ 
Diese Bestätigung der Wachsamkeit des 
Meergottes gibt seinem Liebling wieder 
Mut, und gleich ist er gegen Vernunft- 
grün de wieder so hornig wie zuvor. 
Neptun soll sein Teil an der Ehre haben. 

Irgendein Ideal von seinem Land hat 
Bull nicht — er haßt das Wort; es riecht 
nach Ketzerei, nach Widerstand gegen 
sein Abbild. Ein Ideal anzunehmen, er¬ 
fordert eine Betätigung der Einbildungs¬ 
kraft, und das vertragen seine Verdau¬ 
ungswerkzeuge nicht... Er ist eiae greif- 





1399 


Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände 


1« 


bare Gestalt, praktisch, und das Liebste, 
was ejr sehen kann, ist der Spiegel, den 
ihm seine Barden von der Presse und 
sein Hofnarr, der Hans Lachauf, Vorhal¬ 
ten. Dort, umgürtet von lachenden Mee¬ 
reswellen, in offenkundiger Seligkeit, 
labt er sich an seiner Rundheit. Runder 
bei jeder neuen Besichtigung, prpdigt er 
der Menschheit über die Seligkeiten der 
Leibesfülle. Die Franzosen machen in 
Revolutionen, stellen politische Versu¬ 
che an; die Deutschen büffieln Philoso¬ 
phie, wälzen Klassiker, komponieren 
neuartige Musik: beide gehen vorwärts, 
entwickeln sich weiter, lernen töten. Lä¬ 
cherliche Deutsche! launenhafte Fran¬ 
zosen ! Wir brauchen nichts Neues in der 
Musik, noch neue politische Einrichtun¬ 
gen und Regierungsformen, und Krieg 
begehren wir nicht. Die Friedensgöt¬ 
tin ist es, der wir den Hof machen, 
indem wir um die Hand ihrer Tochter 
Fülle werben, und wir haben das lustige 
Mädel gewonnen; willkommen zum Hoch¬ 
zeitsschmaus! Aber hebet euch weg, 
neue Ideen und Geheul: alte Weisen, er¬ 
probte Systeme für uns, meine würdigen 
Freunde!“ 

Das wäre Bull, der selbstzufriedene 
Verteidiger des Hergebrachten,Vorhan¬ 
denen. Er lebt nur der Gegenwart, wie 
das liebe Vieh in fetten Triften. Das 
geht» bis eine geschäftliche Krise ein- 
tritt. Auf einen Schlag ist er über den 
Haufen geworfen .Es wird ihm schwarz 
vor den Augen, seine liebe Gegenwart 
sieht er nicht mehr. 

„Was hat er getan zum Wachstum 
seiner Himkugel? Wohl ist es die klei¬ 
nere, aber in unserer wahren Haltung 
doch die obere, und von Rechts wegen 
die führende Kugel.... Was hat er in 
den Künsten aufzuweisen? was in den 
Waffen?Seine Sänger beschuldigen ihn 
einer krassen Viehzufriedenheit, der Un¬ 
fruchtbarkeit des Gehirns, der Schläfrig¬ 


keit, leichenhafter Unempfindlichst 
Sie machen ihm den Kopf warm mitF» 
gen über unsere Verteidigungsmitfc, 
unsere geistigen und materiellen Let 
stungen, unsere Poesie, unsere Wisse*- 
schaft; sie höhnen sein Vertrauen ad 
den Gott Neptun, ziehen dessen Unver¬ 
wundbarkeit in Zweifel. Sie weisen si 
den Ausländer hin, den sictier schreiten 
den, gestählten, selbstvertrauenden Aus- 
länder; waffenkundig, kunsterfahreL 
in geistiger und leiblicher Regsamkeit, 
und, wie einige zu behaupten wagen, t 
der Dichtkunst, unserer höchsten Lö¬ 
tung, uns überlegen. 

Da, mit einem einzigen lauten Gebrüll 
dem Zusammenbruch der Bauchfüllt 
steigt er von seinem Postament das 
Weltkritikers herunter; er wirft sich vor 
dem Fremden nieder; er sagt sich vöj 
englischen Werken und Taten les, 
lauscht fremden Weisen, verschrei 
sich fremde Schauspieler, weidet sich aa 
Berichten aus den Feldlagern fremder 
Heere. Gleich einem geschlagenen Och¬ 
sen senkt er das Haupt vor jedem fiera- t 
den Namen, und stöhnt innerlich .Shake ] 
speare!‘, um sich ein wenig Mut zu mfr | 
dien. Er liebt beinahe seine Dichter, er 
begreift fast, was Dichtung* ist. Weoo 
sie auch nichts einbringt, so verschafft 
sie doch Ruhm, Achtung in Zeiten des 
Mißerfolgs. Grütze im Kopf, muß er 
annehmen, Grütze im Hirn erzeugt die 
erobernden Energien. Er ist jetzt für 
Grütze im Kopf um jeden Preis- Er ist 
bereit, Männer, die sie haben, in den Un¬ 
terstand zu erheben. Sie sollen Ritter 
sein; sie zu Peers und Gesetzgebern zu 
machen, ist ihm allerdings noch nicht 
eingefallen. 

Das ist Mr. Bull, unser Abbild vor der 
Welt, dessen Streiche wir hinnehmen* 
als ob ihre Vorführung keine schlechte 
Wirkung auf die Nation hätte. Er ist 
stolz auf sein Bild im Spiegel. Unter die 



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1401 


Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände 


1402 


sen Schaustellungen arbeitet der nüch¬ 
terne, starke Geist des Landes mühsam 
weiter und tut seine stündliche Pflicht 
und Schuldigkeit gewissenhaft, nur we¬ 
nig mit Rücksicht auf zukünftige Sicher¬ 
heit, nur wenig tun Liebe zu geyvinnen. 
Denn leider ist es kein wissender Geist, 
auch nicht ein liebenswürdiger, wenn 
auca gerecht und wohlwollend. Er ge¬ 
mahnt an den Esel eines betrunkenen 
Gemüsehändlers. Er hat nicht die Gabe, 
sich auszusprechen. Sein Benehmen wird 
von einem einsichtsvollen Himmel als 
ehrbar anerkannt, und eine sich pla¬ 
gende, ringende Sprachlosigkeit hat im¬ 
mer etwas Pathetisches an sich.... Die 
Dichter könnten seine Tugenden ver¬ 
künden. Sie wollen nicht, mögen nicht. 
Die einzige Stimme, die er hat, ist das 
Eselsgeschrei des Puritaners. Die Welt 
ist es zufrieden, daß sie von dem Wanst 
Bulls verdunkelt wird.“ 

Hie und da kommt eine Zeit, wo die 
Leute, die Bull nicht gern haben, die 
Oberhand gewinnen. Dann verleugnen 
ihn auch seine Trabanten, die Barden 
der Presse. Sie stellen ihn als eine 
Schöpfung des englischen Humors hin. 
Doch das dauert nicht lange. Gleich ist 
er wieder Meister. „Nur in den Tagen, 
wo der verborgene untere Geist des Lan¬ 
des aufwacht, d. h. in den Tagen des 
Sturms, die herbeizuwünschen unvor¬ 
sichtig wäre, sind wir ihn gründlich los. 
Inzwischen richtet er Unheil an, ernst¬ 
liches Unheil.“ 

Und nun kommt der Ankläger Bulls 
auf die Wirkung zu sprechen, die „der 
Vertreter des engeren Englands“ auf die 
nichtenglische Rasse des britischen Rei¬ 
ches hat. 

„Engländer von Gefühl wissen ihn 
nicht zu schätzen. Für Leute mit iri¬ 
schem und kambrischem Blut in den 
Adern ist die rot- und pausbackige Fi¬ 
gur mit der gleichgültigen Stirn, mit 


dem geräuschvollen Geldsäckelwohl¬ 
wollen, mit den Anfällen einer gehörn¬ 
ten Wildheit und den Rückfällen in die 
Hartherzigkeit ein Gegenstand des Ab¬ 
scheus und Ekels. Und die keltischen 
Brüder sind nicht alle Narren in ihrer 
Empfindlichkeit. Sie dienen euch auf 
dem Kriegsfeld und auf andern Gebie¬ 
ten, denen die Welt Ruhm gespendet hat. 
Diese verabscheuen Bull, den Stier, als 
das ausgewachsene goldene Kalb eines 
heidnischen Götzendienstes. Sie sind 
ungerecht. Aber manche von ihnen spre¬ 
chen mit dem Gefühl, daß ihnen der Fuß 
auf die Kehle gesetzt sei, und sie sind 
von einem Geblüt, das eine verehrungs¬ 
würdige Weltanschauung fordert. Und 
sie hassen Bulls Gebrüll der Verachtung 
für ihre Religion. Darum bewahren sie 
ihren Haß gegen ihn, nachdem sie aus¬ 
gewandert sind, und lehren ihre Kinder, 
dieser. Haß lebendig zu erhalten.“ 

Das Kapitel ist damit noch lange nicht 
zu Ende. Im ferneren Verlauf geht der 
Verfasser noch weiter den Ursachen 
nach, die den Kelten dem Sachsen ent¬ 
fremden. Obschon die beiden Rassen 
stark miteinander vermischt sind, wiegt 
doch das sächsische Blut so stark vor, 
daß die keltische Auffassung des Ehren¬ 
werten und Liebenswerten keine Aner¬ 
kennung findet. Und so wird der Kelte, 
der begierig ist, etwas zu bewundern, 
abgestoßen. Für seinen Haß macht er 
sofort die tierische Figur John Bulls ver¬ 
antwortlich, und der ererbte Haß wird 
durch das persönliche, kritische Gefühl 
der Abneigung gebilligt. Das unter¬ 
drückte Bedürfnis, zu bewundern, ist 
neben vielem anderen ein Grund, warum 
der Kelte so hartnäckig widersteht. „Al¬ 
so Krieg dem Bull, fort mit ihm! Wenn 
ihr ihn einmal los seid, werdet ihr auch 
wissen, daß seit einem halben Jahrhun¬ 
dert ihr euch der Welt mit dem Unter¬ 
teil nach oben gekehrt gezeigt habt.“ 




1403 


Nachrichten und Mitteilungen 


1404 


Wie die Iren haben sich auch die Cam- tem am wenigsten und am Schlechtesten 
brier in Wales und die gälischen Hoch- verstanden. Wird er ihn je verstehen 
schotten mit dem Engländer noch nicht lernen, -auch nur den guten Willen auf¬ 
befreunden können. Der Waliser wird bringen, einen Versuch zu machen? 

ein eifriger Amerikaner, dient gern in Sichet ist, daß Meredith unter der ab- 

dem kleinen Heer der großen Republik, weisenden Haltung seiner Landsleute 
„Hier ist einer, dem im letzten Jahrhun- schwer gelitten hat. Das haben seine 
dert kein großes Unrecht geschehen ist, vor kurzem veröffentlichten Briefe una 
temperamentvoll, gern zum Singen und verraten. Er hatte Grund, den Mr k Bull 

zum Lieben bereit. Er verläßt euch und nicht zu lieben. Aber Meredith hat doch' 

vergißt euch. Seid versichert, daß die an sein England geglaubt. Keiner hat 

wirtschaftlichen Gründe nicht allein je ein so hohes Ideal von seinem Hei- 
schuld sind! Er kann euren Bull nicht matland gehabt wie er. Die 28 Bände, 

ausstehen. Ebenso geht es euren Dich- die seine Werke in Prosa und in Versen 

tern. Sie könnten den Quell der Vater- füllen, sind eine einzige große Huldi- 
landsliebe springen lassen^ wenn ihr gung an das Inselreich. Sie sind auch 
Widerwille gegen Bull es ihnen nicht einer der schönsten Ehrentitel, die es 

verwehrte. Sie mögen ihn nicht be- aufzuweisen hat. Vielleicht kommt es 

singen, weder episch noch lyrisch. Sie doch dazu, daß das Volk, das endlich 

sind gezwungen, ihr Genie auf das Ab- weiß, was ein Shakespeare gelten kann, 

strakte, das Gesuchte^ das Malerische auch eikennen wird, daß ein Meredith 
zu verschwenden. Umsonst fordert Bull, eine Flotte aufwiegt. Vorerst aber ist 
c|er endlich gemelkt hat, durch seinen es notwendig, daß viele Nichtengländer 
Shakespeare, daß die Dichtkunst Ehre seine Größe ermessen lernen. Solange! 
schafft, sie auf, ihn der Welt zu he- Deutsche und Franzosen sich nicht da¬ 
singen, ihn und die Dinge, die seine zu aufraffen, sondern fortfahren, Shaw 

Mitte, seinen Bauch, beglücken. Wäre und Wilde zu bewundern, gilt für sie 
er im Feuer, sein Fett dahingeschmolzen, das, was Meredith von der geisrtigen 
sie würden sich anders verhalten.“ Rückständigkeit und Trägheit der Eng- 

Nun weiß ich nicht oh meine Uber- Länder gesagt hat. An den Führern der 
Setzung eines nicht sehr leichtverständ- Geister ist es, dafür zu sorgen, daß seine 
liehen Originals verständlich ist. John Zeit bald kommt. 

Bull hat Meredith von allen seinen Dich- 

Nachrichten und Mitteilungen. 

Umrisse der Weltpolitik. Einwände unentbehrliches Werk: Deutsch- 

Seit dem Eintritt Deutschlands in die lands auswärtige Politik 1888—1914, das 
Reihe der Weltvölker ist noch von keinem freilich Deutschland doch wieder in den 
deutschen Historiker ein Anlauf zu einer ! Mittelpunkt der Darstellung rückt. Daß aller¬ 
großzügigen Gesamtgeschichte der Staaten- dings nicht etwa prinzipielle Ablehnung der 
weit vom Standpunkt des europäischen oder Weltpolitik für das Verhalten der Historiker 
Weltgleichgewichts aus unternommen wor- bestimmend ist, lehrt ein Blick auf die Be¬ 
den. Bezeichnenderweise sind die besten handlung früherer Perioden: auch hier ist, 
Schriften zur Weltpolitik der Gegenwart sieht man von Rankes imponierendem Le- 
nicht aus den Kreisen der deutschen benswerk ab, dessen Programm eigentlidi 
Geschichtschreibung hervorgegangen, so schon 1833 in dem Versuch über die „gro- 
J. J. Ruedorffers „Grundzüge“ und des ßen Mächte“ vorlag, die letzte größere Ar- 
Grafen Reventlow trotz mancher berechtigten beit dieser Art vor 1905, Heerens Handbuch 


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1405 


Nachrichten und Mitteilungen 


1406 


der Geschichte des europäischen Staaten- 
systems, im Jahre 1809 entstanden, also in 
einer Zeit, in der es nicht einmal eine deut¬ 
sche Politik gab, weil auch kein Deutsches 
Reich existierte. Hier ist im Interesse der 
nationalen Bildung viel für uns nachzuho- 
len; mit Recht legt die im Februarheft die¬ 
ser Zeitschrift mitgeteilte Denkschrift des 
preußischen Kultusministeriums an das Ab¬ 
geordnetenhaus Nachdruck darauf, daß alle 
fachdiplomatische Schulung wertlos ist, wenn 
nicht bei dem gesamten Volk das außen¬ 
politische Interesse geweckt wird. 

Schon aus diesen Gedankengängen her¬ 
aus wird man den Versuch von Justus Has- 
hagen 1 ), der sich die Aufgabe stellt, den 
gewaltigen Stoff in der Form eines syste¬ 
matischen Kompendiums vorzutragen, als 
eine Oberaus zweckmäßige Bereicherung 
unserer gesamten Kriegsliteratur begrüßen 
dürfen; nun ist man zur Orientierung doch 
nicht mehr wie bisher fast ausschließlich 
auf Anleihen bei fremden Nationen ange¬ 
wiesen. Zum erstenmal ist hier der Versuch 
gemacht, die europäische bzw. die Welt¬ 
politik seit 1871 zu periodisieren, worüber 
der Verfasser selbst die Leser dieser Zeit¬ 
schrift früher schon unterrichtet hat (Jg. 10, 
1916, Sp. 1133 ff.). Nur der Blick auf das Ge¬ 
füge der planetarischen Politik ermöglicht 
es ihm, den großen Wendepunkt im Jahre 
1895, im Eintritt Japans und der Vereinigten 
Staaten von Nordamerika in die Reihe der 
Weltvölker, zu finden, während bei der Be¬ 
schränkung auf unsere deutsche Geschichte 
die Zäsur etwa 1890 oder um 1900 anzu¬ 
setzen wäre. In der Stellung des Themas 
liegt es begründet, daß die siebziger Jahre, 
in denen noch nicht alle die älteren Gro߬ 
mächte aus dem europäischen Rahmen ihrer 
Politik herausgetreten waren, verhältnis¬ 
mäßig kurz behandelt sind; darüber waren 
wir auch in deutscher Sprache bereits aus¬ 
reichend unterrichtet. Die Benutzung frem¬ 
der Literatur und die Breite der Erzählung 
nimmt zu, je weiter sie fortschreitet; die 
letzten sieben Jahre vor Kriegsausbruch 
füllen den ganzen zweiten Band. 

Was die deutsche Geschichte im beson¬ 
deren betrifft, so hindert das hohe Lob, das 
Hashagen den Großtaten Bismarcks auf dem 


1) Umrisse der Weltpolitik. I 1871 
—1907, II 1908—14. (Aus Natur u. Geistes¬ 
welt Bd. 553 u. 554.) Leipzig und Berlin 1916, 
B. G. Teubner. 


Gebiete der auswärtigen Politik nach 1871 
zollt, ihn nicht, anzuerkennen, daß sich die 
allgemeinen Bundesverhältnisse in den letz¬ 
ten Jahren des Fürsten bereits in einer für 
uns durchaus ungünstigen Umbildung be¬ 
fanden. Seine besondere Vertrautheit mit 
den ostasiatischen Problemen befähigt ihn 
zu einer gerechten Einschätzung der Inter¬ 
ventionspolitik des neuen Kurses in der 
Zeit des Friedens von Schimonoseki, und 
die aktive deutsche Islampolitik seit 1898 
wird warm verteidigt. Dagegen erfährt der 
sogenannte Sansibarvertrag die bei unseren 
Kolonialfreunden von früher her übliche 
scharfe Verurteilung, und bei dem Fallen¬ 
lassen des Rückversicherungsvertrags mit 
Rußland vermißt man eine Würdigung der 
Gründe, die Freiherr v. Marschall im Jahre 
1896 geltend gemacht hat, und die durch 
die Erfahrungen von 1914 in ein schärferes 
Licht gerückt sind. Entschieden zu weit 
geht es, den Ausgang des Marokkohandels 
1911 als einen Sieg Frankreichs zu buchen; 
der Darstellung der deutsch-englischen Ver¬ 
ständigungsversuche von 1912 kann man 
wiederum zustimmen. 

Ober diese und andere Fragen wird sich 
freilich noch lange keine Einigung erzielen 
lassen. Darauf kam es bei einem Versuch 
wie dem vorliegenden auch gar nicht an. 
Die nächste Aufgabe zur Emanzipation un¬ 
serer politischen Literatur von den tenden- > 
ziösen Erzeugnissen des Auslandes kann 
nur in der Bereitstellung und Sichtung eines 
möglichst zuverlässigen Quellenmaterials 
bestehen, das dann nach den Grundsätzen 
der historischen Methode und mit gesundem 
Urteil zu verarbeiten ist; alles weitere wird 
sich finden. Als einen ersprießlichen Bei¬ 
trag in diesem Sinne wird man trotz des 
damit verbundenen Wagnisses und des 
gegen manche Stellen zu erwartenden Wi¬ 
derspruches Hashagens Buch im ganzen 
genommen freundlich registrieren. 

München Theodor Bitterauf. 

Ein neues Werk über den Buddhismus. 

Zu den Darstellungen des Buddhismus, 
die wir besitzen, stellt sich jetzt eine aus der 
Feder eines Ceylonesen, A. Coomara- 
swamy 1 ). Dieser geistvolle Schriftsteller, 
durchaus auf der Höhe europäischer Bildung 
stehend, ist vor allem durch seine unermüd- 


1) A. C., Buddha and the Gospel of Bud- 
dhism. London (Harrap & Co.) 1916. 







1407 


Nachrichten und Mitteilungen 


1408 


liehen Bemühungen bekannt, den bildenden 
Künstfen Indiens höhere Schätzungzu erkämp¬ 
fen, als die allgemeine Meinung ihnen zu- 
zugestehen pflegt. Daß seine Heimat die 
Insel ist, die noch heute die altbuddhistischen 
Überlieferungen in besonderer Reinheit be¬ 
wahrt hat, befähigt ihn vor andern, die Stim¬ 
mungen, die dem Buddhismus innewohnen, 
als Selbsterlebtes in unmittelbarer Frische 
tviederzugeben: wobei er sich freilich von 
subjektiven Tendenzen, gelegentlich von 
hypermodernen Gedankenströmungen nicht 
überall unberührt hält. Ein Werk eigent¬ 
licher gelehrter Forschung ist sein Buch 
nicht. An solchen fehlt es uns ja nicht; und 
wer seine Arbeit von dieser Seite kritisieren 
wollte, könnte manche Schwäche nicht über¬ 
sehen. Aber die geistige Feinheit, die das 
Denken und die Ausdrucksweise dieseshoch- 
begabten Orientalen kennzeichnet, verleiht 
seiner Arbeit eigenartigen Reiz. Wie schön 
ist — um nur weniges hervorzuheben —, 
was er über das Naturgefühl der alten bud¬ 
dhistischen Mönche sagt — wie die Freude 
an Blumen, an Wald und Gebirge, die in 
der weltlichen Dichtung der Inder so leben¬ 
dig hervortritt, auch diesen weitabgewandten 
Einsiedlern so gar nicht fremd war. Man hört 
aus ihrer Poesie das Rauschen des Regens 
im indischen Walde; man sieht den Zug der 
Kraniche ihre hellen Fittiche ausbreiten, der 
düstern Gewitterwolke zu entfliehen. Daß 
solch liebevolles Sichversenken in das Natur¬ 
leben im Grunde in Widerspruch steht mit 
dem ernsten Gebot des Sichlösens von allem, 
was in dieser Welt ist, entgeht'dem fein¬ 
sinnigen Darsteller nicht. Die volle Strenge 
des buddhistischen Gedankens kommt zum 
Ausdruck in der Schilderung jenes Weisen, 
der, vom Toben des wildesten Gewitters um¬ 
geben, nichts davon bemerkt, sondern un¬ 
gestört in seiner Meditation verharrt 
Nicht minder inhaltreich als dies Kapitel 
über das Verhalten des Buddhismus zur Na¬ 
tur ist das über die buddhistische Kunst. 
Ich drücke mich ungenau aus: denn mit 
Recht bemerkt der Verfasser, daß es sich viel¬ 
mehr um Kunst handelt, deren Gegenstand 
der Buddhismus ist, als um buddhistische 
Kunst. Darin möchte ich doch dem geist¬ 
vollen Autor nicht folgen, wie er den Ein¬ 
fluß der überhaupt von ihm m. E. mit un¬ 


gerechter Abneigung behandelten helleai¬ 
stisch-indischen Kunst, der „Gandharakunst”. 
auf die Entstehung des typischen Buddha- 
bildes zurückzudrängen sucht. Für ihn ist dies 
Bild eine Schöpfung der „Buddhist primiti¬ 
ves*, und erst in zweiter Linie läßt er den 
westlichen Einfluß eingreifen. Werden neue 
Funde uns in der Tat Werke der Primitiven 
vor Augen stellen, die ihm recht geben? 
Soweit die bis jetzt verfügbaren Materialien 
reichen, scheinen sie mir vielmehr anderes 
zu lehren. Niemand hat es so bestimmt for¬ 
muliert wie A. Foucher, dieser hervorragen¬ 
de Kenner der Gandharakunst. Die indi¬ 
schen Primitiven haben es durchweg ver¬ 
mieden, den Buddha darzustellen. Wo sie 
Szenen aus seinem Leben bilden, fehlt über¬ 
all — eine auf den ersten Blick höchst be¬ 
fremdende Lücke — seine eigene Gestalt 
Erst der Gandharakunst war es Vorbehalten, 
die Lücke auszufüllen. Auf sie geht das Bad- 
dhabild zurück, das, sobald es geschaffen 
ist, sich mit reißender Geschwindigkeit über 
Indien, dann über Asien ausbreitet. Man tut 
unrecht, an dieser Stelle, wo in die sonst 
durchnind durch indische Welt des Buddhis¬ 
mus okzidentalischer Einfluß eingegriffen 
hat, die Bedeutung dieser Tatsache zu ver¬ 
kleinern. 

Wir dürfen das Buch von Coomaraswamy 
als eins der sich beständig mehrenden Zeichen 
dafür begrüßen, daß an den Aufgaben der 
Indologie Gelehrte indischer Herkunft (und 
diesen dürfen wir den Ceylonesen wohl zu¬ 
rechnen) eingreifend und fruchtbar mitzuar- 
beiten sich anschicken. Es wäre zu beklagen, 
wenn der wertvolle Typus des rein indi¬ 
schen, in seinem ganzen Wissen und Können 
fest in den indischen Denkgewohnheiten 
eingeschlossenen Gelehrten, die altehrwttr- 
dige Gestalt des «Pandit*, verschwinden 
sollte. Aber wir bedürfen in der Indologie 
auch der Inder, die das Geistes- und Seelen¬ 
leben Europas mitleben und doch nicht auf¬ 
gehört haben Inder zu sein. Sie werden gut 
tun, noch entschiedener, als es vielleicht von 
Coomaraswamy gesagt werden kann, durch 
die methodische Schule wissenschaftlichen 
Arbeitens in vollster Strenge hindurchzu¬ 
gehen. Was kann dann den europäischen 
Forschern willkommener sein äls ihre Hilfe? 

H. Oldenberg. 


Für die Sdirlftlelttuig verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicelius, Berlin W30, LuItpoMatraBe 4. 

Druck von B.Q.Teubner ln Leipzig. 


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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT 

FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK 


11. JAHRGANG HEFT 12 1. SEPTEMBER 1917 


Die Sinn Feiner in Irland. 

Von Wilhelm Dibelius. 


In England hat es peinliches Aufsehen 
erregt, daß in drei kurz aufeinander 
folgenden Nachwahlen zum englischen 
Parlament (Februar, Mai, Juli 1917) in Ir¬ 
land die Partei Redmonds, der trotz aller 
scharfen Opposition darauf hält, das 
Band mit der Regierung nicht zu zer¬ 
schneiden, eine empfindliche Niederlage 
erlitt. Obgleich es sich jedesmal um 
kleine abgelegene Landstädtchen han¬ 
delte, dieals absolut sicherer Besitz Red¬ 
monds galten, wurde sowohl in Roscom- 
mon wie in Longford und in Kilkenny der 
Sinn Fein-Kandidat gewählt, das eine Mal 
der Vater eines der Opfer des Osterauf¬ 
standes, Graf Plunkett, das andere Mal ein 
gewisser MacGuinness, der seit dem Auf¬ 
stande wegen Hochverrats im Gefängnis 
zu Lewes sitzt. In Dublin wurden jedes¬ 
mal nach dem Bekanntwerden des 
Wahlergebnisses republikanische Flag¬ 
gen gehißt, und jedermann sah in dem 
Wahlausfall eine englandfeindliche, auf¬ 
rührerische Kundgebung. Die Regierung 
entschloß sich sofort nach der Wahl in 
Longford, einen letzten Versuch zu ma¬ 
chen, den irischen Ausgleich durch Ein¬ 
berufung eines irischen Nationalkon¬ 
vents, zusammengesetzt aus allen Par¬ 
teien und allen Interessemtengruppen Ir¬ 
lands, zustande zu bringen; sie mußte 
befürchten, daß, wenn man die Dinge 
noch länger treiben ließe, die Macht des 
einst allgewaltigen Redmond gänzlich 
hinweggefegt und alle irischen Parla¬ 
mentssitze den Sinn Feinem zufallen 


würden. Wer sind aber die Sinn Fei¬ 
ner? 

Man hat dabei zweierlei zu unterschei¬ 
den. Man versteht unter den Sinn Fei¬ 
nem im weiteren Sinne alle Iren, die 
Redmonds zurückhaltende Politik ge¬ 
genüber England nicht mitmachen, die 
keine Versöhnung mit England wollen 
und am liebsten heute noch einen zwei¬ 
ten Aufstand anzettelten. Es sind dies 
die Angehörigen der verschiedensten po¬ 
litischen Gruppen, die nur in der Oppo¬ 
sition einigermaßen einig sind. Eigent¬ 
lich verdient den Namen Sinn Feiner aber 
nur eine von ihnen, die auf das Sinn 
Fein-Programm schwört, von dem im 
folgenden die Rede sein soll. 

Ir» Irland gibt es von alters her nur 
— mit geringen Ausnahmen — eine ka¬ 
tholische, nationalistische Partei, die im 
englischen Parlament 80 Mandate zählt 
und, dem deutschen Zentrum gleich, 
recht verschiedenartige Gegensätze in 
sich vereinigt. Dabei werden über Par¬ 
teiprogramm und Parteitaktik die heftig¬ 
sten Kämpfe geführt, die oft genug die 
Einheit der Partei auf das empfindlich¬ 
ste bedroht haben. Hier kommt nament¬ 
lich in Betracht eine Opposition der Ra¬ 
dikalen, die seit den vierziger Jahren 
immer in irgendeiner Form vorhanden 
war und heute am lärmendsten und hef¬ 
tigsten in der Sinn Feiner-Bewegung 
auftritt. 

Die drei großen parlamentarischen 
Führer des Irentums im 19. Jahrhundert, 

45 




1411 


Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland 


1412 


Daniel O’Connell (11844), John Stuart 
Parnell (fl890) und John Redmond ha¬ 
ben ihre gewaltigen Erfolge erreicht 
durch kluge parlamentarische Taktik. Die 
Iren waren im Parlament oft das Züng¬ 
lein an der Wage, stets ein überaus will¬ 
kommener Bundesgenosse der herr¬ 
schenden Partei, der seine Forderungen 
stellen konnte und sie aufs rücksichts¬ 
loseste einzutreiben pflegte. Mit Hilfe 
dieser Taktik hat Irland die riesenhaf¬ 
ten Reformen des 19. Jahrhunderts 
durchgesetzt, die volle Gleichberechti¬ 
gung, ja Vorherrschaft der katholischen 
Kirche, den (zum großen Teil durchge¬ 
führten) Auskauf des englischen Gro߬ 
grundbesitzes und seine Ersetzung durch 
irische Kleinbauern, auch die — freilich 
noch auf dem Papiere stehende — 
Selbstverwaltung. Aber die natürliche Ge¬ 
genleistung der Iren an England war 
Teilnahme am parlamentarischen Leben 
des Landes, wobei die irischen Abgeord¬ 
neten ein Bündnis meist mit den Libera¬ 
len, gelegentlich auch mit den Konser¬ 
vativen eingingen, also in allen nichtiri¬ 
schen Fragen im Schlepptau einer eng¬ 
lischen Partei segelten. Und dem schär¬ 
feren Beobachter konnte es nicht ent¬ 
gehn, daß, je mehr die Reformen men¬ 
schenwürdige Zustände in dem Lande 
schufen, der revolutionäre Drang ab¬ 
nahm, sich jedenfalls mehr in blutrün¬ 
stigen Reden als in Taten entlud. Die 
Entwicklung drängte ganz im Sinne der 
englischen Politik dahin, aus Irland ei¬ 
nen, einstweilen zwar immer noch un¬ 
zufriedenen und revolutionär redenden, 
aber im Grunde des Herzens doch sich 
in das Unvermeidliche schickenden Lan¬ 
desteil Englands zu machen. Und in die¬ 
sem Kampfe um mehr Rechte für Irland 
— der zunächst ganz überwiegend ein 
Kampf für Rechte der katholischen Kir¬ 
che in Irland gewesen war — war die na- 
♦ : nnalistische Partei immer stärker in 


Gegensatz gegen die streng protestanti¬ 
schen Iren der Nordprovinz Ulster getre¬ 
ten, so daß man allmählich anfangen 
konnte, von den „zwei verschiedenen Ir¬ 
lands“, dem evangelischen Nordosten 
und dem übrigen katholischen Teil des 
Landes, zu sprechen. 

Gegen diese Entwicklung machten 
schon in den vierziger Jahren die Un¬ 
entwegten unter der Führung von Char¬ 
les Gavan Duffy und Thomas Davies 
Front. Sie, die Jungirlandpartei, 
eine kleine Schar von Dichtern und Li¬ 
teraten, sahen in den gewaltigen Erfol¬ 
gen des großen Führers O’Connell ge¬ 
radezu ein nationales Unglück. Ihr ro¬ 
mantischer Idealismus empörte sich 
gegen den Riß, der sich immer deutli¬ 
cher zwischen den beiden Landesteilen 
von Irland auftat. Mit allem Nachdruck 
pflegten sie zu betonen, daß Ulster und 
der Süden zusammengehörten, daß nur 
in der Einheit des Landes Irlands Zu¬ 
kunft beschlossen liege, daß nahezu alle 
nationalen Führer der Zeit vor O’Con¬ 
nell Protestanten waren. Auch Davies 
war Protestant; in der Jungirlandbewe¬ 
gung empört sich der neu aufkeimende 
irische Nationalismus gegen die kleri¬ 
kale Note, die O’Connell ihm zu geben 
im Begriff war. Und sie macht ferner 
Front gegen die Versöhnung mit Eng¬ 
land, die — für die damalige Zeit si¬ 
cher mit Unrecht — im Hintergründe von 
O’Connells wirtschaftlichenForderungen 
an England zu stehn schien. Die Jung- 
iren wollten los von England um jeden 
Preis, und nationaler Wohlstand schien 
ihnen um den Preis der Versöhnung mit 
England zu teuer erkauft. Sie sahen ihre 
Lebensaufgabe darin, die absterbende 
keltische Eigenart des Landes in Li¬ 
teratur, Kunst, Sprache vor dem Über¬ 
handnehmen des EngläJidertums zu be¬ 
wahren und sehnten einen Aufstand her¬ 
bei, der die Freiheit ihres Landes end- 




1413 


Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland 


1414 


gültig besiegeln sollte. Bis dieser Auf¬ 
stand durchzusetzen war, sollten sich 
nach Davies’ Meinung die irischen Ab¬ 
geordneten von jeder Teilnahme am po¬ 
litischen Leben Englands femhalten, ih¬ 
re Mandate in Westminster also nicht 
ausüben, kein Ire sollte als Beamter in 
englische Dienste treten, der Unterschied 
des irischen Wesens vom englischen 
möglichst schroff betont werden. O’Con- 
nell — der für die irische Nation die 
Freiheit der katholischen Kirche errun¬ 
gen und die später zur Entscheidung 
kommenden Kämpfe um das Land einge¬ 
leitet hatte, der selbst nahe daran war, 
den Aufstand zu entfachen — war für 
diese heißblütigen Radikalen ein Leise¬ 
treter, ja fast ein Verräter. 

Das Jungirentum hat nur in den vier¬ 
ziger Jahren eine gewisse politische Be¬ 
deutung gehabt. Um 1850 verschwindet 
es aus der Geschichte. Die Politik 
O’Connells hatte gesiegt; auch unter 
seinem Nachfolger Parnell — der selbst 
ein Protestant war — wird die irische 
Politik rein von katholischen und wirt¬ 
schaftlichen Gesichtspunkten geleitet. 
Um 1890 kommt dagegen wieder eine 
nationalistische Strömung in der Poli¬ 
tik zur Geltung, die ganz ähnlich wie 
zur Zeit O’Connells das gemeinsam Iri¬ 
sche im Verhältnis von Ulster und Süd¬ 
irland betont, durch die „Gälische Liga“ 
seit 1893 die irische Sprache wieder zu 
beleben versucht und den stark klerikalen 
Einschlag im irischen Leben bekämpft. 
Während aber die Jungirlandbewegung 
derzeit von Davies und Duffy von allem 
Wirtschaftlichen so weit wie möglich ab - 
sah, hat die neue Sinn Fein-Bewe- 
gungeinen starken wirtschaftlichen Un¬ 
tergrund. Ihr Hauptvertreter, Arthur 
Griffith, Herausgeber der Zeitschrift 
Sinn Fein in Dublin (seit 1904) fürchtet 
gleich Davies, daß die wirtschaftliche 
Hebung des Landes, welche die Englän¬ 


der seit 1881 in gewaltigem Maßstabe 
durchführen, Irland schließlich doch ins 
englische Fahrwasser zwingen könnte. 
Er möchte im Gegensätze dazu die neu 
geschaffenen wirtschaftlichen und gei¬ 
stigen Kräfte des Landes dazu benutzen, 
um England aus dem Lande herauszu¬ 
boykottieren. 

Die Methode der pariamentarischen 
Partei war es gewesen, durch Druck, Ein¬ 
schüchterung und Erpressung alles mög¬ 
liche von England zu erzwingen; das 
ganze riesige Programm der wirtschaft¬ 
lichen Erneuerung des Landes ist mit 
englischem Gelde durchgeführt worden. 
Dies englische Geld will nun Arthur 
Griffith ohne weiteres ablehnen; Sinn 
Fein x ) — „wir selbst“, lautet das Schlag¬ 
wort in deutlicher Anlehnung an das 
„Italia farä da s£“ Cavours — werden 
die Befreiung Irlands vollenden. Irland 
ist ein reiches Land; es besitzt eineLand- 
wirtschaft, die erst jetzt, seit der 
wirtschaftlichen Hebung der 80er und 
90er Jahre zur Geltung zu kommen be¬ 
ginnt; es besitzt riesige Torfmoore, die 
nur niemand ausbeutet, und Kohlenlager, 
von denen dasselbe gilt, prachtvolle na¬ 
türliche Häfen, nach Westen gerichtet, 
wie geschaffen dazu, dem Verkehr Eu¬ 
ropas mit Amerika.als Ausfallspforte zu 
dienen, während doch tatsächlich der ge¬ 
samte transatlantische Verkehr sie um¬ 
geht. Es besitzt auch in Belfast, das»trotz 
der konfessionellen Abspaltung innerlich 
zu Irland gehört, eine Industrie von 
Weltruf und Weltbedeutung. Wo Ir¬ 
land — etwa mit seinen Eisenbahnen — 
vom englischen Kapital befruchtet wird, 
ist es in einseitig englischem Jnteresse 
ausgebeutet worden, darum heißt jetzt 
die Losung Sinn Fein, „wir selbst"; es 
gilt die irische Industrie und Landwirt¬ 
schaft auf alle Weise zu fördern, die iri- 


1) Gesprochen wird das Wort: ‘schinn fen’. 




1415 


Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland 


1416 


sehen Spargrosdien durch eigene irische 
Banken vor der Absaugung durch die 
Londoner Börse zu bewahren, das Ka¬ 
pital von Belfast für Irland zu sichern 
und das eher noch reichere irische Ka¬ 
pital in Amerika wieder nach Irland zu 
leiten und es der wirtschaftlichen He¬ 
bung des Landes dienstbar zu machen. 
Weiter will man, um die Ausfuhr- und 
Einfuhrmöglichkeiten Irlands zu fördern, 
Handelsagenten nach Frankreich und an¬ 
deren europäischen Ländern senden, da 
der britische Konsulardienst ja doch im¬ 
mer Irlands Interessen vernachlässigt In 
geistiger Beziehung will man alles för¬ 
dern, was die Einheit und die Eigenart 
Irlands im Gegensätze zu England be¬ 
tont: die irische Sprache soll in allen 
Schulen obligatorisch gemacht werden, 
alle Beamten sollen ihrer mächtig sein 
müssen — womit der englische Beamte, 
der es für unter seiner Würde hält, auch 
nur ein irisches Wort zu kennen, aus¬ 
geschlossen wird und nur der Eingebo¬ 
rene streng irischer Gegenden eine An¬ 
wartschaft auf Beamtenstellen erhalten 
soll. Selbstverständlich darf kein zielbe¬ 
wußter Ire ins englische Heer eintreten. 
Wirtschaftliche Hebung und nationale 
Abschließung sollen schließlich zum völ¬ 
ligen Boykott alles f^ngländertums füh¬ 
ren und allmählich die Engländer aus 
dem Lande herausärgern. Daß für die¬ 
ses Programm jede parlamentarische Tä¬ 
tigkeit eines irischen Abgeordneten in 
Westminster nahezu Hochverrat ist, daß 
alle von England kommenden oder ihm 
abgezwungenen Wohltaten für Irland 
Danaergeschenke sind, braucht nicht erst 
weiter bewiesen zu werden. Daß dies 
alles nicht nur Hirngespinste sind, son¬ 
dern — angeblich — Möglichkeiten 
praktischer Politik, beweisen die Tsche¬ 
chen und die Ungarn, die mit beharr¬ 
licher Kleinarbeit, mit folgerichtiger 
Weigerung, in kritischen Perioden ihre 


Abgeordneten zum Wiener großösterrei¬ 
chischen Zentralparlament zu schicken, 
eine ziemliche Selbständigkeit .erreicht 
haben, das beweist Norwegen — stets 
das große Beispiel der Sinn Fein-Agita- 
tion — das niemals Wohltaten von 
Schweden annahm, aber rücksichtslos al¬ 
les schwedische Wesen zum Lande hin¬ 
ausboykottierte und schließlich 1905 
durch eine unblutige Revolution seine 
volle Freiheit errang. 

Es liegt auf der Hand, daß das Sinn 
Fein-Programm praktisch vollkommen 
wertlos ist. Wenn sich irgendein Land 
nicht friedlich aus einer Kolonie heraus¬ 
boykottieren läßt, so ist dies England, 
und wenn England irgendeine Kolonie 
bis zum äußersten verteidigen wird, so ist 
es Irland, das zwischen England und dem- 
Weltmeer liegt. Das Sinn Fein-Programm 
ist vielmehr die keltische Ausprägung 
des Programms der Ganzradikalen zu 
allen Zeiten und in allen Ländern, die da 
glauben, dem Staate gegenüber etwas 
erreichen zu können, indem sie den 
Staat einfach ignorieren, das Programm 
von Dichtem, Schriftstellern und Künst¬ 
lern, deren politische Kraft sich in Träu¬ 
men erschöpft. Historisch interessant ist 
dabei nur, daß auch hier der Versuch 
gemacht werden soll, den politisch zu 
befreienden Staat erst einmal auf starke 
wirtschaftliche Grundlagen zu stellen 
und die wirtschaftliche Kraft dann ge¬ 
gen den Unterdrücker zu richten, ein Ge¬ 
danke, der gleichzeitig auch bei den Po- 
■ len in Preußen und der Swadeshibewe- 
gung in Indien wiederkehrt, auch — 
wenn auch nur in kurzlebiger Form — 
in der Türkei und in China aufgetaucht 
ist. Man kann verstehen, daß PameUs 
Nachfolger Redmond diese Gegner nicht 
emstnahm, daß auch die englische Re¬ 
gierung in Irland zunächst geneigt war, 
die Sinn Feiner als Gegengewicht gegen 
die bisher allmächtige Partei Redmonds 



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Original frum 

INDIANA UNtVERSITY 





1417 


Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland 


1418 


zu begünstigen. Menschen, die es grund¬ 
sätzlich ablehnten, sich am parlamenta¬ 
rischen Leben zu beteiligen, also den 
einzig möglichen Kampfplatz nicht ein¬ 
mal betraten, waren für jeden gewiegten 
Politiker politische Nullen. Tatsächlich 
war auch der Einfluß der Sinn Feiner 
in Irland bis zum Beginn des Krieges 
mehr als bescheiden. Sie haben in Du¬ 
blin und an anderen Orten sich zeitweilig 
stark an den städtischen Wahlen be¬ 
teiligt und ihre Vertreter haben bei 
allen Gelegenheiten durchzusetzen ver¬ 
sucht, daß städtische Aufträge nur an 
irische, nicht an englische Finnen ge¬ 
geben wurden — damit war aber ihre 
unmittelbare praktische Wirksamkeit er¬ 
schöpft. 

Von Bedeutung aber wurden sie da¬ 
durch, daß die „GälischeLiga“ mehr 
und mehr dem Sinn Fein-Programm zu¬ 
neigte. In ihr — gegründet 1893 — fand 
das kulturelle Programm der Jungir¬ 
land-Partei der vierziger Jahre eine neue 
Ausprägung. Sie ist aufs eifrigste be¬ 
müht, die irische Sprache, die ja über 
4 /s der Iren nicht einmal mehr verstehen, 
neu zu beleben, ja sie neu zu schaffen, 
zunächst einmal die Wörter zu prägen, 
mit denen jene — noch dazu heillos dia¬ 
lektisch gespaltene — Bauemsprache des 
16. und 17. Jahrhunderts moderne tech¬ 
nische, künstlerische, politische und wis¬ 
senschaftliche Begriffe wiedergeben 
kann. Sie treibt eine bedeutende Kultur¬ 
arbeit, indem sie alte Volksgesänge und 
Volkstänze neu belebt, durch Ausstel¬ 
lungen und Preise irische Volkskunst för¬ 
dert, und tritt dabei —da ja irische Spit¬ 
zenkunstweberei auch ihre wirtschaftli¬ 
che Seite hat — in enge Beziehun¬ 
gen zur Sinn Fein-Bewegung. Dem Pro¬ 
gramm nach sind beide Bewegungen 
durchaus voneinander verschieden: die 
Gälische Liga ist absolut unpolitisch, 
eine reine Kulturbewegung; dieSinn Fei¬ 


ner dagegen haben ein festes politisches 
und wirtschaftliches, stark englandfeind - 
liches Programm. Die Gälische Liga 
stellt die ältere Schicht des neu erwa¬ 
chenden Nationalismus dar, die rein kul¬ 
turelle Begeisterung am eigenen Volks¬ 
tum, die Epoche, in der Dichter und 
Literaten die Führung haben. Die Sinn 
Fein-Bewegung dagegen ist eine um an¬ 
derthalb Jahrzehnte jüngere Bildung, 
die Vertreterin der zweiten Epoche des 
Nationalismus, wie sie sich auch bei 
Tschechen, Südslawen, Litauern, Klein¬ 
russen eingestellt hat,wo aus der Kul¬ 
turbewegung wirtschaftliche und poli¬ 
tische Folgerungen gezogen werden. Bei 
Ausbruch des Weltkrieges hing der 
größte Teil der gebildeten Jugend Ir¬ 
lands sowohl der „Gälischen Liga“ wie 
der Sinn Fein-Bewegung an — ohne 
daß die große Masse sich des verschie¬ 
denen Endzieles beider Strömungen be¬ 
wußt war —, und der Weltkrieg trieb 
die Bewegung in ein drittes Stadium, in 
die offene Revolution. 

Zunächst erreichten die Sinn Feiner 
im Verein mit der Gälischen Liga, daß 
die Masse der Bevölkerung sich in im¬ 
mer steigendem Maße von Redmond ab¬ 
wandte. Redmond, der offizielle Führer 
des Irentums, verkündete gleich nach 
der Kriegserklärung seine unbedingte 
Ergebenheit gegen England und erbot 
sich sogar, mit Hilfe seiner Freiwilligen 
die Verteidigung Irlands gegen einen 
deutschen Einfall zu übernehmen. (Die 
Regierung, die den Treueversicherurigen 
Redmonds nie getraut hat, lehnte aller¬ 
dings dankend ab.) Redmond erklärte 
sich auch für die Rekrutierung in Ir¬ 
land und pries laut die Taten der iri¬ 
schen Regimenter bei Mons und an den 
Dardanellen — freilich wer genauer hin¬ 
hörte, der fand, daß alle seine Reden mehr 
für seine irisch-nationalen Freiwilligen 
warben als für das englische Expeditions- 


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Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland 


1420 


heer. Aber so sehr sich auch Redmond 
bemühen mochte, zwischen dem Haß sei¬ 
ner Iren gegen England und einer ge- 
zwungeneoLoyalität, als deren Preis Ho¬ 
merule für Irland winkte, einen Mittelweg 
zu finden, für die Iren war sein Auftre¬ 
ten immer noch viel zu englandfreund¬ 
lich und er rief gegen sich eine immer 
starker anwachsende Opposition ins 
Feld, für die dann der Sinn Fein- 
Gedanke der nächstliegende Vereini- 
gungspunkt war — betonte er doch aufs 
nachdrücklichste den Unterschied Zwi¬ 
schen Irland und England, aus dem sich 
ohne weiteres ergab, daß dies ein engli¬ 
scher, kein irischer Krieg sei, ja viel¬ 
leicht sogar ein Krieg, der die Möglich¬ 
keit bot, England zum Lande hinauszu- 
drangen, zunächst dadurch, daß die jun¬ 
gen irischen Männer das englische Heer 
boykottierten, und dann weiter Englands 
Feind um Hilfe angingen. Sir Roger 
Casements Volkstümlichkeit in Irland ist 
zum großen Teil durch den Umstand 
veranlaßt, daß er der erste der von dem 
Sinn Fein-Programm ersehnten „Kon¬ 
suln“ Irlands bei einer befreundeten eu¬ 
ropäischen Macht war. 

Der Aufstand von 1916 ist längst nicht 
in erster Linie das Werk der Sinn Fei¬ 
ner. In ihm reichte sich alles die Hand, 
was England feindlich und ein Gegner 
von Redmonds Versöhnungspolitik war. 
Neben den Sinn Feinern fanden sich 
hier zu gemeinsamer Arbeit die Repu¬ 
blikaner, bisher eine kleine kaum beach¬ 
tete Gruppe, die aber jetzt, wo es sich 
um ganze Arbeit handelte, der Sinn Fein- 
Bewegung ein bis dahin noch nicht aus¬ 
gesprochenes republikanisches Endpro¬ 
gramm gab. Auch die revolutionär- 
anarchistische Dubliner Arbeiterpartei 
und die Reste der alten Fenier nahmen 
das Sinn Fein-Programm an. Vor allem 
aber taten das gleiche die „Irischen Frei¬ 
willigen“! John Mac Neills, die aus den 


„Nationalen Freiwilligen“, die 1913 zum 
Kampfe gegen die Ulsterleute geschaf¬ 
fen waren, abschwenkten, als Redmond 
dieser Organisation seinen Willen aufzu¬ 
drücken versuchte. Wenn unter denvie- 
len Einzelgruppen eine genannt zu wer¬ 
den verdient, die mit besonderer Energie 
den Aufstand geplant und durchgeführt 
hat, so verdienen die „Irischen Freiwil¬ 
ligen“, nicht die Sinn Feiner, eine be¬ 
sondere Erwähnung. Aber es ist schwer, 
eine solche Scheidung vorzunehmen: 
wenn man bedenkt, daß das ganze ka¬ 
tholische Irland nur 37$ Millionen See¬ 
len zählt, .und daß all die genannten 
Gruppen zusammen nur die Minderheit 
sind, die sich gegen die Politik der 
Redmondschen Mehrheit auflehnt, so 
wird es klar, daß die einzelnen Parteibil¬ 
dungen stark ineinander übergehen, zu¬ 
mal ihre Programme sich oft genug nahe 
berühren. 

Im Augenblick sieht es so aus, als hät¬ 
ten die Sinn Feiner den maßgebenden 
Einfluß in Irland. Die drei zu Anfang 
genannten Wahlen haben jedenfalls ge¬ 
zeigt, daß Redmonds Stern in auffälli¬ 
gem Niedergang begriffen ist. Die Mas¬ 
se der bäuerlichen Wählerschaft desLan- 
des hält weiter zu ihm — sie hat sich 
an dem Aufstande auch nicht beteiligt 
—, auch die größere Masse des älteren 
Klerus dürfte noch auf seiner Seite stehn. 
Aber die ganze gebildete Jugend des 
Landes schwört, anscheinend mit Ein¬ 
schluß der jüngeren Geistlichkeit, heu¬ 
te auf das Sinn Fein-Programm, viel¬ 
leicht nicht auf alle Einzelheiten, aber 
doch auf die beiden Hauptpunkte: die 
Forderung, Irland als unabhängige Na¬ 
tion in möglichst scharfer Trennung von 
England anerkannt zu sehen, und die For¬ 
derung, die Einheit von Nord und Süd 
trotz aller eigensüchtigen Politik Car- 
sons und seiner Ulsterleute zu bewahren. 
Nichts hat — abgesehen von seiner eng- 


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Original frum 

INDIANA UN1VERSITY 





1421 


Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland 


1422 


landfreundlichen Haltung — Redmond 
in den Augen seiner Landsleute so ge¬ 
schadet als sein Versuch, Ulster eine 
Lostrennungzubewilligen; zweimal (Juli 
1916 und Mai 1917) ist wesentlich an 
dieser Klippe der irische Ausgleich ge¬ 
scheitert, und auch die katholische Kir¬ 
che hat geglaubt, dieser Stimmung ih¬ 
rer Gläubigen Rechnung tragen zu müs¬ 
sen; der Sieg des Sinn Feiners inLong- 
ford ist wesentlich dadurch entschieden 
worden, daß die katholischen (und ei¬ 
nige protestantische) Bischöfe mit einem 
deutlichen Hieb gegen Redmond eine 
feierliche Kundgebung zugunsten der 
Einheit Irlands gegen den allmächtigen 
Diktator in den Wahlkampf schleuder¬ 
ten; das alte — wenn auch immer ge¬ 
legentliche Sprünge aufweisende — 
Bündnis zwischen dein katholischen Kle¬ 
rus und der katholisch-nationalistischen 
Partei Irlands scheint einen klaffenden 
Riß bekommen zu haben. Schon fühlen 
sich die Sinn Feiner als die kommende 
M<icht, die Redmond und seine Partei 
ablösen soll. Unzweifelhaft ist der jet¬ 
zige Zustand etwas Unnatürliches, wo 
Irland durch eine Partei mit einem rein 
nationalen und kirchlichen Programm 
vertreten ist, die zu den dringendsten 
Fragen der Gegenwart überhaupt keine 
Stellung nimmt, für die es Freihandel 
und Schutzzoll nicht gibt und die vor 
dem grauenhaften Wohnungselend der 
Armenviertel von Dublin bewußt dieAu- 
gen schließt. Die Zeit muß einmal kom¬ 
men, wo — ganz ähnlich wie bei Po¬ 
len, Tschechen und Slowenen — auch 
in Irland das rein nationale Programm 
der älteren Zeit durch modernere partei¬ 
bildende Gegensätze durchkreuzt wird. 
In den Sinn Feinem scheint eine neue 
Partei im Entstehen begriffen zu sein, 
welche die großstädtischen Interessen 
gegenüber dem Lande vertritt, republi¬ 
kanisch und sozialistisch, daneben 


schutzzöllnerisch und antiklerikal ange¬ 
haucht ist, und die sicher ein wertvolles 
Element im öffentlichen Leben des Lan¬ 
des bilden könnte. Aber sie steht vor¬ 
läufig doch noch trotz ihrer gegenwär¬ 
tigen Augenblickserfolge auf recht 
schwachen Füßen. Ihre Beschränkung 
auf die Großstadt mit ihren Arbeitern 
und auf die gebildete Jugend gibt ihr 
in diesem Lande der Kleinstädte und der 
Kleinbürger doch eine überaus schmale 
Grundlage, und so einfach lassen sich 
Katholizismus und flaches Land, die 
bisher die Politik Irlands gemacht ha¬ 
ben, nicht ausschalten. Und geradezu 
verhängnisvoll ist für die Sinn Feiner 
bisher noch der Mangel ar^staatsmänni- 
scher Führung und an innerem Zusam¬ 
menhalt gewesen. Noch ist ihnen kein 
Führer entstanden, der auch nur ent¬ 
fernt imstande wäre, eine machtvolle 
neue politische Partei zu befehligen. Der 
erste Versuch des neugewählten Sinn 
Fein-Abgeordneten für Roscommon, des 
Grafen Plunkett, aus all den kleinen Par¬ 
teisplittern, denen er seine Wahl dankte, 
der Dubliner Arbeiterpartei, den Repu¬ 
blikanern, den eigentlichen Sinn Fein- 
Leuten und anderen redmondfeindli¬ 
chen Vereinigungen eine einheitliche Sinn 
Fein-Partei zu gründen, erlitt vielmehr 
auf der Konferenz im Dubliner Rathaus 
im April 1917 eine schmähliche Nieder¬ 
lage. Solange die vornehmste Sinn Feim- 
Forderung des Augenblicks darin be¬ 
steht, daß ein besonderer Vertreter Ir¬ 
lands auf der kommenden Friedenskon¬ 
ferenz zugelassen wird und solange die 
Sinn Feiner ihre Abgeordneten dazu ver¬ 
pflichten, sich unter allen Umständen 
vom englischen Parlament femizuhalten, 
sind sie noch keine emstzunehmende 
politische Macht, sondern vorläufig erst 
ein Symptom augenblicklicher Verärge¬ 
rung der Iren mit ihrer politischen Füh¬ 
rung, das noch einer langen Und durch- 




1423 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Liebte seiner und unserer Zeit 1424 


greifenden Entwicklung bedarf, um wirk¬ 
liche politische Bedeutung zu gewinnen. 
Für England ergibt sich aus all dem nur 
die wenig tröstliche Erkenntnis, daß der 
Führer der irischen Versöhnungspolitik, 
Redmond, dem im Herzen kein Englän¬ 
der traut — Sir Roger Casement behaup¬ 
tete mir gegenüber, aus Redmonds eige¬ 
nem Munde gehört zu haben, daß er im 


Herzen für eine selbständige irischeRe* 
publik sei — von der Masse der Ire 
in immer stärkerem Maße als zu eng¬ 
landfreundlich abgelehnt wird. Für die 
500000 Mann, die Jrland angeblich nod 
für das Heer in Frankreich stellen soll, 
ist dieser Zustand der Dinge kein güc- 
| stiges Vorzeichen! 


Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer 

Zeit. 

Von Harry Maync. 


Der Referendar und Dramendichter 
Schottenbauer in dem Wildenbruch- 
schen Roman „Schwester-Seele“ (dessen 
selbstbiographischer Gehalt kaum über¬ 
schätzt werden kann) pflegt, „die Hände 
auf dem Rücken, den Kopf an der Erde“, 
still und allein für sich langsam durch 
die Straßen zu wandeln. Genau so sahen 
wir Berliner Studenten der neunziger 


Jahre den Legationsrat und „Hohenzol- 
lem-Dichter“ Emst v. Wildenbruch gar 
oft vom Auswärtigen Amt her einsam 
und versonnen durch das lärmende Ge¬ 
triebe der Leipziger Straße gehen. „Ein 
kleiner, vierschrötiger Mann mit einem 
großen runden Kopfe; so ziemlich das 
Gegenteil von dem, wie die Menschen 
sich einen Dichter vorzustellen pflegen. 
Ein Gesicht, an dem man vorübergimg, 
unschön, aber unsäglich gutmütig .... 
ein unscheinbarer, verlegener Mann, der 
sich auf der Promenade schüchtern vor¬ 
beischob.“ So malt Wildenbruch das 
Ebenbild seiner erfolglosen Anfänger¬ 
jahre weiter aus, ohne zu beschönigen 
und sich zu schmeicheln. Im Gegenteil. 
Der fünfzigjährige Mann wenigstens, 
den wir sofort von fern erkannten, zeigte 
wohl noch immer die etwas zu gedrun¬ 


gene Gestalt und die dicken roten Ban¬ 
ken, schritt immer noch, trotz den in¬ 
zwischen eingeheimsten Lorbeeren und 
rauschenden Erfolgen ohne jeden zur 
Schau getragenen Stolz und ohne die 
geringste Pose und trotz seinem marttf* 
lischen blonden Schnurrbart eherschüch- 
tem einher und bog jedermann freiwillig 
im Gedränge aus, aber uninteressant 
oder gar unbedeutend erschien er uns 
darum keineswegs. Das tiefernste, ge¬ 
dankenvolle Gesicht, von rastloser gei¬ 
stiger Arbeit und seelischer Not gefurcht 
zwang uns durch einen Zug von Traue: 
menschlichen Anteil ab. Daß die von 
einer goldenen Brille überdeckten Augen 
meist gerötet waren, als hätten sie vor 
kurzem geweint, kam von ihrer Kurz¬ 
sichtigkeit, das Gespannte in ihrem Aus¬ 
druck von der zunehmenden Schwer¬ 
hörigkeit des Dichters; deutlicher stand 
ihm eine innere Qual, das Gefühl unver¬ 
dienten Verkanntseins auf der hoher 
Stirn geschrieben. Nachdenklich folgtet 
wir ihm wohl ein Stück auf seinem 
Wege in die heimische Hohenzollem 
Straße, mit einer etwas scheuen und un¬ 
sicheren Ehrerbietung, aber ohne die 
verehrende Liebe, die uns sofort erfüllte, 
wenn wir umkehrend aus dem alten Jo- 



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1427 narry lvtaync, crnsi v. wuuenuruui im l.iuuic seiner unu unserer ^.cn 14^ 


beiden feindlichen Lagern. Jeder Erfolg 
des einen wurde zu einer Niederlage des 
anderen und seiner Kunstrichtung ge¬ 
stempelt. Auf Hauptmanns Seite stan¬ 
den die besten Köpfe, während Wilden¬ 
bruch mehr die guten Leute und schlech¬ 
ten Musikanten zu den Seinen zählte, 
und als gar der alte Preußendichter Fon¬ 
tane, der als Theaterkritiker der Vossi- 
schen Zeitung mit dem neuen Preußen- 
dichter streng ins Gericht ging, sich of¬ 
fen für Hauptmann und die junge Kunst 
erklärte, da gab es für uns vollends kein 
Halten mehr, und wir überboten unsere 
Führer in Geringschätzung Wilden¬ 
bruchs. Es war nicht umsonst eine Zeit, 
da Schiller, unerhört tief im Kurse 
stand. „Als Student war ich ein Schiller- 
Hasser“, erklärt Brahm im Vorwort seiner 
gescheiten, aber kühlen Biographie des 
großen Dichters. Auf dem Gymnasium 
war unsere knabenhafte Schillerbegei¬ 
sterung infolge der pedantisch öden Be¬ 
handlung seiner Dramen einem starken 
Überdruß gewichen, so daß wir uns dop¬ 
pelt feurig der so ganz anders gearteten 
neuen Kunst in die Arme warfen. Und 
nun erhob zugleich ein Dichter Ansprü¬ 
che, der mit seinen geschichtlichen Dra¬ 
men unmittelbar von demselben, uns so 
fad gewordenen Schiller herzukommen 
schien! 

Karl Frenzei hat Wildenbruch einmal 
mit Nachdruck als den „einzig berufenen 
Nachfolger Schillers“ bezeichnet, und 
zweifellos setzt der Dichter in der Ge¬ 
schichte des deutschen Dramas die 
Linie fort, an deren höchster Stelle der 
Name Schillers steht. Aber ein eigent¬ 
licher Schillemachahmer war Wilden¬ 
bruch nicht. Er hat mehr bei späteren 
Zwischengliedern dieser Entwicklung 
angeknüpft: bei Richard Wagner, zu 
dessen Auffassung von der Bedeutung 
des Dramas großen Stils er sich feurig 
bekannte, bei den Meiningern, die einer 


neuen Bühnenkunst Bahn brachen und 
auch ihn selbst erfolgreich einführte:: 
Schiller-Epigonen gleich Geibel und Ai- 
bert Lindner (den Schillerpreis-Trägem) 
waren Wildenbruch, der ein solch? 
nicht ist, voraufgegangen; eruntemahr 
auf dramatischem Gebiet, was Gusta. 
Freytag, dem Verfasser der „Ahnen 
und voLiends Felix Dahn in seinen gre 
ßen geschichtlichen Romanen nur zurr. 
Teil geglückt war. Nicht aus Nachah¬ 
mungstrieb, sondern in der tiefgewur 
zelten und unerschütterlichen Überze^ 
gung, daß dem deutschen Volke die 
große nationale Kunst nicht verloren ge¬ 
hen dürfe und eben jetzt bitter not sei 
Er sah es auf dem Theater französischer 
und französelnden Ehebruchsdramenunc 
der dumpfen Armeleute-Pcesie der Na¬ 
turalisten zujubeln, die mit nüchternen 
Wirkiichkeitssinn die Welt gerade nach 
ihren Schattenseiten getreulich abzukon- 
terfeien bemüht waren. Als geborene: 
Pathetiker, und weil er die Zeichen der 
Zeit zu erkennen glaubte, stellte sich 
Wildenbruch der herrschenden Kunst¬ 
richtung bewußt und leidenschaftlich 
entgegen. An Stelle sozialer Elendsbil- 
der wollte er seinem Volke in Heroen- 
dichtungen deutsche Größe vorführen 
statt niederdrückender Leiden erhe¬ 
bende und befeuernde Taten, statt ätzen 
der Gesellschaftskritik ewige Werte in 
freudig bejahender Poesie. Das war es, 
was ihn auf Schillersche Bahnen führte 
und daß er auf der rechten Spur war 
zur rechten Stunde und als notwendige 
ergänzende Erscheinung in der deut¬ 
schen Literatur auf den Plan trat, bewies 
daß bald darauf sehr unvermutet eine 
hocherfreuliche Schiller-Renaissance an¬ 
brach, die uns den großen Klassiker neu 
und nun hoffentlich unverlierbar zu 
eigen geschenkt hat. 

Sie kam, weil sie kommen mußte, wert 
die Dichtung Hauptmanns, so echt uw 



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INDIANA UNfVERSITY 



1429 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1430 


deutsch sie war, in ihrer Ausschließlich¬ 
keit eine Verengung bedeutet hätte, die 
der deutschen Volksseele verhängnisvoll 
werden konnte. Jede Zeit hat die Lite¬ 
ratur, die sie verdient, und die literari¬ 
sche Unsicherheit der siebziger und acht¬ 
ziger Jahre entsprach nur folgerichtig 
der Zersetzung und Zerfahrenheit des 
deutschen Lebens. Nach den Befreiungs¬ 
kriegen hatten die deutschen Regierun¬ 
gen versagt, nach dem französischen 
Kriege versagte das Volk. Preußen- 
Deutschland ist eine Nation, die sich am 
glänzendsten in der Not bewährt, ihr tie¬ 
fes Pflichtgefühl, ihre im weitesten Sinne 
sittlich gerichtete Art am schönsten und 
selbständigsten in schwerer Zeit ent¬ 
wickelt. Jetzt sah man sich plötzlich auf 
der Höhe ungeahnter Erfolge, die alte 
heiße Sehnsucht des deutschen Volkes 
war gestillt und das Reich errungen; dazu! 
Lorbeeren und Gold in Fülle! Das träge 
und unlustige Gefühl des Gesättigtsein 
gewann Oberhand, und man machte es 
sich a,uf breiten und weichen Polstern be¬ 
quem. Den unseligen fünf Milliarden 
war man nicht gewachsen; für alle Zei¬ 
ten deutscher Geschichte bleiben die 
Gründerjahre ein warnendes Menetekel. 
Die „Läutrungsglut des Weltenbran¬ 
des“, die Emanuel Geißel besungen 
hatte, hielt nicht lange vor, der heilige 
Rausch verflog. Man erschlaffte in Ge¬ 
nußsucht und wurde gleichgültig gegen 
alles Höhere. Das mächtige Gemein¬ 
schaftsgefühl, das zum Siege und zur 
Einigung geführt hatte, wich einer Ich- 
und Selbstsucht, die sich auch in dem 
Individualisierungsdrang einer neuen 
Kunst, einem nicht unbedenklichen Per¬ 
sönlichkeitskult, ausprägte und wider¬ 
spiegelte. 

Das schlimmste war die schier unbe¬ 
greifliche völkische Blasiertheit, die nach 
dem größten völkischen Aufschwung 
Platz griff. Kaum war die entscheidende 


Entwicklung vom Weltbürger des acht¬ 
zehnten zum Staatsbürger des neun¬ 
zehnten Jahrhunderts endlich und glück¬ 
lich vollzogen, so setzte eine unnatür¬ 
liche und gefährliche Rückbildung ein. 
Die den Nationalstaat mit Blut und Ei¬ 
sen gekittet hatten, gefielen sich wieder 
in einem verwaschenen und charakter¬ 
losen Kosmopolitismus, erlagen wieder 
dem alten deutschen Erbübel, alles Aus¬ 
ländische, Fremde mit würdelosem und 
kritiklosem Überschwang anzubeten und 
dem Selbstgeschaffenen, Eigenen vor¬ 
zuziehen. Die den französischen Waffen 
ruhmvoll obgesiegt hatten, ergaben sich 
im Frieden sofort bedingungslos der 
französischen Mode und Kunst. Die 
deutsche Volksseele war in Gefahr und: 
was hülfe es dem Menschen, so er die 
ganze Welt gewönne und nähme doch 
Schaden an seiner Seele! Wildenbruch 
erkannte diese Gefahr und setzte seine 
ganze Persönlichkeit ein, ihr zu begeg¬ 
nen. „Die große Zeit der nationalen Eini¬ 
gung“, schrieb er einmal, „fand auf dem 
Gebiete der nationalen Literatur nur ein 
kleines Geschlecht vor. Namentlich auf 
dem Gebiete des Schauspieles standen 
wir ganz im Banne des aus Frankreich im¬ 
portierten sogenannten Salondramas; 
die Vorgeschichte Deutschlands mit 
ihren Heldengestalten schien gänzlich in 
Vergessenheit geraten zu sein. Diese 
Lücke drängte es mich auszufüllen, und 
alle die verschiedenen Schauspiele aus 
Deutschlands Vergangenheit, die ins Le¬ 
ben zu rufen mir vergönnt war, entstan-, 
den aus diesem mächtigen Empfinden.' 
Das Nationalgefühl, das einzig den Sic 
errungen, durfte um so weniger verj 
ren gehen, als das junge Reich s^ 
schweren Belastungsproben noch j 
sich hatte und für sie gestähltj 
mußte. Die satte, eingeJullte Ma 
kannte nicht, daß die gewaltigei] 
genschaften des Krieges nicht < 




1431 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1432 


Schluß, sondern einen Anfang, nicht 
einen festen Besitz, sondern eine zu be¬ 
hauptende Eroberung bedeuteten. Mit 
geringem Erfolg nur vertraten ein Bis¬ 
marck, ein Moltke in mahnenden und 
warnenden Reichstags reden, den wah¬ 
ren Sachverhalt, die richtige Auffassung. 
Jetzt trat in Emst v. Wildenbruch der 
Dichter an ihre Seite, um den hohen Be¬ 
ruf des Dichters überhaupt zu erwei¬ 
sen, ein Seher seines Volks zu sein und 
sein Erzieher. Es galt, der niederaiehen- 
den Tendenz eine emporziehende ent- 
gegehzusetzen, die Nation zur Selbst¬ 
besinnung und Selbstbestimmung zu¬ 
rückzuführen, ihr in ihrem geschichtlich 
bewährten Volkstum die starken, die ein¬ 
zigen Wurzeln ihrer Kraft zu zeigen, sie 
ihrer schweren Aufgaben und ihrer ho¬ 
hen Sendung sich bewußt zu machen. 
«Zu neuen Zielen lockt ein neuer Tag!“ 
Es war ähnlich, wie 1806 nach der 
Zertrümmerung des friderizianisdien 
Preußen, nur schlimmer noch. Damals 
handelte es sich darum, das unterdrückte 
Volk teo stark zu machen, daß es das ver¬ 
haßte Joch abzuschütteln vermöge, jetzt 
stand das befreite vor der Notwendig¬ 
keit, sich gegen den furchtbaren Ansturm 
aller seiner durch Neid und Eifersucht 
verbündeten und dadurch übermächtig 
gewordenen Nachbarn zu behaupten. 
Wenige Monate vor der Schlacht bei Je¬ 
na bekannte Wilhelm Schlegel, das 
Haupt der romantischen Schule, mit ein¬ 
sichtsvoller Selbsterkenntnis dem Jün¬ 
ger Fouqu&, daß bei ihm und seinen Ge¬ 
nossen die „bloß spielende, müßige, 
träumerische Phantasie allzusehr zum 
herrschenden Bestandteil“ ihrer Kunst¬ 
übung gemacht worden sei: «Die Poesie^ 
sagt man, soll ein schönes und freies 
Spiel sein. Ganz recht, insofern sie kei¬ 
nen untergeordneten, beschränkten 
Zwecken dienen soll. Allein wollen wir 
sie bloß zum Festtagsschmuck des Gei¬ 


stes? zur Gespielin seiner Zerstreuun¬ 
gen? oder bedürfen wir ihrer nicht weit 
mehr als einer erhabenen Trösterin in 
den innerlichen Drangsalen eines un¬ 
schlüssigen, zagenden, bekümmerten 
Gemüts, folglich als der Religion ver¬ 
wandt? _Unsere Zeit krankt an ... 

Schlaffheit, Unbestimmtheit, Gleichgül¬ 
tigkeit, Zerstückelung des Lebens in 
kleinliche Zerstreuungen und an Unfä¬ 
higkeit zu großen Bedürfnissen.. . . Wir 
bedürfen also einer durchaus nicht träu¬ 
merischen, sondern wachen, unmittelba¬ 
ren, energischen und besonders einer pa¬ 
triotischen Poesie.“ Und in Heidelberg, 
äußerte sich später einmal im Hinblick 
auf die jüngere Romantik der Freiherr 
vom Stein, der Reorganisator Preußens, 
habe sich ein guter Teil des Feuers ent¬ 
zündet, das später die Franzosen ver¬ 
zehrte. 

Gerade so faßte auch Wildenbruch 
seine Sendung auf. Für ihn. war die 
Frage: „wer in Deutschland dramatischer 
Kunst gebieten soll, ob die alte große 
reine deutsche Seele oder die impor¬ 
tierte, fremde, undeutsche“. „Wenn ich 
nicht mehr“, bekräftigt er, „die große 
deutsche Geschichte für das Volk bear¬ 
beite, wer tut es dann noch? Und 
Deutschland versinkt und ertrinkt in der 
Schlammflut des Unglaubens, der Hoff¬ 
nungslosigkeit, und die sozialdemokra¬ 
tische Masse zerdrückt den .großen Men¬ 
schen'." Und so pflegte er mit dersel¬ 
ben geschichtlichen Notwendigkeit eine 
nationale Kunst, wie zu Beginn des Jahr¬ 
hunderts die Arnim und Brentano, Fou- 
qu6 und Uhland, die, auf die deutsche 
Geschichte zurückgreifend, ihr Volk be¬ 
wußt zum Vaterländischen erzogen, es 
durch den Anblick seiner schöneren und 
größeren Vergangenheit in schwerster 
Gegenwart mit herrlichem Gewinn stärk¬ 
ten für die Aufgaben seiner Zukunft 
Auch Wildenbruch, den man* darob als 


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tr33 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1434 


Spätling der Romantik“ verschrie und 
eixlrängen wollte, ist sein Werk gelun¬ 
gen. Die Saat, die der Unverstandene 
or einem Menschenalter auf Hoffnung 
usgestreut hat in ein dunkles Land, in 
inseren Tagen ist sie erst recht aufgegan- 
jen und hat hundertfältig Frucht getra¬ 
gen. Unser Volk wäre der furchtbaren 
Feuerprobe des Weltbrandes schwerlich 
jewachsen, wenn nicht kerndeutsche 
Männer voll mitreißender Leidenschaft 
Arie Emst v. Wildenbruch und Heinrich 
v. Treitschke ihm zur rechten Zeit den 
rechten Geist starken vaterländischen 
Empfindens wieder eingehaucht hätten. 

Die Geschmäckler verwerfen das Hin¬ 
eintragen sogenannter außerkünstleri¬ 
scher Gesichtspunkte in die Kunst nase¬ 
rümpfend als unzulässige Tendenz. Wir 
teilen keineswegs den Standpunkt der 
Jungdeutschen und der politischen Lyri¬ 
ker der dreißiger und vierziger Jahre, die 
im Gegensätze zu Goethe — „ein garstig 
Lied, pfui, ein politisch Lied!“ — von der 
Dichtung die Tendenz als Höchstes 
grundsätzlich forderten, aber wir be¬ 
streiten ihr auch nicht mit einseitiger 
Ästhetenauffassung jedes Lebensrecht in 
der Kunst. Sicherlich trägt sie leicht et¬ 
was Stoffliches in sie hinein, was nicht 
restlos in Form umgesetzt werden kann, 
aber es darf hier auch nicht mit aus¬ 
schließlich ästhetischem Maß gemessen 
werden. Die politische Spruchdichtung 
Walthers von der Vogelweide im Mittel- 
alter, das deutsche Drama der Reforma¬ 
tionszeit im sechzehnten, die strafende 
Satire eines Moscherosch und Logau 
im siebzehnten, die eigentliche Aufklä¬ 
rungsliteratur im achtzehnten, die patri¬ 
otische Dichtung der Befreiungskriege 
oder Gotthelfs volkspädagogische Ro¬ 
mane im neunzehnten Jahrhundert — 
alles das ist tendenziös und doch echte 
Dichtung. Das „Wie“ gibt da den Aus¬ 


schlag. Wir halten es mit Gottfried Kel¬ 
ler, der mit Bezug auf die ausge¬ 
sprochene Tendenz des großen Berner 
Dichters Niklaus Manuel erklärt hat: 
„Die Wahrheit ist, daß eben alles an sei¬ 
nen Ort gehören und der Umgehung 
nicht widerstreiten soll; das subjektive 
Pathos eines politischen oder religiösen 
Streitgedichtes ist, wenn das übrige 
Zeug daran nicht fehlt, gerade so poe¬ 
tisch wie die objektivste historische Bal¬ 
lade und vielleidit oft noch wertvoller 
wegen der größeren Unmittelbarkeit.“ 
Daß ein Übermaß tendenziöser Absicht¬ 
lichkeit das Künstlertum beeinträchtigen 
kann, versteht sich von selbst und wird 
z. B. durch den eben genannten Gotthelf 
oder den alten Tolstoi bewiesen, die aber 
trotzdem ihre hohe literarische Bedeu¬ 
tung behalten. Man beteuert so gern, 
jeglicher Stoff sei der künstlerischen Be¬ 
handlung fähig, und geracte die größten 
will man ausschließen? Es gibt nun ein¬ 
mal „Tendenzen“, die höher stehen als 
jede Kunst: Religion, Freiheit, Vater¬ 
land. „Poetischer Gehalt — diesen Satz 
hat der greise Goethe ausdrücklich den 
jungen Dichtern als sein Testament hin¬ 
terlassen — ist Gehalt des eigenen Le¬ 
bens“; der Künstler müsse, er gebärde 
sich, wie er wolle, immer nur sein Indi¬ 
viduum zu Tage fördern. Und insbeson¬ 
dere entspricht es ja nun einmal der ger¬ 
manischen Art im Gegensätze zur roma¬ 
nischen, eine Dichtung von hohem 
menschiichen Inhalt, auch wenn sie der 
letzten Formvollendung entbehrt, höher 
einzuschätzen als feinstes formale» 
Künstlertum, das eines solchen Inhalts 
ermangelt. Formloser Gehalt ist uns im¬ 
mer noch viel mehr wert als gehalt¬ 
lose Form. 

Auch der deutsche Dichter Wilden¬ 
bruch ist Ausdrucks-, nicht Gestal¬ 
tungsdichter; ein Formproblem als sol¬ 
ches zu bewältigen ist ihm niemals in 







1435 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 143*5 


den Sinn gekommen, und darum ist es 
falsch und ungerecht, ihn wie einen Ste¬ 
fan George odef Hofmannsthal zu beur¬ 
teilen. Und noch eines: die soziale Ten¬ 
denz, die gerade mit dem Naturalismus 
so eng verwachsen ist, soll erlaubt und 
willkommen, die patriotische aber ver¬ 
pönt sein? Ist doch der wahre Patriotis¬ 
mus, der sich nicht als aufreizender Chau¬ 
vinismus darstellt, Oberhaupt gar keine 
Tendenz, sondern eine rein menschliche 
Urempfindung gleich der Liebe zu den 
nächsten Blutverwandten; sein Fehlen 
ist ein sittlicher Mangel, ihn, als ein Ge¬ 
meinschaftsgefühl, laut zu bekennen 
und öffentlich zu vertreten, eine sittliche 
Pflicht. Oder darf ein deutscher Dichter 
zwar das Vaterlandsgefühl der alten 
Franzosen und Schweizer in einer „Jung¬ 
frau von Orleans“ und einem „Wilhelm 
Teil“ dichterisch zum Ausdruck bringen, 
nicht aber das seiner lebenden Volksge¬ 
nossen? Wie nach Friedrich Vischer das 
Moralische, so sollte sich doch auch das 
Vaterländische immer von selbst verste¬ 
hen, und alle echte Dichtung, zumal auch 
die ganz große eines Homer und Äschy- 
los, Dante und Cervantes, Shakespeare 
und Goethe, die man als Weltliteratur 
preist, ist aus Heimat und Volkstum, Va¬ 
terland und Staat entsprossen. Es steht 
schlimm um eine Zeit, die einem Dichter 
die Vaterlandsliebe zum Vorwurf macht, 
in der man sich wegen seines Patriotis¬ 
mus förmlich entschuldigen muß. Sie be¬ 
weist nur, daß es höchste Pflicht der 
moralisch Verantwortlichen ist, diesen 
Geist zu hüten, den schwindenden zu 
stärken. Das erkannte Wildenbruch als 
seine große Dichteraufgabe, und indem 
er sie übte, tat er ein Doppeltes: er 
legte als Künstler Zeugnis ab von dem, 
was das Tiefste und Beste in ihm war, 
und er erfüllte einen bedeutungsvollen 
geschichtlichen Beruf. 


Von Anfang an bekam Wildenbruch es 
zu hören, daß seine Pflege des vaterlän¬ 
dischen Dramas kühler Berechnung oder 
gar byzantinischer Liebedienerei und 
Streberei ihren Ursprung danke. Kein 
schwereres Unrecht konnte man ihm an¬ 
tun, kein Vorwurf hat ihn tiefer gekränkt 
als der so unendlich oft wiederholte, sein 
ganzes Können und Wirken sei »nichts 
weiter als Erregung einer gewissen pa¬ 
triotischen Hypnose“. Das härteste aber 
war, daß er gerade von der Seite mißver¬ 
standen wurde, von der er reichsten Dank 
und höchste Förderung hätte erwarten 
dürfen. Solche Verdächtigung und Ver¬ 
kennung hat sein ganzes Leben verdüstert 
und verbittert, es zur erschütternden 
Tragödie werden lassen. Von vaterlän¬ 
discher Sorge durchdrungen und erfüllt 
von dem Gefühl seiner Verantwortlich¬ 
keit, gab er jeden Blutstropfen her, iim 
die kranke Zeit zu heilen, sein zur Ober¬ 
flächlichkeit entartetes Volk zu retten; 
gleich Bismarch, zu dem er in bewun¬ 
dernder Liebe aufschaute, verzehrte er 
sich im Dienste des geliebten Vaterlan¬ 
des, für das er schwere Gefahr im Ver¬ 
züge sah; bewußt schwamm er gegen 
den Strom und verzichtete auf billige 
Lorbeeren, die dem Verfasser der „Hau¬ 
benlerche“ leicht erreichbar waren; und 
für das alles mußte er es erleben, daß 
man ihn Ln seinem Eigensten und Ech¬ 
testen nicht verstand, ihn der Selbst¬ 
sucht und Profitmacherei zieh, da Mit¬ 
tel zu einem schnöden Zweck erblicken 
wollte, wo heiligster Selbstzweck vor¬ 
lag. 

„Liebe zum Vaterland ist Gottes¬ 
dienst!“ Diese Losung, die Wildenbruch 
am Schlüsse des „Neuen Gebots*' an- 
stimmt, sie ist der Wahrspruch seines 
ganzen Lebens und Lebens Werkes. Etm> 
Wahl gab es für ihn überhaupt nidrt, 
er mußte vaterländische Dichtung schaf¬ 
fen. Das war seine persönliche Note und 


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1437 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1438 


sein eigenster Beruf. Was so viele als 
etwas Äußerliches anmutete, war sein In¬ 
nerlichstes. Er schrieb seine Hohenzol- 
lem-Dramen nicht aus lediglich stoff¬ 
lichen Gesichtspunkten wie Raupach 
die schier unabsehbare Reihe seiner 
schwunglos-rationalistischen Hohenstau¬ 
fen-Stücke. Und wenn schon jeder 
Preuße allen Grund hat, sich seines Preu¬ 
ßentums zu freuen, stolz zu sein auf 
die ruhmreiche Geschichte seines aus ge¬ 
langen Anfängen durch eigene Kraft zu 
machtvoller Größe emporgestiegenen 
Landes, in liebender Ehrfurcht und 
Dankbarkeit aufzuschauen zu dem edlen 
und tüchtigen Geschlecht seiner Fürsten, 
die in persönlicher Leistung als erste 
Diener ihres Staates das alles geschaffen 
haben, hat der Enkel des prinzlichen 
Helden von Saalfeld, der Abkömmling 
des Großen Kurfürsten, der Zeitgenosse 
Wilhelms I. und Bismarcks, denen beiden 
er auch persönlich nahen durfte, hat 
der preußische Offizier der beiden 
Kriege von 1866 und 1870/71 nicht dop¬ 
pelten Grund zu solchem Empfinden? 
Auch das leidenschaftliche Vaterlands¬ 
gebet, in das der „Generalfeldoberst" 
ausklingt, ist tiefstes Selbstbekenntnis: 

Du mein Erdenanteil und Recht, 

Hohenzollern du mein Geschlecht, 

Dir meine Seele vermach’ ich hier! 

Dir mein Denken, Sehnen und Lieben, 

Diese heilige Herzensnot 


Hier das Erbteil, das ich dir lasse, 

Das ich mit glaubender Seele umfasse: 

Deutschland! Deutschland! Deutschland! 

Das ist nicht die persönliche Ange¬ 
legenheit dessen, der seiner Väter gern 
gedenkt, nicht der eitle Rausch des Be¬ 
wußtseins, eines Blutes zu sein mit den 
Herzögen seines Stammes, und noch viel 
weniger der bloße Hurrapatriotismus, 
das gesteigerte Loyalitätsgefühl, die löb¬ 
liche Untertanenpietät eines treuen Die¬ 
ners seines Herrn. Männerstolz vor Kö¬ 


nigsthronen hat gerade Wildenbruch be¬ 
währt wie wenige, und die fürstliche Un¬ 
gnade, die er so oft geerntet hat, nie ge¬ 
scheut. Gerade wie Goethe hat er nicht 
sowohl dem Fürsten als solchen, sondern 
der fürstlichen Menschennatur gehuldigt. 
Sein Preußentum, ist Ausdruck nicht 
bloß seiner Staatsangehörigkeit, sondern 
auch seines Charakters, seiner Weltan¬ 
schauung, und die Geschichte ist für ihn 
nicht ein beliebige Stoff, sondern not¬ 
wendige Lebensluft, ähnlich wie für 
Hebbel, der sie allerdings dann durch 
das Prisma seiner metaphysischen Welt¬ 
anschauung brach und geschichtsphilo¬ 
sophisch wandte. 

Aber nur ein Teil des Volkes in jener 
Übergangszeit zwischen den Kriegen 
von 1870 und 1914 folgte ihm, die mei¬ 
sten zuckten die Achseln und lächelten 
über den sonderbaren Schwärmer, der 
selbstverständliche, wenn nicht gar über¬ 
flüssige Dinge so ernst nahm und so 
viel Feuer und Leidenschaft für sie ver¬ 
puffte. Und die literarische Kritik, auf 
eine internationale „Moderne" einge¬ 
schworen, sah in ihm nichts als einen Epi¬ 
gonen und Anachronismus, einen Stö¬ 
rer ihrer Kreise und Reaktionär. Beirren 
konnte das den Dichter nicht. Daß sein 
Volk ihm früher oder später recht ge¬ 
ben würde, recht geben müsse, wenn 
es sich nicht selbst verleugnen wollte, 
dessen war er gewiß, und so sehr der 
leidenschaftliche, von einem edlen Ehr¬ 
geiz beseelte Mann unter der ihm oft 
so unbegreiflichen und ihn sachlich tief 
erschreckenden Verständnislosigeit \ind 
Ungerechtigkeit der Kritik litt — ging 
es nicht mit ihr, so mußte es eben ohne 
sie, gegen sie gehen. Als er den Plan 
faßte, eine Folge von Hohenzollemdra- 
men zu dichten, schrieb er: „Es sollen 
keine Werke für die Literatur werden, 
und darum werde ich nicht danach fra¬ 
gen, was die literarische Beurteilung 







1439 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1440 


dazu sagt.“ Dem leidigen Kulturkampf 
Rechnung tragend, hatte im Jahre 1885 
Kaiser Wilhelm I. schon das „Neue 
Gebot" für die königlichen Theater in 
Berlin und Hannover abgelehnt, zum 
großen Schmerz des Dichters. Aber 
das feurige Blut drohte ihm zu stocken, 
das große Herz zu brechen, als vier 
Jahre später der junge Kaiser, der ihn 
so warm ermuntert hatte und von dem 
er so viel für Deutschlands Zukunft er¬ 
wartete, im Einvernehmen mit dem gro¬ 
ßen Kanzler aus ihm völlig unerfind¬ 
lichen Gründen seinen „Generalfeld¬ 
oberst“ für alle preußischen Hofbühnen 
und in Berlin auch für die Privatbühnen 
verbot. Wohl beugten ihn solche Erfah¬ 
rungen furchtbar, aber brechen konnten 
sie ihn nicht. Für Wildenbruch galt das 
Zarathüstra-Wort: „Trachte ich denn 
nach Glücke? Ich trachte nach meinem 
Werke“, und niemand konnte dem Sei¬ 
denwurm verbieten zu spinnen, wenn er 
sich schon dem Tode näher spann. 

2 . 

Überblicken wir rasch die Reihe der 
mehr denn dreißig Wildenbruchschen 
Dramen, so erkennen wir, welche über¬ 
ragende Rolle in ihnen der vaterländi¬ 
sche Gedanke spielt. Von unbedeuten¬ 
den frühen Versuchen abgesehen, steckt 
der Dichter gleich in seinem 1875 voll¬ 
endeten ersten Stück, dem „Harold“, sein 
ureigenes Gebiet ab: „die bewußte 
Vereinigung menschlich-dramatischer 
Schicksale mit großen geschichtlichen, 
insbesondere nationalgeschichtlichen 
Vorgängen", wie er selbst sich einmal 
ausgedrückt hat. Von der angelsäch¬ 
sisch-normannischen Geschichte wendet 
er sich des weiteren der deutschen (in 
den „Karolingern“) und vor allem der 
preußischen Geschichte zu. Schon in sei¬ 
nem zweiten Drama, dem „Mennoniten“, 
berührt er zum ersten Male preußischen 


Boden, doch gibt hier die Geschichte, 
die Zeit der französischen Okkupation 
zwischen 1806 und 1813, nur erst den 
allgemeinen Hintergrund her, vor dem 
ein persönlich-menschlicher Konflikt 
sich abspielt. Dagegen sind „Vater und 
Söhne“ bereits ein wirkliches, von der 
gleichen Zeit handelndes geschichtliches 
Drama. Es folgt das „Neue Gebot“, das 
den weltgeschichtlichen Kampf zwischen 
Kaisertum und Papsttum und Hein¬ 
richs IV. Sachsenkämpfe vorführt und. 
auf der königlichen Bühne verboten, aut 
dem Berliner Ostendtheater dem Dichter 
den ersten großen Erfolg eintrug und 
ihn dadurch seiner Sache nur desto si¬ 
cherer machte: „Ich fühle, daß ich mit 
dem .Neuen Gebot' in den Sommer mei¬ 
nes Dichtens eingetreten bin.“ Der 
„Fürst von Verona“ (in dem übrigens 
der Hohenstaufe Konradin ebenso hin¬ 
ter der Szene bleibt wie der Salier im 
„Neuen Gebot“) ist freilich ein Rück¬ 
schritt, ein Stück, das in seiner Zerfah¬ 
renheit und Äußerlichkeit den Sturm¬ 
und Drang-Dramen eines Klinger und 
Leisewitz nahe steht. Nun aber setzen 
die Dramen ein, die, meist in der hei¬ 
mischen Mark spielend, Brandenburg- 
Preußens Vergangenheit und seine Für¬ 
sten vorführen. Zuerst die „Quitzows“, 
Wildenbruchs größter und auch wohl 
berechtigtster Theatererfolg überhaupt 
Schrieb doch nach der ersten Auffüh¬ 
rung im Dreikaiserjahre 1888 selbst Fon¬ 
tane, sein bedenklichster Kritiker: „Das 
Stück Genie, nach dem ich mich, wenn 
ich Wildenbruchsches sah, sieben Jahre 
lang vergeblich umgesehen habe, hier 
ist es zum erstenmal, aber nun auch mit 
erobernder Gewalt." Die im Anschluß 
daran ins Auge gefaßte Folge von wei 
teren Hohenzollern-Dramen wurde al¬ 
lerdings bald jäh abgebrochen; der 
große Plan blieb unter der Ungunst der 
Verhältnisse in den Anfängen stecken. 


> 









1441 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Uchte seiner und unserer Zeit 1442 


die Ausführung wurde dem Dichter bit¬ 
ter verleidet und geradezu zur Unmög¬ 
lichkeit gemacht. Viel schwerer noch als 
das Verbot des „Generalfeldoberst“ traf 
ihn die verleumderische „nichtswür¬ 
dige Deutung“, die man in den „Neuen 
Herrn“ hineintrug: „als hatte ich mit der 
Gestalt des Großen Kurfürsten liebedie¬ 
nernd auf den jetzt regierenden Hohen- 
zollern, mit dem Feinde Brandenburgs 
aber auf den Mann gezielt, der Deutsch¬ 
land von Habsburg losgerissen, Bran¬ 
denburg-Preußen an dein Schwarzenberg 
von Olmütz gerächt, und der meinem 
Herzen wahrscheinlich näher gestanden 
hat, als den Herzen derer, die mir eine 
solche Ansicht unterschoben“. Notge¬ 
drungen flüchtete er sich nun wieder in 
die alte deutsche Geschichte. Das große 
Doppeldrama „Heinrich und Heinrichs 
Geschlecht“ trug ihm abermals ungeheu¬ 
ren, jubelnden, wohlverdienten Beifal^ 
namentlich bei der deutschen Jugend 
ein. „Dieses Drama“, schrieb der gegen 
Wildenbruch sonst zurückhaltende Her- 
man Grimm, „ist ein deutsches Kai¬ 
serdrama, wie die Theaterstücke Sha¬ 
kespeares englische Königsdramen sind. 
Wir haben dergleichen bisher nicht ge¬ 
habt.“ Nur zweimal noch wagte sich der 
Dichter vorsichtig und nicht, ohne ver¬ 
hängnisvolle künstlerische Zugeständ¬ 
nisse zu machen, an die preußische Ge¬ 
schichte heran. In dem anekdotischen 
Gelegenheitsstück ..Der Junge von Hen¬ 
nersdorf“, ersetzte er, um das bereits er¬ 
gangene Verbot rückgängig zu machen, 
die Gestalt Friedrichs des Großen durch 
eine andere, und auch in der unerfreuli¬ 
chen, durchaus mißlungenen „üewitter- 
nacht“ läßt er denselben Helden nur 
unpersönlich am Hintergründe vorüber¬ 
huschen. Zwischen diesen beiden Stük- 
ken liegt ein bestelltes höfisches Fest¬ 
spiel, die frostige „dramatische Legende“ 
von Willehalm, die des großen Anlasses, 

Internationale Monatsschrift 


der Hundertjahrfeier Kaiser Wilhelms L, 
nicht minder unwürdig ist wie Gerhart 
Hauptmanns aus blutleerem Gehirn ge¬ 
schaffenes „Festspiel“ auf 1813. Zwei 
neue große äußere Erfolge brachten dem 
Dichter alsdann sein im Jahre 1899 voll¬ 
endetes Reformationsdrama „Die Toch¬ 
ter des Erasmus“ und die in demselben 
Zeitalter wurzelnde „Rabensteinerin“. 
Daran schließen sich zwei durch Felix 
Dahns Arbeiten über die Völkerwande¬ 
rung angeregte Gotentragödien: „König 
Laurin“ mit der großen Gestalt der 
Gotenkönigin Amalasuntha und, 4* e 
Frucht langjährigen harten Ringens mit 
eiifem spröden Stoff, „Ermanarich der 
König“. Den Abschluß dieser Entwick¬ 
lungsreihe und Wildenbruchs letzten 
Aufruf an sein Volk stellt endlich der 
„Deutsche König“ dar, der erst nach 
seinem Hinscheiden an die Öffentlich¬ 
keit trat. 

Das sind die geschichtlichen Dramen 
Wildenbruchs, die, in denen er nach 
einem gelegentlichen Worte Herman 
' Grimms die Bretter überschritt, die das 
Vaterland bedeuten. 

Die lange Kette, die sich von seinem 
ersten zu seinem letzten dramatischen 
Werke zieht, wird je und je unterbrochen 
durch eine Anzahl andersartige, durch 
moderne, bürgerliche Theaterstücke, die 
mehr nur als bloße Zwischen- und Erho¬ 
lungsarbeiten aufzufassen sind und die 
der Dichter selbst niemals besonders hoch 
eingeschätzt hat. ln ihnen unternimmt 
er es, dem „schalköpfigen Teufel Publi¬ 
kum mit seinen allereigensten Waffen 
zu Leibe“ zu gehen. Auf diesem Gebiete, 
meint er, brauche man sich nicht zu 
scheuen, „eine ganze Menge Situationen 
zu schaffen, die für das gehobene Drama 
unmöglich sein würden* weil sie trivial 
sind, aber in diese Dramen gehören sie 
gradezu notwendig hinein, denn der 
Charakter derselben ist im Grunde tri- 

46 







1443 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1444 


vial“. Es ist schwer begreiflich und zeugt 
von Kritiklosigkeit gegen sich selbst, 
daß derselbe Wildenbruch, der die Herr¬ 
schaft des leichten, französelnden Situa- 
tions- und Konversationsdramas in 
Deutschland mit sittlicher Entrüstung; 
theoretisch wie praktisch bekämpfte, 
sich nicht für zu gut hielt, zugleich selbst 
von diesem Boden, und mit den Mitteln 
Sardous und Augiers, zu ernten. Einzig 
die Tatsache, daß er für sein großes dra¬ 
matisches Wollen lange keine Anerken¬ 
nung fand, mag für die frühesten dieser 
Stücke als Entschuldigung dienen; für 
die späteren versagt auch diese unkünst¬ 
lerische Erklärung. Der Erfolg war ent¬ 
sprechend gering oder doch in seiner 
Art Wildenbruchs nicht würdig. 

Zwischen „Väter und Söhne“ und dem 
„Neuen Gebot“ stehen zwei bürger¬ 
liche Schauspiele, die im Fahrwasser 
Ifflands, Kotzebues, der Birch-Pfeiffer 
plätschern, nur ohne die Gewandtheit je¬ 
ner Autoren, und die von Suderinanns 
gleichzeitigen Dramen verwandter Art 
weit übertroffen werden. Sowohl die 
„Herrin Ihrer Hand“ wie „Opfer um 
Opfer“ sind unlebendige Schablonen¬ 
stücke mit urältesten, zum Teil höchst 
unwahrscheinlichen Motiven und von 
ganz abgebrauchter übernommener 
Technik. Die Charakteristik der Perso¬ 
nen ist mehr als dürftig, der Prosadialog 
von papierner Dürre und Unnatürlich¬ 
keit. Nackte Gemeinheit und triefender 
Edelmut, Reichtum und Armut, Vorder- 
und Hinterhaus werden plump gegen¬ 
einander ausgespielt. Bankerotte und in 
letzter Not plötzlich auftauchende Geld¬ 
säcke dienen als Hebel der Handlung, 
die kriminalistische Einschläge nicht 
verschmäht; der reiche Onkel aus Ame¬ 
rika in neuer Auflage bringt schließlich 
alles ins gewünschte Gleis. In den Ne¬ 
benhandlungen werden wir mit Karika¬ 
turen von Menschen, mit possenhaften 


Zügen und läppischen Wortwitzen al> 
gespeist. 

In eine spätere Periode des Dichter 
gehören die „Haubenlerche“ und „Me 
ster Balzer“. Sie sind etwas geschickte: 
und selbständiger geraten, stehen auch 
künstlerisch höher, haben aber gleich¬ 
falls mit dem echten Wildenbruch kaum 
etwas gemein. Es berührt höchst unan¬ 
genehm, den Adler unter Spatzen herum¬ 
hüpfen zu sehen. Die ^Haubenlerche“, 
die unendlich oft mit großem Beifall an¬ 
geführt wurde, bleibt doch immer, wen: 
auch vielledcht der Dichter sich dessen 
gar nicht bewußt war* ein Zugeständnis 
an die Tagesmode, ein flüchtiger Ver¬ 
such, es dem so viel erfolgreicheren Ver¬ 
fasser der „Ehre“ gleichzutun. Wilden¬ 
bruch schrieb sie, um das Deutsch 
Theater für den Ausfall des verbotene* 
„Generalfeldoberst“ zu entschädige: 
»Auch dieses in einer Papierfabrik vff 
den Toren des modernen Berlin se¬ 
iende Stück verteilt die Handlung d£* 
bewährtem Muster auf das Vordeck 
des Arbeitgebers und das Hintri^ 
des Arbeitnehmers und ist ganz nattf* 
listisch auf die dargestellte Umwelt 
geschnitten. Einen etwas höheren Rang 
nimmt der „Meister Balzer“ vor a Heß 
deshalb ein, weil er von persönliche 
Erlebnissen durchtränkt und darum be¬ 
sonders in der Person des Helden le¬ 
benswahrer ausgefallen ist. Wie der 
Uhrmacher-Künstler Balzer sieht auch 
der Dichter sich in seinem Streben zum 
Höchsten verkannt, und manche Äuße¬ 
rung des Meisters, dessen Urbild zu des 

jungen Wildenbruch Frankfurter Freun¬ 
den gehörte, ist uns als künstlerisches 
Selbstbekenntnis von Wert. Eindring¬ 
licher als in der „Haubenlerche“ wir 
hier ein soziales Problem behandelt: das 
Verhältnis 'zwischen dem Kunstharz 
werk und der es verdrängenden Fabrik- 
Doch ist der „Balzer“ nicht so sehr Mi 



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1445 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1446 


lieustück wie die „Haubenlerche“, son¬ 
dern zugleich in hohem Grade ein Cha¬ 
rakterdrama und insofern einigermaßen 
Otto Ludwigs „Erbförster“ verwandt 
Ungefähr in die gleiche Zeit fällt das 
„Heilige Lachen“,ein „Märchenschwank“, 
der im Gewände einer weitschichtigen, 
oft recht fadenscheinigen Allegorie uncl 
mit den groben Mitteln einer ins Platte 
sinkenden Komik satirisch den Berliner 
Zeitgeist an den Pranger stellt 

In des Dichters letzte Zeit gehören 
endlich die „Hauskomödie“ vom „Un¬ 
sterblichen Felix“ und die „Lieder des 
Euripides“. Das erste Stuck ist aber¬ 
mals ein bürgerliches Drama, ein fades 
Machwerk, in dem sich rührselige und 
possenhafte Züge unangenehm mischen, 
das andere gleichfalls eine bloße Zwi¬ 
schenarbeit, aber menschlich wenigstens 
wieder erfreulicher und wiederum ein. 
Bekenntnis der eigenen Dichterseele. 

Zwischen den geschichtlich-heroischen 
Dramen und den kleinbürgerlichen Fa¬ 
milienstücken steht endlich der „Chri¬ 
stoph Marlowe“, eine Künstlertragödie, 
die zumal in ihrem ersten Akt zu des 
Dichters gelungensten und besten Lei¬ 
stungen zählt, in ihrem weiteren Ver¬ 
lauf aber leider zerbröckelt und ent¬ 
täuscht. 


Es ist ein UnheiL daß bei uns in 
Deutschland künstlerische Richtungen 
so oft zur Parteisache gemacht werden, 
daß die jeweilig herrschende Klique die¬ 
jenige Art zu dichten, der sie zustimmt, 
mit lautem Kampfgeschrei und unduld¬ 
samer Herabsetzung jeder anderen für 
die einzig „maßgebende“, die alleinselig¬ 
machende erklärt. Statt: sowohl — als 
auch, sagt man: entweder — oder; an¬ 
statt sich zu freuen, daß im Garten deut¬ 
scher Art und Kunst die verschieden¬ 
sten Blumen nebeneinander gedeihen, 
sucht man die eine üm der anderen wil¬ 


len auszurotten. Damit tut man der 
freien Fülle deutschen Lebens Gewalt an 
und unterbindet verheißungsvolle Ent¬ 
wicklungsmöglichkeiten. Oft hat erst 
eine unbefangene geschichtliche Betrach¬ 
tung und sachliche Nachprüfung der in¬ 
zwischen vergilbten Akten solches Un¬ 
recht an Dichter und Literatur gesühnt 
und von den Zeitgenossen Verkanntes, Er¬ 
sticktes oder Totgeschwiegenes zu ver¬ 
späteter Wirkung ans Licht des Tages 
gezogen. Der Schaffende darf, ja muß 
wohl einseitig sein und keine anderen 
Götter kennen oder gelten lassen neben 
dem, der ihm selbst gebietet; die Kritik 
hat ein solches Recht auf Einseitigkeit 
keineswegs. 

War die Klique Wildenbruch gegen¬ 
über befangen und intolerant* er selbst 
war es der Dichtung anderer gegenüber 
nicht weniger. Namentlich in der dra¬ 
matischen Kunst vertrat er mit großer 
Schärfe eine eigenwillige Doktrin. Wahr¬ 
haft große Dramatiker sind ihm eigent¬ 
lich nur Äschylos und Richard Wagner. 
Nur sfe passen ihm zu seiner Definition: 
„Die Linie ist die Seele des Dramas. 
Führung der Linie ist dramatische 
Kunst. Linie ist die Fabel; darum ist 
die Fabel die Hauptsache im Drama, 
nicht der Charakter der Figur.“ Auch! 
Schiller läßt er gelten, aber selbst Shake¬ 
speare zeigt ihm schon zu wenig von 
der „typischen Grandiosität der Figu¬ 
rengestaltung“, die das antike Drama 
über jedes andere stelle; er ist ihm zu 
novellistisch, mit anderen Worten, er 
verwendet ihm zu viel psychologische 
Arbeit auf die Individualisierung seiner 
Figuren. Daß einer solchen Auffassung 
Heinrich von Kleist (dessen „Penthesi¬ 
lea“ Wildenbruch indessen in seinem Al¬ 
tersroman ,,,Lukrezia“ eine bewundernde 
Analyse von großer Feinfühligkeit wid¬ 
met) überschätzt erscheint, kann nicht 
wundemehmen; er habe an die Stelle 

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1447 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1448 


der Einfachheit, der großen einfachen 
Leidenschaft „ein dem Drama völlig 
fremdes Element eingesetzt, das Inter¬ 
essante.“ Auch för Hebbel ist hier kein 
Raum, und das Drama seiner eigenen 
Zeit sieht Wildenbruch erst recht auf 
verhängnisvollen Abwegen. Ibsen war 
sein vollkommener GegenfQßler, er war 
nach seiner Ansicht der wahre Verderber 
und Verführer. Die beiden Zeitgenossen, 
die so oft abwechselnd auf denselben 
Brettern zum Wort kamen und die sich 
auch einmal persönlich getroffen haben, 
konnten sich gegenseitig nicht verstehen. 
Wildenbruch erkannte lediglich die 
„technische Kraft“ des großen Norwe¬ 
gers an, im übrigen aber bekämpfte er 
sein Wesen mit einer leidenschaftlichen 
ästhetisch-sittlichen Entrüstung, die uns 
sehr verfehlt anmutet. Er erblickt bei 
ihm nichts weiter als „die Dramatisie¬ 
rung der seelentötenden, materialisti¬ 
schen Weltanschauung, die das Drama 
mit einem Schlag aus dem Gebiet des 
geistigen Lebens in das des leiblichen 
verpflanzt, die an Stelle von Seelen¬ 
kämpfen und Seelenentwicklung physi¬ 
sches Leiden und einen physiologischen 
Krankheitsprozeß stellt“. „Während alle 
großen Menschheitsfragen immer nur 
von dem ganzen Menschen, immer nur 
mit Kopf und Herz zugleich gelöst wer¬ 
den, geschieht dies bei den Ibsenschen 
Menschen immer nur durch den Kopf. 
Die Stimme der Empfindung ist bei ihm so 
zurückgedrängt, daß man den Eindruck 
erhält, als hätten seine Menschen nur 
ein Gehirn, sonst aber keine edlen Or¬ 
gane, und an Stelle des Herzens eine al¬ 
gebraische Formel.“ Dazu nahm Wil¬ 
denbruch natürlich den stärksten An¬ 
stoß an der Führung der Ibsenschen 
Handlung; er fand fast überall nur dra¬ 
matisierte Epiloge zu einer vor dem ei¬ 
gentlichen Stücke liegenden Handlung, 
und die bloße Zustandsschilderung und 


Umweltdarstellung ist ihm nun einmal 
schlechterdings undramatisch. Daß er 
den „mit wirklich dichterischer Größe 
entworfenen, mit dramatischer Gewalt 
ausgeführten „Kronprätendenten“ eine 
rühmliche Ausnahmestellung zugestand, 
begreift sich leicht; sie entsprachen am 
meisten seiner eigenen Theorie, die frei¬ 
lich ein gleichwertiges Werk niemals zu¬ 
stande gebracht hat 

Es ist ein bezeichnendes, ein program¬ 
matisches Wort, das der junge Wilden¬ 
bruch einmal im Hinblick auf Asmus 
Carstens’ Kompositionen aussprach: „Ich 
hatte die Empfindung, daß wenn ick 
statt zu dichten malte, ich nur in der 
Weise malen könnte.“ Er hat die großzü¬ 
gige Freskotechnik, die nur der großem 
Linie nachfragt und alle Kleinpsycho¬ 
logie als ablenkend verschmäht, auf das 
Drama übertragen. Daß sie ihr Daseins¬ 
recht hat, beweisen Stücke wie Schil¬ 
lers „Braut von Messina“, die kein Goe- 
thesches Seelendrama, oder „Wilhelm 
Teil“, der letztlich nur ein Festspiel ho¬ 
hen Stils ist. Aber in unseres Vaters 
Hause sind nun einmal gottlob viele 
Wohnungen. Wir grüßen in den feindli¬ 
chen Brüdern Hauptmann und WUden- 
bruch die Vertreter zweier Seelen- und 
Kunsttypen, die sich schön ergänzen und 
erst gemeinsam die deutsche Welt um¬ 
spannen. Der eine ist uns teuer durch 
seine deutsche Innerlichkeit, die bei ihm 
freilich nur auf engem Raum und in 
einer etwas dicken Luft erblüht, der an¬ 
dere durch seinen Zug ins Weite, auf 
die Höhe, zu deutscher Größe Wir fol¬ 
gen dem einen freudig und dankbar, 
wenn er uns voll tiefer mitleidsvoller 
Liebe in den kleinen Alitagsmenschen 
und Enterbten unsere Brüder keimen 
lehrt, dem anderen, wenn er uns in geho¬ 
benen Feierstunden — um mit Schiller 
zu, reden — „der Menschheit große Ge¬ 
genstände“ begeisternd vor die Seele 




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1440 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1450 


stellt. Aber verlassen sie die ihnen durch 
ihre Natur gesteckten Schranken und 
wollen einer in des anderen Gebiet über¬ 
greifen, so versagen sie; das hat Haupt- 
mann mit seinem »Festspiel“, Wilden- 
bruch mit der „Haubenlerche“ be¬ 
zeugt. 


Die großen Vorzüge und die nicht 
minder großen Schwächen der Wilden- 
bruchschen Dramatik liegen offen am 
Tage, und jede neue Aufführung seiner 
Werke erweist sie aufs neue. „Das 
Grundgefühl seiner Poesie ist“ — so be¬ 
tonte Wilhelm Dilthey am Sarge des 
Freundes —, „daß die Leidenschaft die 
Mutter aller großen Dinge sei.... Der 
Ausdrude wahrer Leidenschaft aber war 
ihm die beständig fortschreitende Akti¬ 
vität. . . . Das war mm das Entschei¬ 
dende: alle Leidenschaften und alle Ak¬ 
tivität finden für ihn den Spielraum ihrer 
Kraft nur in dem Schaffen im Lichte der 
Öffentlichkeit, nur im Aufgehen in die 
großen Objekte,, welche die Seele erwei¬ 
tern und vom Persönlichen erlösen — 
zu allerhöchst aber im Leben für die 
Nation und für den Staat.“ Der Atem 
der Leidenschaft und das mächtige, 
fortreißende Temperament, das Pathos 
des Herzens und das Feuer der Rede, 
das war es, was neben den allgemein - 
dichterischen Gaben der reich sprudeln¬ 
den Phantasie, der lebhaften Einbil- 
dungs-, Erfindungs- und Veranschauli¬ 
chungskraft 'den Dramatiker machte. Sie 
setzten sich künstlerisch um in den kräf¬ 
tigen Puls und Rhythmus der Handlungs¬ 
führung, in das, was er als die große 
Linie so hoch gewertet hat Sie in atem¬ 
losem Ablauf der Geschehnisse klar und 
rein herauszuarbeiten, wüßte er große, 
unübersichtliche Stoffmassen meister¬ 
haft zu innerlichen Zusammenhängen 
von einfacher Gliederung zu verdichten 
und in leben- und farbensprühende Büh¬ 


nenbilder zu fassen, verstand er, mit dem 
Rechte des dramatischen Dichters, in doch 
nicht vergewaltigender Selbstherrlichkeit 
mit der Geschichte zu walten, die Haupt¬ 
sachen herauszuheben, die Nebensachen 
zusammenzuballen oder ganz unter den 
Tisch zu wischen und so vom Berge zu 
Bergen hinüber zu schreiten. Man nehme 
die „Quitzows“ oder die ersten Auf¬ 
züge von „Heinrich und Heinrichs Ge¬ 
schlecht“, um bewundernd zu erkennen, 
wie der Dichter, die triebhafte Sicher¬ 
heit der dramatischen Technik mit schar¬ 
fer Erkenntnis und zielsicherem Wollen 
vereinigend, danach strebt, ein Ganzes 
wirkungsvoll aufzubauen und es span¬ 
nend zu steigern, Höhepunkte eindrucks¬ 
voll zu betonen und in retardierenden 
Auftritten die gewaltig angesammelte 
Flut wieder verebben zu lassen, Kon¬ 
trastszenen zu gestalten, in denen die 
Geister der Zeiten und Richtungen klir¬ 
rend aufeinander prallen, in packenden 
Aktschlüssen große Handlungszusam¬ 
menhänge oder gesättigte Gefühlsge¬ 
halte eindringlich zu symbolisieren und 
schließlich die ganze Wucht ungehemm¬ 
ter Tragik uns erschüttern zu lassen. 

Volles Gelingen ward ihm allerdings 
nur in seinen besten Stunden beschie- 
den, und wie selten bei einem Künstler 
stoßen wir allenthalben auch auf die 
Fehler seiner Tugenden. Oft gibt Wil¬ 
denbruchs leidenschaftlich dahinstür¬ 
mende dramatische Kraft sich zu früh 
aus und reicht infolgedessen zur Bewäl¬ 
tigung der ganzen Masse nicht zu; sie 
erlahmt vor der Zeit und läßt das Werk 
als Ganzes versanden. Vortrefflich fügt 
sich dem Dichter in der Regel die stei¬ 
gende Handlung, und vor allem ist er ein 
Meister der ersten Akte, der Exposition. 
Nicht selten aber — und da sei noch¬ 
mals der „Christoph Marlowe“ als Bei¬ 
spiel genannt — bleibt die fallende 
Handlung schuldig, was der Aufstieg 


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1451 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1452 


versprach, und entscheidet den drama¬ 
tischen Kampf zu ungunsten des Dich¬ 
ters. Oder es fehlt zwischen den einzel¬ 
nen Akten die feste Vernietung, wir ver¬ 
missen notwendige Zwischenglieder und 
Verzahnungen im Getriebe, empfindliche 
Lücken klaffen, und das Drama zerfällt 
schließlich in eine bloße Folge lose an¬ 
einander gereihter lebender Bilder. Zu 
solchen Temperamentfehlern des Dich¬ 
ters gehört ganz besonders auch das 
Überhitzte und Sichüberschreien, das ihn 
die künstlerische Wahrheit verlieren, die 
feine Grenzlinie des ästhetisch Zulässi¬ 
gen überschreiten läßt. Wildenbruch 
mag wie der junge Schiller unter Stamp¬ 
fen und Heulen gedichtet haben und 
hat den Stürmer und Dränger in sich 
niemals ganz überwunden. Als Dra¬ 
matiker, äußerte er einmal, müsse er 
brutal sein. Daher das Grelle, Knal¬ 
lige und Maßlose bei ihm; in seinem 
Orchester sind Pauken, Bässe und Schlag¬ 
zeuge doppelt und dreifach besetzt. 
Fontane nannte, allerdings viel zu sehr 
verallgemeinernd, gelegentlich sein dra¬ 
matisches Talent eine dreimal überheizte 
Lokomotive, die bremsenlos über ein Ge¬ 
leise mit falscher Weichenstellung da¬ 
hinjagt. Entgleisungen sind denn in der 
Tat keineswegs ausgeblieben. Wilden- 
bruch bietet oft Breite statt Tiefe, Laut-, 
heit statt Eindringlichkeit, hohle Wort¬ 
schälle und äußerlich deklamierende 
Rhetorik statt der mitreißenden Sprache 
des ursprünglich quillenden Gefühls. Oft 
überredet er, wo er überzeugen müßte, 
und erzielt nur augenblickliche Wirkun¬ 
gen statt nachhaltiger. Manches dröhnt 
blechern und verklingt am Ende restlos, 
während uns eine feine, leise Musik be¬ 
gleitend im Ohre bleiben sollte. Auch 
in Einzelheiten werden wir, was freilich 
selbst bei Kleist und anderen Größeren 
begegnet, durch ästhetische Geschmack¬ 
losigkeiten verletzt. Wildenbruchs Spra¬ 


che, die einer starken Eigenart erman¬ 
gelt, läßt auch nach dieser Richtung hin 
zu wünschen übrig. Nicht minder leidet 
sein Vers an Härten und Gewaltsamkei¬ 
ten, und der „deutsche Vers", den er sich 
für den „Generalfeldoberst" erfand, 
kann wohl schwerlich als wertvolle Be¬ 
reicherung unserer Metrik angesehen 
werden. 

In anerkennenswerter Weise besitzt 
WiJdenbruch dafür die Schillersche 
Gabe, die Massen auf der Bühne zu be¬ 
leben und zu meistern. Seit „Väter und 
Söhne" hat er mit Glück frische Volks¬ 
szenen geschaffen, die sich durch einen 
gesunden Wirklichkeitssinn und kernig¬ 
drastischen Humor, auch durch derbere 
Komik und eine wirksame Verwendung 
der treffsicheren 'und schlagkräftigen 
Berliner Mundart auszeichnen. Aber in 
weit höherem Maße noch als Schiller 
neigt er auch zu bloßer Theatralik, zu 
äußerlicher Effekthascherei. 

Gleich Schiller möchte auch WiJden¬ 
bruch in seinen historischen Dramen der 
Geschichte ihren innersten Sinn abfragen. 

Der Historiker sucht im Buch der Ge¬ 
schichte die Zeilen, 

Zwischen den Zeilen den Sinn liest und 
erklärt der Poet 

So lautet das Motto der „Karolinger“, 
die übrigens Ranke als eine Karikatur 
der wahren Geschichte bezeichnet hat. 
Aber durchaus nicht immer ist dem Dich¬ 
ter das gelungen. Nur zu oft bleibt er im 
Rohstofflichen, im Gewirr äußerer Tat¬ 
sächlichkeiten stecken und vermag nicht, 
wie Schiller, Geschichtlich-Politisches 
uns auch menschlich nahezubringen. So 
hat der „Fürst von Verona“ etwas von 
der alten hohlen Haupt- und Staatsaktion, 
die „Rabensteinerin" etwas vom alten 
polternden Ritterstück. Der Grund liegt 
in des Dichters verhängnisvollerTheorie 
vom Wesen des Dramas, in der Gering¬ 
schätzung psychologischer Charakteri- 








% -453 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1454* 


sierung. Er begnügt sich, seine Menschen 
mit wenigen Strichen nur umrißmüßig 
zu zeichnen, so daß sie uns nicht inner¬ 
lich glaubhaft und wahrhaft lebendig 
worden. Sie sind immer wiederkeh- 
rende Typen und Schablonenmenschen, 
Schachfiguren, die auf dem Brett der 
Handlung willkürlich hin- und herge¬ 
schoben werden. Und vor allem sind 
es meist schon fertige, abgestempelte 
Charaktere, die er uns vorführt; sie er¬ 
leben nicht vor unseren Augen und 
Ohren im Drama selbst eine Entwick¬ 
lung, der wir anteilvoll folgen. Erst spät 
ist der Dichter da fortgeschritten, so 
in „Heinrich und Heinrichs Geschlecht“; 
die früheren Darsteller Heinrichs IV., er¬ 
läuterte er seiner Frau, hätten es alle 
falsch angefangen, Indem sie ihn aus 
den Ereignissen konstruiert hätten: 
„aber die Ereignisse sind so geworden, 
weil Heinrich so war, wie er war. Das 
muß man schaffen können, dieses Wer¬ 
den Heinrichs!“ Zum Teil wenigstens 
hat er das denn auch erreicht, in vielen 
anderen Fällen bleibt bei Wildenbruch 
die Charakterisierung der Bühnenmen¬ 
schen sprunghaft, dürftig und mithin im¬ 
befriedigend. 

Lücken und Oberflächlichkeiten der 
Motivierung begegnen aber nicht nur in¬ 
nerhalb der einzelnen Charaktere, son¬ 
dern auch an entscheidenden Stellen im 
Gesamtgefüge dbr Dramen. Oft fehlen 
für die dargestellten Ergebnisse die psy¬ 
chologischen Voraussetzungen, oft wer¬ 
den uns unbegreifliche Unwahrschein¬ 
lichkeiten zugemutet. Ich erwähne die 
äußerliche Art, wie im „Harold“ das Bild 
der schönen Adele zu einem Haupthebel 
der ganzen Handlung gemacht wird, und 
die zu des Helden ernster und schwerer 
Natur so gar nicht passende Leichtfer¬ 
tigkeit, mit der er den gleißenden, ab¬ 
sichtlich ungenau Umschriebenen Eid 
schwört, der ihm und seinem Volke zum 


furchtbaren Verhängnis wird. Nicht min¬ 
der unwahrscheinlich ist im „Mennoni- 
ten“ das Verhältnis der Personen zuein¬ 
ander und die Darstellung der Gemein¬ 
deverfassung, in „Väter und Söhne“ die 
einzig die ganze Handlung ermögli¬ 
chende Voraussetzung, daß von dem Ge¬ 
schick des älteren Sohnes zwischen dem 
alten Bergmann und Heinrich während 
zwanzig Jahren nie mit einem Wort die 
Rede gewesen ist, in den „Karolingern“ 
der Umstand, daß der Graf von Barze- 
lona gerade seinen natürlichen Todfeind 
Abdallah zum Vertrauten seiner verbre¬ 
cherischen Anschläge macht Und wie 
Wildenbruch seine Dramen zuweilen 
durch ein Zuwenig an Motivierung 
schädigt, so gefährdet er sie anderseits 
auch wohl durch ein Zuviel, indem er 
eine verwirrende Fülle begründungsun¬ 
kräftiger Nebenmotive häuft anstatt ein 
überzeugendes Hauptmotiv kräftig und 
einheitlich durchzuführen. 

Richtig ist, daß hinter Wildenbruchs 
Dramen nicht wie hinter dem Hebbel - 
sehen und auch den Grillparzerschem, 
eine große und tiefe Weltanschauung 
sichtbar wird, daß sein Weltbild einfach 
und eng, seine Lebensansicht ein wenig 
persönlich gefärbter Idealismus ist. 
Aber dennoch, man darf ihm weder die 
eigene Note noch die überragende allge¬ 
meine Auffassung der Geschehnisse ab¬ 
sprechen. Der Dichter von Heroendrja- 
men war selbst eine heroische Natur, das 
Leben seines Volkes sein eigenes Leben, 
das geschichtliche Heldentum für ihn* 
wie Dilthey richtig aussprach, die höchste 
Form des Lebens, und überall hat er hin¬ 
ter den historischen Tatsachen die deut¬ 
sche Volksseele gesucht und gedeutet. 
Gerade an seinen zumeist angegriffenen 
vaterländischen Dramen darf dieses 
Graben in die Tiefe nicht verkannt wer¬ 
den. Nicht allein um ihrer selbst willen, 
als bloße Einzelwesen, hat er seine deut- 







1455 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zelt 1456 


sehen Fürstengestalten erschaut und er¬ 
schaffen, sondern als Träger und Ver¬ 
treter der Volksseele. In diesem Sinne 
läßt der sterbende Kaiser Heinrich den 
Seinen das segnende Vermächtnis: 
„Heinrich war Deutschland — Deutsch¬ 
land ist Heinrich — Ewigkeit bindet den 
BuntL — Wenn der Frühling rauscht 
über Täler und Höhn, dann springt Kind 
Heinrich im grünenden Wald — wenn 
Rheinlands Beige schwellen vom Wein 
— das ist Heinrichs Seele, die in euch 
glüht/ 1 Und ganz von dieser Auffas¬ 
sung getragen wird des Dichters letztes 
Drama „Der deutsche König“. Anläßlich 
der „Tochter des Erasmus“ hat Karl 
Frenzei ausdrücklich betont: „Die sym¬ 
bolische Kunst, welche die modernen 
Dichter seit dem Ebben der naturalisti¬ 
schen Hochflut plötzlich als neues Lo¬ 
sungswort verkündigen, hat in diesem 
Drama Wildenbruchs einen Triumph ge¬ 
feiert: das ist hier bedeutsames Symbol 
und zugleich volle Menschlichkeit, eine 
Welt der Vorstellungen und Ideen und 
zugleich inneres farbiges Leben und 
tragisches Schicksal.“ Im „Willehalm“ 
freilich werden wir, ähnlich wie in dem 
Goetheschen Festspiel „Des Epimeni- 
des Erwachen“ statt mit tiefer und war¬ 
mer Symbolik nur mit kahler und kalter 
Allegorik abgespeist, aber im ganzen ist 
doch der Vorwurf, Wildenbruchs Dra¬ 
men entbehrten der über die Einzelhand¬ 
lung hinausweisenden Bedeutsamkeit, 
zum mindesten erheblich einzuschränken. 

Und dann: wieviel künstlerisches 
Selbsterlebnis steckt in den auch psycho¬ 
logisch wohlbegründeten Konflikten des 
„Christoph Marlowe“, des „Meister Bal- 
zer“! Wie sehr war der wiederholt in 
den Mittelpunkt gerückte Kampf zwi¬ 
schen den einander fremden Genera¬ 
tionen, die sich nicht verstehen wollen, 
noch können — „Der Mennonit“, „Väter 
und Söhne“, „Heinrich und Heinrichs Ge¬ 


schlecht“ — ein tragisches Ureriebni* 
des Dichters selbst! Und die beiden, 
meist in eine und dieselbe Gestalt ge¬ 
legten und leider nicht immer fest genug 
miteinander verkitteten dramatischer 
Hauptprobleme Wildenbruchs, Männer* 
kämpf und Frauenliebe, wie sehr waren 
sie die überragenden Lebensformen sei¬ 
ner ganzen heißblütigen und leiden- 
schaftdurchpulsten Persönlichkeit! 

Die große Zahl seiner Dramen und die 
erwähnte Oberflächlichkeit der Motivie¬ 
rung in ihnen könnte auf die Vermutung 
führen, der Dichter habe sich seine Ar¬ 
beit zu leicht gemacht. Dem ist nicht sa 
Wir können jetzt studieren, wie oft er 
im einzelnen Fall und besonders in der 
Erstlimgsdramen, in bessernder Absicht 
Fertiges wieder ein- und um geschmol¬ 
zen und sich der ausgleichenden Fair 
bedient hat. Der sehr fleißige und rasche 
Arbeiter warf seine Schöpfungen wohJ 
leicht, aber doch nicht leichtfertig hin. 
Immerhin wäre, wenn wir die Gesamt¬ 
heit seiner Dramen überschauen, weniger 
mehr. Er gibt früh sein Bestes b» i ist 
dann nicht in der Lage, sich immertok« 
zu steigern, das frühere Werk durch ca 
späteres zu überbieten. Nachdem er sau 
eigentliches Feld entdeckt hat erobert 
er kein weiteres mehr, und die Mannis* 
faltigkeit seiner Schöpfungen ist nur 
scheinbar so groß. Die Aufgabe, die er 
sich gestellt hatte, wucJls nicht mit sei¬ 
nem Leben, und sein Leben vertiefte sich 
zu wenig im fortschreitenden Verlauf. 
Seine Dramen sind, von den paar episo¬ 
denhaften Zwischenstücken abgesehen, 
im großen und ganzen immer wieder¬ 
holte Würfe nach dem gleichen Ziel und 
weisen keine kräftige Entwicklung* iinie 
nach oben auf. 

3. 

Das weitverbreitete und bequeme Ein- 
schachtelungsverfahren, das einen Dich- 


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1459 


narry iviaync, nrnsi v. wnaenürucn im L.icnie seiner una unserer ^eit 


1400 


rechtigung, als Romane betitelt: „Eifern¬ 
de Liebe“, „Schwester-Seele“, „Das 
schwarze Holz“ und „Lukrezia“. Die 
Zahl der übrigen, die sich teilweis, wie 
das „Wandernde Licht“ oder die „Semi- 
ramis“, an Umfang dem Roman nähern, 
beträgt achtundzwanzig. Mit gutem 
Grunde wählte Wildenbruch für sie als 
Untertitel häufiger die allgemeine Be¬ 
zeichnung Erzählung oder Geschichte 
als die Bezeichnung Novelle, denn die 
Novelle setzt eine straffere Kunstform 
voraus, als er zu bieten hat. Auch hin¬ 
sichtlich der von der Movelle zu ver¬ 
langenden künstlerisch gepflegten 
Sprachbehandlung läßt er zu wünschen 
übrig, ja seine Prosa ist sogar von Ver¬ 
fehlungen gegen die Formenlehre und 
die Regeln vom Satzbau nicht ganz frei. 
Nach der technisch-formalen Seite kann 
er demnach mit Novellenmeistern wie 
Storm, Heyse, Keller und Meyer nicht 
in Wettbewerb treten; doch ist seine 
Form immer noch geschlossener als 
etwa die Wilhelm Raabes oder Fon¬ 
tanes. 

Seit Wildenbruchs erzählerischen An¬ 
fängen haben sich oft Stimmen erhoben, 
die, im Sinne FredaNöhrings, den Prosa¬ 
epiker dem Bühnendichter entschieden 
überordneten. Lit’zmann schließt sich 
ihnen nicht an, und Richard M. Meyer 
erklärt sogar in seiner „Deutschen Li¬ 
teratur des neunzehnten Jahrhunderts“, 
Wildenbruch sei als Erzähler am 
schwächsten. Ich möchte beides nicht 
unterschreiben. Die Sache scheint mir 
vielmehr so zu liegen: die größere ge¬ 
schichtliche Bedeutung des Dichters ist 
sicherlich im Drama zu suchen, den fei¬ 
neren Künstler aber finden wir doch 
wohl in seinen Erzählungen. Die Zeit 
der unmittelbaren Wirkung des Drama¬ 
tikers ist vielleicht bald ganz vorbei, 
seine historische Mission erfüllt. Aber 
es ist möglich, daß man zu einer Zeit, 


die sein Drama nicht mehr aufführt un: 
noch weniger liest, bei dem Epiker Ein¬ 
kehr halten wird, daß Wildenbruch ge¬ 
rade als solcher seinem Volke noch eine 
vertrautere Gestalt werden kann. 

Eine innere Notwendigkeit für Wil¬ 
denbruch, zugleich auch die epische Ga*, 
tung zu pflegen, finde ich in seiner ea- 
gen und schiefen Ansicht von Weser 
und Aufgabe des Dramas begründe» 
Infolge seiner Überzeugung, daß kr 
Drama die Fabel und die Link 
Hauptsache, der Charakter der Figure: 
Nebensache sei, hat er die in Deutsch 
land geltende dramaturgische Auffas¬ 
sung, die das Theater verachte und nur 
von seelischem Inhalt wissen wolle, die 
Handlung unterschätze und die Zeich¬ 
nung der Charaktere überschätze^ für 
.grundfalsch“ erklärt; sie habe, ohne es 
zu wissen, die Gesetze der Novellist^ 
zum Gesetz des Dramas gemacht; so gv 
wie alle nachgriechischen Dramen, selbst 
die Shakespeareschen nicht ausgenom¬ 
men, seien nur mehr oder weniger*/^ 
logisierte Romane. 

Nun war aber Wildenbruch selbsteutf 
zu ausgeprägte Persönlichkeit, um ate 
Dichter auf die eingehende Darstellung 
menschlicher Charaktere in dem Maße 
zu verzichten, wie seine Dramentheorie 
es von ihm verlangte. So mußte er sich 
naturgemäß auf einem anderen Gebiete 
schadlos zu halten suchen, und das war 
eben die Erzählung. Derselbe Dichter, 
der im Drama vor allem große Gemein¬ 
schaftsgefühle vertrat und verkörperte, 
war doch zugleich der Mann eines tief- 
persönlichen Innenlebens. Er bedurfte, 
um sich auch als solcher auszusprechen, 
der minder objektiven und minder stren¬ 
gen, auf behagKiche Breite der Ausma¬ 
lung angelegten Epik. In ihr konnte er 
sich selbst in Bekenntnis- und Aus¬ 
drucksdichtungen individueller geben 
als dort, und in ihr durfte er auch sei- 





461 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1462 


nem psychologischen Bedürfnis nach 
"Wiedergabe anderer individueller Cha- 
araktere Genüge tun. Er war ja auch nicht 
~fc>loß der Hohenzollernsproß, sondern 
zugleich schlichter deutscher Bürger auf 
bescheidener Lebensstufe, nicht bloß He- 
roiker und Pathetiker, sondern zugleich 
«ln warm empfindender, alles Rein- 
menschliche mit nachfühlendem Sinn und 
liebevollem Herzen umfassender Mensch 
des gewöhnlichen Lebens und der re¬ 
alen Gegenwart, und sah sich daher ge¬ 
nötigt, auch den Forderungen des All¬ 
tags, des Durchschnitts, des Kleinlebens 
als Dichter Rechnung zu tragen. Er wäre 
ja überhaupt kein Dichter, hätte nicht 
die psychologische Analyse und die 
künstlerische Abschilderung der Um¬ 
welt einen Reiz auf ihn ausgeübt. 

Das sind die psychologischen Grund¬ 
lagen der Wildenbruchschen Erzäh¬ 
lungskunst und ihrer Besonderheit. Sie 
erklären es, daß er uns in ihr persön¬ 
licher und menschlicher, wärmer und 
intimer entgegentritt als in seinen Dra¬ 
men. Gab sich der Bühnendichter bür¬ 
gerlich, so verirrte er sich; wo er das 
Gebiet des großen geschichtlichen Dra¬ 
mas verläßt, erscheint er leer und dürf¬ 
tig. In der bürgerlichen Erzählung da¬ 
gegen gelangte er zu künstlerischen Er¬ 
folgen. 

Man sollte nun erwarten, daß auch 
der Epiker vor allem das historische 
oder halbhistorische Feld bebaut habe. 
Der Versepiker seiner Anfänge ist in den 
Heldengedichten „Vionville“ und „Se¬ 
dan“ allerdings von ihm ausgegangen, 
bed dem Prosaerzähler indessen ist das 
selten der Fall, und den vaterländischen 
Ton liater als solcher überhaupt nicht an- 
geschliagen. Geschichtlichen Hintergrund 
weisen der,^Meister vonTanagra“, die bei¬ 
den Märtyrer-Legenden „Claudias Gar- 
ten“und der„Zauberer Cyprianus“und die 
ün deutsch-französischen Kriege spie¬ 


lende „Danaide“ auf, eine vortreffliche 
Erzählung, die Paul Heyse mit Recht in 
die Mustersammlung seines „Deutschen 
Novellenschatzes“ eingereiht hat. In an¬ 
dere Geschichten wie die „Waidfrau“ 
spielt Historisches wenigstens hinein. 
Ferner hat Wildenbruch, offenbar unter 
dem Einfluß von Riehl, Dahn und Ebers, 
manchen seinen Erzählungen, so dem 
„Riechbüchschen“ und dem „Liebes¬ 
trank“, einen kulturhistorischen Ein¬ 
schlag gegeben. Aber in weit überwie¬ 
gendem Maße sind seine Stoffe modern- • 
bürgerlicher Natur. Wollte der Drama¬ 
tiker eine große Vergangenheit wieder¬ 
beleben, so schrieb der Epiker seine Ro¬ 
mane und Novellen aus der Gegenwart 
um in ihnen allgemeinmenschliche und* 
persönliche Probleme abzuhandeln und 
moderne Zeittypen und Richtungen ab- 
zuschildern. 

All das Zarte und Tiefe der Wilden¬ 
bruchschen Natur, das in seinen Dra¬ 
men nur selten durchbricht hat in den 
epischen Prosadichtungen einen Nie¬ 
derschlag gefunden. Hier quillt war¬ 
mes Gefühl und inniges Gemüt, spricht 
eine weiche Seele, der nichts Mensch¬ 
liches fremd ist. Haben wir es in seinen 
laut dahinbrausenden Dramen mit ei¬ 
sernen Rittergestalten zu tun, deren 
menschlicher Kern oft kaum spürbar 
wird, so lernen wir hier vielfach Men¬ 
schen der Stille kennen, deren Leben in 
ihrem Innern verläuft. Ihrer seelischen 
Struktur und ihren psychologischen Ent¬ 
wicklungen feinfühlig nachzugehen, läßt 
sich mit liebevollem Nachempfinden und 
Verstehen derselbe Dichter angelegen 
sein, der in seinen Dramen dafür keinen 
Raum findet. Denn R. M. Meyer hat un¬ 
recht, wenn er auch dem Erzähler Wil¬ 
denbruch vorwirft, er habe nie Zeit 
und sei daher zum Epiker verdorben. 

Im Gegenteil, dem Erzähler kann man 
Hast und Mangel an psychologischer Ein- 






1463 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1464 


dringlichkeit durchaus nicht nachsagen; schuldig bleibt seelische Vertiefung und 
er motiviert sorgfältig, wenn auch ge- individuelle Entwicklungen. Gerade sein 
wiß nicht immer unanfechtbar, bis ins Streben, eigenartige Probleme zu er- 
kleinste, und viele seiner Erzählungen fassen und darzulegen, erhebt seine 
sind im Hinblick auf die gewählten sprachkünstlerisch wenig eigenartige 
Stoffe und Probleme eher zu lang als zu Novellistik über die bloße landläufige 
kurz geraten. Hier haben wir die Seelen- Unterhaltungsliteratur. 
handlung, die dort hinter der Theater- Ähnlich wie Theodor Storni bevorzug! 
handlung zurücksteht; stoßen wir uns der Erzähler Wildenbruch erotische Prc- 
dort oft an einem unnatürlichen und ver- bleme, die den sinnlichen Mann auch 
stiegenen Pathos, so finden wir hier rein menschlich zu allen Zeiten beschäf- 
schlichte und wahrhafte Natur; verletzt tigt und bedrängt haben. Bezeichnend 
uns dort häufig das schrille Sichüber- sind die häufigen Entkleidungsszenea 
schlagen der Stimme, der das Trommel- und die Beschreibungen weiblicher Reize, 
feil erschütternde dröhnende Posaunen- was aber bei ihm nicht weichlicher Lö¬ 
schall, so dürfen wir uns hier des rei- sternheit, sondern starker Männlichkeit 
nen Goldklangs einer feinabgestimmten entspringt und darum nur selten an* 
und künstlerisch behandelten Flöte er- Peinliche und Verletzende streift. Der 
freuen. Versteigt sich der Dramatiker zwischen den Geschlechtern anhängige 
nicht selten in idealistische Unwahr- große Prozeß, um mit Hebbel zu reden, 
scheinljchkeiten, so greift der Erzähler ist sein Hauptthema, und fast stets liegt 
mit frischem Realismus ins volle Men- bei seiner Wiedergabe der Hauptnacb- 
schenleben hinein, läßt impressionistisch druck auf der weiblichen Seite. Unter 
Tatsachen und Zustände der Wirklich- den verschiedenen weiblichen Typen 
keit ruhig auf sich einwirken und ist Wildenbruchs heben sich besonder die 
ernstlich bemüht, sie unverstellt wieder- ganz triebhafte, ungebrochene Frauen¬ 
zugeben. natnr hervor und ihr WiderspieL ä* 

~~~ nach irgendeiner Richtung hin aus ihrer 

Die Vorzüge der Wildenbmchschen Bahn getretene, die emanzipierte und da- 
Erzählungskunst sind nicht gering. Seine mit unnatürlich gewordene, als eine An 
gute Erfindungsgabe gibt ihm eine Fülle männerfeindlicher Amazone oder Wai- 
verschiedenartiger Stoffe an die Hand, küre sich gebärende Frau. In man- 
Er weiß — und da unterstützt ihn der cherlei Spielarten behandelt er das 
Dramatiker — die Handlung wirksam abnorme Überwiegen entweder des Ani- 
anzulegen und aufzubauen, sie in gu- malischen oder des Intellektuellen im 
tem Fluß zu erhalten und belebend ab- Weibe, der Sinnlichkeit oder derUnsinn- 
zutönen. Er liebt es, eindrucksvolle Si- lichkeit, zeigt namentlich gern Ober- 
tuationen oder interessante Konflikte gänge und Wandlungen von dem einen 
scharf herauszuarbeiten und gibt damit Extrem in das andere. Ein von ihm be- 
das, was Paul Heyse im Hinblick auf sonders einläßlich dargestelltes Problem 
Boccaccios neunte Novelle des fünften dieser Art ist das der geschlechtlichen 
Tages den Falken nennt, das prägnante Liebe sich annähernde Gefühl für den 
Thema, das in jedem Beispiel dieser Gat- Bruder, das tragische Möglichkeiten 
tung deutlich sichtbar werden müsse, durchmacht, wenn dieser nach langem 
Vor allem aber bietet, wie gesagt, der innigen Zusammenleben mit der Schwe- 
Erzähler.was der Dramatiker so vielfach ster plötzlich eine Ehe eingeht und jene 



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1467 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1468 


heit des Herzens offenbart deT Dichter 
einen ganz entschiedenen Zug zu stren¬ 
ger Herbheit und erbarmungsloser Tra¬ 
gik, gerade in seinen besten Geschichten 
wie im „Schwarzen Holz“ und in der 
„Danaide“, und gerade wie bei Storm, 
bei dem das Sinnig-Weiche immer mehr 
hinter dem Herben zurücktritt, je mehr 
der Dichter sich als Künstler zur Voll¬ 
endung auswächst. 

An Storm gemahnt Wildeubruch auch 
in einer anderen Beziehung, die gleich¬ 
zeitig technischer Art ist. Wie bei je¬ 
nem ist auch bei ihm ein großer Teil sei¬ 
ner Erzählungen Erinnerungsnovellistik. 
„Wenn der Mensch sich erinnert, dann 
dichtet er", heißt es im „Edlen Blut“. Na¬ 
mentlich Jugenderlebnisse werden aus 
der ungeschwächten Erinnerung hervor¬ 
geholt. Damit hängt der sehr ausgespro¬ 
chene selbstbiographische Charakter 
dieser Erzählungen zusammen, ihr au¬ 
ßerordentlich großer persönlicher Ge¬ 
halt, der sie zum Schlüssel für die Er¬ 
kenntnis der Seele ihres Dichters macht. 
Was wir aus den Dramen nur selten 
herauslesen können, das tiefere persön¬ 
liche Leben ihres Schöpfers, hier wird 
es in befreiender Aussprache und 
Beichte künstlerisch vor uns ausgebrei¬ 
tet. „Ein Blatt vom Lebensbaum“ halt 
Wildenbruch eine dieser Geschichten, 
„Archambauld", im Untertitel genannt 
Sie alle könnten so heißen, und auch 
das C. F. Meyersche Motto „aus allen 
Augenblicken meines Lebens“ paßt auf 
sie. Wenn Marie v. Bunsen Wilden¬ 
bruch aufforderte, seine Selbstbiogra¬ 
phie zu schreiben, pflegte er zu er¬ 
widern: „Nein ( wer sich dafür inter¬ 
essiert, kann alles, was in meinem Leben 
Von Bedeutung war, in meinen Ro¬ 
manen und Erzählungen finden.“ Die 
glücklichen Kinderjahre, die der Di¬ 
plomatensohn in Athen und namentlich 
in Amautköi am Bosporus verlebte, die 


gedrückten Schul- und Kadettenjahre 
und, die Oase in ihrer Wüste, die Ferien¬ 
aufenthalte auf dem Graf Yorckschen 
Familiengute Klein-Öls, ferner die so un¬ 
befriedigende Leutnantszeit, die quä¬ 
lende Dumpfheit der Übergangsjahre; 
die einsame Vorbereitung auf den neuen 
Beruf im stillen Burg, dann vor allem 
und immer wieder die Jahre von Frank¬ 
furt a. O., Wildenbruchs glücklichsteZeit. 
in welcher der dichtende Referendar 
langsam die Puppenhülle abstreift und 
plötzlich als gefeierter Dramatiker da¬ 
steht, die Kriege von 1866 und 1870/71. 
die er als Offizier mitmacht, aber auch 
weiterhin noch Erlebnisse der folgenden 
Berliner Zeit, Reiseeindrücke aus Italien 
— alles das und manches andere noch 
spiegelt sich in den Erzählungen wieder. 
Auffallend wenig das Landschaftliche; 
des Dichters Naturgefühl ist gering. Mit 
Heimatkunst haben alle seine in 
der Mark oder in Thüringen spielenden 
Geschichten nichts gemein; der Nach¬ 
druck liegt immer auf dem Menschli¬ 
chen. So sind auch die Menschen, die 
das Leben ihm gesellt, in ihnen wieder¬ 
zufinden : die über alles geliebte, bedeu¬ 
tende Mutter, die ihm nur allzu früh 
entrissen wurde, und der charaktervoll¬ 
strenge Vater, der für den verträumten 
jungen Sohn in seinen Entwicklungs¬ 
kämpfen trotz treuestem Willen nicht 
immer das nötige Verständnis aufzu¬ 
bringen vermochte. Ferner die Freunde 
und die Frauen, die seinen Weg kreuz¬ 
ten, ja auch ganz flüchtig vor ihm aufge¬ 
tauchte Menschen, die ihn einmal inner¬ 
lich beschäftigt haben, sie alle haben 
Eingang gefunden in seine Erzählungen, 
und zwar zum Teil mit einer Deutlich¬ 
keit der Wiedergabe, die dem Verfasser 
oft heftige Vorwürfe eingetragen und 
ihn Wiederholt zu interessanten Ausfüh¬ 
rungen über das Recht des Poeten an 
seine menschliche Umwelt veranlaßt hat. 


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1471 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1472 


im „Bertram Vogetwaid“ verleiten las¬ 
sen — nicht mit überlegenem Humor, 
sondern mit erbittertem Haß. Diese Er¬ 
zählungen sind in ihrer Tendenz den, 
.nachromantischen Novellen Tiecks zu 
vergleichen, in denen die jungdeutsche 
„Moderne" gleich scharf abgekanzelt 
wird. Wo aber der satirische Einschlag 
fehh, sind auch diese Berliner Erzäh¬ 
lungen reizvoll, z. B. die Hinterhausge¬ 
schichte „Das Wunder" oder die „Heilige 
Frau“, die Geschichte eines „Verhält¬ 
nisses“, etwa Fontanes *Stine“ an die 
Seite zu stellen. Den Titel dankt diese 
Erzählung der Rauchs chen Königin 
Luise im Charlottenburger Mausoleum; 
auch im „Meister von Tanagra", im 
„Riechbüchschen", in der „Franzeska 
von Rimini", im „Neid“ knüpft der 
Dichter so an Werke der bildenden 
Kunst an. 

Neben den Hauptvorzügen haben wir 
auch die Hauptmängel der Wildenbruch- 
sehen Novellistik bereits hervorgehoben 
und erkannt, daß sie denen des Drama¬ 
tikers im allgemeinen entsprechen. Wir 
finden bei vielem Großartigen und Er¬ 
greifenden auch farblose Schablone und 
Konvention, Theatralik und Verirrung. 
Wie der Dichter spät noch selbst gegen 
regelrechten Kitsch nicht gefeit ist, 
zeigt z. B. sein letzter Roman „Lukre- 
zia“, der an Süßlichkeit in der Schilderung 
von weiblichen Reizen kaum hinter Clau- 
ren und Hauffs „Mann im Monde“ zu¬ 
rückbleibt. Wildenbruch ist oft vortreff¬ 
lich im Zuge, da überkommt ihn mit ei¬ 
nem Male der Dämon unkünstlerischen 
Auftragens und Verzerren s. Das gilt so¬ 
wohl von der Führung der Handlung 
und ihrer Begründung wie von der 
sprachlichen Darstellung. Wir stoßen 
also auch bei dem Erzähler auf die 
Schattenseiten seines starken Tempera¬ 
ments. Gleich Liliencron dankt auch 
Wildenbruch die Hauptwirkungen die¬ 


sem Temperament, und wie jener ver¬ 
sagt er leicht, wenn er sich in geistrei¬ 
chen Betrachtungen versucht Das tut 
er aber, zumal an seinen größeren Er¬ 
zählungen, nur zu oft. Diese eingestreu¬ 
ten Reflexionen sind manchmal nicht nur 
bei den Haaren herbeigezogen, um die 
Erzählung vermeintlich zu vertiefen und 
ihre innere Bedeutsamkeit zu erhöhen, 
sondern sie sind auch noch ihrem Gehalt 
nach nicht selten flach, und das fällt 
bei ihrer übermäßigen Breite doppelt 
störend auf. 

Was endlich noch den Lyriker Wtl- 
denbruch anbetrifft, so hat er sich zwar 
auch auf diesem Boden vielfach betä¬ 
tigt indessen der Geschichte der deut¬ 
schen Lyrik keinen neuen großen Namen 
zugeführt. Sein subjektives Fühlen und 
seine stillen Stimmungen hat er weniger 
in Gedichten als in den Erzählungen 
niedergelegt. An seinen zahlreichen und 
vielfach zu umfangreichen Balladen mit 
ihrem Trieb zum Theatralisch-Lauten, zu 
großen Gesten und krassen Effekten hat 
der Dramatiker erheblichen Anteil; das 
beweist unter anderem das durch Schil¬ 
lings Begleitmusik so bekannt gewor¬ 
dene „Hexenlied". Außer der Ballade 
pflegt der an naiver Ursprünglichkeit 
nicht reiche, mehr zu Reflexion und Rhe¬ 
torik neigende sentimentalische Lyriker, 
ähnlich wie Theodor Fontane, mit Glück 
das festliche Gelegenheitsgedicht hohen 
Stils. Bei bedeutungsvollen vaterländi¬ 
schen Anlässen, beim Hinscheiden gro¬ 
ßer Persönlichkeiten wie Richard Wag¬ 
ner hat er feurig und befeuernd in die 
Leier des Barden gegriffen. Wie im 
Drama steht er auch hier am höchsten 
wenn er, wie in seinen Gedichten auf 
den Burenkrieg, im Namen seiner großen 
Volksgemeinschaft reden kann. Einmal 
ist es ihm und Fontane gelungen, mit 
dem Ausdruck persönlichen Fühlen» zu- 


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147-6 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiuer und ünserer Zeit 


Fall noch weit verwickelter. Vielleicht 
ist es auch die ungewöhnliche fürstlich- 
bürgerliche Blutmischung, die so manche 
Unausgeglichenheit in seiner Wesensart 
erklärt, so manche künstlerische Stfl- 
losigkeit bei ihm mitbedingt. Denn es ist 
gewiß kein kleines Mißverhältnis: durch 
das Blut zu den bewunderteil Herrschern 
seines mächtigen Vaterlandes zu gehö¬ 
ren und im äußeren Leben ein unbeach¬ 
teter, bescheidener Hilfsarbeiter in einer 
Behörde zu sein. Er war gleichzeitig ein 
Edelmann mit dem Zug zum Heroentum 
und ein einfacher Bürger mit jener Por¬ 
tion von Philistrosität, die nach WiL 
heim Raabe nun einmal zum deutschen 
Dichter gehört. Bei Theodor Fontane er¬ 
scheinen die vornehme, zum Aristokra- 
tentum hingezogene Natur und der 
Bourgeois viel glücklicher gemischt. 
Von dem „Sinn für Feierlichkeit**, den 
Fontane sich abspricht, besaß Wilden- 
brudh eine wohl zu reichliche Gabe, und 
der schlicht natürliche Durchschnitts¬ 
mensch findet sich ja im allgemeinen 
leichter auf den Höhen des Lebens zu¬ 
recht als der Pathetiker — auch da sei 
auf Klöpstock hingewiesen — im Alltäg¬ 
lichen. Solche Ursachen mögen mit zur 
Erklärung der inneren Unsicherheit und 
der Kritiklosigkeit sich selbst gegenüber 
dienen, die wir bei Wildenbruch zuwei¬ 
len antreffen. So ist er ein Mensch mit 
seinem Widerspruch, aber gerade darum 
auch menschlich fesselnd. Vor allem 
aber, und da gibt es bei ihm keinen Wank 
und Schatten, ist er eine männliche, 
durch und durch lautere, im schönsten 
und allgemeinsten Sinne adlige Natur, 
ein Ritter ohne Furcht und Tadel. Als 
Dichter beseelte ihn die höchste Auffas¬ 
sung von seinem Beruf und Amt, in dem 
er kein Spiel, sondern ein Werk erblickte. 
In rastlosem Eifer, mit glühender Seele 
hat er gerungen um den Schleier der 
Dichtung, solange es Tag, und erreicht, 


was ihm zti erreichen beschleden war. 
Darum hat er vollen Anspiuch äuf sei¬ 
nes ganzen Volkes und jedes elMfclneh 
Deutschen tiefen Dank und aufrichtige 
Ehrerbietung. 

Tn der Geschichte unserer Natiö'nk!- 
literatur nimmt er einen festen Platz ein 
Wenn mau dereinst, wie man eine Dich 
tungsepoche des achtzehnten Jahrhun¬ 
derts nach Friedrich dem Großen be 
zeichnet hat, eine sölche des neunzehn¬ 
ten nach Bismarck benennt, so Wird zii 
ihren ausgeprägtesten Vertretern nicht 
etwa der viel größere Künstler Gerhart 
Hauptmann gezählt werden, sondern ne¬ 
ben Detlev von Lilieucron Ernst von 
Wildenbruch. Diese beiden sind, obwohl 
sie erst Jahre nachher hervortraten, die 
eigentlichen Dichters des Krieges und 
Sieges von 1870/71, nicht etwa die 
übergehend noch einmal in die Saßs 
greifenden, einem älteren Geschlechts 
gehörenden Geibel und FreiligrathöüVr 
gar der Volkspoet des Kutschke-Wf- 
Und sie sind es nicht allein 
einmal in erster Linie durch dieÄ’ 
tantenritte“ und die Heldengesfc? 
„Vionville“ und „Sedan“; in ihrem gan¬ 
zen Schaffen vielmehr sind sie diebfr^ 
fenen Vertreter der Generation, & 
durch diese großen Geschehnisse ent¬ 
scheidend beeinflußt worden ist. WB* j 
denbruch wurde nach Diltheys Wort i 
„der Dichter dieses tatenfrohen, kriege¬ 
rischen Geschlechts, wie Treitschke sein 
Geschichtsschreiber**. 

Hat der früher gestorbene Lilienchxi 
schon vor Jahren in den Herzen derbrei* 
teren Maße, vor allem der Jugend, Bo¬ 
den gefunden, so hat WiLdenbructe 
Stunde erst in dem jetzigen Weltkriege 
geschlagen, den er mit schwerster vater¬ 
ländischer Sorge längst vorausgesehe. 
mit ungehörten Kassandrarufen angr 
kündigt hat. Und nicht nur für seinen 
genen Ruhm ist er, über den so viel* 


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Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


1478 


chon zur Tagesordnung übergegangen 
varen, in einer großen und würdigen 
Vusgabe seiner Werke 1 ) zur rechten 
Stunde wieder auferstanden, sondern 
or allem auch für sein Volk, das Man¬ 
ier wie ihn niemals nötiger gehabt hat 
ils eben jetzt in den Schicksalsjahren, 
La es heißt: alles oder nichts. Es lernt 
der von neuem seinen getreuen Eckart 
tennen und kann das Unrecht das es 
:u seinen Lebzeiten an ihm begangen 
lat, einigermaßen wieder gutmaöhen. 

Deutschland steht in einer Zeit der 
sleubesinnung. Das idealistische Land 
ler Dichter und Denker hat endlich auch 
‘in politisch-praktisches Weltgefühl in 
eine Lebensanschauung aufgenommen, 
is hat Geschichte und Gegenwart Ro- 

1) Diese Ausgabe, seit 1911 im Erschei- 
len begriffen, wird von der G. Groteschen 
/erlagsbuchhandlung in Berlin verlegt und 
iron Berthold Litzmann herausgegeben. Ihr 
und der von dem gleichen Verfasser stam¬ 
menden inhaltreichen, aber von Über¬ 
schätzung nicht freien Wildenbruch-Biogra- 
shie desselben Verlages (2 Bände, 1913 und 
1916) ist auch die vorliegende Studie ver¬ 
pflichtet. 


mantik und Realismus, Geistesfreiheit 
und Staatszucht, cs hat den unverlier¬ 
baren Geist Goethes und Kants mit dem 
Geiste Bismarcks zu einer neuen höheren 
Einheit organisch verschmolzen. Preu¬ 
ßen geht fortan, noch mehr als bisher, 
in Deutschland auf. Das heißt, Potsdam 
und Weimar sind nicht mehr Gegensätze, 
sondern die schönste und notwendigste 
Ergänzung. Symbolisch tritt sie uns in 
Wildenbruch vor Augen. Der feurigste 
vaterländische Dichter im Zeitalter der 
beiden Wilhelm, war, obwohl durch 
eine Ironie der Weltgeschichte in Syrien 
geboren, Preuße bis in die Knochen. 
In Potsdam hat er als Gardeleutnant 
Dienst getan und in der Reichshaupt- 
stadt den Großteil seines Lebens ver¬ 
bracht. Aber er hat zugleich im klas¬ 
sischen Weimar sich früh eine zweite 
Heimat und später auch ein eigenes 
Haus „Ithaka“ begründet, und in der¬ 
selben geweihten Erde, die Goethes und 
Schillers Asche birgt, hat dieses „edlen 
Dulders“ müder Leib die letzte Ruhe¬ 
statt gefunden. 


Shaftesbury und wir. 

Von Eduard Spranger. 


Von dem philosophischen Eros des 
Plato über das religiös-ästhetische 
Schauen des Plotin und die Ekstase des 
Augustinus bis zur mittelalterlichen My¬ 
stik, von der Mystik bis zu dem heroi¬ 
schen Affekt des Giordano Bruno und 
dem Enthusiasmus Shaftesburys herrscht 
eine verborgene Kontinuität. Die Linie 
beginnt in der heiteren griechischen 
Sinnlichkeit und steigt hinauf in die 
übersinnlichen Höhen einer gestaltlosen 
Verschmelzung mit Gott; darauf senkt 
sie sich von neuem zur Erde und endet 
in einem verjüngten Schönheitskult, in 


| dem die religiöse Verzückung der vor¬ 
angegangenen Ekstase noch nachzittert. 
So geben die weltumspannenden Sym- 
| bole Piatos der wechselnden Sehnsucht 
| der Menschheit immer wieder die Form, 
| in der sie sich den Gehalt einer meta¬ 
physischen Lebensglut vergegenständ¬ 
licht. Auch der deutsche Idealismus von 
Leibniz bis Hegel ist tief von neuplato¬ 
nischen Anschauungen durchzogen. Die 
Forscher der letzten Jahrzehnte, beson¬ 
ders Dilthey und Walzel, haben auf den 
Grafen Shaftesbury als den lebendig¬ 
sten Quell dieses feuertrunkenen Em- 

47* 





1479 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


14& 


thusiasmus wieder und wieder hingewie¬ 
sen. Ein abschließendes Werk aber, das 
den Ethiker und Ästhetiker, den Neuhu¬ 
manisten und Apostel der Sympathie, 
den Staatsmann und den Gelehrten schil¬ 
derte, hat uns bisher gefehlt. 

Mitten in der blutigen Auseinander¬ 
setzung zwischen dem englischen und 
dem deutschen Volke schenkt uns nun 
Christian Friedrich Weiser ein 
Buch über den Grafen Shaftesbury, das 
in jeder Hinsicht mehr ist, als wir er¬ 
hofften. 1 ) Denn es macht sich — ob¬ 
wohl der geplante zweite Teil noch fehlt 
— schon in dem vollendeten Bande eine 
Auseinandersetzung zwischen dem deut¬ 
schen Geistesleben und der Philosophie 
Shaftesburys, ja dem englischen Geist 
überhaupt zur Aufgabe. Das Bild des 
liebenswürdigen und feinen Denkers ge¬ 
rät dabei, wie wir sogleich sagen wol¬ 
len, in allen Teilen überlebensgroß, und 
zwar aus doppeltem Grunde. In dem 
gestaltenden Geiste, der es auffängt, 
sind schon alle die Entwicklungen und 
Vertiefungen gegenwärtig, die die zar¬ 
ten Keime der Philosophie des Englän¬ 
ders unter deutscher Pflege erfuhren; 
so finden wir gelegentlich in das Quell¬ 
gebiet zurückverlegt, was erst beiSchel- 
ling und Hegel (196). bei W. v. Hum¬ 
boldt (193 ff.), bei Fichte (296), Schleier¬ 
macher (521) und Schopenhauer (192) 
sich zur sichtbaren Stromlinie heraus¬ 
rang. Zugleich aber hat hier ein Mann 
das ganze Resultat jahrelangen einsa¬ 
men Denkens, eine ganze Lebensweis¬ 
heit an einem historischen Gegenstän¬ 
de aufleuchten lassen. Es sind nicht 
strenge Begriffsanalysen, die ihn in er- 


1) Shaftesbury und das deutsche Geistes¬ 
leben. Leipzig-Berlin 1916, B. G. Teubner. 
564 S. 8°. Um das Auffinden der Stellen, 
auf die ich mich beziehe, in dem umfang¬ 
reichen Werke zu erleichtern, füge ich im 
Text die wichtigsten Seitenzahlen ein. 


ster Linie interessieren, obwohl er 
von ihnen, zumal in der ersten Hälh; 
bedeutende Proben ablegt. Was er skl 
zur Aufgabe setzt und weis nicht, sprkft 
er irgendwo im Vorübergehen mit Wes¬ 
ten aus, die festgehalten zu werdenve: 
dienen: „Eigenartigberührt es, wenn 
Dialektiker ohne jede Lebenstiefe mü 
den Begriffen eines großen System 
zu denen ein gewaltiger Geist sid 
aus der untersten, aus der einsa¬ 
men Tiefe seiner Seele zu der Ober¬ 
fläche der Gemeinsamkeit emporgerur 
gen, spielen sieht wie mit den Figu^ 
eines Schachbretts, ohne eine Ahnu^ 
zu haben, welche Gewichte an diesen Fi¬ 
guren, diesen Begriffen hängen, wievej 
eigenen Erlebens es bedarf, um ihm 
Sinn, ihre Wahrheit zu spuren.“ (91.) 

Eine Auseinandersetzung mit ein?: 
solchen Buch kann daher kein Rer 
ten über Einzelheiten sein, sondern ne 
eine Begegnung zwischen M easdi twe 
Mensch, und es versteht sich, daß mje¬ 
dem Nein, zu dem es dabei fo/nrat ein 
Unterton von Ehrfurcht mitktoagt 

Zwei Hauptprobleme greifen «über¬ 
aus, um die sich alles übrige gruppier, 
die Idee der inneren Form als wehge 
stabendes Prinzip und ihre Übertragt 
auf die Politik Wenn jene erste, wie 
sich zeigen wird, aus spezifisch ästheti¬ 
schem Geist geboren ist, so wird dam: 
zugleich ein Streiflicht auf eine ästhr 
tisch verinnerlichte Staatsauffassung fal 
len, die für den deutschen Geist bezeiöi 
nend ist. Denn in die Tiefen des deu 
sehen Geistes möchte uns der Verfasse 
durch sein Buch über den Engländers, 
letzt zurückführen. 

I. 

„Das Erlebnis der Metaphysik Plofc 
war für Shaftesbury das fruchtbare ge 
stige Ereignis.“ (406.) Hatte sidi PI 2 
to durch den Eros von der durchschim 
mernden Schönheit der Erscheinung* 



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1483 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


1444 


höher steht jenes Prinzip, das auch le¬ 
bende Formen, Organismen erzeugt, und 
in dessen wesenhaftes Wollen die Eitn- 
zelseele sich einstellt: „the Divine Ar- 
tificer, the Sovereign Artist or universal 
Plastic Nature“. (248.) Die innere See- 
lenform und die Weltform sind in der 
Wurzel identisch. So erklärt es sich, daß 
Weiser den «weltfreudigen, naturbegei¬ 
sterten Shaftesbury als Mystiker, als 
Philosophen der Innerlichkeit bezeich¬ 
nen und doch zugleich behaupten kann, 
sein Denken habe einen ausgesprochen 
kosmischen Charakter. Seine Mystik ist 
eben weltbejahend, und seine Persönlich¬ 
keitslehre ruht auf stark metaphysi¬ 
schem Grunde. In wiederholten Ansät¬ 
zen hat sein Interpret ausgeführt, wie 
sich der Universalismus der Stoa und 
die Gefühlsmystik des Neuplatonismus 
in seinem Geiste eigentümlich verfloch¬ 
ten haben (besonders 388 ff.). 

Daher ist nun auch der Lebensaffekt, 
der aus den vollen Tiefen der Seele 
kommt, ein metaphysisches Grundge¬ 
fühl. Was für Plaito der Eros, für die 
Mystiker die Ekstase war, das ist für 
Shaftesbury der Enthusiasmus: „die 
aus der Totalität der Seele geborene und 
auf Totalität gerichtete innere Erhe¬ 
bung“. (129, 334.) Dieser Pantheismus 
erfährt im Gefühl gleichsam den Mittel¬ 
punkt der Welt, wenn auch für ihn Gott 
als der Umfasser immer ein „mystisches 
Plus“ behält. (533.) — 

Weiser brauchte uns nicht zu ver¬ 
sichern, daß für Shaftesbury das Wert¬ 
problem über dem Erkenntnisproblem 
stand. (61,103.) Denn ohne Zweifel ist 
es die einheitgebende Kraft des Gefühls, 
die diese Intuitionen ztisarnmenhält, nicht 
die unterscheidende und gleichsetzende 
Kritik. Der Philosoph atmet in der Har¬ 
monie der Welten, er strahlt seine innere 
Harmonie aus in das Chaos ringsum — 
dieser wahrhaft formgebende Geistes¬ 


prozeß beherrscht das Denken Shaltes 
burys. Ja, noch mehr: Weiser hätte be- 
seiner Neigung, spätere Standpunkte im 
unentwickelten Stadium zu ahnen, ge 
radezu von einem Primat der äs the 
tischen Vernunft bei seinem Pbik 
sophen reden können. Denn in Wahrbe' 
ist es das ästhetische Motiv, das all*: 
übrigen Lebensorgane in seinen Banr 
zwingt. In ihm ruhen ungeschieden alle 
Funktionen, die wir sonst am Geiste zu 
unterscheiden pflegen. Der Sinn für 
Wahrheit wird zum Bück für das Ty¬ 
pische, in dem Besonderes und Allge¬ 
meines sich durchdringen; und wie Im 
Kunstwerk das Typische herrscht, sobe 
deutet es auch die Wahrheit in der Struk 
tur des Universums — also eine ästheti 
sehe Wahrheit. (264 ff.) Der Sinn für 
das Gute fällt für Shaftesbury zusam 
men mit dem ästhetischen Geschmad 
der Tugendhafte ist der Virtuose, de 
Lebenskünstler, wie es schon Gradar 
angedeutet hatte und (so fügen wir trotz 
S. 321 hinzu) bei Cicero vorgebihtet tft 
Die Persönlichkeit ist ein asfhetisches 
Phänomen (260, 274*). Wie diesfcuävtf- 
sal-ästhetische Auffassung auf das po\\- 
t i s che Gebiet übertragen wurde, werden 
wir im zweiten Teil noch eingehend te 
leuchten. Endlich rückt auch das R e I i g i • 
öse unter den Gesichtspunkt desÄsthe 
tischen, wenn Gott als der ursprünglich 
Künstler begriffen wird, während derir 
dische Künstler nur ein Prometheus ist 
der das belebende Feuer (nämlich die 
Formkraft) von Zeus geraubt hat 
Vgl. die geistvollen Untersuchungen vor 
Walzel über das Prometheussymbol 
von Shaftesbury zu Goethe.) Umgekehr 
aber breitet sich auch über das Ästheti 
sehe als das Höchste im Leben unver 
meidlich ein religiöses Licht. Der groß* 
Künstler ist der große Mensch; die 
ästhetischeStimmung steigert sich zur he 
roisdhem (336); die Ästhetik wird, wie 




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1487 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


Form als Prototyp aller Geistesformen 
überhaupt anzusehen. Ein Beispiel hier¬ 
für ist die Art, wie er die Politik seines 
Helden versteht und auf unsere Tage 
anwendet. 2 ) 

II. 

Über die Grenzen seiner wissenschaft¬ 
lich-historischen Aufgabe hinaus möch¬ 
te Weiser den Nachweis führen, daß in 
Shaftesburys Philosophie der germani¬ 
sche, ja der deutsche Geist seinen reinen 
Ausdruck gefunden habe. Innerlichkeit, 
Erleben und Schaffen aus dem Zentrum 
der Seele heraus, statt Abhängigkeit von 
Welt und Schicksal — das ist nach ihm 
der Grundzug des deutschen Typus. Im 
Innern ist ein Universum auch, und zwar 
das All der Werte, die aus dem schöpfe¬ 
rischen Tun der Persönlichkeit stammen. 
„Unaufhaltbar ist der germanische Drang 
zur absoluten Autonomie des geistigen 
und sittlichen Lebens.“ Die Idee der 
Freiheit ist allein bei den Deutschen zu 
dem gestaltenden Prinzip einer nationa¬ 
len Kultur geworden. (516.) 

Und noch mehr: Der Beruf zur gei¬ 
stigen Weltvollendung ist mit diesem 
Prinzip dem deutschen Geiste anver¬ 
traut. Er soll seinen inneren Typus zur 
Kraft des Ideals gestalten. (2.) Denn der 
Fortschritt aller Kultur besteht nach 
Weisers Überzeugung darin, daß die Äu¬ 
ßere Obmacht der drei großen Objektivi¬ 
täten Natur, Staat und Kirche ge¬ 
brochen und in ein inneres Verhältnis 

2) Auch Ernst Cassirer geht in seinem 
hochbedeutenden Werk »Freiheit und Form 
in der deutschen Geistesgeschichte“, be¬ 
sonders in dem Abschnitt Ober Goethe, 
mehr auf die einheitliche Wurzel aller 
erzeugenden Geistesgesetze zurfick als auf 
die allihählich zum Bewußtsein kommende 
Eigenart jedes einzelnen und die besonde¬ 
ren Verflechtungen, die sich in jeder Gei¬ 
stesepoche neu bilden. Nur gibt er zugleich 
(s. S. 337) entscheidende kritische Gründi 
für diese letzte Einheit, die für den Neu¬ 
platonismus Intuition bleibt. 


der Freiheit umgewandelt werde. Die 
zunehmende Selbsttätigkeit, die steigen¬ 
de Verselbständigung der einzelnen ist 
das Merkzeichen des Kulturfortschrittes. 
(314 387, 397.) Das System der abso¬ 
luten Kirche hat die Reformation gebro¬ 
chen, vor allem der humanistisch beein¬ 
flußte Kalvinismus imGegensatzzu dem 
konservativ-unterwürfigen Luthertum. 
Das System der Natur hat schon Baco 
mit dem wissenschaftlichen Prinzip des 
„naturam vincere“ seiner objektiven 
Übermacht entkleidet: Shaftesbury setzt 
in seinem Gefühlspantheismus dieses 
Werk fort, insofern er die Natur gleich¬ 
sam in das Gemüt hineinzieht und ihre 
wesenhafte Verwandtschaft mit der See¬ 
le ahnt. Aber auch zum Überwinder des 
Absolutismus im Staate möchte Weiser 
seinen Helden stempeln, den Enkel des 
Lordkanzlers Shaftesbury, der mit der 
Habeasoorpusakte 1679 der Idee der 
Freiheit zum ersten Durchbruch verhall, 
den Schüler des Philosophen Lotte der 
die politische Theorie des Konstitutio- 
nalismus schuf. So weit die sasualisti- 
sehe Theorie dieses Mannes vondetU - 
bensstimmung seines Schülers entfernt 
ist, so scharf sich das Immanenzgeidbl 
Shaftesburys gegenüber Lockes tran¬ 
szendenten Hoffnungen gerade in du" 
Lebenstestament des Grafen (305) aus¬ 
spricht: im Politischen gingen sie ver¬ 
wandte Wege: den Weg der Freiheit 
und der neuen Zeit. Ja, Weiser schätzt 
die politischen Interessen des feinsinni¬ 
gen Ästhetikers, dem seine schwache Ge¬ 
sundheit eine aktiv politische Laufbahr 
versagte, so hoch ein, daß er ihn ge¬ 
radezu als den „Theoretiker des 
Kulturstaates" bezeichnet. (493.) 

Diese” werdende Liberalismus hatzur 
Gegensatz den Absolutismus Ludwig 
XIV. Und die Spannung zwischen bei¬ 
den ist nach Ansicht des Verfassers m 
der Abglanz eines tieferen Gegensatz 




1489 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


1490 


zwischen zwei geistigen Weltprinzipien: 
dem Germanismus und Romanismus. An 
diesem Punkte verliert man die sichere 
Unterscheidung zwischen dem, was Shaf¬ 
tesbury als Engländer und liberaler Po¬ 
litiker erstrebte, und was seinen Biogra¬ 
phen als Ideal bewegt. Autor und Held 
führen gleichsam einen gemeinsamen 
Kampf gegen den Absolutismus und sei¬ 
nen klassischen Vertreter: Ludwig XIV., 
der zugleich das Symbol für das Prinzip 
des Romanismus abzugeben hat. 

Nach dieser Auffassung hat die Re¬ 
formation das Mittelalter nicht völlig 
überwunden, sondern der mittelalterli¬ 
che Geist ist noch einmal im Zeitalter 
Ludwigs XIV. zu furchtbarer Herrschaft 
erwacht, insofern die Heteronomie über 
die Autonomie, der regimentale römi¬ 
sche Gedanke über das deutsche Ideal 
der Freiheit siegte. (27.) „Ein größerer 
Kämpe des Romanismus, ein konsequen¬ 
terer Vorkämpfer für eine mechanisti¬ 
sche Weltanschauung, in der Absolutis¬ 
mus, Zentralisation, Uniformität und He¬ 
teronomie identische oder sich bedingen¬ 
de Begriffe sind, ist nicht wieder auf- 
gestanden.“ (30.) Ihm gegenüber erhebt 
sich in Shaftesbury, der die von Frank¬ 
reich für ganz Europa drohende Gefahr 
erkannte, das germanische Prinzip der 
Aktivität und die neue Weltanschauung 
des deutschen Individualismus. 

Freilich, zwei Einschränkungen muß 
sich hier Weiser selbst machen. Auch 
in England hat der Absolutismus einen 
schroffen Theoretiker gefunden, in dem 
Philosophen Hobbes, der wie kein an¬ 
derer die Idee des souveränen Staates, 
des „Leviathan“, über alle kirchliche und 
weltliche Fronde erhob. Und auch in 
England hat die frühe Entfaltung freier 
Staatsformen nach innen die Entstehung 
einer rücksichtslosen, im bürgerlichen 
Sinne unmoralischen Weltpolitik nach 
außen nicht verhindert; Die Folgerungen 


für das System unsres Autors ergeben 
sich von selbst: Hobbes muß mit seiner 
ganzen Weltanschauung als Vertreter 
des Romanismus gelten, nicht nur, weiter 
die Lehren des Machiavelli übertreibt, 
sondern auch, weil er einen seelenfrem¬ 
den Sensualismus und Materialismus 
predigt. England aber, das seit den Ta¬ 
gen Cromwells die Idee der britischen 
Expansion mit einem religiös fundierten, 
rücksichtslosen Machtwillen betreibt, ist 
insofern vom echten deutschen Geiste 
abgefallen. Es ist auf immer für die Ent¬ 
faltung des tieferen deutschen Geistes 
verloren gegangen. „Und so sehen wir 
in der Tat durch das englische Volk jene 
freiheitlichen politischen Institutio¬ 
nen ausgebildet, die der ganzen 
Welt zum Muster dienten, und 
zugleich bewahrte und bewähr¬ 
te der englische Staat seinen Charakter 
des ,Leviathan' durch eine Politik, die 
gegenüber andern Staaten und Völkern 
den Staatsvorteil prinzipiell und absolut 
über alle sittlichen Erwägungen stellt, 
und zwar nicht allein in Fragen natio¬ 
naler Sicherheit, sondern vor allem zum 
Zwecke der Weltausbeutung.“ (444.) 
Shaftesbury selbst hat diesen Abfall der 
englischen Nation von ihren höchsten 
Idealen am Ende seines Lebens schmerz¬ 
voll empfunden. Und Weiser zieht hier¬ 
aus die Folgerung, daß Shaftesbury dem 
englischen Volke nur seiner Geburt, nicht 
aber seinem geistigen Typus nach ange¬ 
hörte. (48.) Hieraus entnimmt er den 
Anlaß, den Denker, der allerdings 
in England, hauptsächlich wegen sei¬ 
ner Freigeisterei, niemals eine hohe 
Schätzung genossen hat, ganz für das 
deutsche Geistesleben zurtickzufordem. 
Der Satz: „Right or wrong, my country“ 
zerbricht die Brücken. Einer Politik des 
Imperialismus, die für ihn gleichbedeu¬ 
tend mit Immoralismus war, hätte Shaf¬ 
tesbury niemals zugestimmt. Er unter- 







1191 


Eduard Spranger, Shäftesbury und wU 


1492 


schätzte den Staat als Hort der Innenkul¬ 
tur nicht. Aber aus seinem Ideal der 
Freiheit konnte niemals der Anspruch 
auf Weltherrschaft folgen. Er war Welt¬ 
bürger im Staate; seine Vaterlandsliebe 
war ins Religiöse erhöht. (490.) Zu¬ 
gleich ruhte sie auf den Traditionen des 
kalvinistisch gefärbten Humanismus, für 
den das Ideal der europäischen Freiheit 
und Kultur zu einer weltgestaltenden 
Kraft wurde. — 

Wir verkennen das Richtige in die¬ 
sen Gedanken nicht. Es ist ein Verdienst 
unsres Buches, daß es zum ersten Male 
den Politiker Shaftesbury hervortreten 
läßt. Aber das alles ist doch in Konstruk¬ 
tionen hineingezogen, die vor unbefan¬ 
gener geschichtlicher Prüfung nicht 
standhalten. Sie sind nicht aus der Stim¬ 
mung des Krieges geboren — denn das 
Buch ist mehrere Jahre vor dem Kriege 
geschrieben —; aber sie haben ein poli¬ 
tisches Gegenwartsbekenntnis zur Vor¬ 
aussetzung. Und will man diesen Stand¬ 
punkt für eine wissenschaftlich-histori¬ 
sche Untersuchung überhaupt gelten las¬ 
sen, $o scheinen mir die Linien zur Ge¬ 
genwart nicht richtig gezogen. Denn die 
große Frage, worin der Unterschied zwi¬ 
schen deutscher und englischer Freiheit 
besteht, wird hier von Gesichtspunkten 
aus beantwortet, die unsres Erachtens 
nicht haltbar sind. 

Zunächst die Volksgeisttheorie. In be¬ 
zug auf sie gehören wir allerdings zu 
den Mißtrauischen, von denen der Ver¬ 
fasser auf der ersten Seite seines Buches 
sagt: „Jeder Versuch, Volksarten und 
Geschichtsepochen gegeneinander zu 
kennzeichnen, hat bei den Heutigen ein 
alsbald erwachendes Mißtrauen zu ge¬ 
wärtigen. 4 * Nicht die Abgrenzung und 
nicht die Typisierung als solche macht 
uns mißtrauisch, sondern die Art der 
Durchführung, die an Chamberlains ras¬ 
sentheoretische Spekulationen erinnert. 


Es ist eine Willensentscheidung, die aus 
einem fertigen politischen Wertbewußt: 
sein und nicht aus objektiver Erkenntnis¬ 
haltung stammt, wenn der ganze Abso¬ 
lutismus als romanisch, der Uberalisraus 
als germanisch, aber in seiner staatsbe¬ 
wußten Vollendung nicht als englisch, 
sondern als zpezifisch deutsch angespro¬ 
chen wird. Gewiß möchten wir, daß 
alles Deutsche echt und edel sei, und es 
ist auch deutsche Art, wie das Beispiel 
lehrt, altes Echte und Edle selbst ira 
Auslande als deutsch zu empfinden- Wir 
können aber nicht über Spannungen de* 
Gegenwart die bleibende wissenschaft¬ 
liche Wahrheit vergessen, die eine der 
grundlegenden Einsichten der Ranke¬ 
schen Geschichtschreibung ist, daß sich 
die germanisch-romanischen Völker ic 
dauernderKulturgemeinschaft entwickelt 
haben und daß zwischen ihnen ein un¬ 
ablässiges Geben und Nehmen gewaltet 
hat. Das ist ja — infolge der einfachen 
Notwendigkeit des Lebens — noch beuae 
mitten im Kriege so. Fast auf je¬ 
der Seite gibt das Buch von Hei^r 
neue Belege hierzu. In der grofe« 
Tradition, die vori der griechisch-rö¬ 
mischen Stoa und vom Neuplatonis- 
mus herstammt, begegnen uns Italiener 
wie Giordano und Campania, Deut¬ 
sche wie Böhme und Alstedt, Franzosen 
wie Montaigne und Bodinus, Engländer 
wie Herbert und Cudworth. Der Abso¬ 
lutismus ist keineswegs eine französische 
Erfindung, die dje ändern nachgeahmt 
haben, sondern eine notwendige Dprch- 
gangsstufe politischer Entwicklung, 4k 
in Italien beginnt, in England kurzeZeit 
— in den Tagen der Stuarts und des 
Hobbes — zu bemerken ist, in Rußland 
mit Peter dem Großen abendländische 
Kulturformen annimmt und in Deutsch¬ 
land von den kleinsten Höfen bis empor 
zu dem glorreichen Friedrich geherrscht 
hat Will man das Romanismus neppen. 



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1493 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


1404 


so sind wir im Norden teilweise roma¬ 
nischer gewesen als die Romanen. 

Oberhaupt scheint mir der Absolutis¬ 
mus in Weisers Darstellung historisch 
nicht richtig bewertet zu sein. Daß Shaf- 
tesbury und seine Zeit, die mitten im 
Kampfe standen, ihn verabscheuten* ist 
zu begreifen. Mit dem Wachstum der 
liberalen Bewegung ist dann eine popu¬ 
läre Auffassung vom absoluten Regi¬ 
ment, vom sog. Despotismus entstanden, 
die sein Bild aus lauter Schändlichkeiten 
zusammensetzt und an dem Roi Soleil 
nichts als Schattenseiten entdeckt. Nie¬ 
mand von uns will in diese Epoche zu¬ 
rück. Aber als Historiker müssen wir 
doch fragen, wie sie den Bedingungen 
ihrer Zeit genügte, und da hat uns ob¬ 
jektive Forschung anzuerkennen gelehrt, 
daß der Absolutismus nichts anderes ist 
als die Farm, in der sich auf dem Fest¬ 
lande die Konsolidierung der Gro߬ 
staaten überhaupt vollzogen hat. Beam¬ 
tentum, stehendes Heer, geschlossene 
Volkswirtschaft, Steuer- und Finanzwe¬ 
sen sind nur möglich gewesen durch eine 
solche Zentralisation, die ja noch gar 
nicht das freiheitsstrebendS, sittliche In¬ 
dividuum sich gegenüber fand, sondern 
die Anarchie der ständischen Sonderin¬ 
teressen. Taine hat für Frankreich ge¬ 
zeigt, wieviel von den Einrichtungen 
des Ancien rGgime die Revolution über¬ 
dauert hat. Schmoller und Hintze ha¬ 
ben in den Acta Borussica dem preußi¬ 
schen Absolutismus aus seinen eignen 
Taten Denkmäler gesetzt, die noch heut 
- die höchste Bewunderung verdienen. 
Hierfür fehlt Weiser (trotz gelegentli¬ 
cher Selbstein wände wie S. 12, 18, 
480) der gerechte Blick. Das Merkan¬ 
tilsystem (dessen nachwirkenden Se¬ 
gen wir eben jetzt erfahren) ist für 
ihn nur ein gewaltsames, unifor- 
mistisch-romanistisches Prinzip. (37.) 
Ludwig XIV. erscheint wieder und 


wieder in der Rolle des schwarzen Man¬ 
nes, während von seinem glänzenden 
Ministem gar nkht die Rede ist. Und die¬ 
ses Buch, das* vorausgreifend, fast je¬ 
dem Geiste des 18. Jahrhunderts Ver¬ 
ehrung zollt, streift nur mit einem Zitat 
aus der Rheinsberger Zeit Friedrich den 
Großen, der doch wohl auch ein Deut¬ 
scher war. Aber wie der Verfasser zu 
dieser großen Kulturepoche steht, zeigt 
die gelegentliche Bemerkung, daß „wir 
heute als Deutsche mit zäher Entschlos¬ 
senheit für das politische Prinzip der 
Selbstverwaltung eintreten gegen die 
zentralistisch-absolutistische Tendenz in 
der preußischen Staatsidee“. Man mag 
über den Sinn der politischen Gegen¬ 
wart noch so verschieden denken: in die¬ 
sem Satz stimmt nicht das „Heute“ — 
denn mit Stein-Hardenberg, 1848 und der 
preußischen Kreisverfassung dürfte die¬ 
se Bewegung, die übrigens immer aus 
englischen Quellen schöpfte, ihre bren¬ 
nende Aktualität verloren haben; es 
stimmt nicht die einseitige Betonung der 
Dezentralisation, da wir auf vielen Ge¬ 
bieten gerade den Reichsgedanken her¬ 
ausarbeiten wollen; und es befremdet 
der Ausfall gegen die preußische 
Staatsidee, deren Gutes sich in allen 
Einzelstaaten durchgesetzt und uns zu¬ 
nächst einmal gerettet hat. Denn die tö¬ 
richte Rede des Auslandes vom ma߬ 
losen preußischen Militarismus wollen 
wir doch wohl nicht mitmachen: sie ist 
eine spezifische Erfindung des engli¬ 
schen Marinismus, die die andern nur 
nachbeten, während Frankreich vordem 
Kriege an der Spitze der militaristischen 
Anstrengungen marschierte. 

Im Politischen muß man historisch und 
nicht nach ewigen Normen denken. Der 
Absolutismus hat Ordnung und Recht 
geschaffen. Er hat den Rechtsstaat lang¬ 
sam realisiert und den Nationalstaat vor¬ 
bereitet. Er war eine Notwendigkeit und 









1495 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


1490 


ein Segen im Leben der Völker. Was er 
positiv geleistet hat, können weder die 
lettres de cachet noch Geschichten über 
die Leiden des jungen Schiller auslö¬ 
schen. Jede Staatsform hat die Schat¬ 
tenseiten ihrer Lichtseiten: wie sich Pla¬ 
to, der doch gewiB kein unfreier Geist 
war, über die Demokratie geäußert hat. 
wird Weiser nicht vergessen haben. Und 
so möchte ich geradezu behaupten: Je¬ 
des Volk ist in demselben Grade poli¬ 
tisch gut erzogen, als es in seiner po¬ 
litischen Werdezeit durch einen guten 
Absolutismus hindurchgegangen ist: 
denn der pflichtbewußte Absolutismus 
ist das Erziehungssystem der Völker auf 
die politische Reife hin. Kants Ethik der 
Autonomie hat ihr konkretes Vorbild an 
der freien Pflichterfüllung des Fürsten, 
der der erste Diener seines Staates sein 
wollte, desselben Mannes, der für die 
andern noch glauben mußte, daß der 
wohl verstandene Egoimus jedes Stan¬ 
des als Staatsgesinnung eben recht sei. 
Erst kommt die Autorität, dann die 
Autonomie: so ist es im Einzelleben, so 
im Völkerleben. Das autonome Frei¬ 
heitsbewußtsein ist genau so viel wert, 
wie es in der Jugend gelernt hat, sich 
einem großen Ganzen widerspruchslos 
unterzuordnen. Die bloße Freiheit ist 
noch gar nichts Ethisches, und Kant 
wußte wohl, warum er sein Prinzip der 
Autonomie zuletzt doch an den Gesichts¬ 
punkt einer „allgemeinen“ Gesetzge¬ 
bung band. 

England bekanntlich ist das einzige 
Land Europas, das nur eine kurze 
Epoche hindurch einen sehr schwachent¬ 
wickelten Absolutismus gehabt hat. Man 
sagt, es habe ihn wegen seiner Klein¬ 
heit und seiner insularen Lage nicht ge¬ 
braucht: Nun — wer nicht früh lernt, 
muß spät lernen. W i r haben, als wir da¬ 
zu reif waren, von England die Selbst¬ 
verwaltung und das modifizierte Parla¬ 


ment übernommen. England hat mit* 
ten im Kriege nachholen müssen, was es 
nicht hatte: die allgemeine Wehrpflicht 
und die Belebung des Willens zur Orga¬ 
nisation, der unter der langen Herrschaft 
des Manchestertums und des politischen 
Liberalismus nicht voll zur Entwicklung 
gekommen war. Hätten wir es mit Eng¬ 
land allein zu tun, so wäre ja wohl schon 
heute kein Zweifel, welches System die 
größere Widerstandsfähigkeit bewiesen 
hat. 

Aber wir haben keine Veranlassung, 
in dieser Stunde vor der fremden Tür 
zu kehren. Weiser empfiehlt uns das Sy¬ 
stem der inneren Politik Englands, von 
dem wir längst aufgenommen haben, 
was wir uns assimilieren konnten; er 
warnt uns vor 'dem System der äußeren 
Politik des britischen Imperialismus. Ge¬ 
wiß — wir wollen weder die Ziele noch 
die Mittel nachahmen; denn beide sind 
dem deutschen Volke fremd. Aber hier 
liegen doch Tatsachen: ein Einfluß Ei¬ 
lands über die Welt, dem wir in dieser 
Form nicht nach streben. Nur das wird 
ja wohl noch in den Grenzen politisä&x 
Sittlichkeit sein, ihm da entgegen za 
streben, wo er uns erdrückt und uns die 
Luft abschnürt. Jeder Erfolg, auch wenn 
man ihn nicht billigt, verdient, daß man 
seinen geheimen Wegen nachspüre, und 
wäre es auch nur, um die gefährlichen 
Mittel zu erkennen, durch die es zu ihm 
kam. * 

Mit andern Worten: fegen wir vor 
unsrer Tür! Meine Absicht kann nicht 
sein, Weisere historisches Urteil zu be¬ 
richtigen oder ihm Lücken in der Kennt¬ 
nis der Geschichte nachzuweisen. Son¬ 
dern — wie sein Buch sich als aktuelles 
gibt —, so beschäftigt mich die aktuelle 
Frage, was unsrer deutschen Staatsauf¬ 
fassung wohl fehlt, um im vollen Sinne 
politisch zu sein. Auf sie aber gibt ge¬ 
rade unser Buch die beste Antwort, weil 


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INDIANA UNIVERSITY 





1497 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


1498 


es in reinster Kultur zeigt, was dem Li¬ 
beralismus des gebildeten Deutschen 
noch immer die eigentümliche Farbe 
gibt: die ästhetische Staatsauf¬ 
fassung, die den Staat gleichsam nur 
aus der Innerlichkeit der Person heraus¬ 
wachsen läßt. 

In diesem Buche sehen wir es in vol¬ 
ler Klarheit vor uns, wie wenig bei uns 
die ästhetische Form des Lebens und die 
politische Form auseinandergehalten 
werden. Die Grenzen zwischen dem 
Schriftsteller und dem echten Tatenmen¬ 
schen, zwischen ästhetischem und he¬ 
roischem Affekt verschwimmeil völlig. 
Durch eine unerlaubt weite Fassung des 
Begriffes der ästhetischen Form wird al¬ 
les, was das geistige Leben enthält, in 
den Umkreis von Geschmack und Künst¬ 
lertum hineingezogen. Auch der Staat 
erscheint als Produkt der Formkraft; 
aber diese staatliche Form darf nicht 
von außen bestimmt sein und dem Men¬ 
schen ais heteronome Zwangsgewalt 
entgegentreten — das wäre Romanismus 
(172. 292) —, sondern sie muß von innen 
aus dem schöpferischen Grunde der Per¬ 
sönlichkeit kommen, als Autonomie 
im Sinne des deutschen Idealismus. 

Gegen diese Fassung wäre nichts ein¬ 
zuwenden, wenn nicht die Form, die hier 
als sittlicher Sinn des Staates bezeich¬ 
net wird, bis zur Identität nahe mit der 
ästhetischen Form zusammenfiele, wo¬ 
bei der Gedanke des Organischen die 
Vermittlung abgibt. „Über das sittliche 
erhob sich für Shaftesbury das ästheti¬ 
sche Erlebnis des Staates als ein Erlebnis 
der Einheit in der Freiheit, so daß wir 
von einem ästhetischen Staate 
sprechen mögen, der über dem ethischen 
stehe, während der vorauf gehen de Staat 
der Not wohl schon als der dynamische 
bezeichnet wurde/' (489.) Die nahe 
Verwandtschaft mit Gedanken Schillers 
klingt uns schon aus den Worten ent¬ 


gegen. Zu Unrecht scheint mir Weiser 
dem deutschen Neuhumanismus vorzu¬ 
werfen, daß er unpolitisch gedacht und 
die Verschmelzung von Nationalstaat 
und Kulturstaat noch nicht vollzogen 
habe. (469.) In dieser Politik vielmehr 
stimmen Shaftesbury, die deutschen 
Klassiker und der ganze ältere deutsche 
Liberalismus überein, daß sie den Staat 
nur als den letzten Ausläufer der Humani¬ 
tät ansehen. 3 ) Wir verehren diese hohe, 
aristokratische Geistigkeit, für die der 
Wille zum Staat aus der Autonomie des 
Individuums in organischer Schönheit 
herauswächst: die Formel der deutschen 
spekulativen Philosophie, daß Freiheit 
und Notwendigkeit im Staate zusammen- 
fallen, wird hier im Sinne einer ästhe¬ 
tischen Harmonie, weniger einer sitt¬ 
lichen Willensgesetzlichkeit verstanden. 
Aber wir fragen uns zugleich, ob diese 
humanistische Staatsauffassung aus ei¬ 
nem sicheren Blick für das Eigengesetz 
politischer Form hervorgegangen ist, 
oder ob nur ästhetische Zusammenschau 
hier zweierlei verknüpft, was nie ganz 
im identischen Sinne wirken kann: äs¬ 
thetischen Bildungstrieb und nationalen 
Willen zu Macht und Recht? Gewiß 
mag das Erlebnis des Schönen eine ei¬ 
nigende „sozialisierende“ Macht entfal¬ 
ten, mag die nationale Kultur ihr letz¬ 
tes Geheimnis in ästhetischen Symbo¬ 
len aussprechen. Aber Staatsbildung 
ist und bleibt etwas andres als ästheti¬ 
sche Schöpfung. Sie folgt ihrem eige¬ 
nen Gesetz: dem politischen, derMacht- 
und Rechtsordnung. Daß diese Sonder¬ 
gesetze für die einzelnen Gebiete, näm¬ 
lich für Wissenschaft und Kunst und 
Religion, für Wirtschaft, Gesellschaft 


3) Hierauf habe ich schon hingewiesen 
in meiner Rede: »Das humanistische und 
das politische Bildungsideal im heutigen 
Deutschland*. Deutsche Abende des Zen¬ 
tralinstituts, Berlin 1916. 



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1409 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


und Staat von Weiser nicht herausgear-» 
beitet sind, daß er sie mit Shaftesbury 
nur durch ein mystisches Lebensgesetz 
gebunden fühlt, darin fanden wir die 
größte Einseitigkeit und die begriffliche 
Schwäche des hervorragenden Werkes. 

Diese Mängel aber sind, wenn wir 
nun einmal nationale Typen bilden dür¬ 
fen, spezifisch deutsch. Die Schule 
des Krieges mag uns inzwischen erzogen 
haben. Vor dem Kriege nahm der ge¬ 
bildete Deutsche, wenn er liberal dach¬ 
te, was er in der Regel tat, den Staat 
mit dem Gefühl — halb ästhetisch, halb 
religiös begeistert —, aber nicht mitdem 
Verstand, mit dem nun einmal auch das 
Höchste auf Erden angesehen werden 
will. Daß alle politischen Fragen nicht 
nur Rechtsfragen, sondern in erster Li¬ 
nie Macht fragen sind, daran wollten 
wir nicht heran, als ob Macht ihrer Na¬ 
tur nach etwas Unmoralisches wäre und 
notwendig zur Tyrannei über Volk und 
Völker führte. Statt dessen sprach man 
von „Freiheit“, die entweder ein leerer 
metaphysischer Name oder auch ein 
Machtbegriff ist, Macht angewendet auf 
das Individuum. Aber mit der bloßen 
Freiheitsidee ist kein Staat zu errich¬ 
ten und keine Politik zu treiben. Der 
Staat mag sich noch so tief mit Recht 
und Sittlichkeit und humanem Geist er¬ 
füllen — er bleibt seinen Gliedern ge¬ 
genüber immer ein Stück äußerer Auto¬ 
rität, weil kein Individuum einfach im 
Staate aufzugehen vermag, und nach 
außen hin bleibt er Macht, weil ein gro¬ 
ßes Volk auch einen großen Lebenswil¬ 
len hat. Der Staat ist nun einmal ein 
überindividuelles Gebilde; die alte Hoff¬ 
nung, ihn aus der sittlichen Autonomie 
des Individuums allein abzuleiten, ist 
mit der klassischen Epoche des Indivi¬ 
dualismus dahin. Ein Kollektivum ist 
immer objektive Sittlichkeit: der einzel¬ 
ne kann sie in seinen Busen aufnehmen 


1500 

und sie dann schöpferisch weiterbilden; 
er kann sie aber nidit aus den Hefen 
seines Einzelwesens in ihrem Gesamt- 
bestand erzeugen. — 

Ob Shaftesbury, dessen Schriften nicht 
einmal im England des 18. Jahrhunderts 
einen nennenswerten politischen Einfluß 
geübt haben, uns in allen diesen Fragen 
hent zum Führer werden kann, ist mehr 
als zweifelhaft. Vielleicht könnte man 
diesen Abschnitten des gedankentieien 
Buches von Weisereine geringere Bedeu¬ 
tung beilegen, wenn nidht tatsächlich aus 
ihnen eine brennende Aufgabe für das 
Leben und die Wissenschaft der Qegen- 
wart herausspränge: Es muß Klarheit 
geschaffen werden über denlln- 
terschied von englischer Frei¬ 
heit und deutscher Fr ei heit, eng¬ 
lischem Individualismus und 
deutschem Individualismus, ja 
ganz al 1 gemein über den Gegen¬ 
satz von deutscher und engli¬ 
scher Staatsauffassung ü! |fr ' 
haupt. Der Verfasser unsres Weites 
versucht, diesem großen WeltpioWem 
durch eine philosophisch-metaphysische 
Konstruktion aus dem Unterschied der 
Volksgeister und von einer beherr¬ 
schenden Persönlichkeit aus beizukom¬ 
men. Dieser Weg wird nie zum Ziele 
führen. Man lernt einen Charakter ntdu 
anders in seinen Tiefen kennen als aus 
seiner ganzen Lebensgeschichte und den 
Stufen seines Werdens. Nur am Gan¬ 
zen der politisch-geistigen Geschichte 
Deutschlands und Englands kann der 
Unterschied beider Weltprinzipien stu¬ 
diert werden. 

Die englische Freiheit empfängt ihre 
eigentümliche Farbe durch das friH^ 
Mitregierungsrecht einer breiten Adels¬ 
schicht und durch alle Institutionen lo¬ 
kaler Selbstverwaltung, durch die in den 
Glaubenskämpfen errungene Idee der 
persönlichen Gewissensfreiheit, durdi 






1501 


1502 


Eduard Spranger, Shaftesbury und wir 


die lange Herrschaft desjenigen Indivi¬ 
dual Ismus, der aus dem ökonomischen 
Püh.zip und der Freihandeislehre folgt. 
Politischer und wirtschaftlicher Libera¬ 
lismus hängen in England innerlich zu¬ 
sammen. Zugleich hat dieses Land als 
Seemacht von früh auf einen imperiali¬ 
stischen Drang entwickeln können, wie 
er für Binnenländer gar nicht in Betracht 
kam. Das alles hat die eigentümliche 
Mischung von starkem Nafionalbewußt- 
sein und Machtwillen mit zentrifugalen 
Tendenzen im Innern erzeugt, die wir im 
Laufe des Krieges beobachtet haben. 

Wenn im Gegensatz hierzu die deut¬ 
sche Freiheit immer in engster Verbin¬ 
dung: mit dem Pflichtgedanken auftrat, 
so beruht dies nicht nur auf einer philo¬ 
sophischen Konstruktion aus demWesen 
der praktischen Vernunft, sondern dar¬ 
auf, daß der deutsche Liberalismus in 
ständiger Auseinandersetzung mit dem 
Vorgefundenen absoluten Staat groß ge¬ 
worden ist. Die werdende freie Persön¬ 
lichkeit war und blieb hier gebunden in 
einem festen Zusammenhang staatlicher 
Formen. Der sittliche Geist dieser uber- 
individuellen Wesenheit ist in einem ei¬ 
gentümlichen Erziehungsprozeß erst in 
die einzelnen hineingebildet und in ihnen 
zu persönlichem Leben erweckt worden. 
Deshalb hat die deutsche Freiheit immer 
diesen Bezug auf ein überlegenes Ganze, 
das im Gedanken der echten Persönlich¬ 
keit mitgedacht wird: Neben der Freiheit 
steht unmittelbar der Imperativ, neben 
der Autonomie die Pflicht, und beide 
Seiten stammen für deutsche Auffassung 
aus der gleichen metaphysischen Wur¬ 
zel. Es versteht sich von serbst, daß 
das englische Parlament auf diesen 
Boden nicht verpflanzt werden konnte, 
ohne tiefgehende Veränderungen zu er¬ 
fahren, daß die englische Selbstverwal¬ 
tung bei uns eine andere wurde, weil 
sie ein anderes Staatsgebilde sich gegen¬ 


überfand, titid daß das Prinzip der öko¬ 
nomischen Freiheit in dieser geistigen 
Umgebung nie so ungesunde Formen an¬ 
nehmen konnte wie im Lande unbe¬ 
grenzter wirtschaftlicher Expansion über 
See, Sondern sehr bald in einer neuen 
Sozialethik sein Gegengewicht finden 
mußte. 

Aber das sind nur wenige, willkürlich 
herausgegriffene Züge. Wer den gan¬ 
zen großen Zusammenhang untersuchen 
will, der begegnet natürlich auch dem 
ästhetischen Humanismus der Persön¬ 
lichkeit und muß notgedrungen auf seine 
Wurzeln in Shaftesbury zurückgehen. 
Nur bleibt es unmöglich, umgekehrt aas 
diesem einen Geiste (noch dazu einem 
geborenen Engländer) das politische Ide¬ 
al der neuen deutschen Zeit heraaszu- 
komstruieren, die doch unter so unzähli¬ 
gen realen und geistigen Bedingungen 
groß geworden ist, Bedingungen, von 
denen Shaftesbury nichts wußte und 
nichts ahnen konnte. In dem Reigen der 
Geister, die das deutsche Wesen schon 
früh auf einen Ausdruck gebracht ha¬ 
ben, werden auch für den Hlstorrkeran- 
dere Männer voranstehen als gerade der 
ästhetische englische Graf, und für die 
deutsche Staatsauffassüng sind Kant,. 
Fichte, Hegel zu schöpferisch gewesen, 
als daß män in ihm ernstlich ihren Mei¬ 
ster sehen dürfte. — 

Die schicksalsschwere Bedeutung der 
Stunde, in der dej deutsche und der eng¬ 
lische Geist miteinander ihre Kräfte 
messen, lenkt unvermeidlich den Blick 
auf die politischen Fragen, die in dem 
Weiserschen Buch selbst einen großen 
Raum beanspruchen. Und gewiß: wenn 
jetzt über die Weltgeltung der Völker 
entschieden wird, so steht zugleich alles 
Innerlichste, Tiefste, Geistigste mit im 
Kampfe und empfängt den gewaltigen 
Richterspruch der Geschichte. In dem¬ 
selben Augenblick, in dem wir die ganze 





1503 


Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


1504 


gesammelte Kraft der Nation nach au¬ 
ßen zu wenden gezwungen sind, ringen 
wir noch mit ernstester Glut um das 
Selbstverständnis unsres Wesens. Das 
ist selbst ein Zeichen der Echtheit und 
der Stärke, wenn man in der Erschütte¬ 
rung der Völker den reinen festen Wil¬ 
len zur Objektivität behält. Und daß ein 
Mann, der einen großen Teil seines Le¬ 


bens in Amerika gelebt und die Vorbo¬ 
ten des Aufeinanderprallens anglische: 
und deutscher Art beobachtet hat, mit¬ 
ten im Kriege ein solches Werk in stfl- 
ler Sammlung und aus reifem Lebens¬ 
verständnisvollenden konnte, das jeden¬ 
falls ist deutsch, wie man auch sonst 
den Namen deute. 


Ein antiker Dichter im Kriege. 

Von Max Pohlenz. 


Wir stehen jetzt im vierten Jahre des 
Krieges, und unendlich langerscheint uns 
seine Dauer, unendlich groß und zahl¬ 
reich sind die Eindrücke, die wir in die¬ 
ser Zeit in uns aufgenommen haben. Da 
liegt es für den klassischen Philolögen 
nahe, sich einmal darüber klar zu wer¬ 
den, was für eine Wirkung auf die 
Geister im alten Griechenland ein Krieg 
wie der Peloponnesische ausgeübt hat, 
der fast ein Menschenalter währte, der 
einem Beobachter wie Thukydides als 
das bedeutendste Ereignis der Weltge¬ 
schichte galt, der den Athenern verhält¬ 
nismäßig noch viel mehr Menschenopfer 
kostete, ihr Land viel stärker in Mitlei¬ 
denschaft zog, auch das innerpolitische 
Leben noch viel stärker aufwühlte, als 
dies bei uns im jetzigen Weltkriege der 
Fall ist. 

Wir kennen eine ganze Anzahl bedeu¬ 
tender Männer, die deft Peloponnesischen 
Krieg von Anfang bis zu Ende miter¬ 
lebt haben, und bei einem sind wir in 
der Lage, den Einfluß, den der Krieg 
auf seine Stimmung und sein Schaffen 
geübt hat, fast während dieser ganzen 
Zeit zu verfolgen. 

Euripides war etwa fünfzig Jahre 
alt, als der Krieg ausbrach. Kurz vor dem 
Untergang der Vaterstadt ist er 407/6 
gestorben. Von den 22 Tetralogien, die 


das Altertum von ihm kannte, gehören 
mindestens 16, von den 18 ans erhal¬ 
tenen Stücken alle mit Ausnahme von 
einem der Zeit seit 431 an; bei einer 
Reihe von diesen steht die Aufführung* 
zeit durch urkundliche Angaben fest, d# 
andern können wir durch innere oder 
äußere Indizien wenigstens annäher: 
zeitlich festlegen. 

Dabei ist Euripides ein Dichter, der 
in viel stärkerem Maße als etwa So¬ 
phokles die Zeitereignisse unmittelbar in 
seinen Werken widerspiegelt 
Zeitgenossen empfanden es ja als cter 
rakteristisch für ihn, daß er der Dichte; 
der Moderne sei, daß die Heroenwelt 
in der nach der Tradition seine Stücke 
spielten, ihm nur die Szene böten, in 
die er ganz moderne Stimmungen, ak¬ 
tuelle Probleme hineintrage. Befördert 
wurde diese Tendenz noch durch die 
ganze Auffassung, die er von seiner 
Kunst hegte. Man konnte Euripides nicht 
ärger mißverstehen, als wenn man anneh¬ 
men wollte, er tobe ausschließlich eine 
ästhetische Wirkung auf seine Zuschauer 
angestrebt. Tatsächlich hat er wie kein 
anderer athenischer Dichter das Be¬ 
wußtsein, daß er am heiligen Feste von 
heiliger Stätte zu seinem Volke spricht 
Der Lehrer seines Volkes will er sein, 
es sittlich aufrütteln so gut wie Sokra- 



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1505 


Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


1506 


tes, ihm mahnend und ratend zur Seite 
stehen, aber auch wo er seine Stim>- 
mungen und patriotischen Gefühle teilt, 
deren Dolmetsch nach außen hin werden. 

Am augenfälligsten tritt uns dieser 
Zug entgegen, wenn er seinen Personen 
unbekümmert Äußerungen in den Mund 
legt, die zu ihrem Charakter gar nicht 
passen, dafür aber dem Publikum sa¬ 
gen, was der Dichter auf dem Herzen 
hat. Aber auch in der ganzen Fabel, in 
der Gestaltung des Stoffes, mit dem Eu¬ 
ripides völlig frei schaltet, spürt man 
oft genug, wie er durch ganz aktuelle 
Stimmungen und Absichten, durch Zeit¬ 
ereignisse und Zeitströmungen be¬ 
stimmt ist. 

Daß bei einem solchen Manne der 
Krieg starken Widerhall in seinen Wer¬ 
ken findet, ist von vornherein selbstver¬ 
ständlich und im einzelnen auch schon 
vielfach beobachtet. Doch vermag uns* 
eine zusammenfassende Betrachtung, 
glaube ich, noch manches zu lehren. 

Als Euripides im Frühling 431 die 
Medea aufführen ließ, legte er ein Lied 
auf Attika ein (824ff.), das gottgeseg¬ 
nete Land, wo die Luft so leicht ist und 
der Himmel so klar, wo nimmer die Ro¬ 
sen aufhören zu blühen, wo aber auch* 
Wissenschaft und Kunst gedeihen und 
reichbegabte Menschen nach den höch¬ 
sten Zielen streben. Mit Betonung nennt 
er es das heilige, das nie vom Feinde 
verheerte Land. Das war in einem 
Augenblick, wo das Aufgebot des Pe- 
loponnesischen Bundes sich bereits zum 
Einfall in Attika rüstete, und wenige 
Wochen darauf mußten mit Ingrimm die 
attischen Bauern sehen, wie ihre Gär¬ 
ten und Weinberge vom Feinde verwü¬ 
stet wurden. 

Nur ein Teil von Attika blieb bei die¬ 
sem wie bei den nächsten Einfällen ver¬ 
schont. Das war die Gegend von Ma- 

Intemationalc Monatsschrift 


rathon, die sogenannte Tetrapolis. Hier 
war in edler Kriegsleidenschaft ein Ge¬ 
fühlsmoment wirksam. Es gab nämlich 
die Sage, nach dem Tode des Herakles 
seien seine Kinder von Eurystheus ver¬ 
folgt worden und hätten nur in Mara¬ 
thon Zuflucht gefunden. Ausdrücklich 
berichtet Ephoros (bei Diodor XII, 45), 
die Erinnerung an diese Hilfe habe die 
Spartaner, deren Könige sich ja von 
den Herakliden ableiteten, veranlaßt, die 
Tetrapolis zu schonen (vgl. auch Herod. 
IX, 73). Erst 427 wurden diese Gefühls¬ 
momente durch die militärischen Erwä¬ 
gungen überwunden und ganz Attika 
verwüstet (Thuk. III, 26). 

Die Rettung der Herakliden gehörte 
zu den Ruhmestiteln der attischen Ge¬ 
schichte, und bei den Epitaphien ver¬ 
säumte nicht leicht ein Redner sie zu 
erwähnen. Besonders aber im Anfang* 
des Peloponnesischen Krieges hatten die 
Athener Anlaß darauf hinzuweisen, wie . 
sie sich von jeher uneigennützig der 
Schwachen und Bedrückten angenom¬ 
men hätten. Djenn der Schutz der 
Schwachen und Kleinen vor der Tyran¬ 
nei Athens war das Schlagwort, mit dem 
derPeloponnesische Bund für sich Stim¬ 
mung zu machen suchte. 

So griff auch Euripides jetzt diesen 
Stoff auf und bearbeitete ihn in den 
Herakliden. Drohend prophezeit er 
am Schluß den Nachkommen der Hera¬ 
kliden eine Niederlage, wenn sie jemals 
die Dankespflicht vergessen und die Te¬ 
trapolis angreifen sollten. Das kann er 
nur vor 427 getan haben, und in die er¬ 
ste Zeit des Krieges weist uns die ganze 
Stimmung des Stückes. 

Den Inhalt bildet die einfache Ge¬ 
schichte, wie Athens König Demophon, 
der zugleich als Herrscher der Tetrapo¬ 
lis gedacht wird, die Herakliden gegen 
das brutale Verlangen des Eurystheus 
auf Auslieferung in Schutz nimmt, wie 

48 

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1507 


Max Pohlenz. Ein antiker Dichter im Kriege 


1508 


Eurystheus im Kampf besiegt und von 
der ganz als Megäre gezeichneten Alk¬ 
mene getötet wird. Daß dies von der 
Böoterin im Widerspruch mit der athe¬ 
nischen Sitte geschieht, die einen Kriegs¬ 
gefangenen zu töten verbietet, wird sehr 
stark hervorgehoben im Gegensatz zu 
den Peloponnesiem, die im Anfang des 
Krieges sogar jeden athenischen Kauf¬ 
mann, der ihnen in die Hände fiel, nie- 
dermadhten. 

Die Herakliden sind ein Drama, in 
dem die Charaktere, die dramatische 
Entwicklung nichts bedeuten, die pa¬ 
triotische Tendenz alles. Das ganze 
Stück durchweht der Stolz auf Athen, 
das im innerpolitischen Leben Recht und 
Freiheit zum Prinzip hat und auch nach 
außen hin für die Gerechtigkeit eintritt, 
die Verfolgten unterstützt, auch wenn 
dadurch Feinde erwachsen. 

In einem Chorlied (371) heißt es: 
„Wohl lieb’ ich den Frieden, 
doch sinnst du mir Böses, 
so sag’ ich dir eins: 

Versuchst du den Angriff, 
so wird es nicht gehen, 
wie du es dir träumst! 

Auch ich führ’ die Lanze, 
auch ich trag’ am Arme 
den ehernen Schild. 

Drum dämpf’ deine Kriegslust, 
steck das Schwert in die Scheide, 
und stör’ nicht meine Heimat, 
wo’s so wohlig sich lebt! Gib nach!“ 
Hier hat gewiß das Publikum nicht 
an Demophon und Eurystheus gedacht, 
sondern an die eigne Zeit. Noch mehr, 
wenn Demophon die Antwort an Eu¬ 
rystheus mit den Worten abschließt: 
„Habt ihr Beschwerden gegen diese Frem¬ 
den hier, 

verlangt ein Schiedsgericht! Sonst führt ihr 
sie nicht fort.“ 

Denn Perikies hatte noch am Schluß der 
diplomatischen Verhandlungen den Pe- 
loponnesiem angebotein, entsprechend 
den bestehenden Verträgen die Be¬ 
schwerdepunkte durch ein Schiedsge* 


rieht zu beseitigen —* bei Thuk. I, 140 
stehen in der Rede des Perikies diesel¬ 
ben Ausdrücke wie bei Euripides —. und 
die Spartaner haben sich lange Gewis¬ 
sensbisse gemacht, daß sie durch Ab¬ 
lehnung des Angebots sich ins Unrecht 
gesetzt hätten. 

Um so stärker war dank Perikies 
kluger Politik bei den Athenern das Ge¬ 
fühl: „Wir sind die Angegriffenen, die 
Feinde sind im Unrecht.“ 

So klingt es auch bei Euripides: Wohl 
sind mächtig und tapfer die Feinde, die 
gegen Athen heranziehen, aber 
„Zeus ist mein Schutz; ich fürchte mich nicht 
Zeus will mir wohl, denn ich schützte das 
Recht. 

Niemals aber glaub’ ich daran, 

daß ein Gott den Sterblichen weiche* (796- 

„Nein, unterliegen, das kann Pailas 
nicht“, heißt es an anderer Stelle (3521 

Deutlich spricht sich dabei aus, cai 
mit der patriotischen Begeisterung 
Aufschwung des religiösen Gefühls a- 
sammengeht Nie wieder hat Eun/aäte 
so warme religiöse Töne angesebiageff 
wie in diesem Stück. „Von Sinnei müh* 
sein“, führt er in einem andern 
aus (901 ff.), „wer Athen tadeln wollte, 
daß es so gottesfürchtig ist. So deui- 
lich haben die Götter uns geholfen, de& 
Übermut der Feinde gedämpft.“ Das ist 
offenbar die Stimmung der allererster! 
Zeit, wo der Einfall der Peloponnesier 
wirkungslos verpufft war. Nachdem die 
Götter durch die Pest ihre schwere Hand 
auf Athen gelegt hatten, würde Euripi¬ 
des diese Stelle kaum so gedichtet 
haben. 

Aus der Stimmung der ersten Kriegs¬ 
zeit erklärt sich endlich auch eine Szene, 
an der man Anstoß genommen hat. Als 
der Kampf bevorsteht, läßt sich der ur¬ 
alte Begleiter der Herakleskinder, Iolaos. 
der Waffengenoß ihres Vaters, nicht haJ- 
ten und zieht in den Kampf, obwohl er 
zu schwach ist die Waffen zu tragen und 



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1509 


Max P oh lenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


1510 


geführt werden muß* um nicht zu strau¬ 
cheln. 

Dem Preislied auf Athen tritt der 
Haßgesang gegen die Feinde zur Seite, 
ln der Andromache geht Euripides 
von der epischen Erzählung aus, nach 
der Achills Sohn Neoptolemos Hektors 
Gattin Andromache als Beuteanteil er¬ 
halten und als Kebsweib in seine Heimat 
mitgenommen hat. Er kombiniert damit 
eine andre Version, wonach Neoptole¬ 
mos Menelaos’ Tochter Hermione hei¬ 
ratet, und baut darauf eine freie Erfin¬ 
dung: Hermione benützt eine Abwesen¬ 
heit ihres Gemahls, um mit Hilfe ihres 
Vaters die unbequeme Nebenbuhlerin zu 
beseitigen. Alles Licht fällt dabei auf die 
unglückliche Andromache, die auch im 
Sklavenlos ihre Würde wahrt, jeder Z'oll 
eine Königin, während das verwöhnte 
Prinzeßchen Hermione und ihr willfäh¬ 
riger Vater als gemeinste Kreaturen ge¬ 
schildert werden, die mit feiger Hinter¬ 
list die Unglückliche um ihr Kind und 
um ihr Leben zu bringen suchen. Wie 
Euripides zu dieser gehässigen Zeich¬ 
nung gekommen ist, die an der Sage gar 
keinen Anhalt hat, das tritt am deutlich¬ 
sten in den Worten hervor, in denen An¬ 
dromache ihrer Empörung Luft macht 
(445 ff.): 

„O ihr Spartaner, aller Welt seid ihr verhaßt! 
Voll List und Tücke seid ihr und verschlag¬ 
nen Sinns, 

ohn’ Treu und Glauben; krumme Wege geht 
ihr stets. 

Mit Unrecht steht so mächtig ihr in Hellas da. 
Was sagt man euch mit Fug nicht nach? 

nicht Blut und Mord, 
nicht Habgier, Doppelzüngigkeit? Ich fluche 
euch.“ 

Andre Ausfälle kommen hinzu auf 
Sparta, das nur auf seinen Kriegsruhm 
pocht (754);, auf die zuchtlosen Spartane- 
rinnen, die schon als Mädchen nicht sitt¬ 
sam im Hause weilen, sondern in leich¬ 
tem Tumanzug an den Übungen der 


Jünglinge teilnehmen (596). Kein Zwei¬ 
fel, daß die antiken Erklärer recht haben, 
wenn sie zur ersten Stelle bemerken: 
„Andromache ist hier dem Dichter nur 
Vorwand. Es sind Vorwürfe, die Euri¬ 
pides selbst aus dem aktuellen Anlaß 
des Krieges gegen die Spartaner erhebt. 
Denn sie hatten den Friedensvertrag mit 
Athen gebrochen, wie Philochonos beh 
riditet. Genau läßt sich die Zeit des Dra¬ 
mas nun freilich nicht feststellen; denn 
es steht nicht in den Aufführungsurkun¬ 
den Athens. ... Doch ist es klar, daß es 
im Anfang des Peloponnesischen Krie¬ 
ges geschrieben sein muß/ 4 

Der letzte Schluß geht wohl auch auf 
Philochoros zurück, den besonnenen at¬ 
tischen Lokalhistoriker, der auch sonst 
aktuelle Anspielungen bei Euripides ver¬ 
folgt hat. Sicher ist der Schluß nicht. 
Denn die Klagen überdas perfide Sparta 
waren in Athen so häufig wie bei uns die 
über Albion und sind während des gan¬ 
zen Krieges erhoben worden, auch von 
Euripides selber (Hik. 187). Aber für 
diesen Zeitansatz spricht eine andere 
Änderung der Sage, die der Dichter in 
unserm Stück vorgenommen hat. 

Neoptolemos’ Abwesenheit ist durch 
eine Reise nach Delphi motiviert, und 
der zweite Teil des Stückes handelt da¬ 
von, wie er auf dieser von Orest, der alte 
Ansprüche auf Hermione nicht ver¬ 
schmerzen kann^ im Heiligtum von 
Delphi ermordet wird. Eine Neuerung 
des Euripides liegt hier vor, wenn er 
auch den Neffen des Menelaos in schlech¬ 
testem Lichte zeigt, ihn zum hinterlistigen 
Meuchelmörder macht. Aber schwerer 
wiegt etwas andres. Der Tod des Neopto¬ 
lemos in Delphi war durch die Überliefe¬ 
rung gegeben. Aber diese erklärte ihn da¬ 
mit, daß Neoptolemos ein Frevler gewe¬ 
sen und nach Delphi gekommen sei, um 
den Tod seines Vaters Achill an Apollio 
zu rächen oder jedenfalls von dem Gott 

48* 








1511 


M ax Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


1512 


für diese Tat Rechenschaft zu verlan¬ 
gen. Diesen Zug behält Euripides zwar 
bei, erfindet aber eine zweite Reise des 
Necptolemos nach Delphi und läßt erst 
auf dieser Neoptolemos erschlagen wer¬ 
den. Diese zweite Reise ist aber eine 
Bußfahrt, die der Held unternimmt, um 
für sein verblendetes Beginnen den Gott 
um Verzeihung zu bitten. Trotzdem 
wird er mit Apollos Zustimmung in des¬ 
sen Heiligtum ermordet. Und diese 
Erfindung benutzt der Dichter zu einem 
unerhört scharfen Angriff auf Delphi 
und auf den Gott. Eine ewige Schmach 
für Delphi nennt er am Schluß das Grab 
des Neoptolemos im heiligen Bezirk* 
und der Bote, der von der Untat berich¬ 
tet, schließt sogar mit den Worten ab: 

„Das tat der Gott, der für die andern Wei¬ 
sung gibt, 

der allen Menschen zeigt, was recht, was 

unrecht ist; 

das tat er, als Achilles' Sohn Verzeihung bat. 
Er tat, was bei üns Menschen schlecht und 

ehrlos heißt, 

trug alten Streit nach. Und das ist ein wei¬ 
ser Gott?“ (1161.) 

Wir müssen hier daran denken, wie 
bei Beginn des Peioponnesischen Krie¬ 
ges der delphische Gott den Spartanern 
auf eine Anfrage geantwortet hatte, sie 
sollten nur den Krieg mit voller Tatkraft 
führen, dann sei ihnen der Sieg sicher, 
und er selbst werde ihnen beistehen, ge¬ 
rufen und ungerufen (Thuk. I, 118). Im 
Euripides’ Angriff hallt die Empörung, 
wider, die inAthen diese Parteinahme der 
höchsten religiösen Instanz von Hellas 
ausgelöst hatte. 

Fast noch mehr als die Spartaner wa¬ 
ren den Athenern die thebanischen 
Nachbarn verhaßt, die man zudem noch 
als kulturell tiefstehend verachtete. Be¬ 
sonders flammte der Haß auf, als im 
Jahre 424 nach der Niederlage am De- 
lioa die Athener um die Auslieferung 
der Toten baten und die Thebaner diese 


nur gegen militärische Zugeständnisse 
gewähren wollten. 1 ) Denn die Bestat¬ 
tung der Toten gehörte zu den heilig¬ 
sten Pflichten, die Verweigerung der 
Auslieferung der Leichen galt als gröb¬ 
ste Verletzung hellenischer Sitte. Die 
Thebaner hatten allerdings diese Sitte 
niemals bedingungslos anerkannt, und 
ihre Haltung hatte schon lange ihren 
Niederschlag in einer attischen Sage 
gefunden, wonach beim Zuge des 
Polyneikes die Thebaner sich geweigert 
hätten, die Leichen der Gefallenen her¬ 
auszugeben, und erst von den Athenern 
mit Güte oder Gewalt dazu bestimmt 
worden seien. Diese Sage gehörte eben¬ 
so wie die von der Unterstützung der 
Herakliden zu den festen Ruhmestiteln 
Athens und war bereits von Aischylos 
in diesem Sinne behandelt. Jetzt drängte 
sie sich Euripides lebendig vor die Seele. 
Und andre Momente kamen hinzu, die 
ihn zu einer Neubearbeitung des Stoffes 
reizten. Im Jahre 420 lief der dreißig¬ 
jährige Friede zwischen Argos und 
Sparta ab, und schon Jahre vorher setzte 
ein ränkevolles Diplomatenspiei ein,um 
die bisher neutrale Großmacht auf die 
eine oder die andre Seite zu ziehen. Da 
war es wieder am Platze, an die Wohl¬ 
taten, die einst Theseus Adrast und den 
Seinen erwiesen hatte, und an die Dan¬ 
kesschuld, die seitdem auf den Argivern 
lastete, zu erinnern. 

Aber das eigentlich Bestimmende war 

offenbar für Euripides, daß dieser Stoff 
ihm noch mehr als die Herakliden Ge¬ 
legenheit bot, seinem patriotischen Hoch¬ 
gefühl Ausdruck zu verleihen. Einen 
Lobeshymnus auf Athen hat schon Ari- 
stophanes von Byzanz die Hiketiden 

1) Zum Folgenden vgl. besonders Wila- 
mowitz’ Einleitung zu seiner Übersetzung 
der Hiketiden („Der Mütter Bittgang“). Auch 
die Übersetzungen selbst habe ich bei die¬ 
sem Stück mit kleinen Änderungen von 
Wilamowitz übernommen. 


Digitized by 


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Original frnm 



1513 


Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


1514 


genannt. Tatsächlich ist auch hier die 
äußere Handlung, die sich ganz ähnlich 
wie in den Herakliden abspielt, Neben¬ 
sache. Sie liefert nur den Rahmen für 
da?, glänzende Bild, das der Dichter von 
seinem Vaterland entwirft. Athen ist der 
einzige Staat in Hellas, bei dem die 
Schwachen Zuflucht erwarten* dürfen, 
weil es im Gegensatz zu Sparta und den 
Kleinstaaten äußere Macht und ideale 
Gesinnung verbindet (187). Wenn es da¬ 
bei seinem Gefühl nachgibt und für die 
Bedrückten eintritt, so tut es das nicht 
aus sentimentalem Mitleid — das schärft 
der Zeitgenosse desThukydides den Hö¬ 
rem ausdrücklichein — sondern im wohl¬ 
verstandenen eigenen Interesse, im Be¬ 
wußtsein seiner stolzen Überlieferungen, 
in der Konsequenz seiner Vormachtstel¬ 
lung, die es ihm zur Pflicht macht, dem 
Frevel zu wehren und die Rechte von 
ganz Hellas zu schirmen (334 ff. 538 ff.). 
Aber der Dichter geht noch weiter. Wie 
einst Perikies am Ende des Samischen 
Krieges in seiner Leichenrede dem Volke 
die ganze Herrlichkeit des Vaterlandes 
vor Augen gestellt hatte, für die es wert 
gewesen sei die schwersten Opfer zu 
bringen, so benützt jetzt am Schluß des 
Archidamischen Krieges Euripides sein 
Stück dazu, um mit Hilfe lose eingefüg¬ 
ter Debatten im Spiegel der Heroenzeit 
das äußerlich machtvolle, innerlich kräf¬ 
tige Athen zu zeigen, wo Freiheit und 
Gleichheit herrschen, wo dem Tüchtigen 
freie Bahn verstattet ist und unbeengt 
durch äußere Hemmnisse jedes Talent 
sich voll zumWohle der Gesamtheit ent¬ 
falten kann. 

Es sind perikleische Gedanken, die 
hier nachkiingen. Das lehrt uns ein Ver¬ 
gleich mit Thukydides. Aber so wenig 
wie der Geschichtschreiber verkennt 
der Dichter, daß die Demokratie seiner 
Zeit die perikleischen Erwartungen nur 
zum Teil erfüllt. Mit Bestimmtheit lehnt 


Euripides zwar die Plutokratie ab, in der 
die unersättlichen Geldsäcke dasRegiment 
führen, aber ebenso bestimmt die radi¬ 
kale Herrschaft der Masse. Und er 
knüpft daran programmatische Worte, 
in denen er wie die besten Köpfe seiner 
Zeit den alten solonischen Staatsgedan¬ 
ken vertritt, der dem besitzenden Mit¬ 
telstand die ausschlaggebende Rolle zu¬ 
weist. Mit einer für uns recht befremd¬ 
lichen Modernisierung schildert er dar¬ 
aufhin die gefallenen Heroen als Bürger¬ 
typen, wie sie ihm als wünschenswert für 
den Staat erscheinen. In scharfen Worten 
brandmarkt er dafür die jungen politi¬ 
schen Streber, die den Staat in waghal¬ 
sige Unternehmungen stürzen, die ge¬ 
wissenlosen eigensüchtigen Demagogen, 
denen jedes Mittel recht ist, um sich in 
der Gunst der Menge zu erhalten. 
Scharfe Worte fallen aber auch gegen 
die begehrliche, vom Augenblick be¬ 
stimmte Masse. Hier nimmt aber die Kri¬ 
tik eine ganz bestimmte Richtung an: 
Wir hören die Mahnung (726): 

„Ja, solchen Feldherrn soll ein Volk sich 
wählen, 

der in dej Stunde der Entscheidung Mut 
bewährt und doch den Übermut des Pöbels 
verachtet, welcher sich im Glück vermißt, 
die allerhöchsten Stufen zu erklimmen, 
und so verscherzt, was er gewinnen konnte.“ 
Noch deutlicher wird der Dichter, 
wenn er gleich darauf wie auch an an¬ 
dern Stellen als abschreckendes Beispiel 
Theben charakterisiert, das wie ein 
reicher Emporkömmling durch sein 
Glück übermütig geworden sei und alles 
Gewonnene wieder verloren habe, und 
wenn er im Anschluß daran von der Ver¬ 
blendung der Völker spricht, die statt 
durch Verhandlungen lieber durch Blut¬ 
vergießen ihre Händel schlichten. Es 
sind Töne, die uns wohlbekannt sind; es 
sind die Gedanken, die seit 425 in Athen 
von den Gemäßigten immer wieder gel¬ 
tend gemacht wurden, als die Radikalen 








1515 


Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


1516 


unter Kleons Führung, durch den Augen¬ 
blickserfolg von Sphakteria übermütig 
gemacht, sich schon Herren von Hellas 
dünkten und selbst günstige Friedensan¬ 
gebote Spartas kurzerhand abwiesen. Im 
Sinne dieser Gemäßigten will Euripides 
wirken, wenn er die Segnungen des Frie¬ 
dens preist, wo Wohlstand und die 
Werke der Musen gedeihen und ein 
kräftiges junges Geschlecht heranwädhst 
(488), und wenn er einer billigen Ver¬ 
ständigung das Wort redet, bei der man 
auf die Entscheidung der Waffen ver¬ 
zichtet und selbst ein kleines Unrecht 
gelassen hinnimmt (748, 556, 949). 

Man empfindet eine starke Änderung 
des Tones, wenn man von den sonst so eng 
verwandten Herakliden herkommt: Dort 
die flammende Kriegsbegeisterung, hier 
die eindringliche Friedensmahnung. 
Aber das bedeutet doch keinen Bruch in 
der Grundanschauung des Dichters. 
Auch in den Herakliden war es ja nicht 
der Krieg als solcher gewesen, für den 
er sich begeistert hatte, und schon in 
einem Drama, das mehrere Jahre vor 
den Hiketiden etwa in der Mitte des Ar- 
chidamischen Krieges aufgeführt sein 
muß, dem Kresphontes, stand ein Chor¬ 
lied, in dem der allmählich alternde 
Dichter seiner Friedenssehnsucht ergrei¬ 
fend Ausdruck verlieh(fr. 453): 

„Holder Friede, du Spender des Reichtums, 
schönster der seligen Götter! 

Stille mein Sehnen! Wo weilst du so lange? 
Soll ich des Alters Beschwerden erliegen, 
ehe ich deine Wonnen geschaut, 
liebliche Reigen, festliche Lieder, 
fröhliche Züge mit Kränzen geschmückt? 
Friede, komm in mein Land zurück!“’) 


2) Das Original hat sein besondres Ethos 
dadurch, daß für den Griechen Eirene die 
weibliche Gottheit ist. Was das bedeutet, 
lehrt besser noch als etwa Kephisodots 
Statue der Eirene mit dem Plutoskinde das 
wundervolle, heute uns besonders ein¬ 
dringliche Beiwort, das Eirene zwar mit 
anderen Göttinnen teilt, aber doch in ganz 


Andrerseits ist es auch in den Hike¬ 
tiden nicht etwa ein Friede um jeden 
Preis, dem er das Wort redet. Immer 
wieder weist der Dichter darauf hin, daß 
Athen ein großes Erbe der Väter zu 
wahren hat. Und noch etwas andres ist 
ihm bewußt. Thukydides legt einmal den 
Korinthern eine Rede in den Mund, in 
der diese mit dem Scharfblick des Has¬ 
ses den Lebhaften tatendurstigen Cha¬ 
rakter des athenischen Volkes schildern, 
der immer zu einer Aktionspolitik 
drängt, dem eigenen Lande wie den 
Nachbarn keine Ruhe gönnt. „Mühen 
und Gefahren haben sie davon ihr Leben 
lang. Aber eine tatenlose Muße wird 
ihnen ebenso schwer wie. die mühe¬ 
vollste Tätigkeit.“ (I, 70.) Dasselbe Bild 
seines Volkes schwebt Euripides vor 
Auch für ihn gehören Tatendrang und 
Unternehmungslust zum Wesen des 
athenischen Volkes, und wenn die 
Feinde daraus Athen einen Vorwurf ma¬ 
chen oder auch wohlmeinende Freunde 
vor den Gefahren und Mühen warnen. 
die daraus erwachsen, und daraufhin 
Athen eine matte Kleinstaatpolitik zu- 
muten (576. 952), so antwortet er: „Groß 
ist die Mühe, groß ist auch der Lohn!“ 
(577) und prägt für sein Land die stolzen 
Worte (321): 

„Du siehst ja, wie dein Vaterland Athen, 
wenn sie es als leichtsinnig höhnen wollen, 
den Hohn mit stolzem Auge niederblitzt. 
Athen wächst in Gefahren. Nein, es ist kein 

Staat, 

der träge Ruhe pflegt, im Dunkel wohl sich 

fühlt, 

den Blick nicht frei zum hellen Tageslicht 

erhebt.“ 

Es ist auch nicht die Last und Not 


besonderem Sinne erhält (auch bei Euripi¬ 
des Bakch. 420): Sie heißt Kurotrophos, die 
Göttin, die für das Gedeihen des heran- 
wachsenden Geschlechtes sorgt. Schön und 
tief hat über Eirene Bruno KeU in der letzten 
Abhandlung seines Lebens gesprochen 
(Sitzb. d. Sächs. Ges. 1916). 


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Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


1518 


les Krieges, die den Dichter andre Töne 
lanschlagen läßt. Neben der Sehnsucht 
ia<rh der Arbeit und der Muße des Frie¬ 
dens, die wir ihm nur zu gut nach- 
fühlen, ist es die Überzeugung, der 
Zweck des Krieges sei erreicht, Athens 
Existenz und Machtstellung, die es in 
gerechtem Streite zu verteidigen galt, 
seien jetzt gesichert und könnten durch 
die maßlose Kriegspolitik der Radikalen 
nur neu gefährdet werden . 

Die Hiketiden sind sicher gegen Ende 
des Archidamischen Krieges aufgeführt 
worden. Wahrscheinlich gehörten sie 
zur selben Tetralogie wie der Erech- 
theus, der 421 unmittelbar vor der for¬ 
mellen Unterzeichnung des Friedens 
über die Bühne ging. Denn dieses Stück 
zeigt ganz die nämliche Stimmung und 
Tendenz. Auch hier haben wir den 
Preis Athens, des schönsten Vaterlandes, 
das der Mensch sich wünschen kann, 
(fr. 360,5). Auch hier einen Stoff aus der 
Urgeschichte Athens. Von übermächti¬ 
gen Feinden angegriffen gibt auf Wei¬ 
sung eines Orakels der attische König 
Erechtheus seine Tochter freiwillig als 
Opfer für die Rettung des Landes hin. 
Ob Euripides die Sage in dieser Form 
schon vorgefunden oder das Opfermo¬ 
tiv von einem andern Athener auf Erech¬ 
theus übertragen hat, sei dahingestellt 
Sicher ihm selber gehört ein charakte¬ 
ristischer Zug in der Ausführung. Wie 
in den Hiketiden Theseus’ Mutter es ist, 
die bei aller Sorge um den geliebten 
Sohn ihn doch als erste mahnt, im Ver¬ 
trauen auf die gerechte Sache den 
Kampf zu bestehen, so findet auch hier 
auf die Kunde vom Orakel die Mutter 
zuerst die freudige Entschlossenheit, 
dem Vaterlande, das sich in gerechter 
Abwehr befindet, ihr Kind zu opfern. 
„SoU denn das Wohl des einen Hauses 
höher stehn als das der Stadt? Hätte ich 
Söhne und wäre das Vaterland vom 


Brande des Krieges umloht, so zögerte 
ich keinen Augenblick sie in den Kampf 
zu schicken, nähme es ruhig hin, wenn 
siemit tausend andern dein Tod fänden. .. 
Jetzt kann ein Leben Haus und Land 
erretten, kann meine Tochter ewi¬ 
gen Ruhm erwerben. Da sollt’ ich zau¬ 
dern sie als Opfer darzubringen? 

„Der Mutter Tränen sind ein schlecht Ge¬ 
leit zur Schlacht, 

und manchem ward’s beim Abschied da¬ 
durch weich ums Herz. 
Verhaßt ist mir die Frau, die höher als die 
Pflicht 

des Kindes Leben einschätzt und zur Feig¬ 
heit rät.“ 

Der Dichter, der die Frauenseele für 
die Tragödie entdeckte, hat hier auch der 
Opferwilligkeit der Frau im Kriege ein 
würdiges Denkmal gesetzt. 

Das Ziel des Krieges aber ist der 
Friede, und lauter noch als in den Hike¬ 
tiden tönt uns hier die Sehnsucht ent¬ 
gegen nach einem dauernden Frieden, 
wo die Spinnen ihre Netze über die Lan¬ 
zen weben, wo man statt der Waffen das 
Buch in die Hand nimmt und der Dichter 
seine Tage in Muße beschließen kann 
(fr. 369). 

Die Hoffnung sollte sich nicht er¬ 
füllen. Es kamen die Jahre, die Thuky- 
dides ausdrücklich in den Krieg einrech¬ 
net und die jedenfalls bei niemand das 
behagliche Gefühl des gesicherten Frie¬ 
dens aufkommen ließen. In Athen ge¬ 
wannen die EroberungspLäne der Radi¬ 
kalen eine ganz andere Bedeutung, als 
sich der Ehrgeiz des genialen Alkibi- 
ades ihrer bemächtigte. Leider wissen 
wir nicht sicher, ob zu diesem Euripides 
in einem persönlichen Verhältnis ge¬ 
standen hat. Es gab im Altertum frei¬ 
lich ein Festlied auf den glänzenden 
Wagensieg, den Alkibiades im Jahre 416 
in Olympia errungen hatte, und dieses 
legte man Euripides bei. Aber die Zwei¬ 
fel, die schon von manchen antiken Ge- 






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Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


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lehrten geäußert wurden, sind jetzt von 
Wilamowitz mit gutem Grunde wieder- 
au [genommen. Es ist wirklich nicht 
glaublich, daß der Dichter damals noch 
den Mann so feierte, dessen politische 
Pläne er wenige Monate später aufs lei¬ 
denschaftlichste verwarf. 

Im Frühjahr 415 fanden die entschei¬ 
denden Verhandlungen über die sizilische 
Expedition statt. In dieser Zeit sind Eu- 
ripides’ Troerinnen aufgeführt. In 
den Hiketiden hatte der Dichter den Ge¬ 
danken ausgesprochen: „Es müßte bei 
der Abstimmung über Krieg und Frie¬ 
den in der Volksversammlung nur jeder 
sich den eignen Tod vor Augen halten, 
dann würde nicht so leicht ein Krieg 
beschlossen“ (484). Jetzt stand die Ab¬ 
stimmung über einen Eroberungszug be¬ 
vor, der nach seiner Überzeugung heller 
Wahnsinn war und Athen ins Verderben 
stürzen mußte. Da sollten wenigstens 
auf der Bühne die Athener alle 
Schrecknisse des Krieges sehen. In einer 
Reihe von Szenen erlebt der Zuschauer 
das grenzenlose Elend der Besiegten 
mit. Aber in den Jammer der gefangenen 
Troerinnen mischt sich gleich im Prolog 
ein andrer Ton, der auch schon am 
Schluß des in der Tetralogie vorange¬ 
henden Stückes angeklungen war. Die 
Griechen haben ihr nächstes Ziel er¬ 
reicht. Troja liegt in Trümmern. Aber 
bei der Eroberung haben sie Athena 
durch einen Frevel erzürnt, und die 
Göttin, auf deren Hilfe sie bisher ge¬ 
baut haben, will jetzt ihr Verderben. 
Von der stolzesten Flotte, die je die Welt 
gesehen, werden nur klägliche Reste die 
Heimat erreichen. Wir wissen, wie man 
in Athen damals geneigt war, überall 
Vorzeichen für das Unternehmen, das 
alle Gemüter erregte, zu sehen. Da hat 
man gewiß verstanden, was Euripides mit 
dem Los der Griechenflotte andeuten 
wollte. Aber noch unmittelbarer wendet 


sich der Dichter an seine Athener. Er 
legt Kassandra eine Rede in den Mund, 
die ganz aus dem Stück herausfällt und, 
wie die Seherin selbst bemerkt, mit 
ihren nüchternen Betrachtungen auch 
zu dem Charakter der ekstatischen Pro¬ 
phetin wenig stimmt (366). Da stellt sie 
dem Los der Besiegten das der Griechen 
gegenüber, die nicht für die bedrohten 
Altäre, nicht für Weib und Kind, son¬ 
dern für ein sinnloses Ziel ihr Blut ver¬ 
gossen, die jahrelang ihren Lieben fern 
waren, bis die meisten von ihnen in der 
Fremde einen einsamen Tod, ein von 
keinem Angehörigen gepflegtes Grab 
fanden, während in der Heimat die Gat¬ 
tin als Witwe verkümmern sollte, die 
alten Eltern ihrer einzigen Stütze be¬ 
raubt wurden. Das ist die Stelle, die 
Schiller die Würdigung des für seine 
Hausaltäre kämpfenden Hektör eingege¬ 
ben hat. Euripides wollte noch etwas 
andres: er wollte den Athenern das 
Los vor Augen stellen, das selbst beim 
Gelingen des zwecklosen Eroberung- 
zuges die Besten von ihnen treffen 
mußte. 

Des Dichters Warnung verhallte un- 
gehört wie die der besonnenen Staats¬ 
männer in der Volksversammlung Und 
zwei Jahre darauf preßte die Sorge um 
das vor Syrakus liegende Heer Euripi¬ 
des einen Angstruf ab, den er am Schluß 
der Elektra den göttlichen Rettern aus 
Seenot, den Dioskuren, in den Mund legt: 

„Uns zieht es jetzt nach Siziliens Meer: 
zu retten gilt es die Flotte. 

So eilen wir durch die LOfte dorthin; 
wir hören nicht auf des Frevlers Gebet, 
doch wer immer fromm und redlich gelem 
den retten wir aus den Gefahren.“ 

Aber kein Gott half den Athenern 
mehr. Und ehe das Jahr zur Neige ging' 
erhielt Euripides vom Staate den Auf¬ 
trag, für das Kenotaphion der unzäh 
ligen vor Syrakus Gefallenen die Au: 





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Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


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schrift zu dichten. Plutarch hat uns die 
Verse bewahrt (NÜk. 17): 

„Das sind die Männer, die achtmal die Syra- 
kusaner bezwangen, 

als noch der Gottheit Gunst gleich stand 
für Freund und für Feind.“ 

Noch zehn Jahre hat sich Athen nach 
der sizilischen Katastrophe gehalten, 
mehr als einmal noch große Erfolge er¬ 
zielt, und die Zähigkeit, die es bewies, 
hat einem Manne wie Thukydides Be¬ 
wunderung entlockt. Bei Euripides spü¬ 
ren wir in dieser Zeit ein einziges Mal 
stolze Freude, wenn er in den Phoenissen 
v. 854 ganz unmotiviert einen Hinweis 
auf einen herrlichen Sieg der Athener 
einlegt. Gewiß hat er da nicht an eine 
mythische Großtat, sondern an den gro¬ 
ßen Seesieg von Kyzikos gedacht, der 
wenige Wochen vorher errungen war. 
Aber das war für ihn doch nur ein 
Augenblickserfolg, und im ganzen ist er 
in einer trüben, ja verzweifelten Stim¬ 
mung. In den Hiketiden hatte er aus¬ 
drücklich eine Predigt gegen die pessi¬ 
mistische Weitauffassung eingeflochten. 
Jetzt ist er selber dieser vollkommen 
verfallen. Mannigfache Umstände haben 
dabei zusammengewirkt; am wichtig¬ 
sten aber war das Erlebnis des Krieges. 
Und wenn früher ain die Stelle der ersten 
Kriegsbegeisterung die Sehnsucht nach 
dem Frieden getreten war, so wird dar¬ 
aus jetzt eine Abscheu vor dem Kriege, 
in dem er allmählich so wenig Sinn izu 
entdecken vermochte wie im Weltlauf 
überhaupt 

Zum Friedensanwalt war er durch 
den Gegensatz gegen die Eroberungs- 
piänc der Radikalen geworden. Jetzt be¬ 
herrschte ihn die Stimmung, Athen habe 
alles Unheil seliber durch seine Aben¬ 
teurerpolitik heraufbeschworen, und 
diese Überzeugung erhielt immer wie¬ 
der neue' Nahrung durch die Verblen¬ 
dung, mit der dieselben Fanatiker auch 


jetzt noch mehrfach billige Friedensvor- 
schläge der Gegner von der Hand wie¬ 
sen. Die Erbitterung über dieses Trei¬ 
ben der herrschenden Partei und den 
Terrorismus, den sie ausübte, komm! 
am stärksten zum Ausdruck im Orest, 
wo der Dichter die Schilderung einer 
Volksversammlung ednlegt, in der die 
Stimme der Vernunft ungehört verhallt 
und eine urteilslose Menge blindlings 
den Worten gewissenloser Hetzer folgt. 
Schon die antiken Erklärer wußten den 
Demagogen zu nennen, dessen Bild Eu¬ 
ripides dabei an den Pranger stellen 
wollte. Es war der größte Gegner des 
Friedens, Kleophon (schol. Ort. 903). 

Patriotische Dramen werden wir in 
einer solchen Zeit nicht vom Dichter er¬ 
warten. Noch nach dem Nikiasfrieden 
hatte er den I o n geschaffen, in dem er 
vor aller Welf für Athen das Erslgeburts* 
recht unter den hellenischen Stämmen; 
in Anspruch nahm und im Sinne der 
Reichspolitik den Ioniern einschärfte, 
Athen sei ihr Mutterland, mit dem sie 
nicht nur staatsrechtlich, sondern auch 
durch verwandtschaftliche und religiöse 
Bande verbunden seien. Seit der sizi¬ 
lischen Expedition finden wir solche 
Tendenzen nicht mehr. Aber wie bei 
Plato so spürt man auch bei Euripides 
gerade in den Werken, in denen er die 
tiefste Unzufriedenheit mit den heimi¬ 
schen Zuständen verrät, die heiße Liebe, 
mit der er an seinem Vaterlande hängt. 
Finden wir doch auch in den Troerinnen 
mitten in der bitteren Kritik an Athens 
Politik ein Chorlied, das ein starkes Be¬ 
kenntnis zu dem heiligen, glanzvollen 
Vaterlande bringt (800 ff.). 

Unter allen Gefahren, die Athen be¬ 
drohten, war die schlimmste die innere 
Zwietracht, die im Jahre 411 zur Revo¬ 
lution führte und für einige Monate die 
Oligarchen ans Ruder brachte. Dann 
folgte eine Übergangszeit, in der die ge- 









1523 


Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


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mäßigten Elemente von der Richtung 
des Theramenes den maßgebenden Ein¬ 
fluß hatten; aber bald machte diese der 
radikalen Demokratie wieder Platz. Eu-< 
ripides hat an der aktiven Politik keinen 
Anteil genommen. Aber seine Sym¬ 
pathie gehörte notwendig den Gemäßig¬ 
ten, und wenn nach der Restauration die 
waschechten Radikalen sich als die al¬ 
leinigen Patrioten gebärdeten, so über¬ 
wog bei ihm das andre Gefühl, daß so 
mancher von denen, die jetzt draußen 
in der Verbannung lebten oder womög¬ 
lich gar im Lager der Feinde standen, 
ihr Vaterland im Grunde ebenso lieb¬ 
ten wie die Kleophon und Genossen und 
nur durch den Parteifanatismus hinaus¬ 
getrieben waren. Und sein Dichtergemüt 
empfand lebendig nach, was diese Männer 
draußen innerlich durchleben mußten. 

Von da aus müssen wir die Phoe- 
nissen zu verstehen suchen, die wahr¬ 
scheinlich im Frühjahr nach der Revo¬ 
lution, spätestens aber 409 über die 
Bühne gingen. Der Stoff des Stückes 
war schon von Aischylos in seinen Sie¬ 
ben gegen Theben behandelt, und Eu- 
ripides hat sein Drama bewußt als Ge¬ 
genstück zu diesem gestaltet. Aischylos’ 
Sieben waren von einem berufenen Beur¬ 
teiler (Gorgias B24, vgl. Aristoph. Frösche 
1021) ein dpc/i« ’^gecog usotöv ge¬ 
nannt worden, das jeden Zuschauer mit 
kriegerischer Begeisterung erfüllte. Für 
Euripides war diese Tendenz innerlich 
unmöglich. Auch er stellt in die Mitte 
des Stückes ein Lied auf Ares (783). 
Aber es ist der JtoXvfiox&os'^grjs, den er 
anruft, der Bringer alles Elends, der Ge¬ 
nosse furchtbarer Zwietracht. 

Aischylos hatte seine einheitliche Wir¬ 
kung erzielt, indem er den Bruderkrieg 
ganz von der Seite der Verteidiger der 
Vaterstadt schilderte und Eteokles nur 
mit innerem Widerstreben in den Kampf 
gegen den angreifenden Bruder gehen 


ließ. Das konnte Euripides nicht brau¬ 
chen. So hat er es gewagt, in schärf¬ 
stem Gegensatz zur Sage Eteokles, den 
„Träger des wahren Ruhms“, zum Schul¬ 
digen zu machen, Polyneikes, den schon 
sein Name als Händelsucher brand¬ 
markte, als den ft,echtheischenden vor¬ 
zuführen, der zum Vaterlandsfeinde nur 
wird, weil sein Bruder ihm den recht¬ 
mäßig ihm zukommenden Teil der Herr¬ 
schaft vorenthält. Durdh die glückliche 
Erfindung eines Vermittlungsversuchs 
der Mutter gewinnt Euripides die Mög¬ 
lichkeit, uns einen Einblick in das 
Seelenleben des Polyneikes zu geben 
Scheu betritt er die Straßen der Vater¬ 
stadt, jedes Geräusch schreckt ihn auf 
trotz des zugesicherten Geleits. Jedes 
Haus, jeder Altar erweckt in ihm Er¬ 
innerungen, entlockt ihm Tränen. Rührend 
ist das Wiedersehen mit der Mutter. Sein 
erstes Wort ist das Bekenntnis (358). 

.Es ist nun einmal so: 

Die Heimat liebt ein jeder, und wer anders 

spricht, 

der spielt mit Worten, folgt dem Zug des 

Herzens nicht“ 

Leidenschaftlich klagt er ihr dann über 
das bittere Los des Verbannten, seine 
Entbehrungen und Demütigungen, sein 
Heimweh. 

.So ist denn also doch die Heimat wohl 
das Liebste, was es für den Menschen gibt 1 ’ 

fragt die Mutter, und er antwortet; 
„Wie lieb sie ist, das sagt kein Mund dir 

aus“ (405.6). 

Gegenwartsempfindungen mußte und 
sollte diese Szene bei den Athenern aus- 
lösen. Als direkten Appell aber mußten 

sie Iokastes Mahnung auf fassen: „Wenn 

entzweite Freunde sich versöhnen wol¬ 
len, so gilt es zunächst alles Vergangene 
zu vergessen. Denn die Worte xaxd» 
de r&v Jt glv ^tjöevbg yLvstav e%tiv (4641 
sind bewußt im Anklang an den staats¬ 
rechtlichen Terminus der Amnestie (/»>, 
jivrjoixaxelv) gewählt, die seit 411 ein 



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Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


ständiges Thema in den politischen De¬ 
batten bildete. 

Der Appell bleibt im Stück wirkungs¬ 
los. Eteokles bekennt offen sein Un¬ 
recht; aber ehe er auf die Süßigkeit des 
Herrschens verzichtet oder auch nur sie 
mit seinem Bruder teilt, mag lieber das 
ganze Haus, der ganze Staat in Trüm¬ 
mer zerfallen. Auch hier brauchte der 
Zeitgenosse des Euripides nur für den 
leiblichen Bruder den Volksgenossen, 
den Mitbürger einzusetzen, um im Spie¬ 
gel der Heroenzeit nur zu gut sein 
eigenes Athen wiederzuerkennen. 

Schonungslos deckt hier Euripides die 
letzte Ursache all der unseligen inneren 
Zwietracht auf. Und er stellt ihr ein 
anderes Bild gegenüber. Der Sohn des 
Kreon, Menoikeus, halb Knabe noch halb 
Jüngling, gibt sich, um ein Orakel zu er¬ 
füllen, für die Vaterstadt freiwillig den 
Tod. Das Motiv, das der Dichter frei in 
die Sage fügt, ist uns ähnlich schon im 
Erechtheus begegnet. Ganz gewiß hat 
es Euripides nicht bloß um des dramati¬ 
schen Effektes willen wiederholt. Wenn 
Herrschsucht und Parteifanatismus die 
reifen Männer dazu treibt, ihre egoisti¬ 
schen Ziele allein zu verfolgen, mag ein 
unverdorbenes Jünglingsgemüt mahnen, 
das Vaterland über alles zu stellen, 
auch über das eigene Leben. 

„Ja, täte jeder, was in seinen Kräften steht, 
und brächte das dem Vaterland als Opfer 
dar, 

so bliebe wohl dem Staate manches Leid 
erspart 

und groß und glücklich ständ’ er für die 
Zukunft da“ (1015). 

Aus der Stimmung dieser Jahre her¬ 
aus werden wir endlich auch das Stück 
besser verstehen, das in neuerer Zeit 
herbsten Tadel erfahren hat, den 408 
aufgeführten Orest. Den Mutteflmord 
des Orest hatte Euripides schon fünf 
Jahre vorher in der Elektra behandelt, 
in der bestimmten Tendenz, an der Sage 


Kritik zu üben, die ohne weiteres den 
Gott eine so gräßliche Tat gebieten 
läßt. Jetzt zeigt er uns Orest wenige 
Tage nach dem Morde von furchtbaren 
Gewissensqualen gepeinigt, die sich bis 
zu Wahnsinnsanfällen steigern, die 
treue Schwester ihm zur Seite. Es ist 
die Szene, die in Goethes Iphigenie nach¬ 
wirkt. Kommen wir von unserm Dich¬ 
ter her, so erwarten wjr unwillkürlich 
auch bei Euripides die Läuterung und 
Entsühnung des Täters als den Inhalt 
des Stückes. Statt dessen wird Orest vor 
äußere Aufgaben gestellt. Die Argiver 
sind keineswegs gesonnen, die Ermor¬ 
dung ihres Königspaares Klytämnestra 
und Aegisth ruhig hinzunehmen. Eine 
Volksversammlung beschließt den Tod 
der Geschwister, und der einzige, der 
sie retten könnte, ihr Oheim Menelaos* 
erweist sich als ein Schurke, der nur 
auf den Tod des Neffen lauert, um sein 
Erbe anzutreten. So gilt es für Orest, 
mit äußerster Kraftanspannung für sein 
und seiner Schwester Leben zu kämpfen. 
Darüber treten die inneren Qualen vor¬ 
läufig zurück'. Das ist psychologisch 
vollkommen begründet, und Euripides 
hat oft genug dargestellt, wie stark der 
Selbsterhaltungstrieb wirkt, hat auch, 
den Personen, die in der Verfolgung 
eines hohen Zieles diesen Lebensinstinkt 
überwinden, gerade durch die Betonung 
der Schwere ihres Opfers eine Lebens¬ 
wahrheit gegeben, die wir bei Wielands 
Alkestis vermissen. Aber der Orest bie¬ 
tet freilich etwas Merkwürdiges. Audi 
hier wird der Lebensdrang selber schlie߬ 
lich durch ein stärkeres Motiv überwun¬ 
den, aber nicht durch ein sittliches Stre¬ 
ben, sondern durch Blutgier (und Rach¬ 
sucht. Es gelingt den Geschwistern, Mer 
nelaos’ Tochter Hermaone in ihre Gewalt 
zu bekommen. Damit ist Menelaos sel¬ 
ber gezwungen, nach ihrem Willen zu 
handeln, sie sind gerettet. Allein um 









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Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


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seine Rachsucht zu befriedigen, setzt 
Orest jetzt sein Leben aufs Spiel, indem* 
er sein Schwert gegen Hermione zückt* 
und Phoibos muß erscheinen, um eine 
Aussöhnung he rbeizu führen. Jakob 
Burckhardt hat gemeint, Euripides habe 
keine Ahnung davon, daß er den Ge¬ 
schwistern mit dieser Rachsucht einen 
Charakterflecken anhefte (Gr. Kultg*. II, 
347); andere Moderne sprechen von den 
Banditen Orest und Elektra. Schwerer 
würde noch der Vorwurf einer Verzeich¬ 
nung der Charaktere wiegen. Aber so¬ 
viel ist jedenfalls sicher: Euripides hat 
Orest mit vollem Bewußtsein so gezeich¬ 
net, daß die Blutgier den Sieg selbst 
über den Lebensdrang davonträgt, und* 
er gibt uns auch deutliche Fingerzeige 
zum Verständnis seiner Absichten. Für 
den Plan Helena zu töten wird Orest da¬ 
durch gewonnen, daß Pylades ihm in 
Aussicht stellt, er könne sich von dem 
Mutterblute reinwaschen mit dem Blute 
der Helena, die das Blut so vieler Grie¬ 
chen auf dem Gewissen habe (1140). Die 
Frevlerinnen zu töten wolle er niemals 
müde werden, rühmt er sich selbst gegen 
den Schluß (1590), und mjt besondrer 
Betonung und absichtlicher Wiederho¬ 
lung der Worte wird er dort mehrmals 
der Muttermörder genannt der Blut auf 
Blut vergießt (1587. 1579),. Schon im He¬ 
rakles hatte Euripides gezeigt, wie der 
Blutdunst die Sinne umnebelt. Blut 
zeugt Blut und wer es einmal vergossen; 
hat wird mit fast magischer Gewalt von 
einer Bluttat zur andern getrieben. Wer 
glauben kann, daß ein Gott einen Mut- 
termord gebietet der mag sich auch sa¬ 
gen, daß durch eine solche Tat der 
Mensch zum blutdürstigen Tiere wird, 
das nur durch einen Gott selber wieder 
zur Besinnung gebracht werden könnte. 

Wie aber Euripides dazu gekommen 
ist, diesen Gedanken durchzuführem, das 
wird uns deutlicher vielleicht durch edj- 
nen Vers (525), der ausdrücklich besagt 


daß die tierische Blutgier es immer ist 
die auch Land und Völker ins Verder¬ 
ben zieht. Hier ist nicht nur an die 
staatsgefährdende Wirkung der indivi¬ 
duellen Blutrache zu denken. Vielmehr 
schwebt derselbe Gedanke vor, den wir 
auch schon in einem Chorlied der weni¬ 
ge Jahre vorher aufgeführten Helena 
finden (1151 ff.): „Ihr Toren, die ihr nur 
mit der Waffe euch durchzusetzen 
sucht! Wie leicht wäre es gewesen, den 
Streit um Helena durch Verhandlungen 
zu schlichten! Aber wenn erst einmal 
d!e blutige Entscheidung angerufen ist 
so wird niemals der Kampf aus dem 
Leben der Völker verschwinden.“ 

Blut zeugt Blut, das gilt für das Leben 
der Individuen wie der Völker — daß 
dieser Gedanke Euripides im Orest vor¬ 
schwebt, darauf deuten auch die Schlu߬ 
worte, die Apollo an die Streitenden rich¬ 
tet: „Ehret der Gottheiten schönste, ehret 
den Frieden!“ Hätte derDichter nur an die 
Versöhnung der Individuen gedacht, hätte 
er schwerlich das Wort „Friede“ gebraucht. 

Es ist die bedeutungsvolle Schluß- 
mahnung, die der Dichter den Zuschan- 
em mitgibt. Es ist auch das Abschieds¬ 
wort, das er an sein Volk richtet. Kurz 
darauf hat er die Vaterstadt verlassen 
und ist einer Einladung des Königs Ar¬ 
chelaos von Makedonien gefolgt. Arche- 
Jaos .ist der Herrscher, der die wirtschaft¬ 
lichen und militärischen Grundlagen für 
die Größe Makedoniens gelegt hat. Er 
hatte aber auch wie verschiedene andre 
Fürsten namentlich der nächsten Gene¬ 
ration den Wunsch in seinem Lan¬ 
de ein Kulturzentrum zu schaffen, sein 
Volk auf eine höhere Stufe zu erbe¬ 
ben. So richtete er nicht bloß musische 
Spiele ein, er zog auch bedeutende 
Geister aus ganz Hellas an seinen Hof. 
Euripides hat sich in def neuen Umge¬ 
bung offenbar sehr wohl gefühlt und 
hat dort so frische Dramen geschaffen 
wie die Bakchen. San letztes Werk 



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[ND1ANA UNfVERSITY 




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Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


1530 


■war die Iphigenie in Aulls, die er 
unvollendet hinterließ. Sie wurde nach 
seinem Tode auf der athenischen Bühne, 
für die sie sicher bestimmt war, aufge- 
führt, und es ehrt die Athener, daß sie 
dem im Leben so viel an gefeindeten 
Dichter wenigstens im Tode noch den 
ersten Preis zuerkannten. 

Die Sage von der Opferung der un¬ 
schuldigen Iphigenie hatte auf Euripides 
immer abstoßend gewirtet. Wenn er sich 
jetzt zu ihrer Bearbeitung entschloß, so 
heißt das, daß er sie aus bestimmten 
Motiven innerlich umzugestalten ge¬ 
dachte. Nach dem Bilde des Menoikeus 
schuf er aus dem willenlosen Opfer¬ 
lamm die von Schiller so bewundert 
Gestalt der blühenden Fürstentochter, 
die sich aus eigenem Entschlüsse für das 
Ganze hingibt. Und schärfer noch als 
in den Phoenissem läßt er die aktuelle 
Tendenz durchblicken, wenn Iphigenie 
erklärt: „Nicht dir allein, nein allen Grie¬ 
chen, Mutter, hast du mjch geboren. 
Sieh auf die Tausende von Männern, 
die jetzt bereit sind zu Lande wie 
zur See den Tod fürs Vaterland zu ster¬ 
ben! Da sollte ich zurückstehen, wenn 
ich als einzelne ganz Helllas retten kann ? 
Wo bliebe da die Gerechtigkeit? Nein, 
ich weihe Hellas meinen Leib, freudig 
geh’ ich in den Tod. Und keine Tränen 
sollst du, Mutter, um mich weinen, kein 
schwarzes Kleid sollen die Schwestern’ 
tragen. Mir ist ein glücklich Los gefal¬ 
len, ew’ger Ruhm wird mein Teil.“ 

Soll aber Iphigenien^ Selbstaufopfe¬ 
rung uns befriedigen, dann muß auch 
die Sache, für die sie stirbt, uns groß 
und heilig sein. Deshalb rückt jetzt der 
Trcjazug in ganz andre Beleuchtung. In 
den Jahrzehnten des Krieges erscheint 
er sonst bei Euripides immer als Typus 
eines sinnlosen Unternehmens, durch ei¬ 
nen nichtigen Anlaß oder durch Zeus’ 
Willkür entfacht. Jetzt kehrt der Dichter 
zu einer Betrachtungsweise zurück, die. 


aus der Stimmung nach den Perserkrie¬ 
gen erwachsen und durch gewisse all- 
hellenische Tendenzen der perikleischen 
Zeit genährt, uns auch bei Euripides 
selbst in Dramen der dreißiger Jahre be¬ 
gegnet. Der Trojazug wird ihm wieder 
wie den Männern, denen Herodot im Ein¬ 
gang seines Geschichtswerkes folgt, zum 
ersten Zusammenstoß zwischen Grie¬ 
chen und Barbaren. Der Raub der He- * 
lena hat Sicherheit und Ehre von Hellas 
verletzt, einen Rachezug, eine Züchti¬ 
gung der Barbaren notwendig gemacht 
(1274. 1379). Aber dieser Gedanke er¬ 
fährt jetzt noch eine merkwürdige Stei¬ 
gerung. „Laß mich doch Hellas Rettung 
bringen, wenn ich’s kann“, sagt Iphigenie 
auf Achills Warnung (1421); „ich geh’ 
und bringe Hellas Rettung durch den 
Sieg“, ruft sie beim Abschied. „Ob Hellas 
frei bleibt oder nicht, das steht bei dir“, 
mahnt ihr Vater (1273), und sie nimmt 
den Gedanken auf (1383): „Mir wird der 
sel’ge Ruhm, daß Hellas ich befreit.“ Ver¬ 
geblich wäre es, wollte man diese Worte 
aus der Situation des Trojazuges erklä¬ 
ren. Der war auch in den Augen der eu- 
ripideischen Zeit, wie z. B. Herod. L 4 
zeigt, ein Angriffskrieg, bei dem die 
Freiheit oder gar die Existenz der Grie¬ 
chen gewiß nicht in Gefahr war. Euri¬ 
pides selber hatte freilich schon 433 in 
seinem Telephos einem Griechen bei Be¬ 
ratungen über denZ'ug die Worte in den 
Mund gelegt: „Solln wir Hellenen der 
Barbaren Knechte sein ?“ Aber das kann 
nur eine beiläufige Äußerung gewesen 
sein, in der auf die möglichen Folgen einer 
Unterlassung des Strafzuges hingewie¬ 
sen wurde. Denn sonst wurde gerade 
auch in diesem Stücke der Charakter des 
Argriffskrieges scharf betont. Weit 
gehi aber auch selbst über diesen Gedan¬ 
ken Iphigenie hinaus, wenn sie ihre 
Rede mit der dem Standpunkt des alten 
Epos ganz fernliegenden Sentenz ab¬ 
schließt (1400): 









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Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege 


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.Mutter, herrsdien muß der Grieche, der 
Barbare sei sein Knecht, 
den schuf die Natur zum Sklaven, doch den 
Griechen schuf sie frei“. 

Das ist eine programmatische Erklä¬ 
rung, die schon Aristoteles in der Poli¬ 
tik (1,2) als solche eingesch&tzt hat, eine 
Erklärung, die Euripides an seine Zeit¬ 
genossen richtet. Damals mochte frei¬ 
lich Existenz und Freiheit von Hellas 
auch nicht unmittelbar bedroht erschei¬ 
nen. Aber wir haben aus derselben Zeit 
so manche Stimmen Tiefblickender, die 
uns die bange Sorge zeigen, die unselige 
gegenseitige Zerfleischung der Griechen 
müsse mit ihrer politischen Vernichtung 
enden, und die warnend auf die aus¬ 
schlaggebende Holle hinwiesen, die Per¬ 
sien im dekeleischen Kriege wieder zu 
spielen begann. Grade aus dem unsäg¬ 
lichen Elend des Bruderkrieges sog der 
Panhellenismus neue Kraft, und als ein¬ 
zige Rettung der Hellenen erschien es 
vielen, wenn sie sich auf ihre nationale 
Einheit, auf die gemeinsamen Aufgaben, 
die vom Erbfeind drohenden Gefahren, 
besännen. Nirgends aber war ein besserer 
Nährboden für solche Ideen als am Hofe 
des Makedonenkönigs, wo sich Männer 
der verschiedensten Griechenstämme zu¬ 
sammenfanden, wo man in einem halb- 
barbarischen Volke lebte, der König sel¬ 
ber aber darauf Wert legte, als Hellene 
zu gelten. Bei Archelaos ist es auch sehr 
wohl denkbar, daß er bewußt diese 
Ideen förderte. Auch wenn er sich noch 
nicht mit Plänen trug, wie sie Philipp 
und Alexander bewegten, konnten ihm 
bei der Lage seines Reiches perserfeind¬ 
liche Tendenzen in Griechenland nur will¬ 
kommen sein. Bei dem ersten Versuche 
einer Einmischung in hellenische Angele¬ 
genheiten mußteersichfreilich selbstgefal¬ 
len lassen, unter Hinweis auf den vorhin 
angeführten Vers aus Euripides’ Teleph’os 
als Barbar zurückgewiesen zu werden. 


Jedenfalls- ist es kein Zufall, daß 
grade auf diesem Boden, in dieser Zeit 
Euripides’ Iphigenie entstanden ist. Wir 
haben gesehen, wie Ln den vorhergehen¬ 
den Jahren er bei jeder Gelegenheit sei¬ 
nen Abscheu vor dem Kriege zum Aus¬ 
druck bringt. Aber es war doch nicht 
mattherziges Erliegen unter der Lastund 
Not des Krieges, was ihn zu der unbe¬ 
dingten Verurteilung führte, sondernder 
Schmerz über diesen Krieg, den unseli¬ 
gen Bruderkrieg. So konnte es kommen, 
daß auch er schließlich den Ausweg sah 
im Zusammenschluß gegen die dro¬ 
hende Gefahr, im Kampfe gegen den 
Erbfeind. 

Bald ist dann das panhellenische Ge¬ 
fühl so weit erstarkt, daß es als politi¬ 
scher Faktor von Bedeutung wurde, 
Als nach einem Jahrzehnt Agesilaos den 
Zug gegen Persien antrat, wollte er als 
Führer des gesamten Hellenentums ge¬ 
gen die Barbaren, als neuer Agamemnon 
gelten, und es war vielleicht nicht oßne 
den Einfluß des Euripides, wennerdies 
äußerlich durch ein Opfer in Aulis do¬ 
kumentierte. Der nächsten General 
ist die Auffassung des Trojazuges als des 
typischen Krieges gegen die Barbaren 
ganz geläufig, der Zusammenschluß der 
Hellenen gegen den Erbfeind ein weit¬ 
verbreitetes politisches. Programm. Feru 
war freilich noch die Zeit, wo dieses tat¬ 
sächlich verwirklicht werden sollte, wo 
Alexander auf Achills Grabhügel in der 
Troas den Kranz niederlegte. Aber ein 
schöner, ein versöhnlicher Abschluß für 
Euripides’ Leben ist es doch, daß unmit¬ 
telbar vor dem Zusammenbruch seiner 
engeren Heimat er aus den Nöten und 
der Verbitterung der letzten Kriegsjahre 
sich hindurchrajig zu dem freudigen 
Glauben an die Größe seines weiteren 
Vaterlandes, an den Weltberuf des Hel- 
lenentiums. 






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Nachrichten und Mitteilungen 


1534 


Nachrichten und Mitteilungen. 


Die Dichterin der neuen Türkei. 

Die politische Erneuerung der Türkei hat 
iidi auch für das geistige Leben der Türken 
ils eine befreiende Macht erwiesen. Vor 
tllem der Literatur, die bis dahin ganz 
unter dem Zwange fremder, persischer oder 
französischer, Einwirkungen stand, hat sie 
neues Leben gebracht. Eine Fülle starker, 
■künstlerisch sehr achtbarer Talente sind 
seit Beginn des neuen Jahrhunderts in der 
Türkei hervorgetreten. Unter ihnen ge- 
bührt weitaus der erste Platz einer edlen 
Frau, Chalide Edib Hanym. Was sie 
als Dichterin den Türken bedeutet, hat ein 
literaturkundiger und gelehrter Landsmann 
von ihr in dem schönen Worte gesagt: 
„Nehmt Chalide Hanym weg, und ihr könnt 
nicht von türkischer Literatur der neuesten 
Zeit sprechen.“ 

Chalide Edib ist 1883 in Konstantinopel 
als Tochter eines höheren Regierungsbe¬ 
amten geboren. Ihr Bildungsgang war un¬ 
gewöhnlich und hat sie bei ihrer leiden¬ 
schaftlichen Wißbegier außerordentlich be¬ 
reichert. Zunächst hatte sie englische Er¬ 
zieherinnen, dann besuchte sie das ameri¬ 
kanische Frauen-College in Skutari, endlich 
gab sie sich unter Leitung von Privatleh¬ 
rern mit brennendem Eifer mathematischen, 
philosophischen und soziologischen Studien 
hin, für die in der heutigen Türkei sehr 
viel Interesse besteht. Als mit der Ver¬ 
fassung auch eine freie Bewegung der 
Geister anbrach, da trat diese von Glauben 
und Mut erfüllte Natur in die erste Reihe 
der Kämpfer für Reform und Freiheit. Zu¬ 
nächst aber war es nicht die Politik, die 
ihr Schaffen bestimmte. Sie trat als Künst¬ 
lerin hervor; was ihr Leben umgab und 
bewegte, das wurde ihr seelisches Erlebnis 
und gestaltete sich ihr zu echten Kunst¬ 
werken. Und ihre Seele ist ein sehr fein 
gestimmtes Werk. Leise Berührung genügt 
schon, um es tönen zu lassen. Sie hat ein 
starkes Temperament, eine erstaunliche see¬ 
lische Spannkraft und ein tiefes Empfinden. 
Schon die ersten Stücke im Tanin — „Zer¬ 
störte Heiligtümer“ und „Ra’iks Mütterchen“ 
— verrieten ihre Begabung. Und bald fand ihr 
Genius den völlig gereiften Ausdruck in dem 
Roman „Chandan“, einem Meisterwerk. 
Wohl bieten hier auch die äußeren Er¬ 


lebnisse ein höchst fesselndes Bild des Le¬ 
bens; aber Chalide ist es nur um die Schil¬ 
derung des seelischen Erlebens zu tun, der 
Roman ist deshalb in Briefform angelegt. In 
der Tat besteht die Stärke des Werkes nicht 
so sehr in der Erzählung als in der Charak¬ 
terschilderung. In der Gestalt der Chandan 
selbst liegt der hohe Reiz des Buches. 
Wie diese geniale, stolze Frau sich von 
einem geistig tief unter ihr stehenden Mann 
nicht loszureißen vermag, ist mit meister¬ 
hafter Seelenkenntnis geschildert. 

Dann wurde Chalide von der nationalen 
Bewegung tief ergriffen, die zu einer Neu¬ 
gestaltung der Türkei führte. Ihre Ziele 
schildert sie in dem politischen Roman 
„Das neue Turan“ (Deutsche Überset¬ 
zung von Friedrich Schräder: „Deutsche 
Orientbücherei VI“). Auch hier steht eine 
Frau, die Kaja, im Mittelpunkt, eine Ge¬ 
stalt von herber Größe, die um der Ver¬ 
wirklichung des politischen Ideales willen 
eine unglücklich verlaufende Ehe eingeht, 
während der begeisterte Reformator, dem 
ihre Liebe gilt, dem politischen Morde zum 
Opfer fällt. Es ist eine Dichtung von tra¬ 
gischer Wucht; das Ringen idealer Mächte 
um ihren Sieg in der harten Wirklichkeit 
und der Untergang ihrer Träger bilden das 
Thema. Aber sieghaft bleibt die Idee, die 
sich in den ausführlichen politischen Reden 
des Werkes entfaltet. Es ist das kulturelle 
und politische Ideal, das nach diesem Ro¬ 
man seinen Namen erhalten hat: das neue 
Turan. Unter Turan verstand man früher 
die innerasiatischen Steppenländer, in denen 
die Heimat der Türken zu suchen ist. 
Wiederherstellung und neue Kräftigung 
des alttürkisdien Wesens, Rückkehr zum 
echten, ursprünglichen Volkstum ist die 
Grundforderung der Neu-Turaner. Sie sind 
türkisch-nationale Romantiker. Ihre poli¬ 
tische Forderung beansprucht Selbstver¬ 
waltung der Provinzen und völlige Gleich¬ 
berechtigung aller Nationen des türkischen 
Reiches. In der Kultur aber sollen die Tür¬ 
ken im Anschluß an die alt-seldschukische 
Kultur des 12. und 13. Jahrh. in Sprache 
und Dichtung, in Musik und Tracht, in 
Architektur und Kunstgewerbe das rein- 
türkische Wesen zur Darstellung bringen. 
Durch diese Zeitideen hat der Roman der 



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INDIANA UNfVERSITY 






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Nachrichten und Mitteilungen 


1536 


großen Dichterin wie eine politische Pro- 
grammschrift und wie eine stolze Ver¬ 
heißung gewirkt, ln der Tat findet hier die 
nationale Reformbewegung der Türkei nach 
der kulturellen wie' der politischen Seite 
hin ihren klassischen Ausdruck. Das Große 
des Werkes aber ist, daß es trotz dieser 
tendenziösen Züge eine echte Dichtung 
bleibt. Es ist zugleich ein Werk, in das die 
Dichterin nach eigner Mitteilung sehr viel 
persönliches Erleben und das Wertvollste 
ihres Innenlebens hineingelegt hat. Als Prie¬ 
sterin und Förderin des neuen Ideals tritt 
sie uns hier entgegen. In dem herben Stolze 
der Kaja und in ihrer opferfreudigen Hin¬ 
gabe an die Idee des erneuten Vater¬ 
landes dürfen wir gewiß persönliche Züge 
der Dichterin erkennen. Dabei ist auch ihr 
Stil durchaus persönlich und wirkt durch 
seine hinreißende Ursprünglichkeit. So ur¬ 
teilen literarisch gebildete Kreise der Tür¬ 
kei. Es sind Einwände gegen die Zeich¬ 
nung der Kaja geltend gemacht worden; 
von Türken wird behauptet, sie sei un¬ 
möglich. Und ebenso ist aus dem gegneri¬ 
schen Lager Widerspruch gegen die politi¬ 
sche Tendenz erhoben. Aber die Schilderung 
<ler Zukunft, die Chalide gibt, ist mehr als 
eine Phantasie, sie bedeutet ein Programm, 
das heute eine starke Macht ist. Es war 
nicht die Aufgabe der Dichterin, in die¬ 
ser großartigen Zukunftsphantasie — sie 
ist ins Jahr 1925 verlegt — die politischen 
Mittel und den Gang der Entwicklung im 
einzelnen zu zeigen; sie sieht das erreichte 
Ziel und schildert es in künstlerischer 
Weise. Von programmatischem Wert ist 
in ihrer Schilderung der tatkräftige und 
lebhafte Anteil der türkischen Frauen an 
der Arbeit für das Gemeinwohl. Tatsäch¬ 
lich regt sich heute in den türkischen 
Frauen eine starke Energie, die in der Mit¬ 
arbeit zur Erziehung wirksam werden kann. 
Durch die Fesselung der Frau in einem 
inhaltlosen Dasein waren der Nation leider 
eine Fülle wertvoller Kräfte verloren; daß 
eine neue Lebenslage der türkischen Frau 
die freudig ergriffene Mitarbeit am Leben 
gestattet, ist zum Teil eine Wirkung des 
„Neuen Turan“. Es gibt keinen am öffent¬ 
lichen Leben teilnehmenden Türken, der 


das Buch nicht gelesen hat. Teile aus ihm 
sind* oft in den Zeitungen und Sonder¬ 
drucken verbreitet worden. Fast die Be¬ 
deutung einer Nationalhymne hat das Lied 
gewonnen, in dem die Dichterin der Sehn¬ 
sucht nach Erneuerung des Türkentunis 
klassischen Ausdruck gegeben hat: 

„O neues Turan, geliebtes Land! 

Wem ist der Weg zu dir bekannt? 

Sechshundert Jahre sind vollbracht. 

Heimatlos hat uns das Schicksal gemacht. 

Auf staubigen Straßen, durch traurige 

Länder, 

Durch Berge ohne Quellen und Schatten¬ 
spender, 

Durch endlose Wüsten zogen wir fort 

Und sind wie verblühte Blumen verdorrt. 

Wo leuchtet das Ufer am silbernen Fluß? 

Wo klingt uns der Heimat vergessener 

Gruß? 

O neues Turan, geliebtes Land! 

Ist keinem der Weg zu dir bekannt?* 

Daß die hochbegabte Dichterin aus einem 
reichen, gesteigerten und überaus feinen 
Innenleben gestaltet, empfindet der Leser 
sofort. Sie soll fast gar nicht lesen; aber 
sie ist eine tiefe Kennerin des Lebens, be¬ 
sonders die Seele der türkischen Frau ist 
ihr genau bekannt. 

Im „Neuen Turan“ überwiegt das Poli¬ 
tische. Es scheint, daß Chalide Hanvm 
nicht die Absicht hat, auf dieser Bahn «ei¬ 
terzuschreiten. Es ist für sie auch wohl 
eine innere Unmöglichkeit, eine neue poli¬ 
tisch-nationale Dichtung zu schaffen, die 
zugleich reines Kunstwerk ist. Chalide aber 
ist durchaus Künstlerin. Seither hat sie ein 
neues Werk veröffentlicht, mit dem sie 
ganz in das Reich der Kunst zurückkehrt, 
betitelt „Sein letztes Werk“. Es behandelt 
die Liebe eines Malers zu einer Frau, deren 
Bild er malt. Wir dürfen hoffen, daß es 
nicht ihr letztes Werk ist, und daß die Dich¬ 
terin ihre reiche Kraft noch durch tiefste 
Erfassung des wirklichen Lebens im Kunst¬ 
werk zum Ausdruck bringt. Dadurch würde 
sie der geistigen und sittlichen Entwicklung 
ihres Volkes neue mitarbeitende und weiter¬ 
strebende Kräfte wecken. 

Professor Dr. R. St übe.